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Die Schwester/Der Pfleger 40. Jahrg. 12/01 1 Pflege Als Mitarbeiter des Huntington-Zentrums NRW im St. Josef-Hospital Bochum betreuen wir Menschen mit der seltenen vererbbaren Nervenerkrankung Morbus Huntington. Bei dieser Krankheit kommt es als Folge eines Nervenzellabbaus zu un- kontrollierten Bewegungen. Mit Hilfe der Basalen Stimulation gelang es uns, die überschießenden Bewegungen günstig zu beeinflussen. Eine erste Maßnahme war die beruhigende Ganzkörperwaschung, mit der die Bewegungsunruhe vermindert werden konnte. Es folgten die atem- stimulierende Einreibung und der Nestbau. Auch die vibratorische Stimulation führte zu einer Reduzierung der heftigen, fahrigen Überbeweglichkeiten. schen herum“, ohne ein wirkli- ches Konzept zu haben. Auf der Suche nach Lösungen für ein Patentrezept eilte ich, in meiner Funktion als Stations- leitung, von einer Fortbildung zur anderen – stets mit meinen Fragen auf Unverständnis tref- fend. Bis ich endlich bei einer Veranstaltung von Christel Bienstein etwas über Basale Stimulation hörte. Dieser Be- griff war mir nicht fremd. Nach einem Grund- und Auf- baukurs in Basaler Stimulation fand ich immer neue Ansätze und ein besseres Verständnis für die Erscheinungen der Erkran- kung. Dadurch steckte ich nach und nach die anderen Kolleg/in- nen an. Darüber hinaus began- nen auch Ärzte, Krankengymnas- tinnen sowie die Logopädin und der Ergotherapeut sich für un- sere Erfahrungen mit der Basa- len Stimulation zu interessieren. So bildeten sich Arbeitsgrup- pen, in denen die Kenntnisse – aus den unterschiedlichen Be- reichen zusammengeführt – ver- netzt wurden. Theoriegeleitete Idee In diesem interdisziplinären Team haben wir unsere Kenntnisse und Vorstellungen ausgetauscht. Dabei haben wir Schnittstellen, Gemeinsamkei- ten gefunden und Irrtümer ausräumen können. Unser gemeinsames Arbeits- feld ist die Erkrankung Morbus Huntington. Es han- delt sich dabei um ein auto- somal dominantes Erbleiden, mit einer Verlängerung des vierten Chromosoms. Die Krankheit tritt meist zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf, kann aber auch im 75. Le- bensjahr beginnen. Ein juveni- ler Beginn, das heißt vor dem 20. Lebensjahr, ist selten (< 10 Prozent). Klinisch unterscheidet man hyper- und hypokinetische Formen. Im Verlauf liegt eine zunehmende Minderbewegung der willkürlichen sowie der unwillkürlichen Muskulatur vor. In den späten Stadien sind Beeinträchtigungen des Spre- chens und Schluckens oft sehr ausgeprägt. Vegetative Störungen, wie Veränderungen des Appetits, der Libido, der Thermoregula- tion und des Schlafes, treten in unterschiedlichem Ausmaß auf. Die psychischen Verände- rungen betreffen den geistigen und seelischen Bereich. So können Depressionen, schizo- affektive Psychosen, Affekt- und Antriebsschwäche früh- Basale Stimulation bei Huntington-Kranken Christian Boch Erfahrungsbericht Ein Team mit einer Idee stellt sich vor! Im Februar 1996 wurde unsere Station 31/A im St. Josef-Hos- pital eröffnet. Diese Station war zunächst für sechs, mittlerweile zwölf, Pati- enten mit Morbus Huntington eingerichtet worden. Im Team arbeiteten überwiegend Mitar- beiter von anderen neurologi- schen Stationen, die unter- schiedliche Erfahrungen mit- brachten. Die wenigsten hatten jedoch Vorkenntnisse mit die- sem Krankheitsbild. So arbeiteten wir ein Jahr lang mit immer stärker sinkender Motivation „an kranken Men- Wiederholt fiel uns in der Anfangszeit auf, dass sehr unruhi- ge und überbewegli- che Patienten ruhiger wurden, wenn man ihnen eine Hand auf die Brust legte.

Erfahrungsbericht Basale Stimulation - Peter Schaufler...Basale Stimulation bei Huntington-Kranken Christian Boch Erfahrungsbericht Ein Team mit einer Idee stellt sich vor! Im Februar

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Die Schwester/Der Pfleger 40. Jahrg. 12/011

Pflege

Als Mitarbeiter des Huntington-ZentrumsNRW im St. Josef-Hospital Bochum

betreuen wir Menschen mit der seltenenvererbbaren Nervenerkrankung Morbus

Huntington. Bei dieser Krankheit kommt esals Folge eines Nervenzellabbaus zu un-kontrollierten Bewegungen. Mit Hilfe der

Basalen Stimulation gelang es uns, dieüberschießenden Bewegungen günstig zu

beeinflussen. Eine erste Maßnahme wardie beruhigende Ganzkörperwaschung,

mit der die Bewegungsunruhe vermindertwerden konnte. Es folgten die atem-

stimulierende Einreibung und der Nestbau.Auch die vibratorische Stimulation führte

zu einer Reduzierung der heftigen, fahrigen Überbeweglichkeiten.

schen herum“, ohne ein wirkli-ches Konzept zu haben.Auf der Suche nach Lösungenfür ein Patentrezept eilte ich, inmeiner Funktion als Stations-leitung, von einer Fortbildungzur anderen – stets mit meinenFragen auf Unverständnis tref-fend. Bis ich endlich bei einerVeranstaltung von ChristelBienstein etwas über BasaleStimulation hörte. Dieser Be-griff war mir nicht fremd.

Nach einem Grund- und Auf-baukurs in Basaler Stimulationfand ich immer neue Ansätzeund ein besseres Verständnis fürdie Erscheinungen der Erkran-kung. Dadurch steckte ich nachund nach die anderen Kolleg/in-nen an. Darüber hinaus began-nen auch Ärzte, Krankengymnas-tinnen sowie die Logopädin undder Ergotherapeut sich für un-sere Erfahrungen mit der Basa-len Stimulation zu interessieren.So bildeten sich Arbeitsgrup-pen, in denen die Kenntnisse –aus den unterschiedlichen Be-reichen zusammengeführt – ver-netzt wurden.

Theoriegeleitete Idee

In diesem interdisziplinärenTeam haben wir unsereKenntnisse und Vorstellungenausgetauscht. Dabei haben wirSchnittstellen, Gemeinsamkei-ten gefunden und Irrtümerausräumen können. Unser gemeinsames Arbeits-feld ist die Erkrankung Morbus Huntington. Es han-delt sich dabei um ein auto-somal dominantes Erbleiden,mit einer Verlängerung desvierten Chromosoms. DieKrankheit tritt meist zwischendem 40. und 50. Lebensjahrauf, kann aber auch im 75. Le-bensjahr beginnen. Ein juveni-ler Beginn, das heißt vor dem20. Lebensjahr, ist selten (< 10Prozent). Klinisch unterscheidet manhyper- und hypokinetischeFormen. Im Verlauf liegt einezunehmende Minderbewegungder willkürlichen sowie derunwillkürlichen Muskulaturvor. In den späten Stadien sindBeeinträchtigungen des Spre-chens und Schluckens oft sehrausgeprägt. Vegetative Störungen, wieVeränderungen des Appetits,der Libido, der Thermoregula-tion und des Schlafes, tretenin unterschiedlichem Ausmaßauf. Die psychischen Verände-rungen betreffen den geistigenund seelischen Bereich. Sokönnen Depressionen, schizo-affektive Psychosen, Affekt-und Antriebsschwäche früh-

Basale Stimulationbei Huntington-Kranken

Christian Boch

Erfahrungsbericht

Ein Team mit einerIdee stellt sich vor!Im Februar 1996 wurde unsereStation 31/A im St. Josef-Hos-pital eröffnet.Diese Station war zunächst fürsechs, mittlerweile zwölf, Pati-enten mit Morbus Huntingtoneingerichtet worden. Im Teamarbeiteten überwiegend Mitar-beiter von anderen neurologi-schen Stationen, die unter-schiedliche Erfahrungen mit-brachten. Die wenigsten hattenjedoch Vorkenntnisse mit die-sem Krankheitsbild.So arbeiteten wir ein Jahr langmit immer stärker sinkenderMotivation „an kranken Men-

Wiederholt fiel unsin der Anfangszeitauf, dass sehr unruhi-ge und überbewegli-che Patienten ruhigerwurden, wenn manihnen eine Hand aufdie Brust legte.

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Pflege

zeitig auftreten und das Zu-sammenleben mit dem Krankenerschweren. Im weiteren Verlauf ist bei al-len Betroffenen eine Demenznachweisbar. Früh sind Merk-fähigkeit, Aufmerksamkeit,Lernen und die visuelle Perzep-tion gestört.Pathophysiologisch kommt eszu einem Glukose-Hypometa-bolismus und zu vermehrtenVerklumpungen, die den Stoff-wechsel der Nervenzellen be-einträchtigen. Folge ist ein vor-zeitiger Nervenzelluntergang,auch im Bereich des Striatums.Dadurch kommt es in der Folgesowohl auf direktem wie indi-rektem Pfad zu einer übermäßi-gen Erregung des Thalamus.Von hier werden Informationenzum Cortex weitergeleitet undin der Folge Bewegungen aus-gelöst. Feuert der Thalamusnun übermäßig in RichtungCortex, kommt es zu ständigüberschießenden, unkontrol-lierten Bewegungen.Die Thalamusregion wird aberihrerseits ständig mit Rück-meldungen unterschiedlichsterQualitäten versorgt. Hierzugehören Informationen zur Pro-priozeption, Lage, Berührung,Druck, Vibration, Schmerz,Temperatur sowie aus demGleichgewichtsapparat, aus denSeh- und Hörapparaten undaus dem limbischen System.

Diese Erkenntnis führt zu der An-nahme, dass Huntington-Krankenur unzureichend konkrete Rück-meldungen über ihren eigenen Kör-per bekommen. Ihre Bewegungensind zu schnell, die Berührungen zuflüchtig, als dass sie ausreichten,um das Gehirn auf Dauer zufriedenzu stellen. Setzen wir nun unserer-seits klare, gezielte Rückmeldungenmit Druck, Grenzen, Vibration undTemperatur entgegen, erfüllen wirdas Bedürfnis nach Körperwahr-nehmung und beeinflussen damitdie Thalamuskerne.

Die medikamentöse Therapiemit dem meisten Erfolg gegendie Überbewegungen setzt inder Dopaminübertragung an.Dies führt zu einer Reduzie-

rung der erregenden Übertra-gung vom Striatum über denThalamus zum Cortex.

Veränderter Blick-winkel durch BasaleStimulationUnser Team hat über einenZeitraum von drei JahrenSchritt für Schritt Erfahrungenin der Pflege von an MorbusHuntington erkrankten Men-schen gemacht. Wir haben vieleVerhaltensweisen der Betroffe-nen besser verstehen, daraufreagieren und unser Pflegever-halten ändern können. Dazu ein Beispiel: Ein Mannkommt zur Aufnahme. Er liegtwiederholt vor dem Bett aufdem Boden. Die Angehörigenhaben uns berichtet, dass erdies auch zu Hause getan hat.Früher hätten wir das im Sinneeiner Bettflucht mit einer fixie-renden Maßnahme beantwortet.Nach drei Jahren Erfahrungmit der Basalen Stimulationhaben wir zunächst eine Super-weich-Matratze auf den Bodengelegt. Da der Erkrankte aber –halb von dieser Matratze – aufdem Boden lag, ersetzten wirdiese durch eine härtere Ma-tratze. Das Ergebnis war er-staunlich. Der Betroffene bliebauf dieser Matratze am Bodenliegen. Diese Erfahrung transferiertenwir mit Erfolg, in entsprechendindividuell abgeänderter Form(drei Matratzen nebeneinander,zusätzlich ein großes „Kuschel-tier“), bei anderen Huntington-Kranken.

Erste Erlebnisse mit der Initialberührung

Wiederholt fiel uns in der An-fangsphase auf, dass sehr unru-hige und überbewegliche Pati-enten in der Aufnahmesituationselbst durch uns, als zunächstfremde Personen, ruhiger wur-den, wenn man ihnen eineHand auf die Brust legte undsie ansprach und ihnen ihreneue Umgebung und Situation

erklärte (Abb. 1). Mittlerweilenehmen wir in extremen Situa-tionen auch vibratorische Sti-mulation hinzu, d. h. leichtesHin-und-her-Bewegen der Handan den langen Knochen. Ebensosind Schultereck- und Ellenbo-gengelenk gute Stellen für eineInitialberührung, um eine Re-duzierung der Überbewegungzu erreichen und Kommunika-tion zu ermöglichen.

Die Erkrankung führt zu einer Ver-änderung der Persönlichkeit, oft zueinem Rückzug und zu stark aus-fahrenden und überschießendenBewegungen. Die Erkrankten erlei-den dadurch den Verlust von Kör-perkontakt, was von den Angehöri-gen auch bestätigt wird. Dies giltfür zielgerichtete Berührungen mitdem eigenen Körper, aber auch fürden Kontakt mit Angehörigen oderbetreuenden Personen. Viele Kran-ke suchen diesen Körperkontaktoder einen klaren Widerstand, denwir ihnen geben und damit eine Re-duzierung der Überbewegungenerreichen.

Kontakt haltenIn unterschiedlichen Situatio-nen erleben wir eine Reduzie-rung der Überbewegungen,mehr Stabilität und koordinier-tere Bewegungen, wenn wir denKörperkontakt halten bezie-hungsweise den Erkranktenden Kontakt halten lassen –und zwar insbesondere an Stel-len, die der Betroffene unszeigt. So konnten wir feststel-len, dass die Überbewegungennachlassen, wenn wir die Handdes Patienten zum Nacken

Abb. 1 Das Auflegen der Hand auf die Brust bewirkt eine Reduzierung der Überbewegungen

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Pflege

führen. Die Erkrankten liegenruhiger im Bett, können bessergehen und essen.Viele unserer Kranken tretenimmer wieder am Fußende ge-gen das Brett, ziehen die Beinean und treten erneut dagegen.Anfangs haben wir das Bettlänger gemacht – mit dem „Er-folg“, dass die Patienten zumFußende rutschten und weitervor das Brett traten. Neurolo-gisch vorgeprägt, versuchtenwir den Kontakt der Fußsohlemit dem Brett zu vermeiden.Mittlerweile legen wir Sand-säcke gegen die Fußsohle oderDecken zwischen Füße undBrett, um den dauerhaftenKontakt zu ermöglichen.

Diese „Über-Bewegungen“ lassensich im Sinne von Andreas Fröhlichals Autostimulation verstehen, diewir verstärken, unterstützen und va-riieren. Das Phänomen – die Handin den Nacken zu legen – sehenwir als Fixieren von Freiheitsgraden(n. N. A. Bernstein 1975), wie beiKindern vor dem dritten Lebensjahr,um sich zu stabilisieren.

Beruhigende und belebendeGanzkörperwaschung

Überhaupt scheinen Druck,Körperkontakt und Grenzen –erfahren durch somatische An-gebote – wichtig für Hunting-ton-Kranke zu sein.Da weder in der Literatur zurPflege Huntington-Kranker de-taillierte Konzepte beschriebenwerden, noch Erfahrungen mitder Basalen Stimulation bei

überbeweglichen Huntington-Patienten vorlagen, befandenwir uns in der glücklichen Lage,die beruhigende wie belebendeGanzkörperwäsche (GKW), dieHaarwäsche, die atemstimulie-rende Einreibung und denNestbau als somatische Ange-bote in unterschiedlichen Si-tuationen ausprobieren zu kön-nen. Dabei erkannten wir, fürdie zahlreichen Probleme einenErklärungsansatz gefunden zuhaben. Unsere Erfahrungensind folgende: Gegen dasHauptsymptom, die Hyperkine-sen, hilft in den meisten Fälleneine beruhigende GKW (n.Bienstein/Fröhlich), bei sehrunruhigen Patienten aber aucheine belebende GKW.

Sind die Informationen bei der bele-benden (Waschrichtung gegen denHaarwuchs) Waschung intensiver?Da Huntington-Kranken unsererMeinung nach die Wahrnehmungdes eigenen Körperbildes fehlt, be-kommen sie so konkretere Informa-tionen über ihr Körperbild. Ähnlichscheint es mit der Wassertemperaturzu sein. Betroffene, die noch selbst-ständig sind, duschen in der Regelmit über 40° C heißem Wasser.Dies erzeugt ein brennendes Gefühlauf der Haut, wodurch der Körperbesser wahrgenommen wird.

Ein erster Kontakt mit demWaschlappen und Wasser anden Händen war meist positivbesetzt und eine Möglichkeitder Temperaturakzeptierung(Huntington-Kranke mögen esmit 38 bis 39° C sehr warm).Vielfach führt der nächsteSchritt, eine beruhigende Wa-schung der Brust, zu einer ers-ten Reduzierung der Überbe-wegungen. Danach führt die

Waschung vom Hals (ausge-hend vom Ohr) über den Kapu-zenmuskel hinunter den Armentlang zur Hand. Die Fingerwerden einzeln moduliert, derHandrücken vom Fingergrund-gelenk in Richtung Handge-lenk, um einer häufig vorlie-genden Beugedystonie entgegenzu wirken. Das Gesicht sowieAugen werden einzeln gewa-schen, um einen Orientierungs-verlust zu vermeiden – von derStirnmitte zum Kinn nachfah-rend. Den Rücken waschen wirmeist in sitzender Position vomSteiß Richtung Nacken, umdem Streckmuster entgegen zuwirken.Vom Nacken zum Steiß wa-schen wir rechts und links derWirbelsäule entlang sowie – zurBetonung derselben – auf ihrhinunter, um eine Aufrichtungschlaffer Patienten zu errei-chen. Die Waschung wird häu-fig um eine atemstimulierendeEinreibung ergänzt, die denfreien Sitz noch stärker ermög-licht und eine Harmonisierungder Rückenmuskulatur bewirkt.Der Genitalbereich folgt alsnächstes fakultativ. Ist der in-kontinente Kranke mit Urinund Stuhl verschmutzt, wirdeine Reinigung durchgeführt.Kranke mit Teilselbstständig-keit können die Genitalreini-gung meist noch selbstständigdurchführen. Die Beine werden beruhigendgewaschen und nacheinander – mit Betonung der Fußsohlen –aufgestellt. Hier beobachtenwir immer wieder das Phäno-men, dass gerade überwiegendBettlägerige eine Waschungund das Massieren der Füßeund der Fußsohlen genießendtolerieren, dabei zum Teil ein-schlafen. Wir haben den Ein-druck, dass dies auch eine guteVorbereitung zur anschließen-den Mobilisation (Hinstellenauf die Beine) ist. Viele monate-lang Bettlägerige waren zumStehen beziehungsweise Gehennach einer Betonung der Füßeund Beine in der Lage (Abb. 2).Des Öfteren schlafen Hunting-ton-Kranke unter der beruhi-

Abb. 2 Das Massieren der Beine und Füße wird von den

Patienten genossen und erleichtert die anschließende

Mobilisation

Druck, Körperkon-takt und Grenzen er-fahren durch somati-sche Angebote schei-nen sehr wichtig fürHuntington-Krankezu sein.

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genden GKW ein. Diese Beob-achtungen führten dazu, dieBetroffenen abends zu waschenoder eine Massage in der ent-sprechenden Weise durchzu-führen. Letzteres vor allem beiDurchschlafstörungen.

Bei der GKW heben wir erstnach und nach die durchge-führten Lagerungsmaßnahmenauf. Unsere Erfahrungen habengezeigt, dass nach Entfernenaller Lagerungshilfsmittel dieÜberbewegungen sofort einset-zen. Deshalb begrüßen und in-formieren wir die Betroffenenzunächst, entkleiden den Ober-körper und sorgen für Kontaktan den Füßen beziehungsweisebelassen die Lagerungsmateria-lien, wie sie vorhanden sind.Dann decken wir erst die nächs-ten Körperpartien frei, die wirstimulieren möchten.

Das Entfernen der Materialiennimmt den Betroffenen den Wider-stand. Es kommt abrupt zum Verlustihrer Grenzerfahrung. Das löst dieÜberbewegungen aus. Erhalten wirdie Grenzen und geben den Er-krankten nach und nach somatischeRückmeldungen über ihre Körper-form, treten die Überbewegungennicht so stark auf.

Bei den Waschungen konntenwir immer wieder durch Beto-nen stark angespannte Körper-haltungen lösen und die Betrof-fenen in die Lage versetzen,Extremitäten selbstständig zuhalten oder zu bewegen.Die von Fröhlich beschriebenenMikrobewegungen (n. Sasamotu)helfen die Anspannungen zu re-duzieren und sind eine hilfreiche,vorbereitende Maßnahme zurMobilisation. Kommt es doch zueiner Reduktion der Anspan-nung, ist somit eine harmoni-schere Bewegung möglich, dieHaltung wird symmetrischer.

Atemstimulierende Einreibung

Wie bereits erwähnt, harmoni-siert eine atemstimulierendeEinreibung (ASE) die Spannungim Rumpfbereich und ermög-licht den freien Sitz (Abb. 3).Eine weitere Möglichkeit, dieEinreibung zu nutzen, ist es, sieals vorbereitende, beruhigende,die Atmung harmonisierendeMaßnahme einzusetzen. Bei denüberbeweglichen Patientenkonnten wir – neben der beru-higenden Wirkung – die Betrof-fenen in die Lage versetzen,sich selbstständig zu waschen.

Des Weiteren ließen sich un-willkürliche Lautäußerungen –häufig als Folge einer beein-trächtigten Koordination derAtmung – günstig beeinflus-sen. Zumal diese Laute vonden Betroffenen als unange-nehm empfunden werden.Auch konnten wir den positi-ven Effekt auf das Schlafver-halten bei den Huntington-Kranken nutzen.

Immer wieder haben Huntington-Kranke Muskelgruppen, die untererhöhter Anspannung stehen, undzeigen beispielsweise ein Vorwärts-oder Seitwärtsneigen des Kopfesoder ein übermäßiges Beugen oderStrecken der Extremitäten. Vielfachhilft ein Betonen der gegenüberlie-genden Muskelgruppe zur Harmo-nisierung der Anspannung. Oftkann die Anspannung durch leich-tes vibratorisches Hin-und-her-Bewe-

gen gelöst werden. Auch ein entlas-tendes Halten des Kopfes reduziertdie Anspannung. Ist diese erhöhteAnspannung im Sinne einer besse-ren Spürinformation zu deuten?

Nestbau

Bei den Maßnahmen, die denSchlaf fördern, erweist sich im-mer wieder der Nestbau als sehrErfolg versprechend (Abb. 4).Die Patienten in der Halbsei-tenlagerung oder 30-Grad-La-gerung erspüren offensichtlichsoviel Grenzerfahrung, dassdies zu einer Reduzierung derÜberbewegungen führt und da-durch die Betroffenen einschla-fen. In der Rückenlage verhin-dert ein um das Gesäß gelegterNest-Ring das Hinunterrut-schen im Bett, wenn das Kopf-teil zum Essenreichen aufge-stellt wird. Darüber hinaus ver-leiht es Sicherheit und Stabi-lität. Die Patienten „sitz-lie-gen“ sehr ruhig und können ko-ordinierter die Nahrung auf-nehmen. Dies ist auch besser, weil sie keine Stützarbeit fürden Kopf übernehmen müssenund nicht permanent durch dieÜberbewegungen gestört wer-den und scheint gerade bei derNahrungsaufnahme im Sitzenam Tisch hilfreich zu sein. Hiernutzen wir langlehnige Stühleoder Sessel und lagern denKopf oft zusätzlich durch nach-giebige Hirsekissen.

Abb. 4 Eine zusammengerollteDecke unterstützt die Seitenlage-rung des Patienten und vermit-telt ihm das sichere Gefühl derBegrenzung

Abb. 3 Die atemstimulierende Ein-reibung reduziert die Spannung imRumpfbereich und unterstützt denfreien Sitz der Patientin

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Vibratorische Stimulation

Verstärkend für die Körper-wahrnehmung ist die vibratori-sche Stimulation sehr nützlich.Bei sehr überbeweglichen undunruhigen Huntington-Kran-ken können wir in Stresssitua-tionen eine beruhigende Stimu-lation anbieten. Dies kann einEinstieg in die Kommunikationsein oder in die GKW.Wir führen eine vibratorischeStimulation beispielsweise amBrustbein durch. Wir legen un-sere Hand auf und bewegen sielangsam – vibratorisch – hinund her. Dadurch erreichen wirein Nachlassen der Überbewe-gungen und der Unruhe. Daraufaufbauend können wir ein bes-ser verständliches Gesprächführen, die in ihrer Sprechfähig-keit eingeschränkten Krankenbesser verstehen oder die GKWfür beide Seiten stressfreierdurchführen. Während einerWaschung können wir dannnoch einmal einzelne Extre-mitäten vibratorisch stimulieren– wenn die Beine unruhig sind,an der Hüfte oder zur Betonungder Arme am Schultergelenk.

Als vorbereitende Maßnahme zurFörderung der Gangsicherheitführen wir auch vibratorische Sti-mulationen an den Beinen durch.

Hierzu nehmen wir dann ein „Mas-sagegerät“ zur Hilfe und führen sieüber einen längeren Zeitraum (ca.10 Min.) durch. Der Erfolg nachder ersten Stimulation zeigt sich ineinem weniger ausladenden und etwas schnelleren, also insgesamtsicheren Gang.

Orale Stimulation

Die orale Stimulation konntenwir wiederholt als vorbereiten-de Maßnahme bei Huntington-Kranken einsetzen. Zum einenerreichen wir ein Öffnen desMundes, selbst bei unwillkür-lichem Mundschluss, durchSchmecken-lassen und Neugie-rig-machen, zum anderen kön-nen wir nach einer oralen Sti-mulation einen besser koordi-nierten Schluckvorgang fest-stellen. Hierbei ist besondersdas stimulierende Berühren derZunge mit einer Zahnbürste,die mit einer Kompresse um-wickelt wird, sehr förderlich.Die bei Huntington-Patiententypischen Transportschwierig-keiten können dabei positiv be-einflusst werden.Bei Betroffenen mit hoher An-spannung konnten wir durchAusstreichen der Wangen zumMund Verkrampfungen lösenund damit ein Öffnen des Mun-

des erreichen, durch Beklopfenschlaffer Mundpartien nachund nach Spannung aufbauen.Unterstützend konnten wir denvibratorischen Effekt von Ra-sierapparaten (bei Männern)einsetzen.Durch diese Maßnahmen sindwir in der Lage, die Betroffenenweit gehend stressfrei ganz be-ziehungsweise teilzuernähren.Die Indikation einer Ernäh-rungssonde durch die Bauch-decke (PEG-Anlage) wird beiuns relativ früh gestellt. Da-nach wird, wenn möglich, auchweiter über den Mund ernährt.Denn wir haben die Erfahrun-gen gemacht, dass Unruhe, ver-bale Entäußerungen, hastigesSchlingen und zur Nahrung vor-beugen nachlassen beziehungs-weise verschwinden, wenn derErkrankte ausreichend Flüssig-keit und Nahrung bekommt.

Olfaktorische Stimulation

Unsere Erfahrungen mit der ol-faktorischen Stimulation be-schränken sich bisher auf denEinsatz von Lavendelöl-Kom-pressen. Sehr gute Erfolge ha-ben wir hierbei, wenn wir dieKompressen als Einschlafhilfenutzen. Aber auch bei Unruheund starken Überbewegungensind sie von Nutzen. Anfangsglaubten wir, bei jüngeren Be-troffenen weniger gut Laven-delöl einsetzen zu können. Diestrifft nach unseren Erfahrun-gen jedoch nicht zu. Selten verwenden wir Rosma-rinöl oder -waschzusatz für ei-ne GKW. Bei sehr depressiven,antriebsarmen Erkrankten ha-ben wir teilweise Besserungenim Sinne einer Anregung mitstärkerem eigenen Antrieb fest-gestellt. Häufiger verwendenwir Pfefferminzöl in warmemWasser für die GKW. Anfangsnutzten wir dies vor allem alsfiebersenkende Maßnahme. Beigleichzeitig unruhigen undüberbeweglichen Betroffenenstellten wir eine Beruhigungund ein Nachlassen der Über-bewegungen fest. Daraufhinführen wir jetzt auch Waschun-

Abb. 5 Der Patient bestimmt den Zeitpunkt

des Aufstehens selbst; die Krankenschwester

wartet geduldig auf seine Signale

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gen zur Reduzierung von Über-bewegungen durch. Wir glau-ben, dass durch die vitalisieren-de Verdunstungskälte das Kör-pergefühl nachhaltig verstärktwird und somit die Überbewe-gungen nachlassen.

Der kommunikative Austausch

Der verbal kommunikative Aus-tausch mit Huntington-Kran-ken ist häufig schwierig undfrustrierend, da es frühzeitigzum Verlust der Sprechfähig-keit kommt. Bis dahin ist dieZeit der Verständigung dornen-reich. Für beide Seiten!Dennoch gibt es auch hiernutzbare Fähigkeiten. Nebenden bereits oben beschriebenenMaßnahmen, die zur Beruhi-gung und dadurch zum besserenVerstehen führen, scheint dasSprachverständnis länger er-halten zu bleiben. Zudem be-nötigen Huntington-Kranke ei-ne längere Zeit der Verarbei-tung selbst kurzer Informati-onen. Dies hat natürlich Konse-quenzen für unsere Arbeitswei-se. Sie muss dementsprechendangepasst abwartend geduldigsein. Wir müssen, im engenKörperkontakt mit den Betrof-fenen, den rechten Zeitpunkt,beispielsweise des Hinstellens,abwarten (Abb. 6). Diesen Ei-genimpuls nutzend, erleichternwir uns die Arbeit und erhaltendie Selbstständigkeit.

Darüber hinaus müssen wirvielfach auf die nonverbalenHinweise der Kranken achten.Dies sind in erster Linie Unru-he mit starken Überbewegun-gen, aber auch das Wegdrehenzur Wandseite, das Nicht-öff-nen des Mundes bei unbelieb-ten Speisen. Hier sind Hinweisezur Vergangenheit des Betroffe-nen hilfreich. So wirkt das Ab-spielen der Lieblingsmusik be-ruhigend. Auch meditativ beru-higende Musik, ruhiges Spre-chen oder andere auditive An-gebote verfehlen ihre beruhi-gende Wirkung nicht.

FazitUnsere Maßnahmen habenihren Erfolg in dem medizi-nisch-therapeutischen Kontext.Ohne ausgleichende Medika-mente helfen unsere Maßnah-men oft nicht (oder uns fehltder rechte Zugang). Jedochnützen die Tabletten ohne un-sere stimulierenden Maßnah-men ebenso wenig. Rein sedie-rende Medikamente könnenvon hohen Dosen herab einge-spart werden.

Um die somatischen Angebote derBasalen Stimulation patientenorien-tiert einsetzen zu können, ist es un-erlässlich, dass die Pflegenden diefrüheren Gewohnheiten des Patien-ten berücksichtigen: Welche Rollespielt die Hygiene für ihn? Mag erKörperkontakt und wenn ja wel-

chen? Liegen besondere Schlafge-wohnheiten vor? Zur Erhebung dieser individuellen Bedürfnissekönnen – neben dem Patientenselbst – vor allem seine Angehöri-gen wichtige Hinweise liefern.

Unsere Erfahrungen mit derBasalen Stimulation waren nurdank der Unterstützung des ge-samten Teams möglich. Für dieUnterstützung und Toleranzmöchte ich mich beim Team derNR 5/A31 bedanken. Besondersmöchte ich mich bei unseremStationsarzt Jürgen Andrich be-danken, der mir bei der Erstel-lung dieses Artikel geholfen hatund mich auch bei der Ent-wicklung der theoretischenGrundlagen unterstützt hat.

Literatur:

Lange, H. W. (Hrsg.): Die HuntingtonKrankheit. Zur Symptomatik, Ätiologie,Früherkennung, Therapie und Selbsthil-fe. Hippokrates Verlag, Stuttgart 1986Harper, P. S. (Hrsg.): Huntington’s disea-se. Saunders, London 1991Fröhlich, A. D.: Basale Stimulation: dasKonzept. Verl. Selbstbestimmtes Leben1998Bienstein, Chr.; Fröhlich, A. D.: BasaleStimulation in der Pflege. Verl. Selbst-bestimmtes LebenPickenhain, L.: Basale Stimulation.Neurowissenschaftliche Grundlagen.Verl. Selbstbestimmtes Leben 1998Nydahl/Bartoszek (Hrsg.): Basale Stimu-lation: neue Wege in der Intensivpflege.Ullstein Mosby 1997Affolter, F.: Wahrnehmung, Wirklichkeitund Sprache. Neckar-Verlag 1987

Anschrift des Verfassers:

Christian BochRiemkerstraße 4644809 [email protected]