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bülent kacan
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mit dem rücken zur wandVON BÜLENT KACAN
Tatsächlich ist es äußerst schwer, in Zeiten wie
dieser Halt und Orientierung zu finden. Geht man
nachts dennoch auf die Straße, weil das Bedürfnis
nach Zigaretten einen förmlich aus der Wohnung
treibt, so darf man sich nicht wundern, wenn
man auf drei ungewöhnliche Gestalten trifft, die
ausgerechnet an jener Mauer lehnen, vor der auch
der Zigarettenautomat steht, der, weithin sichtbar
wie ein aufgetürmter Totempfahl, exemplarisch
für eine nach endloser Befriedigung strebende
und sehnende Gesellschaft in die Höhe ragt, auf
Raucheraugenhöhe wohl gesagt.
Nicht, weil man Interesse an der ungewöhnlichen
Haltung der drei Gestalten hätte — es ist kurz vor
Mitternacht und kein normaler Mensch hockt bei
dieser Witterung grundlos an einer Mauer — son-
dern um die eigene Furcht vor den drei fremden
Figuren ein wenig zu drosseln, fragt man flüchtig,
gerade so, wie man sich im raschen Vorbeigehen
nach dem Wohlergehen von Bekannten erkundigt,
nach dem Grund ihrer Wache in dieser eisigkalten
Nacht.
»Wachen?«, antwortet der Erste. »Sie irren sich! Ich
stehe hier, weil die Inflation all meine Ersparnisse
aufgefressen hat. Erst habe ich mein Haus verlo-
ren, anschließend verließ mich meine Frau und nachdem ich Frau
und Haus verloren hatte, kündigte mir zusätzlich mein Chef, gleich
nachdem ich mich, trotz fünfzehnjähriger Dienstzeit, einen Monat
lang von meinem Arzt habe krank schreiben lassen. Seither sitze ich,
wie Sie sehen können, auf der Straße. Die Straße, dass müssen Sie
wissen, ist die letzte Zufluchtsstätte für all jene, die gegenwärtig,
womöglich weil sie vorsichtig sind, vielleicht aber auch deshalb, weil
sie ungeheures Glück haben, sicher und bequem hinter ihren fein
säuberlich herausgeputzten Häuserfassaden schlafen. Wenigstens
hier muss ich nicht befürchten, dass man mir in den Rücken fallen
wird, die Mauer lässt mich mit Sicherheit nicht in Stich!« Wie gut,
denkt man sich, dass man selbst ausreichend vorgesorgt hat, dass
Geld unter dem Kopfkissen daheim wird einen sicher über die
Runden bringen.
»Die Politik«, ruft die zweite Gestalt energisch dazwischen, »hat ein
für alle Mal ihre Glaubwürdigkeit verloren! Wer dennoch wählen
geht, ist selber schuld, man kann die eigene Verelendung auch
eigenhändig wählen! Ich selbst war jahrelang Finanzminister in
Kolumbien, ich kann Ihnen also aus erster Hand verraten, mit
welchen Tricks und Täuschungen in Bogota die Bevölkerung an der
Nase herumgeführt wird. Werfen Sie den Leuten ruhig ein Zucker-
stück vor die Füße und versprechen Sie im nächsten Augenblick,
dass tausende Stückchen folgen werden und das Volk wird Ihnen zu
Füßen liegen. Das Volk hat Hunger und will von Ihnen hören, dass
Sie es sind, der es auf Dauer sättigen wird. Hungert das Volk aber
nicht, weil es gesättigt, ja übersättigt ist, so will es von Ihnen hören,
dass Sie dafür sorgen werden, dass es auch sicher
und dauerhaft gesättigt bleibt. Sie müssen also
nur Erfolg versprechend versprechen können, ob
Sie Ihre Versprechungen im Nachhinein halten,
spielt gar keine Rolle. Haben Sie erst einmal Ihr
Amt inne, so erübrigt sich Ihr Versprechen für
die Länge Ihrer Amtszeit. Sobald Sie also einmal
Ihr Amt ausüben, verfügen Sie über ausreichend
Zeit, sich Gedanken für weitere Versprechungen
zu machen, die Sie in den kommenden Wahlperi-
oden Erfolg versprechend an den Mann bringen
können. Überhaupt, und dass sage ich Ihnen nicht,
weil Sie mir als Mensch sympathisch erscheinen,
sondern aus reinem Selbstverständnis heraus,
sollten Sie nur solchen Menschen vertrauen,
die Ihnen rein gar nichts versprechen. Ich selbst
harre hier aus, weil ich befürchten muss, dass
mich die Häscher des Diktators Juan Antonio de
Diabolos hinterrücks ermorden werden. Interne
Kritik am System wird mit internen Versetzungen
geahndet, öffentliche Kritiken hingegen bedeuten
unweigerlich den eigenen Tod! Ich stehe also mit
dem Rücken zur Wand, wie sie sehen.« Wie gut,
denkt man sich, dass man weit und breit keiner
Menschenseele vertraut. Glücklicherweise ist auch
Südamerika weit entfernt. Sollen sich doch andere
über die Politik dumm und dämlich ärgern. So-
lange ausreichend Bier im Kühlschrank steht und
man ohne weiteres seine Meinung am Stammtisch
äußernd darf, kann kommen was will.
»Gott ist tot!«, schreit nun die dritte Gestalt und
gestikuliert emphatisch mit ihren Händen. »Und
der alte Herr wird auch nicht mehr auferstehen!
Nietzsche hat das früh genug erkannt, geholfen
hat’s dem armen Kerl aber auch nicht. Gottlose
Welt, wer wird dir noch einen höheren Sinn
verleihen? Wo ist der Sinn des Lebens? Wer hat ihn
je gefunden? Liegt er denn im Geld verborgen? Ist
er etwa in der Macht enthalten? Ist der Sinn des
Lebens etwa auf dieser Welt zu Hause, existiert
gar ein Weg dorthin? Haben wir den Weg dorthin
verloren? Oh, weh, oh weh, oh wei, oh wei, wie
sinnlos ist doch diese Welt geworden! Der Mensch
lebt lang und immer länger und wird doch auf
ewig sterblich bleiben! Der Mensch ist ein Gott auf
zwei Beinen, der ständig Durst und Hunger hat
und unentwegt auf Toilette muss! Ein gieriger und
unersättlicher Gott ist der Mensch! Ein Vielfraß
unter den Göttern im Universum ist der Mensch!
Ein Götterfresser ist der Mensch, ein Menschen-
fresser ist der Mensch! Ich aber sage euch, ein
neuer Gott wird kommen und unbarmherzig über
die Menschheit wüten! Habt acht, Brüder, und seid
gewarnt, das Böse ist in euch und der Teufel lauert
hinter euch! Seid auf der Hut, Brüder, Satan will
mit euch Huckepack fahren!« Wie gut, denkt man
sich, dass man selbst noch alle Sinne beisammen hat. Kaum hat man
die Münzen in den Automatenschlitz geworfen, spuckt der stählerne
Totempfahl auch gleich seine heiß begehrten Giftsubstrate aus. Trotz
des Abscheus verabschiedet man sich höflich von den drei Gestalten
und sieht noch flüchtig im Vorübergehen, wie diese ängstlich an
ihren Fingernägeln kauen.
Der Weg nach Hause ist, obwohl man kein abergläubiger Mensch
ist, nach solchen Augenblicken alles andere als leicht, auf der Straße
könnte einem ja doch ein Unglück wiederfahren. Die erste Zigarette
schmeckt in solch ungewöhnlichen Momenten immer noch am bes-
ten. Man blickt hinauf zum Himmel und gesteht, so düster war die
Nacht noch nie. Die Sterne am Himmel, die eben noch geleuchtet
haben, sind verschwunden und auch der Mond ist vollends erlo-
schen, obwohl keine einzige Wolke den nächtlichen Himmel bevöl-
kert. Sicher, die Zigarettenglut wird einem in dieser Finsternis den
Weg nach Hause weisen, man zieht tief und lange daran, schließlich
könnte einem auf der Straße doch ein Missgeschick passieren. Man
mag sich kaum ausmalen, welch blutrünstige Bestie dort drüben an
der Straßenecke lauert. Womöglich wartet dort drüben, unter der La-
terne, ein brutaler Straßenräuber, der einem ein ellenlanges Messer
hinterrücks in den Rücken treiben wird. Wie gut, wie gut, denkt man
sich, dass wenigstens die Zigarettenglut einem den Weg nach Hause
bahnt, auch wenn man nun vorsichtshalber einen Umweg macht.
Und doch blickt man sich vorsichtshalber um, man kann nie wissen,
wer einem in dieser Dunkelheit nach Hause folgt.
Ist da wer? Hallo?
Niemand, der da antworten würde, und doch hört man fremde
Schritte näher kommen.
Ist da wer?? Hallo??
Schritte, kurze feste Schritte, die immer näher kommen. Man sucht
nach einer Häuserwand, nach einem kurzen flüchtigen Halt, nach
einer Rückendeckung, doch auch die Häuser, ja ganze Straßenzüge
sind mit einem Mal verschwunden. Auch die Glut erlischt, der Atem
stockt und die fremden Schritte kommen näher, immer näher.
AUSGABE 10 HEFT ZWEI 2011 JAHRGANG 04 UM[LAUT] JUNGE KUNST. POLITISCHE KUNST. MINDESTENS. 09
BÜLENT KACAN *1975 IN MINDEN (WESTFALEN), LEBT IN BIELEFELD. STUDIUM DER GER-
MANISTIK, GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN UND PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITäT BIE-
LEFELD. DIVERSE VERÖFFENTLICHUNGEN, U.A. IN ETCETERA UND LITERAMUS.
> KACAN.EU