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Kafka-Atlas Kafka in Großbritannien von Katharina Laszlo Zur Einführung Die Bedeutung Englands für die weltweite Verbreitung von Kafkas Werk ist immer wieder betont worden. Bekanntlich gehörte Großbritannien neben Frankreich und den USA zu den 'Basisländern' der sich außerhalb des deutschsprachigen Raums ausweitenden Kafka- Rezeption, noch bevor der Weltruhm des Dichters überhaupt einsetzte. In dieser frühen Phase wurde Kafka vor allem als paradigmatischer Autor der Moderne entdeckt und gelesen was sicher auch, aber nicht nur auf die Vermittlerrolle literaturkundiger Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland zurückzuführen ist. Bis in die Mitte der sechziger Jahre sind etwa 700 Beiträge zu Leben und Werk Kafkas in England erschienen, seien es Studien, Rezensionen, Kommentare, Bearbeitungen oder Anmerkungen allgemeiner Art. 1 Inzwischen dürfte diese von Dieter Jakob im Jahr 1988 geschätzte Zahl um ein Vielfaches übertroffen sein. Eine Zählung allgemeiner Kafka-Hinweise erscheint heute kaum mehr möglich und wohl auch nicht mehr sinnvoll. Längst ist der ‘Impact-Factor’ dieses Autors im englischsprachigen Raum in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Medien ins Unermessliche gestiegen. *** 1 Dieter Jakob, 'Englische Leser Kafkas. Werk und Übersetzung, ästhetische Erwartungen und Erfahrungen im Kontext der fremden Sprache', Euphorion 82 (1988) S. 89-103. David Blaine: A Hunger Artist, London 2003

Kafka in Großbritannien in GB.pdf · 16 David Paul, A view of Kafka', Polemic (Juli-August 1946) S. 30-33. Kafka-Atlas So ist es kaum überraschend, dass der Germanismus 'Angst

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Kafka-Atlas

Kafka in Großbritannien

von Katharina Laszlo

Zur Einführung

Die Bedeutung Englands für die weltweite Verbreitung von Kafkas Werk ist immer wieder betont worden. Bekanntlich gehörte Großbritannien neben Frankreich und den USA zu den 'Basisländern' der sich außerhalb des deutschsprachigen Raums ausweitenden Kafka-Rezeption, noch bevor der Weltruhm des Dichters überhaupt einsetzte. In dieser frühen Phase wurde Kafka vor allem als paradigmatischer Autor der Moderne entdeckt und gelesen – was sicher auch, aber nicht nur auf die Vermittlerrolle literaturkundiger Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland zurückzuführen ist. Bis in die Mitte der sechziger Jahre sind etwa 700 Beiträge zu Leben und Werk Kafkas in England erschienen, seien es Studien, Rezensionen, Kommentare, Bearbeitungen oder Anmerkungen allgemeiner Art.1 Inzwischen dürfte diese von Dieter Jakob im Jahr 1988 geschätzte Zahl um ein Vielfaches übertroffen sein. Eine Zählung allgemeiner Kafka-Hinweise erscheint heute kaum mehr möglich und wohl auch nicht mehr sinnvoll. Längst ist der ‘Impact-Factor’ dieses Autors im englischsprachigen Raum – in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Medien – ins Unermessliche gestiegen.

***

1 Dieter Jakob, 'Englische Leser Kafkas. Werk und Übersetzung, ästhetische Erwartungen und Erfahrungen im

Kontext der fremden Sprache', Euphorion 82 (1988) S. 89-103.

David Blaine: A Hunger Artist, London 2003

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England, das einmal zur Heimat des größten Manuskripte-Konvoluts werden sollte, empfing Kafka trotz einiger früher Fürsprecher zunächst nicht gerade mit offenen Armen. Nachdem es dem Literaturkritiker W.E. Harter Preston in den späten zwanziger Jahren nicht gelungen war, einen Verleger für das Werk zu finden, wurde die literarisch interessierte Bevölkerung im November 1928 noch recht zaghaft mit einer Rezension über Das Schloss und Amerika im Times Literary Supplement (TLS) auf Kafka aufmerksam gemacht. Unter dem unscheinbaren Titel 'Some German Novels' fasst der anonyme Rezensent erst ausgiebig die Handlung zusammen, konstatiert dann aber, die Geschehnisse seien eigentlich zu vernachlässigen, man werde sich später ohnehin nur an die eigentümliche, durch die anonyme und unfassbare Gewalt des Schlosses bedingte Stimmung erinnern.2 Obschon der Rezensent seine Einsichten zur ‘symbolistischen Intention’ und der ‘Atmosphäre’ der beiden Romane mehr vorträgt als analysiert, sollten die von ihm gebrauchten Begriffe in der frühen Kafka-Forschung immer wieder aufgegriffen – und mit Bedeutung aufgeladen – werden. Das erste englische Resumee des Schloss-Romans ist noch so unprätentiös wie lakonisch: ‘The novel is unfinished, and whether K. is ever intended to attain his object we cannot certainly know. Probably not.’

***

Mussten sich britische Leser, in Abwesenheit einer Übersetzung, noch vollständig auf die Interpretation des TLS-Rezensenten verlassen, legte das Erscheinen von Willa und Edwin Muirs Übertragungen nur wenige Jahre später den Grundstein für eine zugängliche Kafka-Lektüre und kontinuierliche Rezeption.

Es ist schwer zu sagen, wie sich die Verbreitung der Werke im englischsprachigen Raum ohne Edwin Muir als Übersetzer und Kritiker entwickelt hätte. Gemeinsam mit seiner Frau Willa übertrug er nicht nur die drei Romanfragmente und zahlreiche Kurzgeschichten ins Englische, sondern verfasste auch einige literaturwissenschaftliche Schriften, beispielsweise die den Übersetzungen vorangestellten Bemerkungen zur Einführung, sowie Aufsätze und Rezensionen.

Vermutlich stieß Muir zuerst durch Willy Haas' 1929 in der literarischen Welt publizierten Artikel 'Über Franz Kafka' auf Kafka.3 Er las Das Schloss und beschloss, es in Kollaboration mit Willa zu übersetzen (1926 hatte das Ehepaar bereits Lion Feuchtwangers Jud Süß ins Englische übertragen, das ein Bestseller wurde). Jedoch verkaufte sich die erste Auflage des Schloss-Romans, erschienen 1930, mit weniger als 500 Exemplaren so schlecht und wurde auch von der Kritik eher verhalten aufgenommen, dass das Verlagshaus Secker wohl zunächst vor der Publikation eines weiteren Kafka-Romans zurückschreckte.4 Also folgte 1933 mit The Great Wall of China ein Erzählband, der außer der Titelgeschichte unter anderem die Stücke 'Forschungen eines Hundes', 'Der Bau' und die meisten der später in

2 ‘An Unusual Talent’, aus ‘Some German Novels’, Times Literary Supplement, (28. November 1928) S. 935.

Siehe Dieter Jakob, Das Kafka Bild in England – Eine Studie zur Aufnahme des Werkes in der journalistischen Kritik (1928-1966) (England) (Oxford und Erlangen, 1971) S. 73-75. 3 Siehe Ritchie Robertson, 'Edwin Muir as Critic of Kafka', The Modern Language Review (1984), Vol. 79 (3) S.

638. 4 Für eine ausführliche Besprechung der Rezensionen der Erstausgaben siehe Dieter Jakobs Enführung zu

England, S. 24-32.

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Beschreibungen eines Kampfes zusammengetragenen Fragmente enthielt. Danach ließen neue Kafka-Übersetzungen erst einmal vier Jahre auf sich warten und erschienen bezeichnenderweise in anderen Verlagshäusern: The Trial 1937 bei Gollancz und Amerika bei Routledge im Jahr darauf, Die Verwandlung und In der Strafkolonie sogar erst 1948 im Schocken-Band The Penal Colony: Stories and Short Pieces.

Oft überschattet Edwin Muir, der erste Kafka-Übersetzer, Edwin Muir, einen der ersten und bedeutendsten Kafka-Kritiker des Landes. Dabei beeinflusste insbesondere seine Einleitung zur Erstausgabe von The Castle die frühe britische Kafka-Rezeption maßgeblich. Die vielleicht beste Art, sich dem Schloss zu nähern, schreibt er, sei

to regard it as a sort of modern Pilgrim's Progress, with reservation, however, that the 'progress' of the pilgrim here will remain in question all the time, and will be itself the chief, the essential problem. The Castle is, like the Pilgrim's Progress, a religious allegory; the desire of the hero in both cases is to work out his salvation.5

Der Vergleich mit Paul Bunyans christlicher Allegorie Pilgrim's Progress von 1678 legte nicht nur den Grundstein für zahlreiche weitere religiöse und allegorische Interpretationen, sondern wurde auch immer wieder als Beweismittel für Muirs angeblich beschränktes Kafka-Verständnis herangezogen. Das Stichwort 'religiöse Allegorie' schien bei späteren Kritikern den Verdacht zu schüren, Muir habe nichts weiter zum Thema Kafka hinzuzufügen, als Max Brods Interpretationen der Werke zu übernehmen. Von dieser Lesart habe sich Muir, so glauben beispielsweise Elgin W. Mellown und Dieter Jakob, später (zu spät!) distanziert, um sich vermehrt den formalen Aspekten der Werke zu widmen.6 Wie Ritchie Robertson jedoch aufgezeigt hat, tun beide Muir unrecht.7 Muirs früher Bunyan-Vergleich sei lediglich der Versuch gewesen, den englischen Leser möglichst behutsam an Kafkas Schloss heranzuführen, indem er es neben einen bekannten englischen Klassiker wie Pilgrim's Progress stellt. Muirs originellster – weil differenzierter – Beitrag zur Kafka-Forschung ist laut Robertson die Sensibilität für Kafkas Humor. Zwei Arten von Komik wisse Muir bei Kafka zu entdecken, beide aus der fundamentalen Unvereinbarkeit des göttlichen Gesetzes mit dem menschlichen entspringend.8

***

Muirs Bemühungen trugen Früchte – vor allem in literarischen Zeitschriften erschienen in den dreißiger und vierziger Jahren eine Vielzahl an Rezensionen. Dabei publizierten zu dieser Zeit nicht nur deutsche und zentraleuropäische Exilanten wie J.P. Hodin, Lavrin Janko oder Johannes Urzidil über Kafka, sondern ebenso prominente Figuren des britischen literarischen Lebens wie Arnold Bennett, Elizabeth Bowen, Stephen Spender und Edward Sackville-West.

5 Edwin Muir, ‘Introductory Note’ für The Castle (London: Secker,1930) V-XII. Siehe Dieter Jakob, England, S. 85-

88. 6 Siehe Dieter Jakob, ‘England’, Kafka-Handbuch, Band 2: Das Werk und seine Wirkung, hg. Hartmut Binder

(Stuttgart: Alfred Kröner, 1979) S. 669, sowie Elgin W. Mellown, 'The Development of a Criticism: Edwin Muir and Franz Kafka', Comparative Literature, 16 (1964) S. 310-321. 7 Ritchie Robertson, 'Edwin Muir as Critic of Kafka', The Modern Language Review (1984), Vol. 79 (3) S. 638-652.

8 Für weitere Ausführungen siehe das Kapitel 'Religiöse Auslegungen' in Peter Beicken, Franz Kafka: Eine

kritische Einführung und die Forschung (Frankfurt am Main, 1974) S. 176-188.

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Die Tendenz, die Bedeutung der Werke außerhalb ihrer selbst zu suchen und diese Bedeutung mit marxistischem Werkzeug hervorholen zu wollen, vereint viele Kritiken der politisch bewegten dreißiger und vierziger Jahre. Jethro Bithel entscheidet sich 1939 für die vielleicht krudeste marxistische Auslegung des Prozess-Romans, wenn er ihn als 'Bolschewistische Satire über die Maschinerie des Gesetzes’ liest.9 Doch schon 1933 hatte Stephen Spender Kafka mit Edward Upward verglichen, laut Spender ein ‘überzeugter und aktiver Kommunist'.10 Kafkas 'Vision von Autorität' ähnele der von Upward, notiert Spender, mit dem Unterschied, dass Kafka die Zweckmäßigkeit dieser Autorität bezweifle, während Upwards Werke zumindest die Autorität der Sozialmoral als der Gesellschaft dienlich darstelle. Denn diese habe die Fähigkeit, die Gesellschaft in einem 'historischen Akt des Willens' zu transformieren.11 Cecil Day Lewis hingegen zählt Kafka nicht zu den überzeugtesten Marxisten, ordnet ihn vielmehr, gemeinsam mit Rilke, Proust, Joyce und Eliot, jener Gruppe europäischer Modernisten zu, die 'zwischen politischen Sympathien und ihrem Anliegen, für das Unbewusstein einzustehen, hin und hergerissen' seien.12 Diese Interpretation auf eine abstraktere Ebene stemmend, betrachtet Edward Sackville-West den Prozess als Verhandlung des Konflikts zwischen ‘Individuum und absoluter Autorität’.13

1937 wurde Kafka zum ersten Mal in T.S. Eliots Zeitschrift Criterion besprochen. Rezensent Desmond Hawkins nähert sich dem Prozess und 1938 der Verwandlung mit psychoanalytisch gefärbten Begriffen wie 'Guilt' (gar in Großschreibung), 'fear' und 'nightmare world'.14 In der Tat scheint Kafka, dessen Leben und Schreiben so offensichtlich ineinander überfließen, für eine autobiographisch-psychoanalytische Deutung prädestiniert, die von der Publikation von Brods Biographie und der Tagebücher auf Englisch in den Jahren 1947 bis 1949 weiter befeuert wurde. Die Freudianisierung Kafkas führt so weit, dass Edward Sackville-West Kafka nicht nur eine Inszenierung der eigenen Albträume, sondern auch ein bewusstes Einflechten psychoanalytischer Symbole in die Werke unterstellt. Im New Statesman schreibt er 1948:

As an artist Kafka relied, to a morbid extent, on the efficacy of dream symbols. We could have assumed this even before the publication of his Diaries […] in which it is evident that his interior monologue was rife with remembered nightmares […].15

In einem Polemic-Artikel von 1946 handelt David Paul Kafkas Werke sogar als 'Symptom' der

condition humaine des 20. Jahrhunderts, ein Urteil, das für den Kritiker mit einer

Infragestellung ihres literarischen Wertes Hand in Hand zu gehen scheint. Es liege an

zukünftigen Generationen, zu entscheiden, ob Kafka 'ein großer Künstler oder überhaupt ein

Künstler' gewesen sei, oder schlicht ein 'pathologisches Symptom'.16

9 Jethro Bithell, Modern German Literature, 1880-1938 (London: Methuen, 1939) S. 408.

10 Stephen Spender, 'Politics and Literature in 1933', Bookman, Vol 85 (1933) S. 147-148.

11 Stephen Spender, 'Upward Kafka and Van der Post', The Destructive Element (London, 1935) S. 236-250.

12 Cecil Day Lewis, ‘Forward from Liberalism’, Revolution in Writing (1935) 13. In: Dieter Jakob, England, S. 225.

13 Edward Sackville-West, ‘The Trial’ & ‘The Metamorphosis’, Spectator (23. Juli 1937) S. 152. In: Dieter Jakob,

England, S. 172. 14

Desmond Hawkins, 'Fiction Chronicle', Criterion vol. 17, No. 66 (Oktober 1937) S. 113-15. In: Dieter Jakob, England, S. 175-178. 15

Edward Sackville-West, ‘Books in General’, New Statesman and Nation (11. Dezember 1948) S. 527. In: Dieter Jakob, England, S. 353. 16

David Paul, ’A view of Kafka', Polemic (Juli-August 1946) S. 30-33.

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So ist es kaum überraschend, dass der Germanismus 'Angst' in Kafka die ideale

Veranschaulichung findet. Bemerkenswerterweise wird der Begriff nicht lediglich für

psychoanalytische Interpretationen herangezogen, sondern leitet ebenso die Diskussion um

Kafkas 'Englishness' ein. 'Angst is out of fashion', stellt Jacob Isaacs 1951 fest.17 Kafkas

Kritiker persiflierend fährt er fort: ‘Und dann folgt der wichtigste, wirkliche Einspruch: Es ist

alles so unenglisch.' Dieser Bewertung setzt Isaacs schlicht das Gegenteil entgegen. Man

könne fast sagen, ‘dass Kafka, in seinen zahlreichen Verkleidungen und Verwandlungen, der

bedeutendste Englische Romanschriftsteller’ sei. Franz Biermann Steiners 1946 erschienenes

Gedicht 'Kafka in England’ suggeriert Ähnliches:

'haben sie Kafka gelesen?' fragt Mrs Brittle beim frühstück,

'er ist recht unausweichlich und ziemlich fundamental!'

'haben sie Kafka gelesen' fragt Mr. Tooslick beim tee,

'man versteht dann die welt viel besser–

Doch freilich ist nichts real.’18

***

Wurde die Kafka-Rezeption bis in die fünfziger Jahre vor allem von den wichtigen

literarischen Zeitschriften Englands vorangetrieben, mehrten sich Anfang der sechziger Jahre

nun auch in literarischen Nachschlagewerken Einträge über Kafka.19 Die Standardausgaben

des Hauptwerks wurden durch die bei Penguin erscheinenden Taschenbuchausgaben

ergänzt, die sich hunderttausende Male verkauften.20 Kafka, so schien es, war endgültig in

England angekommen – und das nicht nur im übertragenen Sinne.

Die Bedeutung Malcolm Pasleys für die britische, sowie die internationale Kafka-Forschung, kann kaum überschätzt werden. Der Oxforder Germanist war Ende der fünfziger Jahre Professor am Magdalen College, als ein Student ihn mit einem Großneffen Kafkas bekannt machte, der in Oxford Rechtswissenschaften studierte. Über diesen wurde Pasley mit Marianne Steiner befreundet, einer der vier damals noch lebenden Nichten Kafkas. Als er daraufhin vom Verbleib der Manuskripte erfuhr – nachdem Max Brod sie im März 1939 nach Jerusalem mitgenommen hatte, deponierte er sie während der Suez-Krise 1956 in einem Zürcher Banksafe – erhielt er von Steiner die Erlaubnis, sie in die Oxforder Bodleian Library überzuführen. Im März 1961 erreichte ihn Marianne Steiner schließlich per Telefon in den Skiferien in Saas-Fee und bat ihn, samt der Schriften über Zürich nach England zurückzukehren. In Pasleys kleinem Fiat fanden diese, eilig über 100.000 Pfund versichert, ihren Weg nach Oxford.21

17

Jacob Isaacs, ‘The Age of Anxiety’, An Assessment of 20ieth Century Literature (1951) S. 46-47. In: Dieter Jakob, England, S. 432. 18

Franz Baermann Steiner, ‘Franz Kafka in England’, Unruhe ohne Uhr (Heidelberg, 1954) S. 51. 19

Siehe Dieter Jakob, ‘Einführung’, England, S. 52. 20

Siehe Dieter Jakob, ‘Englische Leser Kafkas. Werk und Übersetzung, ästhetische Erwartungen und Erfahrungen im Kontext der fremden Sprache’, Euphorion 82 (1988) S. 89-103. 21

Siehe T.J. Reeds Nachruf auf Malcolm Pasley, ‘Biographical Memoirs of Fellows, VI’, Proceedings of the British Academy 150 (2007) S. 149-157.

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Am 22. April 1977 erschien ein Leserbrief Pasleys im TLS. Eine textkritische Ausgabe der Werke Franz Kafkas, schreibt er hier, werde soeben von einer internationalen Forschungsgruppe an der Universität Wuppertal vorbereitet.22 Das Resultat werde bei S. Fischer in Frankfurt verlegt. Sollte jemand in Besitz bisher unbekannter Manuskripte sein, fügt Pasley hinzu, möge er sich bei den Wissenschaftlern melden. Dass das Erscheinen des ersten Bands der Kritischen Ausgabe (Das Schloss, 1982) erhebliche Konsequenzen für Kafkas englische Leser haben sollte, betont S.S. Prawer im Oktober 1983 im TLS: 'Es ist wohl offensichtlich, dass wir eine englische Übersetzung benötigen, die auf dieser neuen, kritischen Ausgabe aufbaut.'23 Pasleys, Mark Harmans, Michael Hofmanns und J.A. Underwoods auf dem Text der Originalmanuskripte basierende Neuübersetzungen erschienen in den neunziger Jahren. Auch ohne den Anspruch, Unübersetzbares wie Kafkas bisweilen exzentrische Schreibweisen und regional eingefärbtes Vokabular im Englischen genau zu reproduzieren, ist das Ziel, den Schreibfluss der nur spärlich mit Satzzeichen versehenen Manuskripte zu erhalten, wie es im Verlagsvorwort zu Mark Harmans The Castle (Schocken) vermerkt ist, programmatisch für sie alle.24

Aus Pasleys Rekonstruktion der Originalmanuskripte, seinen Ergänzungen zur Datierung und Reihenfolge veröffentlichter und bis dahin unveröffentlicher Stücke, entstanden mehrere, thematisch weit gefächerte Bücher und Aufsätze, die Kafkas Leben und Literatur behutsam ergründen: Eine Zusammenstellung der Reiseaufzeichnungen und der Korrespondenz zwischen Kafka und Max Brod erschien unter dem Titel Max Brod, Franz Kafka: eine Freundschaft in zwei Bänden 1987 und 1989 bei S. Fischer. Indem Pasley in letzterem die Briefe der Freunde einander gegenüber stellt, bringt er sie erstmals wirklich miteinander ins Gespräch (statt Brod wie bisher von oder für Kafka sprechen zu lassen – ein Projekt, das Pasley auch durch die Neueditierung der Werke vorantrieb). In einem Ausstellungskatalog für das Deutsche Literaturarchiv Marbach spricht wiederum der Text selbst: In Die Handschrift redet (1990) analysiert er die Beschaffenheit der Buchstaben, Unterbrechungen im Text und die unterschiedliche Wörterdichte pro Seite des Prozess-Manuskripts und zieht daraus Schlüsse für die mögliche Genese des Romans.25 Mit noch weiter reichenden Überlegungen zum Schaffensprozess, vom Zimmer, in dem Kafka schrieb, bis zu der Art von Stift und den Notizbüchern, die er benutzte, trug Pasleys Arbeit nicht lediglich dazu bei, die Texte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.26 Vielmehr gelang es ihm, den Schriftsteller als Schreibenden greifbar zu machen, das Mysterium Franz Kafka zu entmystifizieren, ohne ihn freilich zu entzaubern.27

***

22

The Times Literary Supplement (22. April 1977) S. 489. 23

S.S. Prawer, 'Difficulties of the Kafkaesque', Times Literary Supplement (14. Oktober 1983) S. 1127. 24

Franz Kafka, The Castle (New York, Schocken, 1998) 25

Malcolm Pasley, ‘Franz Kafka. Der Proceß. Die Handschrift redet’, Marbacher Magazin 52 (1990). Siehe auch Ulrich Greiners Besprechung der Ausstellung in der ZEIT vom 11. Mai 1990. 26

Bei S. Fischer erschien 1995 ‘Die Schrift ist unveränderlich’: Essays zu Kafka, eine Sammlung ausgewählter Aufsätze Pasleys. 27

Siehe z.B. Malcolm Pasley, ‘Franz Kafka MSS: Description and Select Inedita’, Modern Language Review 57 (1962) S. 54–59; Malcolsm Pasley u. Klaus Wagenbach, ’Versuch einer Datierung sämtlicher Texte Franz Kafkas’, DVjs 38 (1964) S. 149-167.

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Der Einfluss von Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus auf die britische Kafka-

Forschung hielt sich, wohl auch durch den auf die Aufbereitung der Manuskripte und

Textkritik gerichteten Fokus in den siebziger Jahren, in Grenzen. (Anthony Thorlbys Studie

‘Anti-Mimesis: Kafka and Wittgenstein’, gemäß welcher Kafkas Werke nicht die Welt,

sondern sich selbst als sprachliche Konstrukte reflektieren, ist eine lesenswerte

Ausnahme.28) Seit etwa Mitte der achtziger Jahre dominiert ein im weitesten Sinne

historistischer Ansatz, der die Beziehungen zwischen Literatur und anderen kulturellen

Systemen herausstellen soll. Die Arbeiten von Ritchie Robertson und Elizabeth Boa sind

hierfür stellvertretende Beispiele. In Kafka: Judaism, politics, and literature (1985)

untersucht Robertson die Werke im Kontext des jüdischen Lebens in Prag und Kafkas

Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität, während sie Boa in Kafka: Gender, Class,

and Race in the Letters and Fictions (1996) in Anbetracht des sexualpolitischen Klimas um die

Jahrhundertwende liest.29

Ferner weichen die Fragen 'Was verraten uns Kafkas Werke über uns?' und 'Was verraten

uns Kafkas Werke über Kafka?' – oft gegeneinander ausgespielt – einem Nebeneinander

kontrastierender, gleichberechtigter Antworten. Gabriel Josipovicis Feststellung von 2012,

die Forschung sei in den vergangenen hundert Jahren in ihrem Unterfangen, Kafka zu

‘verstehen’, wohl keinen Schritt näher gekommen als dessen erste Leser, verdeutlicht diesen

Standpunkt eindrücklich.30 Die Abkehr vom Versuch einer endgültigen Entschlüsselung

stimmt Josipovici ebenso wenig pessimistisch wie Adam Thirlwell, der in seiner Einleitung zur

neusten Vintage-Ausgabe der Verwandlung im Jahr 2005 scheinbar gegensätzliche

‘Wahrheiten’ über Kafka und dessen Werke selbstverständlich vermischt, um sie schließlich

allesamt leidenschaftlich zu verneinen:

These fictions express the alienation of modern man; they are a prophecy of a) the totalitarian police state, and b) the Nazi Holocaust. His work expresses Jewish mysticism, a non-denominational mysticism, an anguish of man without God. His work is very serious. He never smiles in photographs. […] It is crucial to know the facts of Kafka’s emotional life when reading his fiction […] All of these truths, all of them, are wrong.31

Eine solche Verneinung hat nicht resigniertes Verstummen zur Folge, sondern zelebrierte Mehrstimmigkeit. Es ist nur konsequent, dass Thirlwell seinen Essay mit der Ambiguität einer Zeichnung, statt mit neuen Kontexten, ‘-ismen’ und Schlüsseln beendet. Für einen krakelig skizzierten Gregor Samsa, den Vladimir Nabokov einst Studenten in seiner VORLESUNG über Die Verwandlung präsentierte, räumt Thirlwell die ganze letzte Seite.

28

Anthony Thorlby, ‘Anti-Mimesis: Kafka and Wittgenstein’, On Kafka – Semi-centenary Perspectives, hg. Franz Kuna (London: Elek Books Limited, 1976) S. 60. 29

Siehe auch Ritchie Robertson, 'In search of the historical Kafka: a selective review of research, 1980-92', Modern Language Review, 89 (1994) S. 107-137. 30

Gabriel Josipovici, ‘Why we don’t understand Kafka’, Times Literary Supplement (5. September 2012) Online HIER. 31

Adam Thirlwell, ‘Introduction’ in Franz Kafka, Metamorphosis and Other Stories (London: Vintage, 2005) S. viii-ix.

Vladimir Nabokovs ‘Gregor

Samsa’

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Institutionen

BODLEIAN-BESTÄNDE IN OXFORD: Die Nachlassmanuskripte, zuvor im Besitz von Max Brod und Salman Schocken, dienten als Basis für die Kritische Ausgabe der bei S. Fischer erschienenen Schriften, sowie für die Faksimile Ausgabe von Stroemfeld/Roter Stern Verlag.

KAFKA RESEARCH CENTRE IN OXFORD: Gegründet im Jahr 2008 von Ritchie Robertson und Manfred Engel und gefördert vom John Fell Fund, fördert das Zentrum Untersuchungen der Bodleian-Manuskripte und dient als Knotenpunkt der Kafka-Forschung. Der Fokus liegt auf historischer, biographischer, literarischer und kulturwissenschaftlicher, möglichst interdisziplinärer und intermedialer Arbeit. Das Research Centre heißt außerdem Gastforscher willkommen, unter anderem Gerhard Neumann (2009) und Roland Reuß (2011).

Übersetzungen

Einige aktuell kursierende Übersetzungen orientieren sich immer noch an Brod, vermehrt wird jedoch die Kritische Ausgabe als Basis herangezogen.

Die englischen Editionen der Tagebücher sind unvollständig, da sie auf Brods Version der Manuskripte basieren, wo einige (sexuell explizite) Stellen ausgespart sind. Dies ist exemplarisch für das Oeuvre, denn trotz Mehrfachübersetzungen sind noch nicht alle Texte auf Englisch verfügbar – neben Tagebucheinträgen fehlen zahlreiche Nachlassfragmente.32 Zudem lassen die englischen Ausgaben bisweilen eine detaillierte Diskussion des Schreibprozesses, beispielsweise Streichungen und Veränderungen im Text, weitgehend vermissen.

Während die frühsten Übersetzungen die Ambition des Ehepaars Muir erkennen lassen, Kafka einem breiten englischen Publikum zugänglich und somit möglichst ‘lesbar’ zu machen, halten sich die neueren Übersetzungen dichter an den Originaltext. So erklärt Malcolm Pasley im Vorwort des bei Penguin erschienenen The Great Wall of China stellvertretend für sie alle: ‘Diese englischen Übersetzungen repräsentieren das erste Mal den authentischen Text der Werke, so überraschend das mehr als fünfzig Jahre nach Kafkas Tod auch sein mag.'33Aufgrund der großen Anzahl Brodscher Manipulationen sei es, so Pasley, in den meisten Fällen angebracht gewesen, die Neuübersetzungen direkt aus dem Manuskript anzufertigen, statt auf dem bestehenden Text der Muirs aufzubauen. Stilistische Eigenheiten – Wiederholungen im Vokabular, überlange Sätze – werden auch in den Übersetzungen von Harman und Hofmann nicht gezielt auszugleichen versucht. Im Gegenteil habe Harman die, wie er es in der Einführung zu seiner Übersetzung mit Samuel Beckett formuliert, 'steamroller-like quality' der Prosa im Englischen erhalten wollen. Eine

32

Siehe Carolin Duttlinger, ‘Scholarship and adaptations’, The Cambridge Introduction to Franz Kafka (Cambridge: Cambridge University Press, 2013) S. 125. 33

Malcolm Pasley, ‘Editor’s Preface’ in Franz Kafka, The Great Wall of China, hg. Pasley (London: Penguin, 2002).

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detaillierte Analyse der englischen Übersetzungen bietet Michelle Woods in ihrem Buch KAFKA TRANSLATED.

Frühe Übersetzungen:

Willa and Edwin Muir, The Castle (1930)

The Great Wall of China and Other Pieces (1933)

The Trial (1937)

Amerika (1938)

Seltene Muir-Übersetzungen: HTTP://FRANZKAFKASTORIES.COM

Ernst Kaiser und Eithne Wilkins, In the Penal Settlement and Short Prose Works (1949)

Wedding Preparations in the Country and other Posthumous Prose Writings (1949)

Neuere Übersetzungen:

Malcolm Pasley, The Great Wall of China and Other Short Works, 1991 (Penguin); The Transformation and other Stories: Works published during Kafka's Lifetime, 1992 (Penguin); The Collected Aphorisms, 1994 (Penguin)

Idris Parry, The Trial, 1994 (Penguin)

Ernst Kaiser und Eithne Wilkins, The Blue Octavo Notebooks, Cambridge, MA: Exact Change,

1991

Michael Hofmann, The Man who Disappeared (Amerika), 1996 (New Directions); Metamorphosis and Other Stories (Penguin), 2007

J. A. Underwood, Stories 1904-1924, 1981 (Futura); The Castle, 1997 (Penguin), orientiert sich an der von Malcolm Pasley mitherausgegebenen Kritischen Ausgabe;

Mark Harman, The Castle, 1998 (Schocken), basiert ebenfalls auf der Kritischen Ausgabe. Untertitel 'A new translation based on the restored text'.

Die neusten Oxford World's Classics Editionen:

Anthea Bell, The Castle, 2009

Mike Mitchell, The Trial, 2009

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Joyce Crick, The Metamorphosis and Other Stories, 2009 A Hunger Artist and Other Stories, 2012

Ritchie Robertson, The Man Who Disappeared, 2012

Die Unterschiede zwischen den Übersetzungen – und den Übersetzern – werden an einer zentralen Stelle der Verwandlung besonders deutlich. Das 'ungeheure Ungeziefer' wird sich binnen sechzig Jahren einige Male transformieren:

'gigantic insect' (Muir, 1948)

'giant bug' (Underwood, 1981)

'monstrous insect' (Pasley, 1992)

'monstrous cockroach' (Hofmann, 2007)

Verlage mit Kafka-Programm:

Vintage:

The Trial, The Complete Short Stories, The Complete Novels, Metamorphosis, The Zürau Aphorisms, The Castle, Letters to Felice, Amerika, The Diaries of Franz Kafka

Penguin:

Metamorphosis and Other Stories, In the Penal Colony, The Great Wall of China (inkl. Blumfeld, An Elderly Bachelor; Investigations of a Dog; Aphorismen), The Castle, The Trial, Amerika, The Essential Kafka Boxed Set

Oxford World's Classics:

The Man Who Disappeared, A Hunger Artist and Other Stories, The Metamorphosis and Other Stories, The Trial, The Castle

Wordsworth Classics:

The Essential Kafka: The Castle, The Trial, Metamorphosis and Other Stories

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Kafka-Atlas

▪ Briefausgaben:

Letters to Friends, Family and Editors, übersetzt von Richard und Clara Winston, Oneworld

Classics, 2011

Dearest Father, übersetzt von Hannah und Richard Stokes, Oneworld Classics, 2008

Letters to Milena, hg. Willy Haas, übersetzt von Tania und James Stern, London: Minerva,

1992

Letters to Felice, London: Vintage, 1992

Letters to Felice, hg. Erich eller und ürgen Born, übersetzt von James Stern und Elisabeth

Duckworth, London: Minerva, 1992

▪ Tagebücher:

The Diaries of Franz Kafka, 1910–23, hg. Max Brod, übersetzt von Joseph Kresh und Martin

Greenberg, Harmondswroth: Penguin, 1972

▪ Biographien:

Ronald Hayman, K: A Biography of Kafka, London: Weidenfeld & Nicholson, 1981. Eine ausführliche, eloquente, wenn auch nicht bahnbrechende Einführung. Auf eine umfangreiche chronologische Tafel folgen die üblichen Stationen, begonnen mit einem Kapitel über die Schaffensumstände der Durchbruchserzählung 'Das Urteil': die Vorgeschichte der Eltern, das Prager Gymnasium, Universität, Felice, Zürau, Milena, Berlin. Der professionelle Biograph Hayman widmete sich unter anderem dem Leben Harold Pinters, Samuel Becketts und Friedrich Nietzsches.

Jeremy Adler, Franz Kafka, Penguin, 2001. In der Reihe 'Illustrated Lives' des Overlook Verlags legt Adler, inzwischen emeritierter Germanistikprofessor am King's College London, einen schmalen, informativen, vor allem durch die aufwändige Bebilderung kurzweiligen Band vor. Neben bekannteren Portraits und Zeichnungen finden sich hier eine Fotografie des Onkels Siegfried Löwy, der, auf einem Motorrad sitzend, von Ottla Kafka und einer Gruppe Mädchen angeschoben wird, sowie eine Zeichnung verstümmelter Hände – eine Illustration zur 'Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen' aus den Amtlichen Schriften.

Nicholas Murray, Kafka, Little Brown, 2004. Murrays sorgfältig recherchierte, elegant und mitreißend erzählte Biographie gliedert Kafkas Leben in wenige, den bedeutenden Liebesbeziehungen gewidmete Abschnitte: 'Felice', 'Milena', 'Dora'. Die Stadt Prag, der das erste lange Kapitel gewidmet ist, zählt Murray bezeichnenderweise zu ihnen.

Die ersten beiden Bände von Reiner Stachs umfassender Biographie sind bereits in englischer Übersetzung (von Shelley Frisch, die dafür 2014 den Helen and Kurt Wolff Translator's Prize erhielt) bei Princeton University Press erschienen und wurden in

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Großbritannien in vielen überregionalen Tageszeitungen positiv besprochen (Guardian, Telegraph, Literary Review, Times Literary Supplement).

Literarische und künstlerische Rezeption

▪ Theateradaptionen

The Trial wurde 1950, basierend auf der Dramatisierung André Gides und Jean-Louis Barraults und übersetzt von Jacqueline und Frank Sundstrom, am Londoner Winter Garden Theatre aufgeführt. Nach nur sechs Aufführungen wurde das Stück abgesetzt. Laut dem Kritiker der Zeitung Stage kein Verlust, für den durchschnittlichen Theatergänger sei es nämlich ‘beinahe unverständlich’.34

Steven Berkoff, The Trial, Metamorphosis, In the Penal Colony: Three Theatre Adaptations from Franz Kafka, 1988

The Trial, adaptiert von Nick Gill, wird im Sommer 2015 im Londoner Young Vic Theater uraufgeführt

▪ Oper

‘The Trial’, eine Oper des amerikanischen Komponisten Philip Glass und Christopher Hampton für das Music Theatre Wales, stand zuletzt im Herbst 2014 auf dem Spielplan des Londoner Royal Opera House. Glass ließ sich schon einmal von einem Kafka-Text zu einer Oper inspirieren: die Premiere von 'In the Penal Colony' fand 2000 in Seattle statt.

▪ Tanz:

Arthur Pitas Adaption der Verwandlung wurde 2011 im Linbury Studio Theatre des Royal Opera House uraufgeführt. Für seine Rolle als Gregor Samsa wurde der Royal Ballet Tänzer Edward Watson mit dem renommierten Olivier Award in der Kategorie 'Outstanding Achievement in Dance' ausgezeichnet.

▪ Bildende Kunst

Alex Hedworth (Illustrationen)

Keith Vaughan

Peter Mendelsund (Art, Design & Photography) - LINK

34

Dieter Jakob, ‘Einführung’, England, S. 52. Siehe auch The London Stage 1950-1959: A Calendar of Productions, Performers, and Personnel, hg. J.P. Wearing (Plymouth: Rowman & Littlefield, 2014) S. 14-15.

Alex Hedworth, Illustration zu Der

Prozess – ‘They were so certain only

because they were so stupid’

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Hillary Younglove: Metamorphosis visualized - LINK

Martin Kippenberger: The Happy End of Franz Kafka's Amerika, Conference Tate - LINK

Paul Coldwell: ‘KAFKA'S DOLL AND OTHER WORKS’. Die Anekdote von Kafkas Puppe, festgehalten

in Dora Dymants Erinnerungen 'Mein Leben mit Franz Kafka', verwandeln der Dichter

Anthony Rudolf und der Künstler Coldwell in eine bebilderte Kurzgeschichte.

▪ Literatur:

Eine Bestimmung jener Werke der englischen Literatur nach 1940, die eindeutig keine

kafkaschen oder 'kafkaesken' Elemente vorweisen, würde sich vermutlich um ein Vielfaches

einfacher gestalten als der Versuch, Kafkas literarische Spuren in den Werken einzelner

Schriftsteller herauszustellen. Auch wenn Roland Gant im Jahr 1949 vielleicht etwas zu

überschwänglich behauptet, es gebe 'wenige Schriftsteller in England zwischen zwanzig und

achtunddreißig Jahren, die nicht irgendwann unter dem Zauber Kafkas' gestanden hätten, ist

Kafkas Einfluss auf die englische Literatur von der Mitte des letzen Jahrhunderts bis in die

Gegenwart beachtlich.35

W.H. Auden (1907-1973) – Kafka wird von Auden sowohl literaturwissenschaftlich als auch

literarisch rezipiert. Der Aufsatz 'k.'s quest', den Auden 1947 im Sammelband The Kafka

Problem veröffentlicht, betrachtet Kafkas K.-Figuren vor dem Hintergrund anderer fiktionaler

Reisen und Reisender (Der Mythos vom Heiligen Gral, Pilgrim's Progress, Faust, Ibsens Peer

Gynt) und befindet, das Motiv der 'Suche' bei Kafka unterscheide sich fundamental von dem

in allen oben genannten Werken. Während die Helden bei Bunyan oder im Gral-Mythos von

der Frage 'Wird mir das, was von mir verlangt wird, gelingen?' getrieben seien, wüssten

Kafkas K.s erst gar nicht, was überhaupt von ihnen verlangt werde.36 In dem Gedicht 'New

Year Letter' (1945), in welchem Kafka neben Platon, Zola und Wagner erscheint, setzt Auden

außerdem eine Art Kafka-Spezies ('the Kafkas') den aus dem Prozess und dem Schloss

bekannten Machtapparaten aus: 'In labs the puzzled Kafkas meet/The inexplicable

defeat:/The odd behaviour of the law,/The facts that suddenly withdraw,/The path that

twists away from the/Near-distant Castle they can see, The Truth where they will be

denied/Permission ever to reside.'37

Rex Warner (1905-1986) – Ein Kafka und Warner gewidmetes Symposion im Jahr 1945

mündet in den im selben Jahr publizierten Sammelband Focus One.38 Die Beiträge ordnen

bisherige Interpretationstendenzen der britischen Kafka-Forschung ein: D.J. Enright

analysiert die Suche nach dem Symbolismus, Norman Nicholson und R. Friedmann schreiben

über Allegorie, während Louis Adeane Kafkas 'Heldenmythos' ins Visier nimmt. Sie

35

Roland Gant, 'Kafka's Influence on English Writing', Litterair Paspoort (Amsterdam, August-September, 1949) S. 114-15. In: Dieter Jakob, England, S. 276. 36

W.H. Auden, 'k.'s quest', The Kafka Problem, hg. Angel Flores (New York: The Falcon Press, 1946) S. 50-51. 37

W.H. Auden, 'New Year Letter', The Double Man (New York: Random House) S. 66. 38

Balachandra Rajan und Andrew Pearse (Hg.), Focus One. Symposium on Kafka and Rex Warner, poetry, prose and criticism (London, 1945).

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verkünden mal mehr, mal weniger definitive Parallelen zu Warners Werken, die am

deutlichsten in Warners Debüt The Wild Goose Chase (1937) und The Aerodrome (1941) zu

erkennen seien – allegorische Romane über faschistische Gemeinschaften und die

Möglichkeit, oder Unmöglichkeit, eines Ausbruchs daraus. In einem Brief an den

Germanisten Peter F. Neumeyer betont Warner selbst, dass er sich in seinem künstlerischen

Schaffen weniger Kafka verpflichtet sieht, als vielmehr Charles Dickens als gemeinsamen

Einfluss identifiziert.39

Edward Upward (1903- 2009) – Jeder Kenner der englischen Literaturlandschaft zwischen

1925 and 1940 wisse, konstatiert John Lehmann 1940, wie viel Edward Upward dem

'österreichischen Schriftsteller Franz Kafka zu verdanken' habe.40 Thematische Parallelen

sind durchaus zu erkennen, beispielsweise in Journey to the Border (1938), in dem der

Protagonist, nur 'der Tutor' genannt, sich gegen unterdrückerische bürgerliche Werte

auflehnt. Angel Flores erkennt in Upwards Werken eine Kafkasche ‘Verwerfung eines

naturgetreuen Realismus zugunsten einer Realität voller Fantasie und qualvollem

Geheimnis.’41 Diesen vermeintlich an Kafka angelehnten Antirealismus macht Peter Demetz

Upward wiederum zum Vorwurf und argumentiert, Upward habe ‘lediglich allegorische

Figuren’ kreiert und Kafka somit missverstanden.42 Wie Warner wehrt sich jedoch auch

Upward 1962 in einem Brief an Neumeyer gegen einen allzu zu ernsten Kafka-Vergleich: ‘Ich

bin so froh, dass endlich jemand bemerkt hat, dass Journey to the Border nicht wirklich ein

“kafkaesker” Roman ist.’43

Dieter Jakob hat in seiner umfangreichen Studie über die journalistische Rezeption Kafkas in

England bis 1966 zahlreiche Rezensionen katalogisiert, die Kafkas Einfluss auf die Generation

Auden, Warner und Upward nachgehen. Dabei verrät die inspirierte Suche nach dem

'Kafkaesken' vielleicht nicht weniger über tatsächliche Spuren als über eine zunehmende

Kafka-Fixierung einiger Rezensenten, und über den festen Platz im kollektiven literarischen

Bewusstsein des Landes, den Kafka bereits ein Jahrzehnt nach seinem Tod innegehabt zu

haben scheint.

William Sansom (1912-1976) – Laut Edwin Muir hat auch William Sansom von Kafka gelernt,

und zwar die künstlerische Verarbeitung von Archetypen.44 In der Tat könnte Sansoms The

Long Sheet (1944), in welchem eine Gruppe Gefangener dazu verurteilt wird, in einem

fensterlosen, türlosen Raum ein niemals trocknendes Laken auszuwringen, ebenso gut in

Josef K.s Universum angesiedelt sein wie die Novelle The Equilibriad von 1948, deren

Protagonist eines Morgens mit einem merkwürdig geknickten Körper erwacht, in Gregor

Samsas. Während die frühere Erzählung eher durch lose Motive (Gefangenschaft, unlösbare

Aufgabe) an Kafka erinnert, geraten vor allem die ersten Szenen in The Equilibriad beinahe

39

Peter F. Neumeyer, ‘Kafka and England’, The German Quarterly, Vol. 40, No. 4 (November 1967) S. 634-635. 40

John Lehmann, New Writing in Europe (London, 1940) S. 59. 41

Angel Flores, ‘Prefatory Note’, Franz Kafka, A Chronology, zitiert in Peter F. Neumeyer, ‘Kafka and England’, S.

636. 42

Peter Demetz, 'Kafka in England’, German Life and Letters, Vol. 4, Issue 1 (Oktober 1950) S. 21. 43

Peter F. Neumeyer, ‘Kafka and England’, S. 636. 44

Peter F. Neumeyer, ‘Franz Kafka and William Sansom’. In: Dieter Jakob, England, S. 281.

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zur Kafka-Persiflage: Die an die Perspektive des Protagonisten gebundene Erzählstimme

berichtet, wie dem Protagonisten, im Bett auf dem Rücken liegend, nach und nach seine

körperlichen Veränderungen bewusst werden, die er sich zunächst durch Betrunkensein

oder Halluzinationen zu erklären versucht. Er verwirft beides und wir erfahren: ‘Um zehn Uhr

sollte er eigentlich im Büro sein.’45

Graham Greene (1904-1991) – In Journey Without Maps (1936), einem Reisetagebuch über

seine Fußreise durch Liberia von 1935, zieht Greene Das Schloss mehrmals zur Verbildlichung

des Mehrdeutigen oder Unfassbaren heran. Unfähig, die Gläubigen einer liberischen,

polytheistischen Religion unter ihren zeremoniellen Masken auseinanderzuhalten,

beschreibt er seine Verwirrung als 'curiously Kafka-like'.46 Der Roman The Confidential Agent

(1939) scheint ebenfalls auf Kafka anzuspielen, hat er doch einen Charakter namens Mr K.

und einen anderen namens D vorzuweisen.

Samuel Beckett (1906-1989) – Ein Sinn für das Zusammenspiel aus Banalität und Mythos, ein

ausgeprägter Galgenhumor, sowie eine Faszination für den Prozess des Wartens, vereint

Kafka und Beckett. Besonders Becketts einsame, archetypische Männerfiguren in der

Romantrilogie – Molloy, Malone und der 'Namenlose' – scheinen eng mit Kafkas K.-Figuren

verwandt. Jedoch befinden sich Becketts Charaktere meist bereits im Endstadium der

traurigen Existenz, die auch Kafka seinen Protagonisten auferlegt, haben sich vollends in ihr

eigenes, hypersensibles Bewusstsein zurückgezogen. In einem berühmten Interview mit der

New York Times aus dem Jahr 1956 stellt Beckett selbst Parallelen und Unterschiede zu

Kafka heraus:

The Kafka hero has a coherence of purpose. He's lost but he's not spiritually precarious, he's

not falling to bits. My people seem to be falling to bits. Another difference. You notice how

Kafka's form is classic, it goes on like a steamroller - almost serene. It seems to be threatened

the whole time - but the consternation is in the form. In my work there is consternation behind

the form, not in the form.47

Kingsley Amis (1922-1995) – In einem journalistischen Text über DIE VERWANDLUNG

interpretiert Amis Gregor Samsas klägliche körperliche Verfassung als die vielleicht

kunstvollste Metapher für das morgendliche Erwachen mit einem Kater.

James Graham Ballard (1930-2009) – Die titelgebende Stadt in der Kurzgeschichte 'The

Concentration City' (1957), ein dystopisches Labyrinth steinerner, scheinbar unendlicher

Gassen, Treppenhäuser und enger Korridore, hätte Josef K. wohl ebenso großes

Kopfzerbrechen bereitet wie die urbanen Topographien des Prozess-Romans. Auch die

Handlung erinnert auf gleich mehreren Ebenen an Kafka: Von der Sehnsucht nach der

Freiheit ('free space') getrieben, besteigt der Physikstudent Franz M. einen Zug, muss zehn

45

William Sansom, The Equilibriad (London: The Hogarth Press, 1948) S. 22. 46

Graham Greene, Journey without Maps (London: Vintage, 2002) S. 175. 47

Zitiert in G.M. Kalinowski, 'Beckett's 'Reversed Metamorphosis' – What Constitutes a Serious Reading of The

Castle?', Comparative Literature, Vol 56, No. 4 (2004) S. 317. Zur Beziehung Kafka-Beckett siehe z.B. auch Gary

Adelman, ‘Beckett und Kafka’, TriQuarterly 117 (2003) S. 77-106; Charles Bernheimer, ‘Watt’s in The Castle. The

Aporetic Quest in Kafka and Beckett’, Newsletter of America 6 (1982) S. 19-24.

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Tage später jedoch feststellen, dass er lediglich zu seinem Abfahrtspunkt zurückgekehrt ist.

Von Sicherheitsbeamten verhört, bemerkt Franz außerdem, dass das Datum auf einem

Kalender mit dem Datum seines Abreisetages identisch ist, er also weder räumlich noch

zeitlich vorwärts gekommen ist.

Harold Pinter (1930-2008) – Formal scheint Pinters Kitchen Sink Realism auf den ersten Blick wenig mit Kafkas abstrakten Szenarien gemeinsam zu haben. Pinters Gespür für die Gewalttätigkeit der Sprache und die Grausamkeit des Gewöhnlichen jedoch verbindet ihn unweigerlich mit Kafka – vom Machtkampf zwischen Vater und Sohn in The Homecoming ganz zu schweigen.

Alan Bennett (*1934) – In Kafka's Dick (1986) versetzt Bennett die Freunde Kafka und Brod ins Wohnzimmer eines Vorstadtpärchens in Yorkshire. Der Mann arbeitet im Versicherungswesen und schreibt einen Artikel über Kafka für Small Print, eine Zeitschrift für Versicherungsstudien. Im Laufe des ersten Aktes ringt Kafka Brod das Versprechen ab, seine Schriften zu verbrennen, schreckt dann aber vor seiner eigenen Anweisung zurück: schließlich könnten die Nazis, Gott bewahre, sie dann nicht mehr in ihre Bücherverbrennung miteinbeziehen. Hermann Kafka hat ebenfalls einen Auftritt (und soll sich laut Regieanweisungen direkt ans Publikum wenden, um ‘nicht wie ein Tyrann’ zu wirken). In The Insurance Man (1986) kommt ein junger Mann mit einer Schadensersatzforderung in die Arbeiter Unfall Versicherung, denn er befürchet, sich bei seiner Arbeit in einer Färberei mit einer mysteriösen Hautkrankheit infiziert zu haben. Daraufhin wird ihm von einem Angestellten namens Kafka eine Stelle in einer Asbestfabrik angeboten, jener nicht unähnlich, die Kafkas Schwager einst tatsächlich leitete. Hier nutzt Bennett also sein biographisches wie sein literarisches Wissen über Kafka, wenn der hautkranke Mann dem Zuschauer unweigerlich den Jungen mit der rätselhaften Wunde in 'Ein Landarzt' in Erinnerung ruft.

John Banville (*1945) – In der Anfangsszene von Banvilles The Book of Evidence (1989) rekapituliert der Mörder Freddie seine Verhaftung. Zwar wird ihm beim Verhör nicht wie Josef K. das Frühstück vor der Nase weggegessen, doch folgt eine ähnliche Mischung aus Groteske und Banalität: Er unterbricht seinen inneren Monolog, um über die Decke nachzudenken, die ihm die Polizisten über den Kopf gezogen haben. Ob sie sie wohl extra mitgebracht haben, fragt er sich, oder haben sie stets eine griffbereit im Kofferraum? 'Etwas war unwiderstehlich lustig in der Art und Weise, wie die Realität, banal wie immer, meine schlimmsten Fantasien wahrmachte', denkt er.48 Im Guardian veröffentlichte Banville 2011 einen AUFSATZ über den Prozess.

Salman Rushdie (*1947) – Das magische Meer in Haroun and the Sea of Stories wird von den so genannten Plentimaw Fischen bevölkert, die als 'Hungerkünstler' beschrieben werden. Im Land Chup gibt es außerdem einen 'Schattenkünstler', der statt zu sprechen nur gestikuliert. Für seine einzige, mühevoll hervorgebrachte Aussage –'Gogogol' und 'Kafkafka' – wird er ausgerechnet von einer Figur namens Blabbermouth als Angeber tituliert.

Keith Ridgway (*1965) – NEXT-VILLAGE-PROJECT

48

John Banville, The Book of Evidence (Basingstoke und Oxford: Picador Classic, 2014) S. 5.

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Zadie Smith (*1975) – In zwei langen Aufsätzen widmet sich Smith dem Schriftsteller, vor allem aber dem Menschen Franz Kafka (LINK1 + LINK2). Die Frage 'Wer oder was ist Kafka?' führt für Smith in ‘F. Kafka, Everyman?’ direkt zur Frage nach dem Sein an sich: 'What is Muslimness? What is Femaleness? What is Polishness? What is Englishness? These days we all find our anterior legs flailing before us. We're all insects, all Ungeziefer, now.'

Adam Thirlwell (*1978) – Thirlwell verfasste die Einleitung zur neusten Vintage-Ausgabe der Verwandlung und veröffentlichte 2012 mit Multiples eine Art literarisches Flüsterpost-Projekt, in dem zwölf Originalerzählungen, darunter auch Kafkas 'In unserer Synagoge', mehrere Male von verschiedenen Übersetzern in verschiedene Sprachen übertragen wurden. Kafkas Text verwandelte sich zunächst ins Englische, dann ins Hebräische, anschließend wieder ins Englische, ins Spanische um schließlich – von Dave Eggers – abermals ins Englische übersetzt zu werden. Ist Kafka, fragt Thirlwell, multipliziert mit so einer Vielzahl an Stimmen, immer noch Kafka?

▪ Filme:

Amerika (1966), Schwarz-Weiß, 120 min, Regie: James Ferman, Drehbuch: Hugh Whitemore

The Insurance Man (1986), 77 min, BBC TV-Episode aus Screen Two (Season 2, Episode 7), Regie: Richard Eyre, nach Vorlage von Alan Bennetts Stück, Darsteller: Trevor Peacock, Alan MacNaughton, Robert Hines u.a. (AUSZUG)

Metamorphosis (Die Verwandlung, 1987), Fernsehfilm, basiert auf S. Berkoffs Theateradaption, Regie: Jim Goddard, Darsteller: Tim Roth, Steven Berkoff, Linda Marlowe, Saskia Reeves, Gary Olsen u.a.

Metamorphosis (Die Verwandlung, 2011) Regie: Chris Swanton, Darsteller: Chris New, Robert Pugh, Maureen Lipmann, Laura Rees

The Trial (Der Prozess, 1993) Regie: David Hugh Jones, Drehbuch: Harold Pinter, Darsteller: Kyle McLachlan, Anthony Hopkins u.a. Der Künstler Titorelli wird hier als zwielichtiger Verkäufer dargestellt.

Franz Kafka's It's a Wonderful Life (1993), Kurzfilm, Buch und Regie von Peter Capaldi. Richard E. Grant (bekannt zum Beispiel aus 'Withnail and I') spielt Franz Kafka, der im Film mit großer Mühe und von ständigen Unterbrechungen geplagt sein Manuskript zu 'Die Verwandlung' beginnt. 1994 wurde der Film als Bester Kurzfilm bei den BAFTA Awards ausgezeichnet, 1995 gewann er einen Oscar als bester Live Action Short Film.

A Hunger Artist (Dokumentation 2005) Video 18 min , Regie: Christof Wolf. Für seine Aktion

'Above The Below' hungerte David Blaine 44 Tage lang in einer Plexiglasbox, die an einem

Kran, in Nähe der Londoner Tower Bridge hing. Die Dokumentation zeigt 'Above The Below'

als Massenspektakel.

▪ 'Digital Essay':

Will Self: KAFKA’S WOUND

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Jonathan Lowndes: A KAFKAESQUE BIBLIOGRAPHY – umfangreiche Bibliographie englisch- sprachiger Kafka-Sekundärliteratur

▪ Ausstellungen

'From Pen to Print' zu Kafkas 100. Geburtstag in der Bodleian Library, Oxford, 1983: Eine Ausstellung der Manuskripte, die Kafkas Schreibmethodik und die Beziehung zwischen den 'persönlichen' und den veröffentlichen Versionen seiner Texte beleuchten sollte.

‘Letters to Ottla’ ('Liebe Ottla') in der Bodleian Library, Oxford, Oktober 2011. Ausstellung der Briefe an Kafkas jüngste Schwester, nachdem die Bibliothek sie gemeinsam mit dem Literaturarchiv Marbach im April 2011 erstanden hatte.

Graphic Novel Ausstellung ‘K: KafKa in KomiKs’ im Goethe Institut London, Ende 2014. Kuratoren waren der amerikanische Comic-Autor David Zane Mairowitz und die polnische Autorin und Radioproduzentin Małgorzata Zerwe. Die Ausstellung basierte auf drei Graphic Novel Adaptionen – Introducing Kafka, The Trial und The Castle.

Bilder sind HIER zu sehen.

▪ Radio

Hörspiel 'The Trial' auf BBC 4 im Jahr 1982 in einer Adaption von Hanif Kureishi

Metamorphosis, erstmals 2006 auf BBC Radio 4 ausgestrahlt und mehrmals wiederholt; Benedict Cumberbatch liest die Erzählung in vier Teilen, nach einer Übersetzung von Richard Stokes

'Germany – Memories of a Nation': Als Teil der gleichnamigen British Museum Ausstellung und der begleitenden Radiosendung begibt sich Neil MacGregor, bis Ende 2015 Direktor des British Museum und zukünftiger Gründungsintendant des Berliner Humboldtforums, auf KAFKAS SPUREN IN PRAG

'In our Time': Im November 2014 diskutierten die Germanisten Elizabeth Boa, Ritchie Robertson und Steve Connor Kafkas Prozess mit Moderator Melvyn Bragg in der beliebten Kulturradiosendung 'IN OUR TIME'

'In the Shadow of Kafka': Zu Ehren des 100. Jubiläums der Erstveröffentlichung der Verwandlung und des 90. Jubiläums der posthumen Veröffentlichung des Prozess strahlte BBC Radio eine Woche lang, vom 10. bis 16. Mai 2015, ein vielfältiges Kafka-Programm aus, u.a.: In der Dokumentation 'Prophet of Prague' reist der Journalist Misha Glenny nach Prag, spricht mit der tschechischen Journalistin Judith Matyasova (Autorin von Journeys with Franz Kafka) und Paul North, der an der Universität Yale zu Kafka forscht, und dem Schriftsteller LOUIS BEGLEY Frage nachspürend, in wie fern Kafkas Schaffen von lokaler Umgebung und intellektuellen Strömungen (wie der Esoterik oder dem aufkeimenden tschechischen Nationalismus) beeinflusst wurde.

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Mark Ravenhills Theateradaption 'The Process' spielt in einer Bürowelt, die sich nicht all zu sehr von Kafkas Umfeld in der Arbeiter Unfall Versicherung unterscheidet, die jedoch genauso gut im heutigen London angesiedelt sein könnte. Wie der Titel bereits vermuten lässt, löst Ravenhill den Prozess aus seinem Gerichts- und Rechtskontext und nutzt Kafkas Roman stattdessen als Sprungbrett für Reflexionen über die ‘Prozesse’ heutiger Überwachungsgesellschaften. In einer Reihe kurzer Essays, 'Encounters with Kafka', demonstrieren fünf zeitgenössische Schriftsteller (u.a. Margaret Atwood, Hanif Kureishi), wie unterschiedlich persönliche und künstlerische Begegnungen mit Kafka verlaufen können. Margaret Atwoods Beitrag, in welchem sie zu einem von ihr selbst mit neunzehn Jahren verfassten Aufsatz über Kafka zurückkehrt, verdeutlicht, wie sogar ein und dieselbe Person Kafka auf völlig unterschiedliche Art und Weise gegenübertreten kann.

Kafka in der Schule

Nach aktuellen Informationen ist Kafka nicht auf den A-Level Plänen im Fach Deutsch vorhanden – Steven Berkoffs Theateradaptionen hingegen standen zumindest 2005 noch auf der Liste für die zwölfte Jahrgangsstufe im Fach Theaterwissenschaften (Edexcel-Lehrplan; nach dessen Erneuerung im Jahr 2015 wird Die Verwandlung voraussichtlich in Deutsch enthalten sein.) Auf den Lehrplänen des Cambridge Pre-U, einer neueren Qualifikation zur Erlangung der Hochschulreife alternativ zu den A-Levels, ist Kafka mit 'In der Strafkolonie' vertreten. Dass sich Kafka für ambitionierte britische Schüler als besonders interessant erweist, beweisen einige Kafka-spezifische, nationale Wettbewerbe, z.B. 'Think Kafka' der Germanistikfakultät Oxford, des Oxforder Kafka Research Centre und der Zeitschrift German Life and Letters im Jahr 2010 für Schüler aus Großbritannien und Irland. Kategorien waren 'Beste Übersetzung einer Kafka-Erzählung', 'Bester Essay über eine Kafka-Erzählung' und 'Beste kreative Auseinandersetzung mit einer Kafka-Erzählung'. Unter anderem gab es auch ein Kafka-Element in der Oxford German Olympiad im Jahr 2013/14, eines weiteren, vom Oxford German Network initiierten nationalen Wettbewerbs. Unter dem Titel 'Kafkaesque Stories' sollten Schüler eine Erzählung literarisch, visuell oder filmisch adaptieren.

Kafka an der Hochschule

Die britische Kafka-Forschung, von einzelnen führenden Germanistik-Fakultäten (Oxford,

Cambridge, London, St. Andrews, Durham, Bristol, Warwick, Birmingham) ausgehend, ist seit

jeher eng mit der deutschen und der internationalen Kafka-Forschung verbunden. Eine

isolierte Betrachtung ist daher nur unter bestimmten Aspekten sinnvoll. Zudem kann unter

der Vielzahl an Forschungsaktivitäten hier nur eine Auswahl vorgestellt werden – ohne

Anspruch auf Vollständigkeit.

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Die Germanistik-Fakultäten einiger britischer Universitäten bieten Kafka gewidmete

Seminare und Kurse an. Ausgewählte Werke werden meist auf Deutsch gelesen. Im Kafka-

Seminar der Universität Bristol lag der Fokus im akademischen Jahr 2012/2013 bespielsweise

auf den Erzählungen und dem Prozess (Fischer Originalfassung empfohlen), an der

Universität Cambridge auf der Verwandlung, dem Prozess und dem Schloss und am King’s

College London auf der Verwandlung, den Erzählungen ‘Der Bau’ und ‘In der Strafkolonie’,

Auszügen aus den Tagebüchern, dem Prozess und dem Schloss. An der Universität Oxford

lesen Studenten die Sämtlichen Erzählungen (Fischer) als Ganzes, zudem die drei Romane (in

der von Pasley bearbeiteten Fassung, wie z.B. bei Fischer erschienen) und Auszüge der

Tagebücher und Briefe, während an der Universität Warwick Der Prozess (Reclam), die

Erzählungen (Reclam) und Die Verwandlung (Fischer) auf dem Lehrplan stehen.

In englischer Übersetzung war Kafkas Verwandlung 2014/2015 Bestandteil eines

interdisziplinären Kurses über ‘Nomadische Literatur’ am University College London

(empfohlene Ausgaben von Norton und Bloom’s Literary Criticism), sowie an der Englisch-

Fakultät des King’s College London im Kurs über die ‘Modernist Short Story’ (Vintage-

Ausgabe empfohlen).

Elizabeth Boa

– z.B. Kafka: gender, class and race in the letters and fictions, 1996; ‘Feminist Approaches to Kafka’s “The Castle”’, New Ways in Germanistik, hg. Richard Sheppard, 1990

William Dodd

– z.B. Kafka and Dostoyevsky, 1992 (Dodd untersucht Kafkas Dostoyevski-Rezeption, sein Russlandbild und Dostoyevskische Motive in Kafkas Werken)

Stephen Dowden

– z.B. Kafka’s Castle and the Critical Imagination, 1995.

Carolin Duttlinger

– z.B. The Cambridge Introduction to Franz Kafka, 2013; Kafka and Photography, 2007 (In einem von der irischen Fotografie-Zeitschrift SOURCE produzierten Beitrag spricht Duttlinger über das Thema, vor allem über Der Verschollene und Fotografie - LINK)

D.J. Enright

– z.B. ‘The Use of Misuse of Symbolism’, Focus One, 1945, S. 38-39

A.P. Foulkes

– z.B. The reluctant pessimist: a study of Franz Kafka, 1969

Ronald Gray

– Kafka’s Castle, 1956 (die erste englische Monographie über einen Roman Kafkas)

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Barry Murnane

- z.B. ‘Verkehr mit Gespenstern’ – Gothic und Moderne bei Franz Kafka, 2008

Idris Parry

– z.B ‘Attitudes ot Power. Canetti, Kafka, Crowds and Paranoia’, TLS, 1971

Roy Pascal

– z.B. Kafka’s Narrators: A Study of his Stories and Sketches, 1982 (konzentriert sich auf Erzähltechnik Kafkas, Erzählfigur, Erzählperspektive); ‘Dickens and Kafka’, The Listener 22, 1956 (über das reale und literarische Menschenbild bei Dickens und Kafka)

Malcolm Pasley

– Pasley editierte die Romane The Castle (1982) und The Trial (1990), sowie die Reise-

Tagebücher und den ersten Band der Nachgelassenen Schriften und Fragmente (1993); Aus

der Textarbeit entstanden z.B. ‘Franz Kafka MSS: Description and Select Inedita’, Modern

Language Review 57 (1962) 54–59. Oder, mit Klaus Wagenbach, ‘Versuch einer Datierung

sämtlicher Texte Franz Kafkas’, DVjs 38 (1964) 149-167; ’Aestheticism and Cannibalism:

Notes on an Unpublished Kafka Text’, Oxford German Studies 1 (1966) S. 102-113 (über die

Darstellung der Askese und die Verbindung zu Nietzsche)

Julian Preece

– The Cambridge Companion to Kafka (Hg.), 2002 (Die Beiträge betrachten Leben und Werk in einer Vielzahl von kontextuellen und interpretativen Blickwinkeln, z.B. Feminismus, Dekonstruktivismus, Psychoanalyse, Marxismus), u.a. Martin Brady und Helen Hughes, ‘Kafka adapted to film’, ‘David Constantine – ‘Kafka’s writing and our reading’; Anne Fuchs – ‘A psychoanalytic reading of The Man who Disappeared’; William Dodd – ‘The case for a political reading’

T.J. Reed

– z.B. ‘Kafka und Schopenhauer. Philosophisches Denken und dichterisches Bild’,

Euphorion,1965 (zu Kafkas Schopenhauerlektüre um 1916)

Ritchie Robertson

– z.B. Kafka: Judaism, politics, and literature, 1985, auf Deutsch als Kafka: Judentum, Politik, Literatur 1988 bei Metzler erschienen; Kafka – a very short introduction, Oxford University Press, 2004; Mitherausgeber der Sammelbandreihe Oxford Kafka Studies, z.B. Kafka und die Religion der Moderne (hg. mit Manfred Engel), 2014.

Richard Sheppard

– z.B. On Kafka’s Castle – A Study, 1973

Ronald Speirs

– z.B. Franz Kafka: Narration. Rhetoric and Reading, Hg. Ronald Speirs, Beatrice Sandberg & Jakob Lothe, 2011

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Kafka-Atlas

J.P. Stern

– The World of Franz Kafka (Hg.), 1980; ’Guilt and the Feeling of Guilt’, Flores, The Problem

of ‘The Judgment’, S. 114-31

Martin Swales

– z.B. ‘Why Read Kafka?’, University of Toronto Quarterly 46, 1977

Anthony Thorlby

– z.B. ‘Anti-Mimesis: Kafka and Wittgenstein’, In: Franz Kuna, On Kafka: Semi-Centenary

Perspectives, 1976

Edward Timms

– z.B. ’Kafka’s Expanded Metaphors: A Freudian Approach to Ein Landarzt’, In: J.P. Stern & J.J. White (Hg.), Paths and Labyrinths,1985

Andrew Webber

– z.B. ‘Kafka, Die Verwandlung’, Landmarks in German Short Prose (hg. P. Hutchinson), 2002

J.J. White

– z.B. die Sammlung Paths and Labyrinths: nine papers read at the Kafka Symposium (Hg. mit

J.P. Stern), 1985; ‘Franz Kafka’s “Das Urteil” – an Interpretation’, DVjs 38, 1964

Konferenzen:

Das OXFORD RESEARCH CENTRE, teilweise in Kooperation mit der Universität Princeton: Internationale Konferenzen in den letzten Jahren, begonnen mit der Konferenz 'Kafka and Short Modernist Prose' im Herbst 2008, gefolgt von dem Symposion 'Kafka, Prague, and the First World War' im Jahr 2010 und zwei internationalen Konferenzen im Jahr 2012, im März nahm man sich 'Kafkas Betrachtung' vor, im September 'Kafka, Religion, and Modernity'. Aus den genannten Konferenzen sind bereits Sammelbände entstanden, erschienen bei Königshausen und Neumann.

Zur Rezeption

Kafka in England. Catalogue of an exhibition held at the National Book League 1971, S. l.

Baermann Steiner, Franz: Kafka in England. In: In de Waagschaal. Jg. 3, Nr. 7, 1974, S. 10.

Boegeman, Margaret Byrd: Paradox Gained. Kafka's Reception in English from 1930 to 1949

and His Influence on the Early Fiction of Borges, Beckett, and Nabokov: Diss. University of

California, Los Angeles 1977.

Durrani, Osman: Editions, translations, adaptions. In: J. Preece (Hg.): The Cambridge

Companion to Franz Kafka, Cambridge University Press 2002, S. 206-225.

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Kafka-Atlas

Gant, Roland: Kafka's Influence on English Writing. In: Litterair Paspoort. August-September, 1949, S. 114-115.

Hamburger, Michael: Kafka in England. In: Hamburger, Zwischen den Sprachen. Essays und Gedichte. Frankfurt a.M. 1966, S. 121-136.

Jakob, Dieter: Das Kafka-Bild in England. Eine Studie zur Aufnahme des Werkes in der journalistischen Kritik (1928-1966). Darstellung - Dokumente-Bibliographie. 2 Bde. Oxford, Erlangen 1971.

Jakob, Dieter: Die Aufnahme in den Einzelnen Ländern: England. In: H. Binder (Hg.): Kafka-Handbuch (1979), Bd. II, S. 667-678.

Jakob, Dieter: Englische Leser Kafkas. Werk und Übersetzung, ästhetische Erwartungen und Erfahrungen im Kontext der fremden Sprache. In: Euphorion 82 (1988), S. 89-103.

März, Eveline Elisabeth: The English Interpretation of Kafka's 'Prozeß'. In: Zoran

Konstantinovic(Hg.): Proeedings of the IXth Congress of the International Comparative

Literature Association. Innsbruck 1979. Innsbruck 1980-1981, S. 321-327.

Neumeyer, Peter F.: The Modern German Novel in England, with Special Emphasis on the

Work of Franz Kafka and Thomas Mann: Diss. University of California, Berkeley 1963.

Neumeyer, Peter F.: Kafka and England. In German Quarterly 1967, S. 630-642.

Regn, Constance: The Reception of German Literature and German History in the Times

Literary Supplement 1961-1966: Diss. New York University 1975.

Kafkaesk//Kafka-esque//kafkaesque

‘It is not a very accurate word, this word “Kafkaesque”’, bemerkt Adam Thirlwell, als er sich 2005 an einer Ergründung des Kafkaesken versucht.49 Bei der ersten Verwendung des Wortes auf Englisch 1938 war eine gewisse Genauigkeit noch gewährleistet: Cecil Day Lewis, der einen Roman von Rex Warner als 'Kafka-esque in manner' beschrieb, bezog sich damit recht eindeutig auf die Verwendung Kafka-typischer erzählerischer Techniken. Doch früh schon erschienen nicht mehr nur erdachte, sondern zunehmend auch reale Situationen 'kafkaesque'. In der Zeitschrift Polemic definiert sie Robin Ironside 1946:

They are situations we may recognize in the most trivial vexations of daily life; whenever, for

example, we are defeated by the vindictive stratagems of the telephone; whenever, exhausted

and overburdened, we are crushed by the cynical tyranny of bus conductors, taxi drivers and

porters; when, in return for our attempts to comply with some cryptic but peremptory

communication from the Government, we receive nothing but a sense of our frivolous

importunacy;50

Auch W.H. Auden unterstreicht in seinem Aufsatz ‘The I without a self’ (1962) die Möglichkeit kafkaesker Erfahrungen in der Realität und kontrastiert gleichzeitig die 49

Adam Thirlwell, ‘Introduction’ in Franz Kafka, Metamorphosis and Other Stories (London: Vintage, 2005) S. ix. 50

Robin Ironside, ‘Kafka’, Polemic No 8 (1946) S. 44 ff. In Dieter Jakob, England, S. 461-462.

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‘Unwirklichkeit’ Kafkascher Charaktere mit der ‘Wirklichkeit’ der Figuren Shakespeares und Dickens’:

Sometimes in real life one meets a character and thinks 'This man comes straight out of Shakespeare or Dickens' but nobody ever met a Kafka character. On the other hand, one can have experiences which one recognises as Kafkaesque, while one would never call an experience of one's own Dickensian or Shakespearian.51

Emily Troscianko untersucht das Kafkaeske in ihrer Dissertation von 2011 (als 'Kafka's Cognitive Realism' 2014 bei Routledge erschienen) wiederum als 'literarische Wissenschaft’, möchte es bestimmen, indem sie eine literaturwissenschaftliche Definition durch kognitionswissenschaftliche Theorie und Praxis – unter anderem durch ein Experiment über die Kafka-Lektüre als kognitiven Prozess – ergänzt.52

Sonstiges

Kafka als Pop-Ikone:

Die Rolling Stones produzierten 1975 ihr Album Metamorphosis (Decca Universal Music), dessen Cover sichtlich von Kafkas Verwandlung inspiriert ist (siehe Abb.).

Hinweise auf Kafka-Texte lassen sich auch bei Pink Floyd finden – so zum Beispiel in dem Song 'The Trial' aus dem Doppelalbum The Wall.

Letztlich ist auch der Name 'Kafka' zum (ungeschützten) Markenzeichen geworden, wie das Beispiel der gleichnamigen CD des britischen Violinisten Nigel Kennedy ('Kafka', 1996) zeigt – LINK

Kafka-Klischee:

Kafkas Ruf als problematischer, düsterer oder komplexbeladener Autor von schwer zugänglichen Texten wird im britischen Kino immer wieder dankbar, zuweilen auch mit Ironie aufgegriffen. In dem Spielfilm Bridget Jones's Diary (GB, I, Fr 2001) versucht die Protagonistin (Renée Zellweger) vor illustrem Publikum (u.a. Salman Rushdie) das Buch 'Kafka's Motorbike' als Bestseller anzupreisen – was unweigerlich zu einer Farce und damit zu einem der humoristischen Höhepunkte des Films gerät. Der Streifen war ein großer Verkaufserfolg.

51

W.H. Auden, ‘The I without a Self’, The Dyer's Hand and Other Essays (London: Faber and Faber, 1963) S. 160. 52

Emily Troscianko, Kafka’s Cognitive Realism (London: Routledge, 2014).

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Orwellian vs. Kafkaesque:

In öffentlichen Kontroversen dient ‘Kafka’ (in Verbindung mit 'Orwell') geradezu sprichwörtlich als Metapher für Krisen: Anlässlich des NSA-Skandals, ausgelöst durch Edward Snowden, liest man im Juni 2013 in den Medien Schlagzeilen wie:

- 'Kafka, not Orwell, can help us understand the problems of digitized mass surveillance', argues legal scholar Daniel J. Solove

- 'Forget Orwell; NSA is Pure Kafka!' - 'Our Surveillance Society: What Orwell And Kafka Might Say' - 'Kafka and Orwell: The rest of this headline has been redacted by the NSA'

Bibliographie

Jonathan Lowndes: A KAFKAESQUE BIBLIOGRAPHY

Juni 2015

Zur Autorin: Katharina Laszlo schreibt ihre Doktorarbeit über die Darstellung von Kindern und Kindheit bei Kafka an der Universität Oxford und als freie Mitarbeiterin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.