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© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Beton- und Stahlbetonbau 108 (2013), Heft 5 301 Neuer Gelsenkirchener Barock Dr.-Ing. LARS MEYER Geschäftsführer des Deutschen Beton- und Bautechnik-Vereins E.V., Berlin Lars Meyer EDITORIAL Das Adjektiv „barock“ wird etymologisch der portugiesischen Sprache zuge- ordnet: Als „barrocco“ (deutsch: „merkwürdig“ oder „schiefrund“) wurden un- regelmäßig geformte Perlen bezeichnet. Der Duden schlägt heutzutage als Synonyme vor: „bizarr, seltsam, wunderlich“ – oder, wenn eine gehobene Aus- drucksweise gewählt wird: „befremdlich“. Ähnlich ist auch der Terminus „Gel- senkirchener Barock“ im allgemeinen Sprachschatz belegt – ohne dies hier weiter ausführen zu wollen. Seit dem 10. Dezember 2012 hat nun der letztgenannte Terminus eine unvor- hergesehene Renaissance erlangt: Das Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen kam bei der Streitsache zwischen einem klagenden Mineralwollehersteller und dem beklagten Deutschen Institut für Bautechnik zu dem „barocken“ Urteil, dass „das Glimmverhalten keine wesentliche Anforderung im Sinne der Bauproduktenrichtlinie“ sei. Mit Az.: 9 K 736/11 wurde dem DIBt untersagt, in allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen Anforderungen zu definieren, um darüber die für das Brandverhalten im Bauwerk maßgebende Eigenschaft zu beschreiben – trotz der festgestellten Tatsache, dass hierzu die einschlägige europäische Produktnorm (EN 13162) mangels europäischer Einigkeit expres- sis verbis keinerlei technische Aussage treffen konnte. „Apokalyptisch“ im Wortsinne kann dann auch der Schlusssatz des Urteils verstanden werden: „Die entscheidungserhebliche Frage, ob die Durchfüh- rung eines allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungsverfahrens unzulässig ist, wenn ein Bauprodukt in den Anwendungsbereich einer harmonisierten Norm fällt, ist eine in der Rechtssprechung bislang noch nicht geklärte Rechtsfrage, die mit Blick auf die bisherige Praxis des Beklagten (Anm.: also des DIBt) im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung und Fortbildung des Rechts geboten ist.“ – Mit anderen Worten: Sollte das Berufungsgericht OVG Müns- ter die m. E. „barocke“ Gelsenkirchener Sichtweise bestätigen, würde dies nicht nur für die Verwendung von Mineralwolle in Wärmedämmverbundsys- temen von Bedeutung sein. Sondern es droht eine nicht akzeptable Lücke in allen Bereichen, in denen zumindest vorübergehend nationale Restregelungen benötigt und bisher über das System der Bauregellisten bauaufsichtlich einge- führt werden, um europäisch unzureichend definierte Bauprodukte für Bau- werke in Deutschland insgesamt verwendbar zu machen. Die Leidtragenden wären zunächst Bauherren, Architekten und Planer sowie Bauausführende. Bisher konnten sie sich darauf verlassen, dass Bauprodukte, die vom Hersteller zusätzlich zum „CE“ mit einem „Ü-Zeichen“ versehen waren, in Deutschland in Verkehr gebracht und verwendet, also in ein Bau- werk eingebaut werden durften. Diese Verbindung zwischen Inverkehrbrin- gen auf dem Markt und Verwendung im Bauwerk liefert das „CE-Zeichen“ allein definitionsgemäß nicht: Die Bauproduktenrichtlinie setzt (in der Theo- rie) auf national wählbare Stufen und Klassen für alle – insbesondere die we- sentlichen – Anforderungen. Diese Stufen und Klassen liefern die europäi- schen Produktnormen in der Praxis aber oft nicht. Dennoch sehen es der kla- gende Mineralwollehersteller und leider auch das VG Gelsenkirchen offenbar als allein hinreichend an, eine unzureichende Norm zu befolgen. Ich frage mich: Warum will man seinen Kunden wesentliche Eigenschaften nicht mehr

Neuer Gelsenkirchener Barock

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© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Beton- und Stahlbetonbau 108 (2013), Heft 5 301

Neuer Gelsenkirchener Barock

Dr.-Ing. LARS MEYER

Geschäftsführer desDeutschen Beton- undBautechnik-Vereins E.V.,Berlin

Lars Meyer EDITORIAL

Das Adjektiv „barock“ wird etymologisch der portugiesischen Sprache zuge-ordnet: Als „barrocco“ (deutsch: „merkwürdig“ oder „schiefrund“) wurden un-regelmäßig geformte Perlen bezeichnet. Der Duden schlägt heutzutage als Synonyme vor: „bizarr, seltsam, wunderlich“ – oder, wenn eine gehobene Aus-drucksweise gewählt wird: „befremdlich“. Ähnlich ist auch der Terminus „Gel-senkirchener Barock“ im allgemeinen Sprachschatz belegt – ohne dies hierweiter ausführen zu wollen.

Seit dem 10. Dezember 2012 hat nun der letztgenannte Terminus eine unvor-hergesehene Renaissance erlangt: Das Verwaltungsgericht in Gelsenkirchenkam bei der Streitsache zwischen einem klagenden Mineralwolleherstellerund dem beklagten Deutschen Institut für Bautechnik zu dem „barocken“ Urteil, dass „das Glimmverhalten keine wesentliche Anforderung im Sinne derBauproduktenrichtlinie“ sei. Mit Az.: 9 K 736/11 wurde dem DIBt untersagt,in allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen Anforderungen zu definieren,um darüber die für das Brandverhalten im Bauwerk maßgebende Eigenschaftzu beschreiben – trotz der festgestellten Tatsache, dass hierzu die einschlägigeeuropäische Produktnorm (EN 13162) mangels europäischer Einigkeit expres-sis verbis keinerlei technische Aussage treffen konnte.

„Apokalyptisch“ im Wortsinne kann dann auch der Schlusssatz des Urteilsverstanden werden: „Die entscheidungs erhebliche Frage, ob die Durchfüh-rung eines allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungsverfahrens unzulässig ist,wenn ein Bauprodukt in den Anwendungsbereich einer harmonisierten Normfällt, ist eine in der Rechtssprechung bislang noch nicht geklärte Rechtsfrage,die mit Blick auf die bisherige Praxis des Beklagten (Anm.: also des DIBt) imInteresse einer einheitlichen Rechtsanwendung und Fortbildung des Rechtsgeboten ist.“ – Mit anderen Worten: Sollte das Berufungsgericht OVG Müns-ter die m.  E. „barocke“ Gelsenkirchener Sichtweise bestätigen, würde diesnicht nur für die Verwendung von Mineralwolle in Wärmedämmverbundsys-temen von Bedeutung sein. Sondern es droht eine nicht akzeptable Lücke inallen Bereichen, in denen zumindest vorübergehend nationale Restregelungenbenötigt und bisher über das System der Bauregellisten bauaufsichtlich einge-führt werden, um europäisch unzureichend definierte Bauprodukte für Bau-werke in Deutschland insgesamt verwendbar zu machen.

Die Leidtragenden wären zunächst Bauherren, Architekten und Planer sowieBauausführende. Bisher konnten sie sich darauf verlassen, dass Bauprodukte,die vom Hersteller zusätzlich zum „CE“ mit einem „Ü-Zeichen“ versehenwaren, in Deutschland in Verkehr gebracht und verwendet, also in ein Bau-werk eingebaut werden durften. Diese Verbindung zwischen Inverkehrbrin-gen auf dem Markt und Verwendung im Bauwerk liefert das „CE-Zeichen“ allein definitionsgemäß nicht: Die Bauproduktenrichtlinie setzt (in der Theo-rie) auf national wählbare Stufen und Klassen für alle – insbesondere die we-sentlichen – Anforderungen. Diese Stufen und Klassen liefern die europäi-schen Produktnormen in der Praxis aber oft nicht. Dennoch sehen es der kla-gende Mineralwollehersteller und leider auch das VG Gelsenkirchen offenbarals allein hinreichend an, eine unzureichende Norm zu befolgen. Ich fragemich: Warum will man seinen Kunden wesentliche Eigenschaften nicht mehr

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nachweisen und die bisherige Eindeutigkeit des „Ü-Zeichens“ künftig nichtmehr liefern?

Denn in der Konsequenz würde der Binnenmarkt bei Bestätigung des Urteilseher geschwächt als gestärkt: Aus Gründen der Bauwerkssicherheit müsstenunzureichend beschriebene Bauprodukte ggf. für alle (!) Verwendungsberei-che ausgeschlossen werden – und nicht nur für Teilbereiche, wie es derzeitigeRegelungen vorsehen.

Es ist zu hoffen, dass das OVG Münster zu einem pragmatischeren Urteilkommt und erkennt, welche negativen Folgen es insbesondere für die Sicher-heit unserer Bauwerke hätte, wenn sich der neue „Gelsenkirchener Barock“durchsetzen würde.

Würde diese Hoffnung Realität, lautete die Überschrift meines nächsten Editorials: „Westfälischer Friede“!

EDITORIAL