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perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik Heft 16 • Juni 2002 Bilanz 4 Jahre sozialdemokratisch- bündnisgrünes Reformprojekt Mit Beiträgen von Norbert Seitz und Tobias Dürr

perspektive21 - Heft 16

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Bilanz - 4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

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Page 1: perspektive21 - Heft 16

perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

Heft 16 • Juni 2002

Bilanz4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

Mit Beiträgen von Norbert Seitz und Tobias Dürr

Page 2: perspektive21 - Heft 16

Harald L. Sempf

Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalenStandortwettbewerbsEine Untersuchung am Beispieldes Landes Brandenburg

352 Seiten, Paperback, 29,80 €ISBN 3-936130-03-5

Die in der Bundesrepublik praktizierte Regionale Wirtschaftspolitik geräthinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effizienz insbesondere in den neuenBundesländern zunehmend in die wissenschaftliche Kritik. In dem Buchwerden der Nachweis bestehender regionaler Disparitäten auf unter-schiedlichen Ebenen innerhalb der EU geführt, regionalökonomisch rele-vante Begrifflichkeiten diskutiert und die theoretischen Grundlagen derRegionalen Wirtschaftspolitik verdichtet dargestellt. Am Beispiel des Lan-des Brandenburg untersucht der Autor, ob eine Neuorientierung der bis-herigen Regionalen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des zuneh-menden Wettbewerbs der Regionen geboten scheint. Raumordnung,Regionalentwicklung und Regionale Wirtschaftspolitik werden dabei insSpannungsfeld zueinander gesetzt. Die brandenburgische Strategie,Raumordnung und Regionale Wirtschaftspolitik zum Leitbild der Dezen-tralen Konzentration zu vernetzen, wird dabei einer kritischen Untersu-chung unterzogen. Anhand von ausgewählten Indikatoren werden diewirtschaftlichen Ergebnisse in Brandenburg denen in den anderen NeuenBundesländern gegenübergestellt, die wirtschaftliche Entwicklung Bran-denburgs nach regionalen Gesichtspunkten analysiert und das Erreichender Ziele nach Leitbildkriterien überprüft und bewertet.

Die Untersuchung formuliert Anforderungen an eine langfristig erfolgver-sprechende Regionale Wirtschaftspolitik in Brandenburg, die sowohl"leitbildgerechte, bzw. -ergänzende" als auch "nicht leitbildkonforme"Aspekte enthalten, die jedoch auch eine Neuorientierung nicht aussch-ließen, die mit einer vollständigen Abkehr vom Leitbild verbunden wäre.

Damit richtet sich das Buch gleichermaßen an Praktiker in Politik und Ver-waltung sowie Wissenschaftler aus den Bereichen Regionale Wirtschafts-politik, Regionalwissenschaft und Landesplanung.

weber • brandenburgische hochschulschriften

Harald L. Sempf

Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalen Standortwettbewerbs

Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg

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Vorwort 3

THEMA

Norbert Seitz 5Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz

Tobias Dürr 11Abschied von der rotgrünen Mentalität

Klaus Faber 23Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Eugen Meckel 47Die Grünen und der deutsche Osten

Lars Krumrey 53Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

MAGAZIN

Heiner Bielefeld 63Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

Inhalt

Bilanz4 Jahre sozialdemokratisch-

bündnisgrünes Reformprojekt

Page 4: perspektive21 - Heft 16

BezugBestellen Sie Ihr kostenloses

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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg

RedaktionKlaus Ness (ViSdP)

Benjamin Ehlers

Klaus Faber

Klara Geywitz

Madeleine Jakob

Lars Krumrey

Christian Maaß

Manja Orlowski

Silke Pamme

Harald L. Sempf

AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 6114469 Potsdam

Telefon0331 - 200 93 – 0

Telefax0331 - 270 85 35

[email protected]

Internethttp://www.perspektive21.de

Gesamtherstellung, Vertriebkai weber medienproduktionen

hebbelstraße 3914469 potsdam

Impressum

2

Page 5: perspektive21 - Heft 16

am 22. September 2002 werden die

Deutschen eine Bilanz der Politik der Rot-

grünen Regierung unter Gerhard Schrö-

der ziehen. Mit dieser Ausgabe der Per-

spektive 21 wollen wir ein wenig Ent-

scheidungshilfe geben. Erinnern wir uns:

Die Bildung dieser Regierung nach den

Wahlen am 27. September 1998 war in

gewisser Hinsicht ein „Zufallsprodukt“.

Sie kam zustande, weil die Bevölkerung

mehrheitlich Helmut Kohl abwählen

wollte und die SPD insbesondere im

Osten Deutschlands so viele Überhang-

mandate produziert hatte, dass Gerhard

Schröder – trotz einiger unsicherer Kanto-

nisten in der grünen Fraktion – damit

rechnen konnte, eine verlässliche Mehr-

heit über vier Jahre zu haben.

Die Regierungsbildung 1998 löste

große Erwartungen auf der einen Seite

und wildeste Befürchtungen vor einem

„Rot-grünen Chaos“ auf der anderen

Seite aus. Das von konservativer Seite an

die Wand gemalte Chaos blieb aus. Aber

was ist aus den Erwartungen geworden?

Wir freuen uns, dass mit Dr. Norbert

Seitz (leitender Redakteur der „Neuen

Gesellschaft“) und Dr. Tobias Dürr (Chef-

redakteur der „Berliner Republik“) zwei

bekannte und (vor allem!) interessante

Publizisten ihre Bilanzen und Ausblicke

des Rotgrünen Regierungsprojektes in

unserer Zeitschrift veröffentlichen.

Zwei Zitate sollen Sie hier auf diese

Beiträge neugierig machen.

Seitz: „Das, was grüne Ideologen und

linke Sozialdemokraten etwas verquast

visionär unter ‘rot-grüner Reformpolitik’

stets verstanden, war indes nie mit dem

identisch, was Gerhard Schröder als

Modernisierungspolitik für notwendig

gehalten hat.“

Dürr: „Natürlich wählen die habituell

Rotgrünen weiterhin die Grünen oder die

angejährten Repräsentanten der ange-

grünten Achtziger-Jahre-SPD. Nur tun sie

es freudlos, nörgelnd und nur noch aus

Gewohnheit. Man ist gemeinsam ‘ange-

kommen’ man ist gemeinsam gealtert.

Wer endlich selbst im Zentrum sitzt, hat

keine Ziele mehr.“

Insbesondere der streitbare Beitrag von

Dürr, der messerscharf und sprachlich

elegant der Sozialdemokratie – um ihrer

Zukunft willen – rät,das Lebensgefühl der

80er Jahre endgültig zu verabschieden,

wird sicherlich noch viele Diskussionen

auslösen und befördern. Auf die Reaktio-

nen bin ich schon jetzt sehr gespannt.

Die Regierung hat vier Jahre gehalten

und ihre Reformbilanz, wie der Beitrag

von Lars Krumrey in diesem Heft zeigt, ist

umfangreich; ein großer Teil des von Kohl

hinterlassenen Reformstaus konnte auf-

Vorwort

3

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“,

Page 6: perspektive21 - Heft 16

gelöst werden. Perspektive 21 als Zeit-

schrift für Wissenschaft und Politik inter-

essiert sich natürlich besonders für die

Bilanz der Regierung in diesem Bereich.

Unser ständiger Mitarbeiter Klaus Faber

legt dazu eine umfangreiche Analyse vor.

Eugen Meckel, Leiter des Brandenburger

Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, be-

schließt den thematischen Schwerpunkt

dieser Ausgabe mit einer Antwort auf die

Frage, warum der Osten mit den Grünen

nicht so richtig warm wird.

Im Magazin-Teil veröffentlichen wir

zusätzlich einen Text von Dr. Heiner Biele-

feld, der noch einmal den Schwerpunkt

des vergangenen Heftes „Der Islam und

der Westen" aufnimmt.

Am 22. September 2002 wird die wich-

tigste Bundestagswahl der vergangenen

zehn Jahre entschieden. Die Alternative

heißt Schröder/Fischer oder Stoiber/

Westerwelle/Möllemann. Also: Fortset-

zung der Reformpolik oder Rückkehr zu

den Rezepten von gestern und dem Per-

sonal aus der zweiten Reihe hinter Hel-

mut Kohl. Unabhängig von allen auch

sehr kritischen Gedanken zu der Reform-

bilanz der Regierung in diesem Heft, ist

die Wahlempfehlung der Redaktion ein-

deutig: Gerhard Schröder.

Ich wünsche eine spannende Lektüre.

Ihr Klaus Ness

P. S. Endlich haben wir unser Interne-

tangebot renoviert. Unter www.perspek-tive21.de können Sie ältere Hefte als pdf-

Datei herunterladen, per mail ein kosten-

loses Abo oder ältere Hefte bestellen und

uns natürlich auch ihre Kritik zum aktuel-

len Heft mitteilen.

4

Vorwort

perspektive 21 im InternetDie Hefte 10-15 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.

Page 7: perspektive21 - Heft 16

Gebrannte Koalitionsschmiede scheuen

das visionäre Feuer. Denn noch jede sozi-

aldemokratische Bündnisformation seit

´45 war vor eifriger historischer Über-

höhung nicht gefeit. Zum Teil mit tragi-

schen Konsequenzen, wie bei der

„Zwangsvereinigung“ mit der KPD zur

SED, die zum Gründungsschrecken einer

neuen Diktatur geriet.

Aber auch demokratisch vollzogene

Verbindungen sind ohne überanstreng-

tes Aussöhnungspathos nicht ausge-

kommen. Sogar die wenig geliebte Große

Koalition hatte man Ende der 60er Jahre

zum symbolischen „Ende der Nachkriegs-

zeit“ (Johannes Gross) stilisiert, weil sie

von einem früheren Nazi (Kiesinger) und

ehemaligen Kommunisten (Wehner)

geschlossen worden war.

Das sozialliberale Bündnis mit der fort-

schrittlich gewendeten FDP in den 70er

Jahren wurde von Beratern Willy Brandts,

assistiert von linksliberalen Denkern wie

Karl-Hermann Flach und Werner Maiho-

fer, als historisches Bündnis zwischen

dem demokratischen Teil der Arbeiterbe-

wegung und einem aufgeklärten Bürger-

tum überzeichnet. Der erste SPD-Kanzler

fand dafür nach seinem strahlenden

Wahlsieg vom November 1972 den Begriff

der „Neuen Mitte“, den die Berater Ger-

hard Schröders im Wahljahr 1998 eben-

falls verwendeten, um Wechselwähler

begrifflich willkommen zu heißen.

Diesem angeblich geschichtsmächtigen

sozialliberalen Schulterschluss stellte der

nüchterne Verfassungsrechtler Theodor

Eschenburg den Totenschein aus, als er im

Oktober 1982 nach den Verratslegenden

auf Helmut Schmidts Kanzlersturz Koali-

tionen schlicht zu weitgehend emotions-

frei zu bildenden „Zweckbündnissen“ ver-

donnerte, deren Geschäftsgrundlage sich

in der Politik täglich ändern könne. Eheli-

che Begriffe wie „Treue“ und „Verspre-

chen“ taugten für Koalitionen nicht.

Jene bis heute gültige Entromantisie-

rung von Koalitionen überstand auch die

5

Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?Versuch einer Zwischenbilanz

von Norbert Seitz

I. Kein historisches Bündnis

Page 8: perspektive21 - Heft 16

Immerhin schaffte Rot-Grün mit nicht

einmal 48 Prozent der Wählerstimmen

(SPD: 40,9 %; Bündnis 90/Die Grünen:

6,9 % = 47,8 %) im September 1998 eine

Bundestagsmehrheit, dank etlicher

Überhangmandate, aber mit deutlichem

Vorsprung vor den Parteien des bisheri-

gen Kohl-Bündnisses (CDU: 35,1 %; FDP:

6,2 % = 41,3 %).Wer viele Jahre mehr des-

kriptiv als analytisch über eine „struktu-

rellen Mehrheit“ der Konservativen in

Deutschland lamentierte, wurde damit

eines Besseren belehrt.

Willy Brandts „Mehrheit diesseits der

Union“, 1982 nach einer Hessen-Wahl

erstmals angedeutet, war auch von

Zweiflern in der SPD nicht zu umgehen,

die lieber ein Große Koalition gebildet

hätten. Vom „Sieg der 68er“ oder gar

„Kulturbruch, von links“ (Die Zeit) war die

Rede, während nüchtern urteilende kon-

servative Kritiker hinter den rot-grünen

Siegern keine epochalen Projektleiter,

sondern nur Profiteure eines Anti-Kohl-

Plebiszites vermuteten.

Ob „Berliner Republik“, „Neue Mitte“

oder „Dritter Weg“ – die Spur eines

Modellcharakters war für rot-grüne

Euphoriker, die auf den Beginn einer

neuen politischen Kultur gehofft hatten,

nur schwer zu erkennen. Nach Kohls

Neo-Biedermeier habe es an einer „kla-

ren Begrifflichkeit“ gemangelt, da Schrö-

der auf jedes säkulare Pathos verzichtet

und die eigentliche Zäsur auf einen

„Generationswechsel im Leben unserer

Nation“ reduziert hat. Doch Berufungen

auf die eigene Generation erinnern

zumeist an dekorierte Kriegsteilnehmer

oder kampferprobte Alt-68er. Kein Zwei-

fel: Die rot-grüne Formation galt schon

´98 als verspätet oder überständig.

Schröder hat mit seinem pragmati-

schen Wahlkampfversprechen „nicht

alles besser, aber vieles anders“ zu

machen, nicht nur die Bürgerängste vor

freilich nur noch zaghaft zu beobachten-

den Versuche rot-grüner Bündnismacher,

im September 1998 einen neuen histori-

schen Modellversuch zu verkünden –

auch wenn die Neigung verständlich

erscheint, rare sozialdemokratische

Wahlsiege auf Bundesebene mit histori-

schen Zäsuren gleich zu setzen, um hin-

terher dem Eindruck einer Episode zu

entgehen. Gerhard Schröders unter-

kühlte Antrittsbotschaft bremste jeden

visionären Schaum.

Norbert Seitz

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II. Große Hoffnungen

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Rot-Grün, sondern auch überschießende

Zukunftserwartungen im eigenen Lager

vorzeitig zu dämpfen versucht. Außer-

dem schreckten ihn die Negativerfah-

rungen mit leicht enttäuschbaren Säkul-

arbotschaften in Regierungserklärungen

– wie zum Beispiel Willy Brandts „mehr

Demokratie zu wagen“ anno ´69 oder

Helmut Kohls „geistig-moralischer

Wende“ von 1982, die sich in beiden Fäl-

len zu fordernden Kampfparolen eines

minoritären Parteiflügels entwickelten.

Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?

7

Der Verlauf der ersten vier Jahre einer

rot-grünen Bundesregierung vollzog sich

in quasi zyklischen Schwüngen: Ein

schwacher Start im ersten Regierungs-

jahr 1999, in dessen Mittelpunkt der

Durchsetzungsstreit um den „Doppel-

pass“, das auch von linken Medien

bekämpfte 630-Mark-Gesetz, der erste

Kriegseinsatz von Bundeswehrsoldaten

im Kosovo, peinliche Selbstdarstellungs-

mängel („der Brioni-Kanzler“) und die

innerparteilich weitreichende Affäre um

Oskar Lafontaines Totalausstieg aus der

Politik standen.

Danach konsolidierte sich das Regie-

rungsbündnis – vom Frühjahr 2000 an,

gewiss auch von der schweren Spenden-

krise der CDU begünstigt. Jene Phase war

gekennzeichnet von Erfolgen des „res-

ponsiven“ Regierungsstils Gerhard

Schröders, Hans Eichels mehrheitlich

befürworteten Sparkurs und der Steuer-

reform, die die Koalition, machtpolitisch

bedeutsam, im Bundesrat gegen erhebli-

che Widerstände durchsetzen konnte.

Am jenem 14. Juli 2000 standen Kanzler

und Koalition im Zenit ihres Ansehens.

Nach einer Serie von Ministerrücktrit-

ten behauptete sich die Regierung seit

dem Frühjahr 2001 von der couragiert

betriebenen Agrarwende im Zuge der

BSE-Krise bis zur düsteren Konjunktu-

raussicht im August 2001. Löste dabei

das missverständliche Stichwort von der

„ruhigen Hand“ auch erheblichen Ver-

druss und Erinnerungen an den „aussit-

zenden“ Schröder-Vorgänger Kohl aus, so

konnte die Regierung über das Meistern

der Krisenwochen nach dem epochalen

11. September 2001 neuerlich Pluspunkte

sammeln.

Das zweite Tief der rot-grünen Regie-

rung dauerte von der Vertrauensabstim-

mung im Bundestag (November 2001)

bis zu einer zunächst nicht enden wol-

lenden Serie von Missgeschicken und

Pannen im Frühjahr 2002 (NPD-V-Leute

Affäre, „blauer Brief“ aus Brüssel?, Mani-

III. Zyklischer Verlauf

Page 10: perspektive21 - Heft 16

pulationsverdacht bei der Arbeitslosen-

statistik, die Jagoda-Affäre in Nürnberg), -

vom regionalen Kölner Spendenskandal

und dem von den Bürgern nur kopfschüt-

telnd quittierten Bundesratsdrama um

das Zuwanderungsgesetz nicht zu reden.

In einer Zeit des täglich verabreichten

Alarmismus zwischen Konjunkturdaten

und Umfragewerten läuft die rot-grüne

Regierung seither Gefahr, Opfer ihrer eige-

nen Medienlogik zu werden. Tops und

Flops wechseln nahezu täglich, simultan

und sukzessiv. Der zunächst propagierte

„Mut zur Reform“ ist inzwischen zuneh-

mend einer „Angst vor der eigenen Cou-

rage“ gewichen, wie die „Frankfurter Rund-

schau“ jüngst treffend kommentierte.

Im November 2001 war nach der Ver-

trauensfrage des Kanzlers ein Grad an

Verdruss auf Seiten der Bürger eingetre-

ten, den Christoph Schwennicke von der

„Süddeutschen Zeitung“ mit den Worten

beschrieb: „Eine Regierung, die ständig

gegen den inneren Zerfall ankämpft, ver-

schleißt zu viele Kräfte an der falschen

Stelle. Ja, es ermüdet die Zuschauer, eine

Regierung im ständigen Ringen mit sich

selbst zu erleben“.

Deshalb durfte es auch nicht verwun-

dern, dass im Januar 2002 mit der Lösung

der K-Frage in einer dahindümpelnden

Union durch einen starken und erfolgrei-

chen Politiker von außen ein Stimmungs-

umschwung im Lande sich abzeichnete.

Stoibers Berufung wirkte auf viele fru-

strierte Unionsanhänger wie der lang

ersehnte Befreiungsschlag aus dem Tal

der Tränen und löste bei enttäuschten

SPD-Wählern nicht den zunächst vermu-

teten Abschreckungsaffekt aus, den man

sich im rot-grünen Lager als ersten Mobi-

lisierungsschub erhofft hatte.

Norbert Seitz

8

IV. Fazit

„War da was?“, titelte „Der Spiegel“

seine gesellschaftspolitische Bilanz von

Rot-Grün. Von Enttäuschung auf ganzer

Linie kann indes keine Rede sein. Im

sozialen (Lohnfortzahlung, novellierte

Betriebsverfassung), im ökologischen

(Atomausstieg, Klimaschutz) und im

gesellschaftspolitischen Bereich (dop-

pelte Staatsbürgerschaft) sind die Erwar-

tungen eines aufgeklärt-sozialliberalen

Publikums befriedigt worden. Mögen sol-

che Reformen nicht immer von der Mehr-

heit der Bevölkerung getragen worden

sein, so waren sie zumindest „klimabil-

dend“.

Nicht zu vergessen die positive außen-

politische Bilanz, wie sie von Reinhard

Mohr im „Spiegel“ veranschaulicht

wurde: „Deutsche Geschäftsleute im

Ausland, durchaus kritisch gegenüber

Page 11: perspektive21 - Heft 16

Rot-Grün, konstatieren eine klare Stär-

kung der internationalen Rolle in den

letzten Jahre“. Auch die amerikanische

Journalistin Melinda Crane schrieb in den

„Frankfurter Heften:“Die transatlanti-

sche Politik der rot-grünen Regierung

widerspiegelt ein neues Rollenverständ-

nis, das noch nicht beim deutschen Volk

angekommen ist.“

Ist also Rot-grün ein unvollendetes Pro-

jekt, wie Gunter Hofmann („Die Zeit“)

meint? Von der Aufbruchstimmung sei

rasch nichts mehr zu spüren gewesen.„Es

weht leider kein wirklich kritisches Lüft-

chen von Seiten der Linken“. Die wahre

Aufgabe habe Rot-Grün noch gar nicht

richtig angepackt. „Die Linke, das ist

meine Kritik“, so Hofmann, „hat die ‘Glo-

balisierung’ zum Gegner erklärt und übe-

rall nur Neoliberalismus entdeckt, dabei

aber versäumt, den kleinen großen

Unterschied zum Neoliberalismus klar zu

machen.“

Dennoch geben auch viele Sozialde-

mokraten Rot-Grün – nicht nur aus nahe

liegenden demoskopischen Gründen –,

sondern auch als langfristige politische

Alternative für verloren. Spätestens seit

der ärgerlichen Vertrauensfrage im

November 2001, zu der sich der Kanzler

gezwungen sah, tickt in Berlin die Koaliti-

onsuhr bis zum September wohl auch

aus Gründen eines latenten Koalitions-

verdrusses.

Thomas E. Schmidt schrieb dazu in der

„Zeit“:„Reformpolitik“ hing immer etwas

von abgestandenem Utopismus an, von

lustloser Abarbeitung eines Unterneh-

mens, das ans Mangel- und Enttäu-

schungssyndrom der Ära Helmut

Schmidt erinnerte und den Appeal der

Achtziger nie loswurde.“

Auch wenn man der gängigen Auffas-

sung nicht zustimmen mag, Rot-Grün sei

das Projekt maximalistisch gestimmter

68er und Post-68er gewesen, dem es

mehr um Stilfragen gegangen sei-, richtig

bleibt dennoch die Feststellung, dass der

sogenannte „identitätsverbürgende“ und

reformverheißende Forderungskatalog

von Rot-Grün für die Bewältigung klassi-

scher, an Bevölkerungsmehrheiten orien-

tierten Themen wie Arbeit und Wohl-

stand, innere und äußere Sicherheit

eigentümlich wenig zu bieten hat. Selbst

dort, wo etwa Joschka Fischer vom Koso-

vokrieg bis nach dem 11. September ein

klassisches Feld mit löblichen Initiativen

zu besetzen suchte, bildete sich in der

Partei kein neues gouvernementales

Selbstbewusstsein heraus. Kräfte zeh-

rende Zerreißproben waren die Folge.

Alle internen Querelen um die Kriegs-

einsätze im Kosovo, in Mazedonien und

Afghanistan haben die beträchtlichen

Regierungserfolge des sozialdemokrati-

schen Bündnispartners in den Hinter-

grund treten lassen. Atomausstieg,

Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?

9

Page 12: perspektive21 - Heft 16

Agrarwende, Ökosteuer, Dosenpfand

oder der Tierschutz als Staatsziel

gehören ebenso zum gängigen Forde-

rungskatalog der Ökopartei wie die dop-

pelte Staatsbürgerschaft oder die gleich-

geschlechtliche Ehe. Dazu der Popula-

ritätsfaktor Joschka Fischer als weltweit

angesehener Mittler im Nahen Osten

und Brückenbauer nach Russland

während des Kosovo-Krieges. Die ehe-

malige Alternativpartei scheint sich die-

ser Bilanz – gemessen an eigenen Maß-

stäben – nicht ganz bewusst zu sein,

weil sie mental den Sprung zur Regie-

rungspartei noch immer nicht geschafft

zu haben scheint. Stattdessen lässt sie

sich im Kampf um Platz 3 des hiesigen

Parteienspektrums von einer Partei wie

der FDP ins Bockshorn jagen, die mit lau-

ter sattsam bekannten Gesichtern aus

der Kohl-Ära eine politische Erneuerung

in Deutschland anstrebt.

Wer sich von der Regierung Schrö-

der/Fischer den Anhub einer politi-

schen Kultur erhoffte, ist gewiss ent-

täuscht worden. Im Gegenteil: Die Grü-

nen haben in der Zeit vor ihrer Regie-

rungsbeteiligung die Mentalität der

Deutschen mehr beeinflusst als

während ihrer Ministerzeit. Doch das,

was grüne Ideologen und linke Sozial-

demokraten etwas verquast visionär

unter „rot-grüner Reformpolitik“ stets

verstanden, war indes nie mit dem

identisch, was Gerhard Schröder als

Modernisierungspolitik für notwendig

gehalten hat. Am Ende der Legislatur-

periode 2002 lässt sich nüchtern fest-

stellen, dass das beliebte multioptio-

nale Spiel des medienbewährten Kanz-

lers mit mehreren Koalitionsmöglich-

keiten zwar rasch entzaubert, aber

damit auch pragmatisch entschieden

wurde.

Norbert Seitz

10

Norbert Seitzist verantwortlicher Redakteur der monatlich erscheinenden Kulturzeitschrift

„Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte“ in Berlin.

Page 13: perspektive21 - Heft 16

11

Jetzt plakatieren sie wieder.* Im Früh-

sommer 2002 biegen die Parteien in die

Zielgerade ein. Nun muss dringend auf

Touren kommen, was professionelle

Wahlkämpfer in den Parteizentralen

gern die Mobilisierungsphase ihrer Kam-

pagnen nennen. Und tatsächlich: Schon

beschwören ein paar frühe Poster, aufge-

hängt von Aktivisten des kleineren Koali-

tionspartners, die Passanten in Berliner

Stadtteilen wie Kreuzberg und Schöne-

berg. Jetzt erst recht komme es darauf

an, Grün zu wählen. Warum? Weil es

auch nach dem 22. September bei Rot-

Grün bleiben müsse, lautet die Bot-

schaft.

Formulierung, Ort, Zeitpunkt: Alles ist

hier aufschlussreich. Da ist der eindringli-

che Ton des „Jetzt erst recht”.Während des

gesamten Frühjahrs 2002 haben die

addierten Umfragewerte von SPD und

Grünen stets deutlich niedriger gelegen

als jene von Union und FDP zusammenge-

nommen. Nun wird die Zeit knapp, und

zumal die Lage der Grünen ist bitter ernst.

Denn einen anderen möglichen Koaliti-

onspartner als die SPD besitzen sie nun

einmal nicht. Sollten sich die bisherigen

Zahlen der Demoskopen am Wahltag

bestätigen, wäre es um die Grünen als

Regierungspartei auf jeden Fall gesche-

hen. Dass es diesmal ums Ganze gehe,

dass es deshalb auf jeden einzelnen

Wähler und jede einzelne Wählerin ganz

dringend ankomme – genau das soll jener

dramatische Ton des „Jetzt erst recht”

nahe legen: Wer nicht die Grünen wählt,

ist selber schuld! Der darf sich hinterher

Abschied von der rotgrünenMentalitätWie die Bundestagswahl auch ausgeht: Die deutsche Sozialdemokratiemuss sich ihrer eigenen Ziele und Werte vergewissern

von Tobias Dürr

1. Rot-Grün muss bleiben, damit Rot-Grün bleibt

* In diesem Essay werden die Kategorien „Rot-Grün” und „rotgrün” verwendet. Das ist kein Versehen. „Rot-Grün”beschreibt das politische Bündnis von Sozialdemokratie und Grünen, „rotgrün” verweist auf die mentalen und kul-turellen Prägungen, die dieses Bündnis möglich machten und weiterhin tragen.

Page 14: perspektive21 - Heft 16

Tobias Dürr

auch nicht beschweren, wenn ... – ja, wenn

was eigentlich? Was steht überhaupt auf

dem Spiel? Gewiss ist es schon so,wie jene

Plakate behaupten: Rot-Grün muss blei-

ben, damit die gouvernementalen Grünen

überleben können. Aber reicht das schon

aus? Was eigentlich wäre damit gewon-

nen? Und für wen?

Natürlich, für Plakattexte ist bei den

Grünen wie überall sonst die Abteilung

Agitation und Propaganda zuständig; wer

den differenzierten politischen Diskurs

bevorzugt, sollte sich andere Lektüre

suchen. Aber bemerkenswert ist dennoch,

wie vollständig die Texter jener grünen

Werbetafeln auf jede inhaltliche Unter-

fütterung verzichten. Nicht etwa, auf dass

der Himmel über Berlin noch blauer

werde, die Gesellschaft in Deutschland

noch multikultureller oder das Essen noch

gesünder, sollen die Bürger diesmal die

Grünen wählen – sondern ganz einfach

damit es bei der gegenwärtigen rot-grü-

nen Regierungskonstellation bleibt.

Genau genommen also wird hier das Ein-

verständnis des Passanten kurzerhand

vorausgesetzt. Das Ansinnen der Grünen

erfordert keine weiteren Erklärungen, es

versteht sich von selbst, es ist gewisser-

maßen zu seiner eigenen Letztbegrün-

dung geronnen. Rot-Grün muss bleiben,

damit Rot-Grün bleibt.

Selbstverständlich gibt es in dieser

Republik auch heute noch Menschen,

denen diese Forderung auf Anhieb ein-

leuchtet. Die Erwartung grüner Wahl-

kämpfer, dass Zirkelschlüsse nach dem

Muster Rot-Grün-muss-bleiben bereits

genügen könnten, um die eigenen Leute

auch diesmal wieder zum Wahlgang zu

aktivieren, muss insofern nicht völlig

irregeleitet sein. Zugleich aber ist sie ein

sehr präziser Indikator des inneren

Zustandes dessen, was einmal eupho-

risch als „rot-grünes Projekt” oder gar

noch überbordender als „rot-grünes

Gesellschaftsprojekt” gefeiert wurde.

Denn überhaupt nur noch dort, wo die-

ses „Projekt” in politischer, sozialer und

kultureller Hinsicht in der zweiten Hälfte

der achtziger Jahre besonders hoch im

Kurs stand, versteht sich Rot-Grün hier

und da auch heute noch von selbst.

Überhaupt nur noch in einem ganz

bestimmten generationellen Traditions-

milieu der deutschen Gesellschaft exi-

stieren Restbestände jener enttäu-

schungsresistenten Selbstverständlich-

keit von Rot-Grün, überhaupt nur in die-

sen sozialkulturellen Nischen kann Rot-

Grün noch die Projektionsfläche irgend-

welcher Erwartungen bilden. Überall

sonst in der Republik, unter den Jünge-

ren sowieso und im Osten erst recht, ist

Rot-Grün längst nur noch „irgendeine

Koalition” (Joachim Raschke), so gut oder

schlecht, so wichtig oder egal wie andere

auch.

12

Page 15: perspektive21 - Heft 16

Abschied von der rotgrünen Mentalität

13

Wer jene urbanen Quartiere von Kreuz-

berg und Schöneberg kennt, in denen

Rot-Grün bei Wahlen auch heute noch

schöne Erfolge erzielt, der bekommt eine

Ahnung von der wachsenden histori-

schen Überständigkeit der generationel-

len Milieus und Mentalitäten, für die Rot-

Grün unverändert die erste politische

Option bedeutet. Es mag diese Inseln

sentimentaler rotgrüner Wohligkeit hier

und da auch noch anderswo im Westen

der Republik geben, in Hamburg-Eims-

büttel vielleicht, in der Kölner Südstadt

oder in Freiburg im Breisgau. Wo die Ori-

entierung an Rot-Grün als sozialkulturel-

len Normalfall noch existiert, da sind es

zwar auf ihre Art durchaus moderne

Menschen aus einem beträchtlichen Teil-

segment der gesellschaftlichen Mitte,

von denen sie getragen wird. Denn bei

den Trägern dieser rotgrünen Gesamt-

mentalität handelt es sich heute um

überdurchschnittlich gebildete Bürgerin-

nen und Bürger in der Erwerbs- und Fami-

lienphase ihres Lebens, typischerweise

um Angehörige der Geburtsjahrgänge

1950 bis etwa 1970. Das sind genau jene

Alterskohorten, die bei allen Wahlen seit

den frühen achtziger Jahren konstant

und mit großen Mehrheiten die eine oder

die andere der heutigen Regierungspar-

teien gewählt haben.

Diese Jahrgänge besitzen zutiefst

westdeutsche Biografien – aber sie

haben durchaus einiges erlebt. Sie sind

überdurchschnittlich stark geprägt vom

Zeitgeist, der Unruhe und den Konflikten

der siebziger und der frühen achtziger

Jahre, von der „Willy-Wahl” 1972 bis zu

den Protesten von Mutlangen und Brok-

dorf gegen Nachrüstung und Kernener-

gie. Diese Kohorten haben die Entste-

hung der so genannten Neuen Sozialen

Bewegungen erlebt, als diese tatsächlich

noch neu waren und in Bewegung. Sie

haben den Aufstieg der Grünen ermög-

licht, als die junge „Anti-Parteien-Partei”

(Petra Kelly) noch der politische und –

wenig später – parlamentarische Arm

einer machtvoll anschwellenden Strö-

mung innerhalb der westdeutschen

Gesellschaft war. Auch der Umstand,dass

nunmehr postmaterialistische Orientie-

rungen subkutan in die zuvor zutiefst

arbeitnehmerisch gesinnte Sozialdemo-

kratie eindrangen, war das Werk von

Angehörigen dieser Jahrgänge. Sie vor

allem waren es, die für die Überlagerung

der zentralen Konfliktlinie der Politik

durch neuere wertbezogene, „postmate-

rialistische”Themen der Auseinanderset-

zung sorgten. Statt um Kapital und Arbeit

ging es nun um Kategorien wie Ökologie

und Frieden, um Frauen und Emanzipa-

2. Als Rot-Grün die Sozialdemokratie eroberte

Page 16: perspektive21 - Heft 16

Tobias Dürr

tion, um Selbstverwirklichung, um Auto-

nomie und um die Dritte Welt.

Bekanntlich hatte sich die regierende

SPD in der Ära Schmidt der postmateriali-

stischen Welle zunächst strikt verwei-

gert. Dafür gab es Gründe, aber es

machte den Aufstieg der Grünen als aut-

hentische politische Repräsentanten der

neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie

und des neuen Lebensgefühls geradezu

unvermeidlich. Als die Sozialdemokraten

in ihren Jahren der Opposition seit 1982

damit begannen, die Impulse der Frie-

dens-, Frauen- und Umweltbewegungen

umso begieriger aufzusaugen, war es

längst zu spät. Den Grünen war auf diese

Weise das Wasser nicht mehr abzugra-

ben. Stattdessen führte die eifrige, oft

ziemlich unkritische Übernahme von

postmaterialistischen Gedanken und

Mentalitäten durch die Sozialdemokratie

zum zweiten großen Veränderungsschub

der westdeutschen SPD nach 1945. Wie

schon beim Eindringen der akademisier-

ten APO-Generation in die alte Arbeiter-

partei ging auch dieser Umbruch nicht

ohne harte Kulturkämpfe, ohne tiefe Ver-

letzung und stille Entfremdung traditio-

nal gesinnter Mitglieder- und Wähler-

gruppen vonstatten. Die SPD der achtzi-

ger Jahre öffnete sich nachholend für

neue Gruppen. Zugleich aber begann in

jenen Jahren zum einen die Abwendung

proletarischer und postproletarischer

Milieus von der SPD, zum anderen schuf

die Durchsetzung der rotgrünen Menta-

lität innerhalb der deutschen Sozialde-

mokratie auch die Vorausetzungen dafür,

dass junge und moderne Angehörige der

ständig wachsenden postindustriellen

Arbeitnehmermilieus den Sozialdemo-

kraten heute habituell distanziert

gegenüberstehen. Beides zusammen

macht der SPD heute schwer zu schaffen

– und beides wird mit rotgrünen Mitteln

niemals umzukehren sein.

Gewiss, eine Volksausgabe der Grünen

ist die westdeutsche Sozialdemokratie

niemals geworden. Viel von den Verände-

rungen der achtziger Jahre blieb ohnehin

bloß Masche und Dekor. Im Grunde war

völlig unklar, worin die postmaterialisti-

sche Wende der Sozialdemokratie im

Kern bestehen sollte. Im entschlossenen

Kampf für den Weltfrieden und gegen

den Atomtod? Oder bei Licht besehen

doch eher in exaltiertem Hang zu violet-

ten Seidenhemden, zur Toskana und zu

Grauburgunder, den avancierte Sozialde-

mokraten nun kennerisch Pinot Grigio

nannten und am liebsten eiskalt genos-

sen? Etliches an der Wende der SPD zum

Postmateriellen blieb, so gesehen, in

Gestus und Pose stecken, war beliebig

und unausgegoren, vorläufig und irgend-

wie unernst. Nur „links” war man auf

jeden Fall,und „links”waren auch die Grü-

nen. Und so jubelten sie alle zusammen

14

Page 17: perspektive21 - Heft 16

Abschied von der rotgrünen Mentalität

15

begeistert, als Willy Brandt im Herbst

1982 die Existenz einer neuen „Mehrheit

diesseits der Union” verkündete.

In jenen Jahren, in der westdeutschen

ersten Halbzeit der Ära Kohl, wuchs

heran, was heute noch als übrig gebliebe-

nes und erstarrtes Restphänomen exi-

stiert: die rotgrüne Gesamtgesinnung

über die gerade erst gezogene Partei-

grenze zwischen SPD und Grünen hin-

weg. Schon versanken die Ursachen der

Abwendung einer ganzen Alterskohorte

von der SPD im Nebel der Vergangenheit.

Es war eine spezifische politische Genera-

tion, die sich angesichts ganz spezifischer

Bedingungen unter dem Banner Rot-

Grün wiedervereinigte. So wie nach 1969

das Zusammengehen von SPD und FDP

als finale Erfüllung des historischen Ver-

sprechens von 1848 gefeiert worden war,

so wurde nun Rot-Grün zuweilen gera-

dezu erlösungskulthaft verklärt.

3. Wie die Völker Mitteleuropas 1989 Rot-Grün überholten

Die rot-grüne Erlösung sollte in der

Wahl Oskar Lafontaines zum Kanzler der

westdeutschen Republik bestehen, die

man zuversichtlich für das Jahr 1990 vor-

gesehen hatte. Doch dann kam alles

doch ganz anders. Mit ihren Revolutio-

nen von 1989 beseitigten die Bürger Mit-

tel- und Osteuropas die totalitäre Nach-

kriegsordnung, unter der nicht nur ihre

Hälfte des Kontinents, sondern indirekt

auch der Westen Europas – wenn auch

unvergleichlich weniger – jahrzehnte-

lang gelitten hatte. „Ein Jahrhundert

wird abgewählt”, schrieb Timothy Garton

Ash in jenen atemberaubenden Mona-

ten. Und in der Tat, genau das und kein

bisschen weniger bedeuteten die Revolu-

tionen von 1989.

Dass danach nichts mehr sein konnte

wie bisher, begriff als einer der ersten

Willy Brandt, der eben noch Säulenheili-

ger des rotgrünen Gesamtsentiments in

der Bonner Republik gewesen war. Die

westdeutsche Sozialdemokratie insge-

samt hingegen war nicht imstande, der

historischen Dimension der Ereignisse

gerecht zu werden, die von Warschau

und Prag bis nach Leipzig, Lübben oder

Liebenwerda die Koordinaten aller

europäischen und deutschen Politik so

grundstürzend veränderten. So war das

Berliner Programm der Sozialdemokra-

ten, verabschiedet Ende 1989 inmitten

der über Europa hinwegjagenden revolu-

tionären Stürme Makulatur – im Grunde

bereits an dem Tag, da es beschlossen

wurde. Als sich alles veränderte, fasste es

noch einmal in epischer Breite das eben

zu Ende Gegangene zusammen: „Dieses

Programm”, schrieb Erhard Eppler 1991

Page 18: perspektive21 - Heft 16

Tobias Dürr

mit nostalgischem Bedauern, „sollte die

traditionelle Arbeiterbewegung zusam-

menführen mit den neuen sozialen

Bewegungen, mit der Ökologie-, der

Frauen-, Friedens- und der Dritte-Welt-

Bewegung. Ökologisches Denken, die

neue Rollenverteilung der Geschlechter,

die Suche nach Frieden und die Rücksicht

auf die ärmeren Völker sind, von der

ersten bis zur letzten Seite, Dimensionen

des Gesamtprogramms.”

Tempi passati, die Völker Europas hiel-

ten sich nicht an das rotgrüne Drehbuch.

Zwar ist nichts von alledem seither ganz

und gar verdammenswert geworden.

Nur spiegelt dieser Kanon eben nicht viel

mehr wider als den gesamtrotgrünen

Bewusstseinstand in Westdeutschland,

der mit dem Epochenjahr 1989 historisch

überholt war – und der seither dennoch,

gleichsam als schmerzvolle Sehnsucht

nach der guten alten Zeit, die rotgrünen

Herzen erfüllt. Gewiss, in ihrer alltägli-

chen Politik hat sich die Sozialdemokratie

längst meilenweit vom hohen Ton ihres

Berliner Programms entfernt, das nicht

von ungefähr sofort vollständig in Ver-

gessenheit geriet. Heute jedenfalls bele-

gen die Existenz großer und sozial-libera-

ler Koalitionen auf der Ebene der Länder

sowie, mehr noch, der um jeden Preis auf

Pragmatismus setzende Kurs des sozial-

demokratischen Bundeskanzlers sehr

anschaulich, wie entbehrlich Rot-Grün im

Grunde längst geworden ist – als Regie-

rungskonstellation sowieso, aber eben

auch als emphatisch begriffenes Gesell-

schaftsprojekt.

Das hat neue Probleme geschaffen. Es

mag ja sein, dass die Grünen Gerhard

Schröder in den vergangenen vier Jahre

beim pragmatischen Regieren nicht nen-

nenswert gestört haben. Doch das reicht

– für beide Partner – nicht aus, um Rot-

Grün insgesamt neue Attraktivität zu ver-

schaffen. Mehr als jede andere Koalitions-

konstellation müsste sich ein – obendrein

ja eher zufällig an die Macht gekomme-

nes – rot-grünes Bündnis schon sehr

genau über seinen gemeinsamen gesell-

schaftlichen Auftrag, ja über seine Mis-

sion im Klaren sein, um überhaupt einen

bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Andere Koalitionen mögen sich als

Instanzen der pragmatischen Problemlö-

sung verstehen – und werden sogar

genau dafür gewählt. Für rot-grüne

Regierungen gilt das so nicht. Ihr

Dilemma kommt gleich im Doppelpack:

Würde sie heute tatsächlich noch mit

Inbrunst jenes „Projekt”verfolgen, für das

westdeutsche Sozialdemokraten und

Grüne sich vor 1989 so sehr begeisterten,

wäre Rot-Grün bei gesamtdeutschen

Wahlen heute völlig chancenlos – die

Bonner Republik mit ihren spezifischen

Konfliktlagen existiert nicht mehr. Wo

eine rot-grüne Regierung jedoch umge-

16

Page 19: perspektive21 - Heft 16

Abschied von der rotgrünen Mentalität

17

Sogar den Grünen selbst gelingt es

heute kaum noch, in einer ihnen eigenen,

unverwechselbaren Sprache und Seman-

tik zu begründen, wofür sie eigentlich

stehen. Ihre einstige Selbstgewissheit ist

verflogen, die gesellschaftlichen Wur-

zeln, aus denen sie einst hervorgingen,

sind abgestorben – oder wurden von den

Staat gewordenen Anführern der Grü-

nen mutwillig gekappt. Vor vier Jahren

unvermittelt an die Macht gelangt, kann

die ehemalige Bewegungspartei nicht

mehr überzeugend benennen, was sie

eigentlich ist oder will. Defensiv und wol-

kig fällt ihr Versuch aus, den eigenen

gesellschaftlichen Ort zu markieren. Was

sie waren, sind sie nicht mehr – und wol-

len sie offensichtlich auch gar nicht mehr

sein. Aber was um Himmels willen sind

sie dann? „Man steigt nicht zweimal in

denselben Fluss”, heißt es schwermütig

im neuen Grundsatzprogramm der Par-

tei. „Inzwischen sind wir nicht mehr die

‚Anti-Parteien-Partei’, sondern die Alter-

native im Parteiensystem. Die entschei-

dende Veränderung war, dass wir uns zu

einer Reformpartei entwickeln wollten

und mussten, um erfolgreich zu bleiben.

Unsere Visionen und Ziele wollen wir

heute durch eine langfristig angelegte

Reformstrategie erreichen.”

Das klingt ein bisschen jämmerlich.

Die Grünen sind sich ihrer Sache erkenn-

bar nicht mehr sicher. Einleuchtende

Erklärungen dafür haben sie durchaus

zur Hand: „Themen, mit denen wir zu

Beginn als Außenseiter auftraten, sind

heute im Zentrum der Gesellschaft ange-

kommen.”Genau das war gewiss das Ziel

der Grünen – unter dem Gesichtspunkt

der Unterscheidbarkeit ist es heute

zugleich ihr Problem:„Fast alles, was ein-

mal die Grünen als links, sektiererisch,

versponnen, kurz: als politisch nicht wirk-

lichkeitstauglich auszeichnete, scheint

beseitigt zu sein”, bemerkt der

langjährige Grünen-Beobachter Eckart

Lohse, „zu starke Zugeständnisse an den

neoliberalen Zeitgeist” wiederum wirft

Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerk-

schaft Verdi, seiner eigenen Partei vor.

Doch auf der Klaviatur von forcierter

kehrt ihr spezifisches gesellschaftspoliti-

sches Reformprogramm aus den Augen

verliert, da ist überhaupt nicht mehr

erkennbar, in welcher Weise und warum

gerade Rot-Grün für die Republik besser

oder wichtiger sein sollte als irgendeine

andere Koalition. Mit Rot-Grün ist die SPD

in eine kulturelle und damit, mittelfristig

gesehen, auch in eine strategische Sack-

gasse geraten.

4. Ankunft in der betulichen Mitte

Page 20: perspektive21 - Heft 16

Tobias Dürr

18

Wirklichkeitstauglichkeit und Neolibera-

lismus spielen in Deutschland längst

andere – und im Zweifel virtuoser. Dass

die Grünen in dieser Republik ausgerech-

net dafür ganz dringend gebraucht wer-

den, darf als ziemlich unwahrscheinlich

gelten.

Es stimmt ja, all die einst von den west-

deutschen Grünen auf die Agenda

gesetzten und von den Sozialdemokraten

eifrig übernommenen Themen sind

inzwischen „im Zentrum der Gesellschaft

angekommen”. So sehr sind sie zum poli-

tischen Allgemeingut geworden, dass im

Grunde kein Mensch mehr glaubt, zur

Verteidigung grüner Errungenschaften

müsse unbedingt weiterhin die grüne

Partei regieren. Nicht einmal die ihrer-

seits oft genug in der Mitte der Gesell-

schaft Angekommenen in den rotgrünen

heartlands von Kreuzberg, Schöneberg

oder Freiburg im Breisgau befürchten

heute im Ernst einen gesellschaftlichen

und kulturellen Rückschlag für den Fall,

dass Joseph Fischer den Job des Außen-

ministers verliert oder Renate Künast

nicht mehr die Agrarkrise beaufsichtigen

darf. Natürlich wählen die habituell Rot-

grünen weiterhin die Grünen oder die

angejährten Repräsentanten der ange-

grünten Achtziger-Jahre-SPD. Nur tun sie

es freudlos, nörgelnd und nur noch aus

Gewohnheit. Man ist gemeinsam „ange-

kommen”, man ist gemeinsam gealtert.

Wer endlich selbst im Zentrum sitzt, hat

keine Ziele mehr.

5. Rot-Grün als geronnene Gesellschaftsgeschichte

Dass die SPD im Wahlkampf für die

Fortsetzung der 1998 eingegangenen

Koalition mit den Grünen wirbt, ist eine

pure Selbstverständlichkeit. Alles andere

wäre das Dementi des eigenen Regie-

rungshandelns in den nun ablaufenden

vier Jahren. So weit, so nachvollziehbar.

Und, wer weiß, womöglich reicht es für

das Gespann Schröder/Fischer am 22.

September ja tatsächlich noch einmal.

Doch gerade Sozialdemokraten sollten

sich keine Illusionen machen: Irgendeine

Faszination des Aufbruchs und Anfangs

wird von Rot-Grün nie wieder ausgehen,

irgendeine Strahlkraft in die Gesellschaft

hinein kann dieses in der untergegange-

nen westdeutschen Welt der achtziger

Jahre ersonnene „Projekt” nicht mehr

entfalten. Rot-Grün ist gegenwärtige

Wirklichkeit – und bedeutet doch

zugleich nur noch zur Regierung geron-

nene Gesellschaftsgeschichte der Bonner

Republik.

Für die etablierten Grünen ist das

kein Drama. Sie rechnen im Grunde

nicht ernsthaft damit, dass ihr eigenes

Page 21: perspektive21 - Heft 16

Abschied von der rotgrünen Mentalität

19

Projekt sie und ihre Generation über-

dauern werde. Damit haben sie sich

innerlich abgefunden. Das vielfältige

Universum der Selbsthilfegruppen,

Ökoläden und Stadtteilinitiativen in den

besseren Quartieren der westdeut-

schen Städte wird auch ohne die Grü-

nen über die Runden kommen; das –

ohnehin nur winzige – Fähnlein der

nachwachsenden Berningers oder

Özdemirs wiederum wird notfalls

geschmeidig anderswo unterzuschlüp-

fen wissen. Für Sozialdemokraten mit

Selbstachtung und einem Minimum an

Geschichtsbewusstsein kann das keine

Perspektive sein. Den eigenen politi-

schen Laden, wenn es denn sein muss,

kurzerhand zu schließen ist eine Option,

die ihnen schlechterdings nicht offen

steht. Die SPD ist eine alte Partei – alt

geworden, weil sie sich immer wieder

rechtzeitig gewandelt hat. Noch älter

werden und dabei stark bleiben wird die

Sozialdemokratie deshalb auch in

Zukunft nur dann, wenn es ihr auch

weiterhin gelingt, eng am Pulsschlag

der Gesellschaft zu bleiben, die zu

gestalten sie beansprucht. „Kraftvolle

Parteien sind das Ergebnis kraftvoller

Anstöße, die sich aus historischen Lagen

ergeben”, hat der Politologe Wilhelm

Hennis sehr zu Recht aufgeschrieben.

Die fortgesetzte, nur noch mentalitäts-

geleitete Orientierung am schal gewor-

denen rot-grünen „Projekt” schadet, so

gesehen, der dringend nötigen Selbst-

vergewisserung der Sozialdemokratie

über ihre Ziele und strategischen Optio-

nen im 21. Jahrhundert.

Neues Nachdenken ist deshalb drin-

gend notwendig. Nirgendwo steht

geschrieben, dass eine Partei, deren

Wurzeln tief im 19. Jahrhundert liegen,

noch im 21. Jahrhundert zum selbstver-

ständlichen Inventar demokratischer

Politik gehören müsste. Das Gegenteil

ist viel wahrscheinlicher. Hervorgegan-

gen aus den Großkonflikten des Indu-

striezeitalters, sind gerade sozialdemo-

kratische Parteien existentiell darauf

angewiesen, den Wandel der Vorausset-

zungen des eigenen Erfolgs haargenau

im Blick zu behalten. Weil der Industria-

lismus mit seinen Einstellungen und

Mentalitäten Geschichte ist und auch

der rot-grüne Postmaterialismus an

sein Ende kommt, gilt das heute mehr

denn je.

Page 22: perspektive21 - Heft 16

Tobias Dürr

20

Wird es deshalb bald um die soziale

Demokratie geschehen sein? Nicht unbe-

dingt. Das Streben nach mehr gesell-

schaftlicher Gleichheit angereichert um

die Zuversicht, dieses größere Maß an

sozialer Egalität mit den Mitteln freiheit-

licher und demokratischer Politik tatsäch-

lich verwirklichen zu können – so könnte

man das Anliegen sozialdemokratischer

Politik in maximaler Verknappung

womöglich zusammenfassen. Dass für so

verstandene Politik kein Anlass mehr

bestünde, werden angesichts der unbe-

streitbaren Realität von Globalisierung,

von flexiblem und digitalem Kapitalis-

mus im Ernst nur die wenigsten behaup-

ten. Aber es kommt darauf an, intensiv zu

erfassen, was eigentlich geschieht. Dra-

matische Umbrüche der sozialen und

kulturellen Voraussetzungen demokrati-

scher Politik sind längst in vollem Gange.

„Es herrscht ein starkes, tief verwurzeltes

und weit verbreitetes Gefühl, dass es so

nicht weitergeht”, schreibt der liberale

Soziologe Ralf Dahrendorf. Künftig werde

der aufsteigenden „globalen Klasse” ein

Heer der dauerhaft Überflüssigen und

Ausgeschlossenen, Verlorenen und Hoff-

nungslosen gegenüberstehen, sagt er

voraus. Den einen geht es grenzenlos

glänzend, die anderen werden in der

neuen Ökonomie – anders als in der

untergehenden Ära des Industrialismus –

schlechterdings nicht gebraucht.Von den

„verbleibenden 40 Prozent, wenn es nicht

mehr sind”, spricht der liberale Soziologe:

„Sie vereinigen nämlich alle Nachteile auf

sich: niedrigere Einkommen, höhere

Arbeitslosigkeit, einen schlechten

Gesundheitszustand, größere Gefähr-

dung durch Unfälle, weniger Engage-

ment in öffentlichen Dingen und nicht

zuletzt mehr Bildungsprobleme mit ihren

Kindern.”

Es leuchtet auf Anhieb ein, dass diese

historisch beispiellose Konstellation

gerade Parteien wie die SPD ins Mark

treffen muss. Als historische Schrittma-

cher von Gleichheit und Fortschritt, für

die sie noch immer gehalten werden,sind

sie bei Strafe ihres Abstiegs darauf ver-

wiesen, weiterhin glaubwürdige „Zuver-

sicht in die Gestaltbarkeit der Zukunft”zu

vermitteln – gerade der gesellschaftli-

chen Mitte gegenüber, die sich vor unge-

steuertem Wandel und relativem Abstieg

fürchtet. Gleichzeitig aber belegen Wahl-

ergebnisse überall in Europa nur zu deut-

lich, dass sozialdemokratische Tradition

und Programmatik derzeit keine wirklich

überzeugenden Antworten auf die Phä-

nomene neuer Ungleichheit, Exklusion

und Entfremdung im postindustriellen

Kapitalismus bieten. In diesem Dilemma

6. Soziale Demokratie nach den Zeiten von Rot-Grün

Page 23: perspektive21 - Heft 16

Abschied von der rotgrünen Mentalität

21

behilft man sich im Wahljahr 2002 noch

einmal mit Bordmitteln und dem techno-

kratischen Jargon der Neuen Mitte – auf

die Dauer aber wird das nicht mehr genü-

gen.

„Die Globalisierung gestalten” wollen

heute alle Parteien, auch die SPD. Nichts

anderes müssen sie tun, um erfolgreich

zu bleiben. Aber niemand vermag so

richtig zu sagen, was so ein Satz bedeu-

ten soll, und viel spricht dafür, dass es

nicht zuletzt Leerformeln wie diese sind,

die das Vertrauen der Menschen in die

Gestaltungskraft demokratischer Politik

so gründlich untergraben – und sie in die

Arme der neuen Parteien der Angst trei-

ben. Doch wo man für die eigenen Prin-

zipien und Ziele keine eigenen Worte

mehr findet, da geht das Eigene irgend-

wann ganz verloren.Was sozialdemokra-

tisch ist in Deutschland und wie ein

unverwechselbar sozialdemokratischer

Kurs sozialer und ökonomischer Moder-

nisierung aussehen könnte, das wird

nach dem 22. September sehr gründlich

neu vermessen werden müssen. Mit

Koalitionsoptionen wird das nicht viel zu

tun haben, mit dem Abschied von der

schal gewordenen rotgrünen Mentalität

eine ganze Menge.

Literatur

Dahrendorf, Ralf, Globale Klasse und neue Ungleichheit, in: Merkur, 54 (2000) 11, S.

1057-1068

Dahrendorf, Ralf, Die Krisen der Demokratie, München 2002

Dürr, Tobias, Die Linke nach dem Sog der Mitte: Zu den Programmdebatten von SPD,

Grünen und PDS in der Ära Schröder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/2002, S. 5-12

Garton Ash, Timothy, Ein Jahrhundert wird abgewählt: Aus den Zentren Mitteleuro-

pas 1980-1990, München und Wien 1990

Hennis, Wilhelm, Überdehnt und abgekoppelt: An den Grenzen des Parteienstaates,

in: ders., Auf dem Weg in den Parteienstaat: Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart

1998, S. 69-92

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Judis, John B. und Ruy Texeira, The Emerging Democratic Majority, New York 2002

(erscheint im Herbst)

Lösche, Peter und Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpar-

tei, Darmstadt 1993

Mair, Peter, Party System Change: Approaches and Interpretations, Oxford und New

York 1997

Raschke, Joachim, Die Zukunft der Grünen, Frankfurt/Main und New York 2001

Thumfart, Alexander, Die politische Integration Ostdeutschlands, Frankfurt/Main

2002

Walter, Franz, Die SPD: Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002

Walter, Franz und Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht: Wie die Politik in

Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000

Tobias Dürr, Dr. disc. Pol.,geb. 1965, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet als Chefredakteur der Zeitschrift

„Berliner Republik“ in Berlin. Buchveröffentlichungen u.a.: Die CDU nach Kohl (Hrsg. mit

Rüdiger Soldt), Frankfurt/Main 1998; Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in

Deutschland ihren Boden verlor (mit Franz Walter), Berlin 2000.

Anschrift: Redaktion „Berliner Republik”, Stresemannstraße 30, 10963 Berlin.

E-Mail: [email protected]

Tobias Dürr

22

Page 25: perspektive21 - Heft 16

23

Ein Rückblick am Ende einer Legislatur-

periode des Bundestages auf Aufgaben-

felder wie etwa die Sozial-, Wirtschafts-,

Rechts-,Verteidigungs- oder Außenpolitik

wird sich auf die Schwerpunkte in der

politischen Auseinandersetzung und die

erfolgreichen oder gescheiterten Projekte

konzentrieren können. Auf allen diesen

Gebieten verfügt der Bund über ver-

gleichsweise solide Zuständigkeiten in

der Gesetzgebung, teilweise auch in der

Finanzierung oder Administration. Die

Steuerungsinstrumente geben ihm dabei

in jedem Fall ein wesentliches Überge-

wicht gegenüber den entsprechenden

Landeskompetenzen, soweit es in den

fünf erwähnten Politiksektoren über-

haupt Landeszuständigkeiten gibt – was

für die Verteidigungspolitik nicht zutrifft.

Der Bundesrat wirkt nicht nur in Ange-

legenheiten, in denen ausgedehnte Län-

derzuständigkeiten bestehen, sondern

allgemein an der Bundesgesetzgebung

mit. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan.

Seine Mitwirkungsstellung ist bei Bun-

desgesetzen besonders stark, die seiner

Zustimmung bedürfen. Im letzten Jahr

der 1998 begonnenen Legislaturperiode

ist dies z.B. bei der Gesetzgebung zur

Zuwanderung politisch sichtbar gewor-

den. Noch deutlicher spürbar ist das Län-

dergewicht selbstverständlich dort,wo es

nicht nur um die Mitwirkung an der Bun-

desgesetzgebung geht, sondern den Län-

dern große Zuständigkeitsbereiche zur

eigenen Gestaltung vorbehalten sind.

Das ist in unterschiedlichem Umfang z. B.

in Fragen der Schule, der Berufsbildung

und der Wissenschaft der Fall.

Gesetzgebungszuständigkeiten des

Bundes gibt es nach dem Grundgesetz,

das sich insoweit deutlich von der Wei-

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Modernisierung und Erneuerung unterden Bedingungen der föderativen Politikverflechtung

von Klaus Faber

I. Rahmenbedingungen für die Willensbildung

1. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern: Voraussetzungen für die politische Veränderung

Page 26: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

marer Verfassung unterscheidet, auf die-

sen Gebieten im wesentlichen nurfür die

außerschulische Berufsbildung (unter

Inanspruchnahme der Zuständigkeiten

für das Recht der Wirtschaft und für das

Arbeitsrecht), für die Förderung der wis-

senschaftlichen Forschung, von denen

u.a. mit den Bestimmungen über die

Drittmittelforschung im Hochschulrah-

mengesetz nur sehr zurückhaltend

Gebrauch gemacht worden ist, für die

Ausbildungsbeihilfen, auf denen das

Bundesausbildungsförderungsgesetz be-

ruht, für Rahmenvorschriften über die all-

gemeinen Grundsätze des Hochschulwe-

sens, welche die Hauptgrundlage für das

Hochschulrahmengesetz bilden, und für

Besoldungsregelungen, die vor allem für

die Besoldung des beamteten Hoch-

schulpersonals Bedeutung haben.

Von den 1969 eingeführten Gemein-

schaftsaufgaben von Bund und Ländern

sind in dem hier interessierenden Zusam-

menhang die Gemeinschaftsaufgaben

Hochschulbau, Bildungsplanung und For-

schungsförderung relevant. Die Aus-

führung von Bundesgesetzen oder die

Umsetzung von Planungsbeschlüssen

durch die Länder bei den Gemeinschafts-

aufgaben ist, soweit nicht das Grundge-

setz im Einzelfall etwas anderen

bestimmt, Sache der Länder, ebenso die

Wahrnehmung aller übrigenAufgaben,

für die das Grundgesetz dem Bund keine

Kompetenzen zugewiesen hat. Das gilt

insbesondere für den Schulbereich, für

den, abgesehen von unbedeutenden

Ausnahmen, die Länder allein zuständig

sind (vgl. zur Kompetenzverteilung

Glotz/Faber, S.1393 ff.).

Auch die Rechtsprechung des Bundes-

verfassungsgerichts zu den Grundrechten

des Grundgesetzes leistet wesentliche

Beiträge zum bildungs- und wissen-

schaftspolitischen Entscheidungsprozeß,

vor allem im Hochschulwesen, z.B. für die

Hochschulzulassung oder die Hochschul-

organisation. Eine große Rolle spielt darü-

ber hinaus die Selbstkoordination der

Länder insbesonderein der Kultusmini-

sterkonferenz, die zwar keine die Landes-

regierungen oder gar die Länderparla-

mente bindenden Entscheidungen tref-

fen kann, durch ihre zahlreichen oft sehr

detaillierten Beschlüsse aber de facto in

weiten Bereichen die Landespolitik vor-

formt (zu beiden Aspekten – Vereinheitli-

chung durch Grundrechte und durch Län-

derselbstkoordination – vgl. Glotz/Faber,

S. 1396 ff.).

Der starke Ausbau einer dritten Ebene

zwischen dem Bund und den einzelnen

Ländern ist ein besonderes, international

auffälliges Merkmal im deutschen födera-

tiven System. Es ist historisch auf den Exe-

kutiv- und Bürokratieföderalismus der Bis-

marckzeit – zum Teil auf noch ältere Wur-

zeln – zurückzuführen. Koordinations- und

24

Page 27: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

25

Verflechtungsinstanzen kennen auch

andere föderativ organisierte Staaten. Aus-

maß und Dichte des Verflechtungsnetzes

übersteigen jedoch in Deutschland das für

ältere Bundesstaaten mit einer ausge-

prägt demokratisch-parlamentarischen

Tradition übliche Maß (Glotz/Faber, S. 1415

ff.). Die im Vergleich zu anderen Bundes-

staaten sehr weit gehende Mitwirkung der

Gliedstaaten an der Willensbildung des

Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebung

verstärkt die Exekutiv- und Bürokratieori-

entierung, die in der dritten Ebene ange-

legt ist. Dies wird vor allem dann deutlich,

wenn, wie dies in Deutschland häufig der

Fall ist, die politischen Mehrheiten im Bun-

destag und im Bundesrat nicht überein-

stimmen. Der in derartigen Konstellatio-

nen angelegte Zwang zur Bildung von All-

parteienkoalitionen schaltet den Parteien-

wettbewerb und damit einen unverzicht-

baren Innovationsmotor weigehend aus.

Er begünstigt die Neigung, Zustimmungs-

akte durch politisch fragwürdige Gegenlei-

stungen zu erkaufen – wie einst etwa bei

der früheren deutschen Königs- und Kai-

serwahl. Der Exekutiv- und Verflechtung-

scharakter in der deutschen föderativen

Bildungs- und Wissenschaftpolitik prägt

den Willensbildungsprozeß im Verfahren

und im Ergebnis, wie auch eine Bilanz zum

Erreichten und Nicht-Erreichten in der

Legislaturperiode des Bundestages von

1998 bis 2002 zeigen wird.

Politikverflechtung im deutschen Bun-

desstaat hat nicht nur im engeren Bereich

von Bildung und Forschung Auswirkun-

gen. Sie erklärt zumindest zum Teil Nei-

gungen in der deutschen politischen

Klasse zur Konsensbetonung und Kon-

fliktvermeidung, zur Medienorientierung,

zur Beharrung und zur langsamen Reak-

tion auf Veränderungsbedürfnisse, denen

man nicht allzu selten erst sehr spät und

im geringst möglichen Umfang nach-

kommt. Es geht bei der Kritik an diesen

Orientierungstendenzen, um mögliche

Mißverständnisse auszuschließen, nicht

darum, die durchaus legitime Abwägung

zwischen einer auch in den Zeitphasen

kontrollierten Veränderung („Sicherheit

im Wandel”, vgl. Müntefering, S. 5 ff.) und

einem eher schnell durchgeführten, radi-

kalen Umstellungskurs in Frage zu stellen.

Für die gemeinten problematischen Ori-

entierungsaspekte und ihre Ergebnisse

können als Einzelbeispiele – mit unter-

schiedlichem Gewicht – etwa die langan-

haltende, bis vor kurzem überwiegend

folgenlose Diskussion über die Tätigkeit

von Koranschulen oder über das seit vie-

len Jahren bekannte Defizit Deutschlands

bei den öffentlichen Ausgaben für die

Wissenschaft angeführt werden. Die

Debatte über die PISA-Studie der OECD

(vgl. Lernen für das Leben; zur Bewertung

der großen Vergleichsstudie s. Klemm)

zeigt genügend Ansätze für die Befürch-

Page 28: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

26

Vor dem Hintergrund der Kompetenz-

verteilung zwischen Bund und Ländern ist

eine annähernd flächendeckend ange-

legte Bildungs- und Forschungspolitik des

Bundes kaum vorstellbar. Der euphorische

Aufbruchsduktus der frühen siebziger

Jahre ist längst passé, in denen die Bun-

desregierung der Bildungs- und Wissen-

schaftspolitik höchste Priorität einräumte

und den Anspruch erhob, das gesamte Bil-

dungswesen mitzugestalten. Einen

gemeinsamen Bildungsgesamtplan von

Bund und Ländern zu erarbeiten, beab-

sichtigt heute, anders als in den siebziger

Jahren, niemand mehr. Die erste Reaktion

auf die PISA-Studie der OECD hat zwar zu

Vorschlägen aus dem Bundestag an die

Bundesregierung geführt, regelmäßig

einen nationalen Bildungsbericht zu ver-

öffentlichen – eine Idee, die an den ersten

Bildungsbericht der Bundesregierung aus

dem Jahre 1970 anknüpft (zu einigen

damit verbundenen institutionellen und

inhaltlichen Aspekten vgl. Schlegel). Die

Antworten auf der Länderseite waren

jedoch zunächst überwiegend negativ.

Bildungspolitik, hier wiederum eher im

Sinne von Schulpolitik verstanden,sei Län-

dersache; die Zusammenfassung der bil-

dungspolitischen Darstellungen aus 16

Ländern ergebe den nationalen Bildungs-

bericht, so die von manchen Ländervertre-

tern zu hörende Kommentierung.

Das aktuelle Beispiel macht das

Dilemma deutlich, vor dem jede Bundes-

regierung steht und dem gegenüber vor

allem jede neugebildete Bundesregierung

eine Verhaltensstrategie entwickeln muß.

Wie Umfragen und Medienreaktionen

immer wieder zeigen, wird der Bund weit

über das tatsächlich vorhandene Maß an

eigenen Kompetenzen hinaus für den

tung, daß unter den Bedingungen der

föderativen Konsensfindung künftig auch

dieser Fall in dieselbe Erfahrungsreihe

eingeordnet werden muß.

Die Eingrenzung und Beschreibung der

Bilanzbereiche „Bildung und Forschung” –

richtet sich an der 1998 eingeführten

Namensgebung für das neu zugeschnit-

tene Bundesministerium aus, das schon in

der Regierungszeit von Helmut Kohl aus

zwei verschiedenen Ministerien gebildet

worden war. Bildung umfaßt dabei im eher

ungewöhnlichen Sinn u.a. die Bereiche

Schule, Berufsbildung, Hochschule und

Weiterbildung, Forschung demgegenüber

die außerhochschulische Forschung.

2. Bundespolitisches Gesamtkonzept für Bildung und Forschung:Spannungsverhältnis zwischen Modernisierungsziel und föderativer Willensbildung

Page 29: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Stand und vor allem für die Defiziteim

Schul- und Hochschulbereich verantwort-

lich gemacht. Gegenüber diesem Sachver-

halt sind, von den Extremen her gesehen,

zwei unterschiedliche Reaktionsmuster

denkbar: einerseits die Thematisierung

von Schwerpunktproblemen und

Lösungsansätzen durch die Bundespolitik

auch bei schwacher Kompetenzausstat-

tung des Bundes,etwa unter Berufung auf

eine gesamtstaatliche Aufgabe, anderer-

seits die Konzentration auf einige Gebiete

mit wichtigen Bundeskompetenzen, ver-

bunden mit der Abwehr einer weiterge-

henden Erwartung durch den wiederhol-

ten Hinweis auf die Landeszuständigkeit.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die

Bundespolitik für „Bildung und For-

schung” in der Regel zwischen den damit

beschriebenen Flügelpositionen bewegt.

Gebiete mit umfassenden Bundeskompe-

tenzen, etwa in der außerhochschulischen

Forschung, bildeten in diesem Rahmen

einen Aufgabenschwerpunkt der politi-

schen und administrativen Arbeit. Vor

allem im Schulbereich, dem Zentrum star-

ker Landeszuständigkeiten, war demge-

genüber der Bund politisch weniger prä-

sent. Der Hochschulsektor nimmt im Ver-

gleich zu den beiden genannten Berei-

chen der außerhochschulischen For-

schung und der Schulpolitik bei der Bund-

Länder-Kompetenzverteilung eher eine

Mittellage ein. Der Bund verfügt dort

sowohl über Finanzierungsmöglichkeiten,

etwa im Hochschulbau oder über die

ebenfalls zu den Gemeinschaftsaufgaben

zu rechnenden Hochschulsonderpro-

gramme, als auch über die Befugnis, Rah-

menvorschriften für die allgemeinen

Grundsätze des Hochschulwesens zu

erlassen (vgl. I. 1., S. 1 f.). Die Hauptfinanzie-

rungslast tragen insbesondere im Perso-

nalbereich aber nach wie vor die Länder.

Sie sind auch für die unmittelbar geltende,

ins Einzelne gehende Hochschulgesetzge-

bung zuständig.

Die Landeshochschulgesetzgebung hat

vor allem durch die 4. HRG-Novelle von

1998 an Bedeutung gewonnen, die noch

von der CDU/CSU-geführten Bundesre-

gierung konzipiert und durchgesetzt wor-

den war. Die Novelle von 1998 hat fast alle

Vorschriften zur inneren Hochschulorga-

nisation und zur Hochschulmitwirkung

aus dem Hochschulrahmengesetz gestri-

chen und damit den Ländern Freiräume

für eigene Regelungen eröffnet. Durch die

Novelle wurden, sozusagen als Ausgleich,

Orientierungsmaßstäbe, etwa für die Lei-

stungsorientierung bei der Hochschulfi-

nanzierung oder die Evaluation von For-

schung und Lehre, festgelegt, die auch auf

die Hochschulorganisation Auswirkungen

haben können. Die in diesem Punkt von

der Mehrheit der SPD-geführten Länder

mitgetragene 4. HRG-Novelle ist von der

rot-grünen Bundesregierung nach 1998

27

Page 30: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

nicht korrigiert worden. Eine ins Gewicht

fallende bundespolitische Einflußnahme

auf die aktuelle Hochschulorganisati-

onsdebatte hat es, abgesehen von der

2002 eingebrachten Initiative zur bundes-

rechtlichen Absicherung der verfaßten

Studierendenschaft (vgl. II. 2., S. 10), seit

1998 nicht gegeben. Es geht bei der zur

Zeit von den Ländern umgesetzten Neu-

ordnung der Hochschulorganisation vor

allem darum, die Position der Hochschul-

leitung und die Hochschulautonomie zu

stärken sowie die Effizienz der Hochschul-

verwaltung zu verbessern (vgl. Faber,

Dezember 2000). Die Abgrenzung zwi-

schen der Hochschulselbstverwaltung

und außerhochschulischen Einflüssen,

etwa über einen vom Staat eingesetzten

Hochschulrat, sowie das Binnenverhältnis

zwischen Kollegialorganen und Exekutiv-

spitze der Hochschule stehen im Mittel-

punkt einer Verfassungsbeschwerde

gegen das Hochschulgesetz des Landes

Brandenburg. Die Entscheidung des Bun-

desverfassungsgerichts über die Verfas-

sungsbeschwerde kann eine wichtige

Grundatzorientierung für die künftige

Hochschulorganisation geben.

Die Abstinenz der Bundespolitik auf die-

sem Gebiet ist ein Indiz für die Absicht, in

der Hochschulpolitik insgesamt ein

zurückgenommenes Profil zu zeigen und

sich dort mehr auf konkrete Gesetzge-

bungs-, Finanzierungs- sowie andere Ein-

zelschritte zu konzentrieren. Dazu paßt

die nach der Kompetenzlage und der Bun-

desratsstellung nachvollziehbare, zum Teil

notwendige Position, für wichtige Vorha-

ben vor allem in der Gesetzgebung Kom-

promisse mit den von der CDU/CSU

geführten Ländern, z.B. durch eine vorbe-

reitende Abstimmung im Rahmen der Kul-

tusministerkonferenz oder von Sachver-

ständigenkommissionen, zu suchen. Eine

alle wesentlichen Hochschulfragen

umfassende Gesamtkonzeption des Bun-

des zur Hochschulpolitik war demgegenü-

ber weniger deutlich zu erkennen.

Noch klarer als im Hochschulwesen

bestimmten im Schulbereich und in wei-

teren Bildungssektoren zumindest in den

ersten drei Jahren seit 1998 zurückhal-

tende Äußerungen das bundespolitische

Bild. Bildungspolitische Grundsatzpositio-

nen wurden auch auf diesem Gebiet unter

Berufung auf Eckwerte der sozialdemo-

kratischen Orientierung (u. a.: Chancen-

gleichheit beim Bildungszugang, Vermei-

dung von Benachteiligung einerseits und

Begabtenförderung andererseits, Wer-

tentscheidung für Demokratie und Tole-

ranz,Überwindung des überholten Rollen-

schemas von Frauen und Männern, Förde-

rung der Integration von Migranten, Prin-

zip des lebenslangen Lernens, vgl. Bul-

mahn, 2001, S. 223 ff.) durchaus vertreten.

Die Debatte wurde allerdings eher kon-

sensorientiert und weniger durch die Aus-

28

Page 31: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

29

einandersetzung mit abweichenden Poli-

tikkonzepten geführt. Das „Forum Bil-

dung”, eine gemeinsame Bund-Länder-

Einrichtung im Rahmen der Bund-Länder-

Kommisssion für Bildungsplanung und

Forschungsförderung, hat in diesem

Bereich eine Plattform für Diskussionspro-

zesse und die Konsensfindung geschaffen.

Es weist in seiner Konstruktion und Prä-

sentation auf die Zuständigkeitsvertei-

lung des Grundgesetzes – insbesondere

auf das deutliche Übergewicht der Län-

derzuständigkeiten im Schulbereich – hin

und wehrt damit in gewisser Weise allzu

weit gespannte Erneuerungs- und Refor-

merwartungen ab,die sich unmittelbar an

den Bund richten.

Auf den ersten Blick enthält das damit

skizzierte Politikszenario mit einer

Schwerpunktsetzung in konkreten Einzel-

schritten auf Gebieten mit ausreichenden

Bundeskompetenzen überzeugende Ele-

mente, die auch die Konfliktpotentiale im

Bund-Länder-Verhältnis berücksichtigen.

Es enthält aber ebenso Risiken. Als verbin-

dendes Thema rot-grüner und insbeson-

dere sozialdemokratischer Bundespolitik

dient aus verschiedenen, hier nicht im

einzelnen auszuführenden Gründen die

Orientierung am Ziel der „Modernisie-

rung”, des Ausgleichs von „Innovation und

Gerechtigkeit” oder der Vermittlung von

„Sicherheit im Wandel” (vgl. I. 1., S. 3). Dies

setzt in den einzelnen Politikfeldern eine

dem Leitthema entsprechende, überzeu-

gende und geschlossene Konzeption vor-

aus, die bei geeigneter Gelegenheit – und,

mit Blick auf Wahlen, rechtzeitig – offen-

siv und profilbildend gegenüber anderen

Positionen im Parteienwettbewerb dar-

gestellt werden muß. Eine derartige Ziel-

setzung steht jedoch in einem deutlichen

Spannungsverhältnis zu den Regeln für

die politische Willensbildung, die unter

den Bedingungen der föderativen Poli-

tikverflechtung im Bildungssystem– mit

einer Tendenz zum Einstimmigkeitsprin-

zip – gelten.

Sichtbar werden das Spannungsver-

hältnis und dabei ebenso die Risiken der

geschilderten Bundespolitikorientierung

u.a. dann, wenn die öffentliche Debatte

die föderative Grenzziehung der Zustän-

digkeiten überschreitet und, zu Recht

oder zu Unrecht, gesamtstaatliche Ent-

scheidungen über die Kompetenzgrenzen

hinweg verlangt. Derartige Tendenzen

zeigt z.B. die Diskussion um die PISA-Stu-

die (vgl. II. 2., S. 11 f.; III., S. 16 f.). Im folgen-

den sollen die damit beschriebenen Kon-

fliktlagen, exemplarisch und in der

Gesamtbilanz von Modernisierungserfol-

gen oder -defiziten sowie in denHand-

lungsperspektiven, für die Bereiche Bil-

dung und Forschung geschildert und

bewertet werden.

Page 32: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

30

Der Ausgabenansatz des Bundesmini-

steriums für Bildung und Forschung im

Bundeshaushalt beträgt im Jahr 2002

rund 8,8 Mrd Euro. Im Vergleich zu 1998,

dem letzten Jahr der von der CDU/CSU

und FDP gebildeten Bundesregierung, ist

das eine Steigerung um etwa 15,5%. Der

Bildungs- und Forschungshaushalt des

Bundes hat damit in der Bundesrepublik

Deutschland seinen bislang höchsten

Stand erreicht (vgl.Tabelle, in:Versprochen

und Wort gehalten, S.167). Die beachtliche,

von der zuständigen Bundesministerin

Edelgard Bulmahn mit Geschick und

Fortune durchgesetzte Erhöhung des Etat-

volumens belegt nicht nur, daß eine

wesentliche Zielsetzung in den program-

matischen Aussagen vor der Wahl und im

rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998

(vgl. Aufbruch und Erneuerung) erreicht

wurde. Sie macht über die im engeren

Sinne finanzpolitische Dimension hinaus

Qualität und Tragweite des Kurswechsels

nach 1998 deutlich.

Die Ausgaben des Bundes für Bildung

und Forschung wurden von 1993 bis 1998

um rund 700 Mio DM gekürzt. Der Anteil

der Ausgaben für Forschung und Entwick-

lung am Bruttoinlandsprodukt betrug

19872,9 %, 1997 nur noch 2,3 %, was auch

der Wissenschaftsrat unter Hinweis auf

die langfristig wirkenden, problemati-

schen Folgen kritisiert hat (Wissenschafts-

rat, S. 51 f.). Deutschland liegt beim Anteil

der Studierenden an der Gesamtbevölke-

rung weit hinter vielen europäischen Staa-

ten; der entsprechende Anteil am jeweili-

gen Altersjahrgang ist nach OECD-Studien

auch jetzt noch deutlich niedriger als in

einer ganzen Reihe vergleichbarer Länder,

darunter den USA, Japan, Südkorea, Finn-

land oder Schweden (vgl. OECD: Bildung

auf einen Blick; Zukunft der Wissenschaft,

S. 7 f., S. 38 f.; Teichler). Bei den Anteilen des

Wissenschaftsbereichs am Bruttoinlands-

produkt befindet sich Deutschland ebenso

am unteren Ende der OECD-Plazierung.

Das deutsche Defizit bei den Studieren-

denanteilen wird durch die traditionell

hohe Qualität der Berufsbildung in Teilbe-

reichen zur Zeit vielleicht noch ausgegli-

chen oder zumindest reduziert. Wie in

anderen Ländern wird sich allerdings auch

in Deutschland der tertiäre Bereich aus

verschiedenen Gründen zu Lasten der

Berufsbildung ausdehnen (vgl. Zukunft

der Wissenschaft, S. 7 f.). Zu der Zielset-

zung, die Studierendenanteile zu erhöhen,

gibt es also keine auf Dauer tragfähige

Alternative.

II. Erfolge und Mißerfolge der Bundespolitik

1. Finanzpolitischer Kurswechsel

Page 33: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Der 1998 vollzogene Kurswechsel in der

Haushaltspolitik des Bundes war vor allem

notwendig, um den Rückstand Deutsch-

lands in der Qualifikationsstruktur der

Bevölkerung aufzuholen und damit die

internationale Wettbewerbsfähigkeit zu

sichern. Der Bundeshaushalt kann zu die-

ser Zielsetzung allerdings nur einen Bei-

trag leisten. Ohne diesen Beitrag ist jedoch

eine Änderung auf Ebene der Landeshaus-

haltspolitik für die Gebiete von Bildung

und Forschung kaum zu erwarten. Verglei-

chende internationale Untersuchungen

belegen immer wieder, daß sich die Inve-

stitionen eines Landes in Bildung, Wissen-

schaft und Forschung auf den Weltmärk-

ten auszahlen. Der internationale Trend

zur Erhöhung des Studenten- und Akade-

mikeranteils – als Teil der allgemeinen Ver-

besserung des Qualifikationsniveaus – hat

sich deshalb in vielen entwickelten Län-

dern durchgesetzt. Es geht bei dieser Frage

seit langem nicht mehr um das „Ob”, son-

dern nur um das „Wann”. Der rasche Über-

gang in die „Wissensgesellschaft” ist eine

zentrale Modernisierungsvoraussetzung

für die Gesamtgesellschaft. Länder, welche

die neue Entwicklung später als andere

aufnehmen, also, wie Deutschland jeden-

falls bis 1998, zu wenig oder zu spät in Bil-

dung und Forschung investieren, werden

die negativen Folgen auf den internationa-

len Märkten und auch auf anderen Gebie-

ten zu tragen haben.

Die Defizite Deutschlands bei den Bil-

dungs- und Forschungshaushalten sind

vor 1998 auf der Bundesebene auch in den

einzelnen Gestaltungsinstrumenten sicht-

bar geworden, soweit diese einen Finan-

zierungsbeitrag leisten. Die Finanzierung

des Hochschulbaus, gefördert im Rahmen

der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe

für den Hochschulbau, war vor 1998 redu-

ziert und dabei auch die Ausstattung mit

neuen Geräten vernachlässigt worden.

Vergleichbares gilt u.a. für die Ausbil-

dungsförderung, die 1998 einen Tiefstand

erreicht hatte. Auf den beiden genannten

Gebieten sind seit 1998 erhebliche Steige-

rungen in den Mittelansätzen erfolgt.

Wichtige Zukunftsinvestitionen werden

mit den Zinsersparnissen finanziert, die

sich daraus ergeben, daß die Erlöse aus der

Versteigerung der UMTS-Lizenzenfür den

Abbau von Bundesschulden verwandt

werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei in

Investitionen für Forschung und Bildung.

Zu nennen sind im Rahmen des dreijähri-

gen Zukunftsinvestitionsprogramms (2001

bis 2003) u.a. die Ansätze im Bundeshaus-

halt 2002 für die Genomforschung (etwa

56 Mio Euro), für die Zukunftsinitiative

Hochschule (über 180 Mio Euro), mit der

attraktive Arbeitsbedingungen in der For-

schung insbesondere für den Wettbewerb

um Spitzenkräfte geschaffen werden sol-

len, und die Zukunftsinitiative für Berufli-

che Schulen (etwa 40 Mio Euro).

31

Page 34: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

32

Im Vordergrund der hochschulpoliti-

schen Aktivitäten stand in der neuen,

1998 begonnenen Legislaturperiode des

Bundestages die Reform des „Dienst-

rechts” an den Hochschulen. Gemeint ist

mit dieser Bezeichnung – gegen die Ver-

mutung, die der Begriff selbst nahelegt –

vor allem die Reform der Hochschulper-

sonalstruktur, dabei insbesondere die

Neuregelung des Qualifikationsweges

zur Professur, und der Hochschullehrer-

besoldung (vgl. Bulmahn, 2000). Eine

Sachverständigenkommission hatte,

unter nicht-stimmberechtigter Beteili-

gung der Länder und von Verbänden, bis

zur Mitte der Legislaturperiode Neuord-

nungsvorschläge vorbereitet. Diese

waren die Grundlage für Abstimmungs-

gespräche mit den Ländern in der Kultus-

ministerkonferenz und, insbesondere für

das Besoldungsrecht, auch in anderen

Zusammenhängen. Federführend war

für denjenigen Teil der Gesetzesinitiati-

ven, der die Hochschulpersonalstruktur

betrifft und durch eine Änderung des

Hochschulrahmengesetzes umgesetzt

werden mußte, das Bundesministerium

für Bildung und Forschung, für die Besol-

dungsregelungen demgegenüber das

Bundesinnenministerium.

Von Anfang an war es das Ziel der Bun-

desregierung, auch mit Rücksicht auf den

Bundesrat, in dem seit den Niederlagen

in einigen Landtagswahlen zu Beginn der

Legislaturperiode die sozialdemokratisch

geführten Länder keine Mehrheit mehr

hatten, eine Einigung mit den von der

CDU/CSU regierten Ländern herbeizu-

führen. Für die Besoldungsregelung, die

im Rahmen der Reform des „Hochschul-

dienstrechts” angestrebt wurde und

durch eine Änderung des Bundesbesol-

dungsgesetzes vollzogen werden sollte,

war in jedem Fall die Zustimmung des

Bundesrates erforderlich. Die vorgese-

hene Änderung des Hochschulrahmen-

gesetzes war dann zustimmungspflich-

tig, wenn in ihr das Verfahren oder die

Behördeneinrichtung im Landesbereich

geregelt werden sollten; sie konnte zur

Not, mit Auswirkungen auf den Inhalt,

der bei dieser Variante keine Verfahrens-

regelungen enthalten durfte, auch ohne

Zustimmung des Bundesrates erfolgen.

Die Bundesregierung ist in der Tat der

Auffassung, daß die vom Bundestag 2001

beschlossene Änderung des Hochschul-

rahmengesetzes – die 5. HRG-Novelle –

nicht zustimmungspflichtig sei. Dies ist

allerdings eine Position, die von denjeni-

gen Ländern nicht geteilt wird, die von

der CDU/CSU geführt werden.Der darin

liegende Dissens kann nach den Bundes-

tagswahlen unter Umständen zu einer

2. Bildung (Hochschule, Berufsbildung, Schule)

Page 35: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Auseinandersetzung vor dem Bundesver-

fassungsgericht führen, da der Bundesrat

der 5. HRG-Novelle nicht zugestimmt hat.

Die Änderung des Bundesbesoldungsge-

setzes zur Neuordnung der Professoren-

besoldung hat auf der anderen Seite die

Zustimmung des Bundesrates erhalten.

Darin wird deutlich, daß wesentliche

Grundpositionen der beiden Novellen zur

Reform des „Hochschuldienstrechts” auf

einem in langwierigen Verhandlungen

ausgehandelten Kompromiß beruhen,

trotz einiger Vorbehalte der CDU/CSU-

regierten Länderzur 5. HRG-Novelle ins-

besondere zur Abschaffung der Habilita-

tion.

Vom Konsens getragen sind dement-

sprechend die Hauptelemente der bei-

den Novellen: eine neue Besoldungsrege-

lung für Professoren mit erweiterten lei-

stungsbezogenen Elementen und die

Einführung der neuen Personalfigur einer

Juniorprofessur für die Qualifizierung des

wissenschaftlichen Nachwuchses. Der

neue Qualifikationsweg wird, so die Vor-

stellung der Bundesregierung, nach einer

längeren Übergangsphase das Habilitati-

onsverfahren ersetzen – der weiterbeste-

hende politische Dissens bezieht sich in

diesem Punkt auf die Frage, ob neben

dem neuen Amt in einigen Bereichen die

Habilitiation erhalten bleiben soll. Die

Neuordnung des Qualifikationsweges

zur Professur war bereits vor 1998 von

verschiedenen Teilnehmern an der

öffentlichen Debatte gefordert worden,

auch in Stellungnahmen des Wissen-

schaftsrats oder von der Deutschen For-

schungsgemeinschaft. Die Reform auf

den Weg gebracht und umgesetzt zu

haben, wird im Rück- und Ausblick neben

dem finanzpolitischen Kurswechsel, der

allerdings nicht nur den Hochschulbe-

reich betrifft, der wichtigste hochschul-

politische Erfolg der Legislaturperiode

von 1998 bis 2002 sein, trotz der Kritik aus

verschiedenen Richtungen, etwa derjeni-

gen der CDU/CSU-Länder oder von der

Gewerkschaftsseite, die eine weiterge-

hende Reform u.a. mit dem Ziel gefordert

hatte, eine attraktive neue Position für

den akademischen „Mittelbau” einzu-

führen. Der wissenschaftliche Nach-

wuchs wird im übrigen, soweit hier Initia-

tiven außerhalb des Gesetzgebungsbe-

reichs anzusprechen sind, auch durch

besondere Bundesprogramme gefördert,

die finanzielle Unterstützung gewähren (

Emmy-Noether-Programm der DFG; Pro-

gramm „PHD – Promovieren in Deutsch-

land”; vgl. auch Deutsche Nachwuchs-

wissenschaftler in den USA). Nicht ganz

so deutlich wird der Erfolg für die Reform

der Professorenbesoldung festgestellt

werden können. Problematische Zuge-

ständnisse bei der Kompromißbildung,

die wegen der Bundesratsmehrheiten

notwendig war, werden z. B. in der im

33

Page 36: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

Bundesgesetz offen gelassenen Frage

sichtbar, ob die Länder im Fachhochschul-

bereich nur ein neues Professorenamt

oder, wie an den Universitäten, zwei

Ämter einführen. Die nach der Neuord-

nung erforderliche Leistungsmessung für

die Professorenbesoldung wird sich

zudem in einigen Sektoren in der Länder-

und Hochschulpraxis bewähren müssen

(wozu von der Bundesregierung Orientie-

rungshilfen gegeben werden, vgl. Lei-

stungsbegutachtungssysteme an staatli-

chen US-Universitäten).

Für die politische Willensbildung, den

Verlauf der öffentlichen Auseinanderset-

zung und die Umsetzung der gesetzli-

chen Neuregelungen hat sich der Zeit-

punkt für die Verabschiedung der

Gesetze am Ende der Legislaturperiode

als ungünstig erwiesen. Dies gilt auch für

die Diskussion über die neuen Vorschrif-

ten für Zeitverträge an Hochschulen und

Forschungseinrichtungen in der 5. HRG-

Novelle. Die öffentliche, zum Teil überzo-

gen formulierte Kritik betraf die im

neuen Gesetz vorgesehene Obergrenze

von 12 Jahren für Zeitverträge;diese Ober-

grenze schließe, so die Behauptung, in

einigen Bereichen die nach altem Recht

gegebenen, längeren Beschäftigungs-

möglichkeiten in befristeten Arbeitsver-

hältnissen ohne praktikable Alternative

aus. Eine gesetzliche „Klarstellung”, die

im Rahmen der 6. HRG-Novelle erfolgen

soll, wird nach den Vorschlägen des Bun-

desministeriums für Bildung und For-

schung den Beschwerden abhelfen. Die

in diesem Zusammenhang geäußerte

Kritik (vgl. dazu etwa Kühne) richtet sich

wohl weniger gegen die beanstandete

Zeitvertragsregelung selbst, als gegen die

Vermittlung der Neuregelung und der

gesamten hochschul- und forschungspo-

litischen Politikkonzeption. Der Zeitpunkt

der Debatte – einige Monate vor der Bun-

destagswahl – erklärt dabei zum Teil die

Schärfe der Argumentation.

Für die Schwerpunkte der von der Bun-

desregierung im Jahre 2002 eingebrach-

ten 6. HRG-Novelle – die bundesrechtli-

che Festschreibung der verfaßten Studie-

rendenschaft in allen Ländern und des

Verbots von Studiengebühren für das

erste berufsqualifizierende Studium –

wird ein Kompromiß mit den von der

CDU/CSU geführten Ländern nicht mög-

lich sein. Die Bundesregierung hatte seit

1998 immer wieder – erfolglos – versucht,

eine Staatsvertragsregelung mit den Län-

dern zu vereinbaren, nach der sich diese

auf eine Gebührenverbotsvariante festle-

gen sollten. Bei einem Teil der Studieren-

den gibt es Vorbehalte zum Vorschlag der

Bundesregierung für ein Studienge-

bührenverbot, weil es, so die Argumenta-

tion, nicht weit genug gehe, nur das Erst-

studium betreffe und – zum Beispiel –

Regelungen über Studienkonten zulasse.

34

Page 37: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

Die Gesetzesinitiative ist von der Bundes-

regierung so angelegt, daß sie nicht der

Zustimmung des Bundesrats bedarf.

Auch auf diesem Gebiet sind verfas-

sungsrechtliche Auseinandersetzungen

nicht auszuschließen.

Mit der von der Bundesregierung

durchgesetzten Reform des Ausbildungs-

förderungsgesetzes ist die längst fällige

Verbesserung der Studienförderung

erreicht worden (vgl. Versprochen und

Wort gehalten, S. 168 ff.). Das kommt vor

allem Jugendlichen aus Familien mit

geringerem Einkommen zu gute. Für die

Ausbildungsförderung stehen jährlich

810 Mio Euro mehr als früher zur Verfü-

gung. Etwa 81 000 Studierende sind

dadurch zusätzlich in die Förderung auf-

genommen worden. Das Bundesministe-

rium für Bildung und Forschung hatte

sich ursprünglich mit allen Ländern in der

Kultusministerkonferenz auf eine noch

weiter gehende Neuordnung geeinigt,

die auch Elemente einer elternunabhän-

gigen Förderung enthielt (nach dem

„Dreikörbemodell”). Ein derartiger,

„großer” Wurf war jedoch innerhalb der

Bundesregierung nicht durchzusetzen.

Der Erfolg der in zwei Gesetzesnovellen

1999 und 2001 schließlich realisierten

Reform des Bundesausbildungsförde-

rungsgesetzes kann aber in der Bilanz

nicht deshalb in Frage gestellt werden,

weil ursprünglich eine noch bessere

Lösung angestrebt wurde. Das Problem

lag in diesem Fall nicht im Bereich der

föderativen Politikverflechtung, sondern

betraf die Ressortkoordination innerhalb

der Bundesregierung.

Auf dem Gebiet der beruflichen Bil-

dung sind ab 1998, in Anknüpfung an

schon früher eingeleitete Schritte, neue

Ausbildungsberufe geschaffen und

damit, vor allem im Rahmen des Bünd-

nisses für Arbeit, die Modernisierungs-

ansätze intensiviert worden. Das bereits

erwähnte Zukunftsinvestitionspro-

gramm der Bundesregierung wird eine

Ausstattung von Berufsschulen auch im

Bereich der neuen Medien verbessern.

Das Sofortprogramm zum Abbau der

Jugendarbeitslosigkeit hat sich bewährt.

Seit 1999 haben etwa 377 000 Jugendli-

che an verschiedenen ausbildungs- und

beschäftigungsfördernden Maßnahmen

teilgenommen. Besondere Bedeutung

hatten und haben die Bund-Länder-

Initiativen für Ostdeutschland.

Die PISA-Studie hat, für die Medien

eher unerwartet, die Schulpolitik wieder

zu einem wichtigen Thema der öffentli-

chen Debatte gemacht. Die für den Som-

mer 2002 angekündigte Folgestudie zu

den Ergebnissen in den einzelnen deut-

schen Ländern wird den Fragenkomplex,

mitten im Wahlkampf, erneut in die Dis-

kussion bringen. Im Vergleich zu den Bil-

dungsystemen vieler anderer OECD-

35

Page 38: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

Staaten liegt Deutschland nach der PISA-

Untersuchung deutlich zurück. Das deut-

sche Schulsystem produziert unterdurch-

schnittliche Leistungen in allen Untersu-

chungsbereichen, also auf dem Gebiet

der Lesekompetenz, in der Mathematik,

in den Naturwissenschaften und bei der

Anwendung des Erlernten im Alltag. Das

deutsche Schulsystem ist nach dem

internationalen Vergleich ungerechter als

das Schulwesen in vielen anderen Län-

dern. Die soziale Herkunft entscheidet in

Deutschland weitaus mehr als in den

zum Vergleich herangezogenen anderen

Staaten über den Bildungserfolg. Verzö-

gerungen in der Bildungslaufbahn gibt

es in Deutschland besonders häufig.

Sowohl in den Spitzenleistungen als auch

bei den schwächeren Schülern zeigt

Deutschland unterdurchschnittliche

Werte. Auffällig ist, daß Länder mit Spit-

zenergebnissen wie Finnland, Kanada,

Neuseeland, Australien oder Irland über

ein Schulwesen verfügen, in der die

Schüler bis mindestens zur 9. Klasse

gemeinsam in eine Schule gehen. Der in

den einzelnen deutschen Ländern unter-

schiedlich ausgeprägte, aber insgesamt

hochselektive Charakter des deutschen

Bildungswesens hat sich also in der

Bilanz nicht als leistungsfördernd erwie-

sen. Es überrascht in diesem Zusammen-

hang kaum, daß nach der PISA-Studie,

wie bereits frühere OECD- und andere

Untersuchungen bestätigt haben,

Deutschland beim Anteil sowohl der

Hochschulabsolventen als auch der Stu-

denten am jeweiligen Altersjahrgang ein

Defizit aufweist. Deutschland liegt nach

dem internationalen Vergleich sowohl in

qualitativer – bei den Einzelleistungen

nach der PISA-Studie – als auch in quanti-

tativer Hinsicht – nach dem jeweiligen

Anteil derjenigen,die über bestimmte Bil-

dungsabschlüsse verfügen – im durch-

schnittlichen Ausbildungsniveau der

Bevölkerung im unteren Drittel der unter-

suchten Länder. Seine frühere Spitzenpo-

sition in Bildung und Wissenschaft etwa

in den zwanziger oder zu Beginn der

dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, auf

der Grundlage des Schulkompromisses in

der Weimarer Verfassung und vor der Ver-

folgung der Juden, hat es inzwischen

längst verloren (vgl. zu den kulturellen

Aspekten Nida-Rümelin; zu der in diesem

Zusammenhang aufschlußreichen Ent-

wicklung des Spannungsverhältnisses

zwischen der Erziehungswissenschaft

und der Bildungspolitik in Deutschland s.

Weiler).

Die Bundesregierung setzt seit 1998 auf

eine abgestimmte Politik der bildungspo-

litischen Veränderung im „Forum Bil-

dung” (siehe I. 2., S. 5) und betont, vor

allem nach der Veröffentlichung der PISA-

Studie, damit einen „Anstoß zu einer

neuen Bildungsreform” gegeben zu

36

Page 39: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

37

Eine deutliche Steigerung der Haus-

haltsansätze ist im Rahmen des finanz-

politischen Kurswechsels seit 1998 auch

im Bereich der Forschungsförderung

erfolgt. Die Förderung zentraler Schlüs-

seltechnologien spielt dabei eine beson-

dere Rolle. Beispiele dafür sind die IT-For-

schung, die Nanotechnologie, die Mate-

rialforschung oder die Biotechnologie.

Die Genomforschung und die Life Scien-

ces bilden ebenso Schwerpunktbereiche.

Das Nationale Genomforschungsnetz

verzahnt Grundlagenforschung und kli-

nische Forschung. Molekularbiologen,

Mediziner oder Chemiker arbeiten

zusammen, um für verbreitete Krankhei-

haben. Prioritäre Handlungsfelder sind, so

die Position der Bundesregierung auf der

Grundlage der Empfehlungen des Forums

Bildung, die frühe und individuelle Förde-

rung, die bereits im Kindergarten einset-

zen soll, eine Evaluation und Qualitätssi-

cherung z.B. durch die Einführung von Bil-

dungstests an Schulen oder in der Weiter-

bildung, die gezielte Unterstützung von

Kindern mit Migrationshintergrund oder

mit sozialer Benachteiligung sowie der

flächendeckende Ausbau eines Angebots

von Ganztagsschulen mit einem überzeu-

genden pädagogischen Konzept (Bul-

mahn, 2002). Bundeskanzler Gerhard

Schröder hat für den Ausbau von Ganz-

tagseinrichtungen auch im finanziellen

Bereich eine Unterstützung durch den

Bund in Aussicht gestellt (vgl. Schröder).

Ergebnisse im engeren Sinne sind in der

neuen schulpolitischen Debatte noch

nicht zu verzeichnen, wenn man einmal

von dem – durchaus vorhandenen –

Zusammenhang zwischen höheren

Hochschul- und Ausbildungsinvestitio-

nen des Bundes und der ebenso von den

neueren KMK-Beschlüssen verfolgten

Zielsetzung absieht, das Qualifikationsni-

veau, die Standardsicherung und den Bil-

dungszugang auch im Schulwesen zu

verbessern. Die öffentliche Diskussion hat

aber auf jeden Fall den Bund – anders als

in den ersten drei Jahren seit dem Regie-

rungswechsel von 1998 – wieder deutlich

in die Mitverantwortung für die Schulpo-

litik geführt – trotz der beschriebenen

Kompetenzschwächen auf diesem

Gebiet. Er wird künftig stärker an den

dadurch begründeten Erwartungen

gemessen werden, was voraussichtlich

auch die letzte Wahlkampfphase vor der

Bundestagswahl 2002 zeigen wird (vgl.

dazu etwa PISA – Aufforderung zum Han-

deln).

3. Forschung und Innovation

Page 40: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

ten, wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankun-

gen oder Krebs, neue Verfahren in der

Prävention und in der Therapie zu ent-

wickeln.

Auf dem Gebiet der Gentechnik kam in

der öffentlichen Debatte ethischen und

rechtlichen Fragen eine größere Bedeu-

tung zu, wobei zunächst die Themen

„Stammzellenforschung” und „Präim-

plantationsdiagnostik” im Vordergrund

standen. Der „Nationale Ethikrat” hat in

diesem Bereich besondere Beratungs-

aufgaben. Die Abstimmung zwischen

den nationalen und den supranationalen

EU-Instanzen wird auf diesem Gebiet,

wie etwa die Diskussionum die EU-Bio-

patentrichtlinie zeigt, ein wachsendes

Gewicht erhalten.

Für die außerhochschulischen For-

schungseinrichtungen gibt es sowohl in

der Finanzierung als auch in der Gesetz-

gebung starke Bundeskompetenzen (vgl.

I.1., S. 1 f.). In diesem Sektor besteht, im

Gegensatz zum Hochschulwesen, zum

Elementar- oder zum Grundschulbe-

reich, nach dem internationalen Ver-

gleich kein wesentliches Finanzierungs-

defizit, intern und extern wohl aber aus-

geprägte Kritik an der „Versäulung” in

den verschiedenen Forschungsorganisa-

tionen von der Max-Planck- bis hin zur

Fraunhofer-Gesellschaft. Die Kritik bezog

und bezieht sich auch auf die bislang

geltenden Finanzverteilungsregeln und

die Ausrichtung der Forschungsschwer-

punkte. Zu wenig sei, so ein in diesem

Zusammenhang zu hörendes Beispiel, in

der Vergangenheit für die Entwicklung

der erneuerbaren Energien oder für die

Beurteilung der Risiken in der Kernener-

gie getan worden. Die neue „program-

morientierte Forschungsförderung”, eine

Variante der Projektförderung, soll

gegenüber der früheren institutionellen

Förderung Veränderungen voranbringen,

in der Programmsetzung, in der Finanz-

verteilung und in der Ausrichtung auf

den Wettbewerb. Kontrovers diskutiert

wurden und werden bei der vom Bun-

desministerium für Bildung und For-

schung auf den Weg gebrachten Neu-

ordnung insbesondere die dafür ver-

wandten Operationswerkzeuge – die

Verlagerung von Programmentschei-

dungsbefugnissen von unten nach oben,

ihre Auswirkungen auf die Personal-

struktur, die bislang, so einige Debatten-

teilnehmer, zu geringe Beteiligung

von externem Sachverstand sowie das

Verhältnis von Grundhaushalt und

Programmmittelzuweisung. Unabhän-

gigkeit für einzelne Forschungseinrich-

tungen durch einen ausreichenden

Grundhaushalt sei, so etwa die Gewerk-

schaften, auch eine Garantie dafür, dass

nicht nur main-stream-Trends Pro-

grammdefinition und Forschungsresul-

tat bestimmten.

38

Page 41: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

39

Ob die programmorientierte For-

schungsförderung und die dem ent-

sprechende Reform der Helmholtz-Zen-

tren (der Großforschungseinrichtun-

gen) die erwarteten, wettbewerbsge-

prägten Ergebnisse erzielen, kann erst

zu einem späteren Zeitpunkt absch-

ließend beurteilt werden. Auffällig ist,

ein Punkt, der in der Debatte bislang

praktisch keine Rolle gespielt hat, daß

kaum ein Zusammenhang in der Ziel-

setzung der Veränderungen für die

Hochschulen einerseits – Verlagerung

von Haushalts- und Sachverantwor-

tung vom Land auf die Hochschule –

und für die Forschungseinrichtungen

andererseits – Verlagerung von Zustän-

digkeiten auf die nationale Ebene der

Forschungseinrichtungen – zu erken-

nen ist, wenn man einmal von der allge-

meinen Forderung nach Effizienz und

Leistung absieht. Eher das Gegenteil

scheint der Fall zu sein: ein Ausbau der

Versäulung auf einer höheren Ebene,

nämlich zwischen Hochschulen und

Forschungsinstituten, mit allen damit

verbundenen problematischen Folgen.

Vielleicht wirkt sich auf diesem Gebiet,

zumindest in der Diskussionsführung,

auch die Tatsache aus, daß sich der

Bund in der politischen Praxis weitge-

hend aus der Debatte über die Hoch-

schulorganisation zurückgezogen hat.

Falls und soweit diese Annahme zutref-

fen sollte, wäre in dem Rückzug des

Bundes ein negatives Entwicklungsele-

ment zu erkennen, das vor dem Hinter-

grund der historisch gewachsenen

Finanzierungs- und Organisationsver-

hältnisse trotz der inzwischen auf

anderen Gebieten erzielten Auflocke-

rungserfolge die „Versäulung” eher för-

dert, als ihr entgegenwirkt.

Besondere Innovationsbedeutung

hat die Nutzung und Verbreitung

moderner Informations- und Kommuni-

kationstechnologien in Wirtschaft und

Gesellschaft. Im Hochschulwesen, aber

auch in anderen Bildungsbereichen,

etwa in der Weiterbildung, stellt sie

eine wesentliche Voraussetzung z. B.

dafür dar, im entstehenden internatio-

nalen Bildungsmarkt mit Studien- und

anderen Angeboten überhaupt wettbe-

werbsfähig zu sein. Die Bundesregie-

rung hat auf diesem Gebiet seit 1998

neue Initiativen und Förderprogramme

auf den Weg gebracht. Dazu gehört u.a.

das Programm „Neue Medien in der Bil-

dung” zur Förderung der Lehr- und Lern-

software in den Schulen, Hochschulen

und in der Berufsbildung. Von der Bun-

desregierung mitgetragene Initiativen

haben dazu geführt, daß Ende 2001

nahezu alle Schulen an das Internet

angebunden sind.

Page 42: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

40

Auch für die ostdeutschen Länder sind

seit 1998 die Ansätze im Bildungs- und

Forschungsteil des Bundeshaushalts

erhöht worden. Im Jahre 2001 waren dies

ungefähr 3,4 Mrd DM, was gegenüber

1998 einen Zuwachs von über 600 Mio

DM bedeutet (vgl.Versprochen und Wort

gehalten, S. 85). Die größten Anteile ent-

fallen dabei auf den Hochschulbau und

die Förderung der außerhochschulischen

Forschung.

Nach wie vor studieren im Vergleich zu

den westdeutschen Ländern in Ost-

deutschland noch zu wenig Jugendliche

– wobei, wie bereits geschildert,

Deutschland insgesamt bei den Studen-

tenanteilen im internationalen Vergleich

ein Defizit aufweist. Die ostdeutschen

Potentiale in der Industrieforschung lie-

gen in vielen Regionen hinter den ent-

sprechenden Kapazitäten im Westen

weit zurück. Gemessen an den Hoch-

schulausgaben pro Kopf der Bevölkerung

oder an den Haushaltsanteilen für die

Hochschulen belegen einige ostdeut-

sche Flächenstaaten einen Platz am

Ende der deutschen Leistungsskala.

Sachsen nimmt dort die erste, Mecklen-

burg-Vorpommern, das Land mit der

kleinsten Bevölkerungszahl in Ost-

deutschland, die zweite Position ein.

Trotz der Auswirkungen des dramati-

schen Geburtenrückgangs nach 1990,

des „Wendeknicks”, gibt es – infrastruk-

turpolitisch gesehen – keine sinnvolle

Alternative zum Ausbau von Wissen-

schaft und Forschung in Ostdeutsch-

land. Der umgekehrte Ansatz ist viel-

mehr richtig: Die demographische Per-

spektive zwingt dazu, die Begabungsre-

serven ganz auszuschöpfen – was in Ost-

deutschland bislang noch weniger als im

Westen gelungen ist.

Der Anteil der gesamtdeutschen Stu-

dierendenquote muß in jedem Fall

erhöht werden, um die internationale

Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Daß

über die Landesgrenzen hinaus mit

attraktiven Angeboten Bewerber für ein

Studium an ostdeutschen Hochschulen

motiviert werden können, zeigt beson-

ders deutlich die 1991 gegründete

Europa-Universität in Frankfurt/Oder.

Dort sind etwa 40% der Studierenden

Ausländer, mehr als an jeder anderen

deutschen Hochschule. Es gibt viel mehr

Bewerber aus dem Ausland, vor allem

aus Polen, als Studienplätze an der

Europa-Universität.

Auf diesem Gebiet, im Bereich der

Pflege der internationalen Beziehungen,

verfügt übrigens auch der Bund über

4. Aufbau in Ostdeutschland; Strukturverzerrungen zwischen den Ländern

Page 43: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

41

In diesem Punkt verbindet sich die ost-

deutsche Problematik mit einem ande-

ren, regional übergreifenden Defizita-

spekt. Gemessen an den Ausgaben pro

Kopf der Bevölkerung ist die Kluft in der

Hochschulfinanzierung auch zwischen

den westdeutschen Flächenstaaten zu

groß geworden. Das Instrument der

Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau

hat nicht ausgereicht, um die Lücke –

annähernd – zu schließen. Vor dem Hin-

tergrund der Bildungs- und Wissen-

schaftsdefizite Deutschlands im OECD-

Vergleich gibt dieser Tatbestand Anlaß,

über eine neue Dimension des Bundes-

engagements nachzudenken, die den

Ausgleich von Strukturunterschieden in

ost- und westdeutschen Regionen zum

Ziel hat. Dies gilt verstärkt dann, wenn

die einzelnen Länder auch auf anderen

strukturpolitisch wichtigen Gebieten

unterschiedliche Positionen einnehmen.

Nach der 5. HRG- und der damit verbun-

denen Besoldungsnovelle ist eine derar-

tige Entwicklung u. a. bei den Entschei-

dungen über die schnelle oder verzö-

gerte Einführung der Juniorprofessur

sowie über die Ausstattung der Fach-

hochschulen mit Professorenämtern

möglich und in der Praxis in bestimmten

Bereichen bereits jetzt abzusehen (vgl. II.

2., S. 8 f.).

eigene Fördermöglichkeiten, die z.B. in

einem darauf zugeschnittenen Hoch-

schulsonderprogramm eingesetzt wer-

den könnten. Vergleichbares gilt aber

auch für andere Zielsetzungen derarti-

ger Sonderprogramme, etwa für die Ein-

richtung besonderer Kompetenzzentren

z.B. in Greifswald, Wittenberg oder in

Frankfurt/Oder, die mit der Erprobung

neuer Finanzierungsmodelle und Orga-

nisationsstrukturen verbunden sein

könnten.

Ein Teil der ostdeutschen Länder wird

den finanzpolitischen Anforderungen an

den notwendigen Infrastrukturausbau im

Hochschulwesen und bei den For-

schungsinstituten nicht gerecht (vgl.

Faber, Januar 2000). Alle ostdeutschen

Länder haben – im historischen Rückblick

auf die negativen Folgen der deutschen

Teilung für die ostdeutsche Wirtschaft

und aus gesamtstaatlicher, aktueller Sicht

– einen Anspruch darauf, daß sich der

Bund an den erforderlichen Maßnahmen

eines Lastenausgleichs beteiligt – wie

dies im Ansatz, aber sicherlich nicht der

Höhe nach auch unbestritten ist (vgl.

Thierse, S. 83 ff.; Faber, 2002).

III. Zwischenbilanz und Perspektiven

Page 44: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

Die zuletzt angesprochene Überlegung

führt zu dem ersten Ansatz für eine Zwi-

schenbilanz: Der finanzpolitische Kurs-

wechsel von 1998 zugunsten deutlich

höherer Ansätze für die Bildung und For-

schung im Bundeshaushalt enthält eine

in der Öffentlichkeit viel zu wenig beach-

tete und gewürdigte positive Weichen-

stellung. Die Modernisierung in Bildung

und Forschung konnte und kann nur

erfolgreich sein, wenn sie einen wichti-

gen – nicht den einzigen – Aspekt im

deutschen Rückstand, das finanzielle

Defizit, erkennt und Änderungsmaßnah-

men einleitet. Der Bund hat dazu finanz-

politisch seit 1998 einen entscheidenen-

den Beitrag geleistet. Für die Länder läßt

sich dies nicht in gleicher Weise feststel-

len.

Zu den wichtigen positiven Bilanza-

spekten gehören ebenso die Neuord-

nung des Qualifikationsweges für den

wissenschaftlichen Nachwuchs, die

Reform der Ausbildungsförderung, die

Förderprogramme sowie die Modernisie-

rung in der dualen Berufsausbildung, die

Weiterführung des hier nicht im einzel-

nen darzustellenden Internationalisie-

rungsansatzes im Hochschulbereich

etwa im Rahmen des Bologna-Prozesses

oder auf dem Gebiet der neuen Studien-

abschlüsse (vgl. dazu Zukunft der Wissen-

schaft, S. 22 f.), Initiativen zur Herstellung

der Chancengleichheit zwischen Frauen

und Männern (vgl.Versprochen und Wort

gehalten, S. 233 f., Zukunft der Wissen-

schaft, S. 15 ff.), die Förderung der neuen

Medien, das starke, nicht nur im Finanz-

politischen sichtbare Engagement in der

außerhochschulischen Forschung, oder,

mit gewissen Einschränkungen (s. dazu I.

2., S. 5 f.), die Einrichtung eines Gremiums

für übergreifende bildungspolitische Fra-

gen, des Forums Bildung.

Eine Legislaturperiode ist auch für

wenigerehrgeizige Zielsetzungen zur

politischen Veränderung eine kurze Zeit.

Für die strukturellen Ansätze der 1998

eingeleiteten Erneuerung in Bildung und

Forschung ist sie in jedem Fall zu kurz.

Eine einigermaßen abgewogene, distan-

zierte Bewertung des Erreichten und des

(noch) Nicht-Erreichten wird die von der

Bundesregierung erzielten Erfolge nicht

gering einschätzen können. Probleme

und Schwierigkeiten, die auf dem Gebiet

von Bildung und Forschung in besonde-

rer Weise mit der föderativen Willensbil-

dung verbunden sind, können nur in

begrenztem Umfang der Verantwortung

der bundespolitischen Akteure zugeord-

net werden. An diesem Maßstab gemes-

sen wird man eine im Ergebnis beein-

druckende sachpolitische Zwischenbi-

lanz zu ziehen haben.

Zur Vermittlung und Darstellung der

politischen Positionen sowie der Erfolge

und der Mißerfolge stellen sich jedoch

42

Page 45: perspektive21 - Heft 16

Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung

zum Teil Fragen. In einem wesentlichen

Aspekt, bei der geschilderten Zurückhal-

tung des Bundes gegenüber einer bil-

dungs- und forschungspolitischen

Gesamtkonzeption oder in Hochschulor-

ganisations- und Schulfragen (vgl. I. 2., S. 4

ff.), spielen Konstellationen eine Rolle, die

wiederum auf in langen Jahren gewon-

nenen Erfahrungen mit dem föderativen

Bildungssystem beruhen. Die PISA-Studie

hat die in der Bundeszurückhaltung

angelegten Grenzen, wohl zur Überra-

schung der politisch Verantwortlichen,

gesprengt. Die große bildungspolitische,

nicht immer nur im Konsens zu führende

Debatte ist, vielleicht nur für eine kurze

(Wahlkampf-) Zeit, zurückgekehrt. Für

Parteienformationen wie die SPD oder

auch die Grünen liegen darin Risiken und

Chancen. Chancen eröffnen sich vor

allem dadurch, daß mit dem Debatten-

feld „Übergang in die Wissensgesell-

schaft” ein zentraler Modernisierungsan-

satz für eine Politik angesprochen wird,

die sich an der Zielsetzung „Innovation

und Gerechtigkeit” orientieren will. Als

Leitthema kann dieser Ansatz allerdings

nur dann Erfolg haben, wenn er gegen

traditionelle Vorbehalte gegenüber Wis-

senschaftseinrichtungen oder ihren

Milieus und auch in der Finanzpolitik

durchgesetzt wird. Sozialdemokratisch

oder, allgemeiner, reform-orientierte Bil-

dungs- und Wissenschaftspolitik wird

zudem, wie geschildert (vgl. I. 2., S. 6), mit

dem Spannungsverhältnis zwischen wei-

tergehenden Modernisierungszielen für

und durch Bildung und Forschung sowie

dem ausgeprägt dezentralisierten, föde-

rativen System vor größere Herausforde-

rungen gestellt als eine auf dem politi-

schen Gegenpol angesiedelte struktur-

konservative Position (zu den damit ver-

bundenen Problemen der Politikverflech-

tung, der parlamentarisch-demokrati-

schen Legitimation und der Parteienkon-

kurrenz im föderativen Bildungssystem

vgl. Bericht der Bundesregierung vom 22.

2. 1978 sowie Glotz/Faber, S. 1415 ff.).

Es könnte sein, daß dieses Spannungs-

verhältnis künftig auch in der öffentli-

chen Diskussion über die Frage, wie es zu

dem deutschen Rückstand in Bildung

und Wissenschaft kommen konnte, eine

größere Rolle spielen wird. Eine reform-

orientierte Position wird sich in den Per-

spektivenfür die geplante Politik dem

damit beschriebenen Problem in jedem

Fall, nicht nur aus defensiv-abwehrenden

Gründen, stellen müssen – vor allem

wenn sie von einer sozialdemokratisch

geführten Bundesregierung vertreten

wird. Eine erste Konsequenz dieser Ein-

sicht wird es sein, daß die Bundespolitik

gesamtstaatliche Verantwortung für Bil-

dung und Wissenschaft – als Einheit jen-

seits der föderalen Kompetenzgrenzen

verstanden – übernehmen muß, z. B. mit

43

Page 46: perspektive21 - Heft 16

Klaus Faber

44

einem eigenen Bildungsberichtund nicht

nur durch Stellungnahmen für einstim-

mig/einvernehmlich beschließende Gre-

mienoder ebenso mit der weiterhin not-

wendigen haushaltspolitischen Prioritä-

tensetzung für Bildung und Forschung

(vgl. Zukunft der Wissenschaft, S. 6 und

38; Bensel/Weiler, C. 3., S. 12 f.). Ein Ziel die-

ses Engagements sollte es u. a. sein, mit

dem Instrument gemischt finanzierter

Bund-Länder-Vereinbarungen nach dem

Vorbild der Hochschulsonderprogramme

die Länder für Reformen in ihrem eigenen

Zuständigkeitsbereich und für die ent-

sprechenden finanzpolitischen Anstren-

gungen zu gewinnen

Überarbeitete Fassung eines Beitragszu dem im Juni 2002 im VSA-Verlagerscheinenden Buch von Ulrich Hey-der/Ulrich Menzel/Bernd Rebe (Hrsg.)„Das Land verändert? – Rot-grüne Poli-tik zwischen Interessenbalancen undModernisierungsdynamik“

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Bulmahn, Edelgard: Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung zum

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Deutsche Nachwuchswissenschaftler in den USA – Perspektiven der Hochschul- und

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schung, Bonn und Berlin, 2001

Faber, Klaus: Ostdeutsche Wissenschaftslandschaften und regionale Strukturdefizite,

in: Perspektiven des demokratischen Sozialismus, Marburg, Januar 2000

Faber, Klaus: Zwischen Wirtschaftsbetrieb und Staatsanstalt, in: Die Neue Gesell-

schaft/Frankfurter Hefte, Dezember 2000, S.737 ff.

Faber, Klaus: Verpaßt der Osten die Zukunft?, in: Erziehung und Wissenschaft, Frank-

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Glotz, Peter/Faber, Klaus: Grundgesetz und Bildungswesen, in: Benda/Maihofer/Vogel:

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Klemm, Klaus: Deutschlands Schulen in der Qualitätsfalle?, in: Frankfurter Rundschau,

6. 12. 2001

Kühne, Anja: Der Nachwuchs will sich nicht “verschrotten” lassen, in: Der Tagesspie-

gel, 15. 2. 2002, S. 30

Leistungsbegutachtungssysteme an staatlichen US-Universitäten – Survey of faculty

performance review practices, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung

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Müntefering,Franz:Den Wandel mit Sicherheit verbinden, in:Müntefering/Machnig

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Nida-Rümelin, Julian: Alles wandelt sich, der Humanismus bleibt, in: Die Welt, 27. 3.

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OECD: Bildung auf einen Blick, OECD-Indikatoren, Paris, 2001

PISA – Aufforderung zum Handeln. Gemeisame Erklärung der Bildungsminister der

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Literaturnachweis

45

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Teichler, Ulrich: Studieren bald 50 % eines Geburtsjahrgangs?, in: Das Hochschulwe-

sen, Heft 4, 1999

Thierse, Wolfgang: Zukunft Ost. Perspektiven für Ostdeutschland in der Mitte Euro-

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2001, SPD-Bundestagsfraktion, Susanne Kastner, MdB, Berlin, 2001

Weiler, Hans N.: Die zwei Kulturen: Erziehungswissenschaft und Bildungsreform,Vor-

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München, 26. 3. 2002

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Deutschland, Köln, 2000

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stand, Projektgruppe Jugend der SPD, Vorsitzende: Dr. Christine Bergmann, Broschüre,

Berlin, 2001

Literaturnachweis

46

Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam. Klaus Faber ist Geschäftsführender Vorsitzender des Wissen-

schaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpom-

mern e.V.. Er war von 1994 bis 1999 Staatssekretär des Kultusministeriums von Sachsen-

Anhalt und von 1990 bis 1994 als Abteilungsleiter des zuständigen Landesministeriums

in Brandenburg für Wissenschaft und Forschung verantwortlich.

Page 49: perspektive21 - Heft 16

47

Die Frage, warum die Grünen im

Osten nicht gewählt werden, ist schon

als solche interessant. Es geht um die

aus der Fusion ‚Bündnis 90’ und der Par-

tei ‚Die Grünen’ hervorgegangene Partei

‚Bündnis 90/Die Grünen’. Auch wenn

außer dem Namen nichts oder fast

nichts vom Bündnis 90 übrig geblieben

ist, die Verkürzung auf den Namen

Grüne ist signifikant und – wie es mir

scheint – auch richtig. Die inhaltliche

Positionierung der heutigen Grünen

fußt auf der Entwicklung der 1980 im

Westen aus einem Zusammenschluss

außerparlamentarischer Oppositions-

gruppen gegründeten Partei. Die Verei-

nigung der Westpartei Die Grünen und

der Ostpartei Bündnis 90 zu einer Partei

erfolgte erst im Mai 1993. Zu diesem

Zeitpunkt hatten sich alle anderen rele-

vanten Parteien aus Ost und West längst

zusammengeschlossen. Das gesell-

schaftliche Umfeld, das zur Gründung

der einzelnen Gruppen des Bündnis 90

von ‚Demokratie Jetzt’ bis zur ‚Initiative

Frieden und Menschenrechte’ oder dem

‚Neuen Forum’ reicht, gab es nicht mehr.

Der Aufruf zum Neuen Forum stellte im

September 1989 einen Aufruf zu einer

offenen und ehrlichen Diskussion über

all die gesellschaftlichen Probleme in

der DDR dar, nicht mehr, aber auch nicht

weniger. Das erste Missverständnis war,

die Unterschrift unter diesen Aufruf als

Beitritt zu einer Organisation zu werten,

wie es im Folgenden oft geschah.

Eigentlich ging es mit dem Aufruf doch

darum, den Deutungs- und Wahrheits-

anspruch des SED-Staates zu durchbre-

chen.

Die folgenden einschneidenden und

umwälzenden Entwicklungen ab

1989/1990 und der folgende Zusam-

menbruch der Wirtschaft in Ostdeutsch-

land sind bekannt und sollen hier nicht

Thema sein.

Für das Bündnis 90 zeigte sich schon

bei den Wahlen zur frei gewählten Volks-

kammer 1990, dass sich die Wähler am

Parteiensystem Westdeutschlands ori-

entierten und nicht die kleinen, aber für

die Beendigung des SED-Staates so

wichtigen Parteien und Gruppierungen

wählten. Die übergroße Mehrheit wollte

nicht noch einmal einen wie auch

immer gearteten gesellschaftlichen

‚Feldversuch’ in einem kleineren deut-

schen Teilstaat. Zum Zeitpunkt der Verei-

Die Grünen und der deutsche Ostenvon Eugen Meckel

Page 50: perspektive21 - Heft 16

Eugen Meckel

nigung der beiden Parteien Grüne und

Bündnis 90 1993 (verstand sich Bündnis

90 als eine Partei?) hatten die anderen

Parteien bereits die Erfahrung gemacht,

dass die Ostverbände wie Regionalable-

ger der Parteien ohne oder mit sehr

geringem Einfluss auf die Gesamtpar-

teien waren und blieben. Die Grünen

(West) hatten bei den ersten gesamt-

deutschen Bundestagswahlen im

Dezember 1990 die 5-%-Hürde verfehlt

und die Wahlliste Bündnis 90/Die Grü-

nen wurde durch Vertreter des Bündnis

90, also ostdeutschen Abgeordneten,

vertreten, die nur durch Sonderregelun-

gen in den Bundestag gekommen

waren. In diese Phase fällt die Vereini-

gung beider Parteien.

Im Folgenden konnte schon an den

Personen, die für das Bündnis 90 in den

Landesparlamenten und im Bundestag

saßen, die eigentlich logische, aber im

Konkreten überraschende Entwicklung

des Auseinanderdividierens beobachtet

werden. Alle Gruppen waren sich zu

DDR-Zeiten einig in dem, wogegen sie

waren. Jetzt war die Situation eine gänz-

lich andere. Die nach dem 3. Oktober

1990 importierte Gesellschaftsordnung

war eine in den Grundzügen durch die

Alliierten und die ‚Väter des Grundgeset-

zes’ begründete und in 40 Jahren durch

viele Entwicklungen und Auseinander-

setzungen geformte, sehr differenzierte

Gesellschaft. Alles schien geregelt, und

von westlicher Seite erwartete man nur,

dass jeder seinen Platz in dieser Gesell-

schaft findet und einnimmt. Alle Versu-

che, im Zuge der Vereinigung oder

danach die gesamtdeutsche Gesell-

schaft mitzubestimmen, schlugen fehl.

Warum sollten die über 60 Millionen

Westdeutschen ihr Grundgesetz

ändern, mit dem sie 40 Jahre gute Erfah-

rungen gemacht hatten? Die Ostdeut-

schen hatten die Freiheit aus der Beton-

gesellschaft des SED-Staates selbst

erkämpft, hatten aber nicht die Chance,

diese Freiheit selbst auszugestalten.

Durch die Vereinigung wurde eine sehr

entwickelte demokratische Gesellschaft

übernommen, die aber nicht die eigene

war. Wer im Westen geboren wurde, hat

– wenn er älter war – die Entwicklungen

und Auseinandersetzungen selbst mit-

erlebt, im besten Falle selbst mitbe-

stimmt, oder er ist hineingeboren wor-

den und war dort zu Hause. Für Ost-

deutsche war erst einmal alles fremd.

Bündnis 90 war Name und Pro-

gramm. Das Bündnis bezog sich auf das

Jahr 1990 und war da wichtig und sinn-

voll. Später in der neuen Gesellschaft

konnte sich nur das Profil der Grünen

gesamtdeutsch behaupten. Die vielen

verschiedenen Ideen innerhalb des

Bündnis 90, aber auch die vielen ver-

schiedenen Personen waren nicht mehr

48

Page 51: perspektive21 - Heft 16

Die Grünen und der deutsche Osten

zusammenzuhalten. Man ging ge-

trennte Wege. Der brandenburgische

Landesverband von Bündnis 90 stimmte

im April 1993 über das Zusammengehen

mit den Grünen ab. Von damals 693

Stimmberechtigten (heute hat Bündnis

90/Die Grünen noch 504 Mitglieder,

Stand 31.12.2001) stimmten nicht einmal

die Hälfte ab, und nur 171 waren für eine

Fusion (146 dagegen). Zu diesem Zeit-

punkt war die Partei aber Koalitionspart-

ner der Ampelkoalition in Brandenburg

und stellte zwei Minister. Dies erforderte

einen Klärungsprozess in der Fraktion,

um die Regierungsfähigkeit zu erhalten.

Nur Bildungsministerin Marianne Birth-

ler will von den drei Köpfen der Landes-

partei die Parteifusion. Umweltminister

Matthias Platzeck wird nicht Mitglied

der neu fusionierten Partei und auch

Günter Nooke, der Fraktionsvorsitzende

und dezidierte Gegner der Fusion, macht

als Parteiloser weiter. Die Fraktion Bünd-

nis 90 benennt sich um in Fraktion

Bündnis und arbeitet abgekoppelt von

der Partei als frei schwebendes Raum-

schiff frei gewählter Abgeordneter wei-

ter. Am 3. Mai 1993 vereinbart die Frak-

tion:„Die Fraktion versteht sich als Inter-

essenvertretung ihrer Wählerinnen und

Wähler, nicht einer Partei oder politi-

schen Organisation. Die Fraktion ist –

mehr als zu Zeiten ihrer Gründung im

Oktober 1990 – ein Zweckbündnis unab-

hängiger Bürgerinnen und Bürger auf

Zeit. Die Fraktion arbeitet insofern auch

unabhängig vom Neuen Forum, dem

einzigen Rechtsträger aus der Zeit der

Listenaufstellung, der neuen Partei

Bündnis 90/Die Grünen und sich neu

gründender Bürgerbündnisse.” Ohne

Rückkopplung mit der Partei und mit

zwei Spitzenpolitikern, die nicht für die

neue Partei standen, ging die Wahl 1994

für die Bündnis/Grünen verloren. Mari-

anne Birthler hatte schon vorher die

Landesregierung verlassen. Es wurden

nur noch 2,89 % erreicht. Im Folgenden

führt der politische Lebensweg Günter

Nooke für die CDU in den Bundestag

und Matthias Platzeck ist heute Partei-

vorsitzender des SPD-Landesverbandes

in Brandenburg. Nach 1994 gibt es nur

noch in Sachsen-Anhalt eine ostdeut-

sche Landtagsfraktion der Bündnis/Grü-

nen für eine Legislaturperiode. Die dor-

tige rot-grüne Minderheitsregierung

wurde von der PDS gestützt. Hier spielt

noch einmal Hans-Jochen Tschiche als

Vermittler zwischen den beiden Regie-

rungsfraktionen und der PDS-Fraktion

eine wichtige Rolle. Er hat aus Alters-

gründen 1998 nicht noch einmal für den

Landtag kandidiert. Ab Mitte der 90-er

Jahre hatten die ostdeutschen Vertreter

von Bündnis 90/Die Grünen alle ihre

auch in der Öffentlichkeit bekannten

Spitzen verloren. Heute sitzt nur noch

49

Page 52: perspektive21 - Heft 16

Eugen Meckel

Werner Schulz als Wirtschaftspolitischer

Sprecher für die Grünen im Bundestag.

Alle anderen sind entweder nicht wie-

dergewählt worden oder haben sich

politisch und beruflich anders und neu

orientiert. Wenn es also stimmt, dass

Politik zu wesentlichen Teilen über Per-

sonen transportiert wird, gibt es nie-

manden, der diese Funktion erfüllen

könnte. Und wenn Werner Schulz auf

der Bundesdelegiertenkonferenz der

Grünen in Rostock fordert, die Grünen

müssten gegen kollektive Migräne und

Selbstmitleid in Ostdeutschland strei-

ten, aus Problemen müssten Projekte

werden, klingt das in Problemregionen

genau so wie Äußerungen anderer Poli-

tiker, die von außen auf ein Jammertal

schauen.

Im Osten werden die Grünen als

Westpartei wahrgenommen. Der Bun-

desvorsitzende Fritz Kuhn stellte eben-

falls in Rostock für die Grünen drei Anlie-

gen in den Vordergrund: die Partei soll

sich profilieren als Partei der ökologi-

schen Modernisierung, als Partei der

sozialen Gerechtigkeit und als Partei der

Bürgerrechte. Vor allem die ökologische

Modernisierung ist als Botschaft im

Osten angekommen. Für eine Partei der

sozialen Gerechtigkeit stehen glaub-

würdigere und größere Alternativen zur

Verfügung. Viele halten im Osten eine

Partei für Bürgerrechte kaum noch für

nötig. Das Problem ist nicht mehr die

fehlende Freiheit, dieses Problem ist

(siehe oben) erledigt, sondern manch-

mal zuviel Freiheit. Es herrscht vielmehr

eine große Unsicherheit zum Beispiel

über den als lax empfundenen Umgang

mit Kriminalität.„Kaum festgenommen,

sind die doch schon wieder draußen.”

Das größte Problem ist nach wie vor

aber die fehlende Sicherheit in fast allen

Bereichen, vor allem aber die Sicherheit

des Arbeitsplatzes. Kompetent in

Sachen Ökologie – dafür stehen die Grü-

nen. Via Fernsehen schon in den 80-er

Jahren sind die Atomkraftkämpfe

genauso bekannt wie der Kampf gegen

die Nachrüstung aus der Anfangszeit

der Grünen, die Aktivitäten für eine bio-

logische Landwirtschaft und der Kampf

um saubere Energielösungen. Diese Pro-

blemfelder werden ja auch heute noch

bearbeitet, aber wie kommt das an?

Wenn die deutschen Verpflichtungen

beim Umweltgipfel in Rio, den CO2-Aus-

stoß entscheidend zu senken, nur erfüllt

werden, weil ostdeutsche Großbetriebe

reihenweise ihre Arbeit einstellen, ist

das kaum ein positives Signal. In Ost-

deutschland verlieren die Menschen die

Arbeit, damit die Umwelt in ganz

Deutschland entlastet wird. Dieses

Geschäft macht wohl kaum irgendwo

ein Arbeitnehmer freiwillig. Südlich von

Leipzig konnte man zu DDR-Zeiten als

50

Page 53: perspektive21 - Heft 16

Die Grünen und der deutsche Osten

51

Zugreisender die Fenster kaum noch öff-

nen (jedenfalls ging es mir so), weil

sonst der beißende Gestank nach faulen

Eiern eindrang. Eine ganze Stadt aus

Chemieanlagen war aus dem Fenster zu

sehen. Kilometerweit stank es entsetz-

lich, aber dort wohnten Menschen, hing

Wäsche auf der Leine, spielten Kinder,

ging man arbeiten. Die Chemiestadt bei

Böhlen ist weg, es stinkt nicht mehr,

aber immer noch wohnen dort

Men schen, hängt Wäsche auf der Leine

und spielen die Kinder. Aber in ein Che-

miewerk geht keiner oder kaum noch

einer arbeiten. Der Riesenschritt von der

„Umweltpolitik der DDR”, als schon das

Erfassen von Umweltdaten in Luft und

Wasser ein Straftatbestand war, wir es

nicht registrierten, wie es auf den

Straßen nach Zweitaktbenzin stank, zu

den Verhältnissen heute ist riesig. Weit

verbreitet ist die Auffassung: weitere

Verbesserungen muss man sich leisten

können. Die sozialen und wirtschaftli-

chen Probleme sind wesentlich dringen-

der.

Bleibt noch die Tradition der Grünen

als Oppositions- und Protestpartei,

zumindest bis 1998. Für grundsätzliche

Opposition gegen die heutige Gesell-

schaft taugen die Grünen im Osten

auch nicht. Dafür waren und sind sie

schon zu sehr Teil des aus dem Westen

geerbten Gefüges. Die nach der Vereini-

gung zwangsläufig eintretenden ein-

schneidenden Veränderungen wurden

von vielen als Kolonialisierung empfun-

den, zumal sich dazu mitunter eine

gehörige Portion Arroganz und Gedan-

kenlosigkeit bei einer ganzen Reihe aus

dem Westen kommender Entschei-

dungsträger gesellte. Aus dem Fokus der

deutschen Vereinigung, Berlin, das als

Bundesland aus Ost und West besteht,

fallen mir sofort zwei eigentlich fast

unpolitische Beispiele ein, die dies ver-

deutlichen. Aus nicht nachvollziehbaren

Gründen wird in Berlin das Schauspiel-

haus von Karl Friedrich Schinkel umbe-

nannt und bekommt den sperrigen Titel

„Konzerthaus am Gendarmenmarkt”,

weil es für den Entscheidungsträger

nicht in die Westberliner Denke passt.

Der Berliner Kulturtempel von gleich-

wertiger Bedeutung wie die Berliner

Staatsoper verliert mal eben so seinen

Namen. In Leipzig sollte man mal versu-

chen, das Gewandhaus umzubenennen,

weil dort nicht mehr die Tuchmacher-

zunft residiert. Die U-Bahn-Station

Frankfurter Tor, ein markanter Bau in der

Karl-Marx-Allee, wird umbenannt in Rat-

haus Friedrichshain. Das Rathaus ist ein

öder Plattenbau und noch nicht einmal

direkt an der U-Bahn. Der Protest gegen

dieses Konglomerat aus den absolut

notwendigen Veränderungen und den

aus Eigeninteresse oder Gedankenlosig-

Page 54: perspektive21 - Heft 16

Eugen Meckel

52

keit und/oder Arroganz herbeigeführten

Umgestaltungen kommt ausschließlich

der PDS zugute. Sie versucht mit nicht

geringem Erfolg, sich als die ostdeut-

sche Interessenvertretung zu profilieren

und dabei gleichzeitig grundsätzlich

Opposition zu sein.

Nach dem Regierungseintritt 1998

haben die Grünen auch ihren Ruf als Anti-

kriegspartei verloren. Für ihre Anhänger,

auch wenn es im Osten wenige sind, ist

der Spagat zwischen der pazifistischen

Tradition und den Bundeswehreinsätzen

im ehemaligen Jugoslawien und in Afgha-

nistan kaum vermittelbar.

So bleibt festzustellen: die Grünen

haben im Osten keine Personen, die inte-

grierend nach innen und anziehend nach

außen in der Öffentlichkeit stehen, und sie

haben kein Thema, das in der Lage wäre,

nennenswerte Wählergrößen an die Par-

tei zu binden.

Eugen Meckelist Leiter des Landesbüros Brandenburg der Friedrich-Ebert-Stiftung

Kontakt: [email protected]

Page 55: perspektive21 - Heft 16

Die Beschäftigung hat im Vergleich zu

1998 um 1,38 Mio. Beschäftigte zuge-

nommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslo-

sigkeit von 4,28 Mio auf 3,8 Mio. Erwerbs-

lose gesunken.

Lohn- und Sozialdumping werden

durch das Arbeitnehmerentsendegesetz

bekämpft.

Es gibt jetzt verbindliche Mindest-

löhne in zwei Qualifikationsebenen. Das

Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit

am gleichen Ort“ gilt auf Dauer.

Illegale Beschäftigung wird mehr und

strenger kontrolliert. Erste Erfolge sind

bereits sichtbar. Die Zahl der eingeleite-

ten Straf- und Ermittlungsverfahren ist

stark angestiegen. Geldbußen in Höhe

von 119 Mio. € wurden bisher verhängt.

Zudem wird mehr Personal für Kontrol-

len bereitgestellt.

Dem Missbrauch geringfügiger

Beschäftigungsverhältnisse, den frühe-

ren sog. 630-DM-Jobs ist ein Riegel vor-

geschoben worden.

53

Gerhard Schröder ist 1998 mit einer

„Garantie-Karte”in den Wahlkampf gezo-

gen. Auf dieser wurden den Wählerinnen

und Wählern unter dem Stichwort „Inno-

vation und Gerechtigkeit” 10 Versprechen

gegeben. Der Politik-Wechsel war aber

wesentlich tiefgreifender. Nicht immer

sind diese Schritte so spektakulär und

medienwirksam wie die Änderung des

Staatsangehörigkeitsrechts oder der

Atomausstieg. Nichtsdestotrotz haben

viele Änderungen nachhaltig Wirkung

auf die Zukunft unsere Landes und die in

ihm lebenden Menschen. Aus diesem

Grunde dokumentieren wir an dieser

Stelle wichtige Änderungen, die den Poli-

tik- und Mentalitätswechsel seit 1998

unterstreichen.

Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

von Lars Krumrey

Arbeitsmarkt-Politik

Page 56: perspektive21 - Heft 16

Lars Krumrey

54

Die rechtlichen Rahmenbedingungen

für Teilzeitarbeit sind verbessert.

Die Mittel für aktive Arbeitsmarktpoli-

tik sind um über 2,5 Mrd.€ gestiegen.Der

Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik

an den arbeitsmarktpolitischen Ausga-

ben ist von 29,1 % 1998 über 33,4 % im

Jahr 2000 auf 35,6 %im Jahr 2001

gesteigert worden. Im Haushalt 2002

sind 22,5 Mrd. € vorgesehen.

Mit dem Job-AQTIV-Gesetz wird die

Arbeitsförderung grundlegend refor-

miert, die Arbeitsvermittlung moderni-

siert und die Qualifizierung gefördert.

Das sog. Mainzer Kombilohnmodell

wird bundesweit ausgedehnt. Damit

soll Sozialhilfeempfängern ein Anreiz

gegeben werden, auch geringer ent-

lohnte Tätigkeiten anzunehmen.

Hinzu kommt eine grundlegende

Organisationsreform der Bundesan-

stalt für Arbeit zu einem modernen

Dienstleister. Erste Schritte sind einge-

leitet. Der neue Vorstand arbeitet nach

privatwirtschaftlichen Methoden.

Der Kündigungsschutz gilt auch wie-

der in kleinen Betrieben. Davon profi-

tieren mehr als 2 Mio. Arbeitnehmerin-

nen und Arbeitnehmer.

Die volle Lohnfortzahlung im Krank-

heitsfall ist wiederhergestellt. Alle

Arbeitnehmer erhalten im Krankheitsfall

und bei notwendigen Kuren wieder 100

% ihres Arbeitsentgelts. Gleichzeitig ent-

fällt die bisher mögliche alternative

Anrechnung von Krankheitstagen auf

den Urlaub.

Schlechtwettergeld für Bauarbeiter

gibt es wieder. Bauarbeiter werden bei

kalter Witterung nicht mehr arbeitslos.

Die Neuregelung ist am 1. November

1999 in Kraft getreten.

Die Reform des Betriebsverfassungs-

gesetzes stellt eine zeitgemäße Antwort

auf die Veränderungen in der Arbeits-

welt dar. Sie wirkt dem langsamen Aus-

bluten der Betriebsverfassung entgegen

und verbessert die Arbeitsmöglichkeiten

der Betriebsräte. Auch in kleineren und in

ausgelagerten Betrieben können wieder

mehr Betriebsräte gewählt werden.

Das Gesetz zur Regelung der Tarif-

treue, das die tariflich korrekte Bezah-

lung der Arbeitnehmer bei der Vergabe

von öffentlichen Aufträgen regelt, ist

vom Bundestag verabschiedet.

Page 57: perspektive21 - Heft 16

Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

55

Das „Sofortprogramm zum Abbau

der Jugendarbeitslosigkeit“ hat bisher

über 400.000 Jugendlichen eine neue

Chance verschafft und ihnen eine

berufliche und damit auch eine neue

Lebensperspektive eröffnet. Das Pro-

gramm, das seit dem 1. Januar 1999

läuft, wird bis Ende 2003 fortgesetzt

und ist mit rd.1 Mrd. € jährlich ausge-

stattet.

Vom 1. Januar 1999 bis 31. Januar

2002 wurden rd. 406.000 junge Men-

schen unter 25 Jahren gefördert. Das

Programm greift und wird angenom-

men. Gut 159.000 Jugendliche traten

im letzten Jahr in eine Maßnahme ein,

das waren knapp 38 % mehr als noch

im Jahr 2000.

Mehr als 80 % der Teilnehmer waren

vor dem Beginn der Maßnahmen

arbeitslos, jeder Dritte länger als 6

Monate.

Der Frauenanteil liegt bei 40 %.

Die Ausbildungsbilanz ist seit zwei

Jahren positiv. Zum ersten Mal seit 1995

war schon im Jahr 2000 die Zahl der

offenen Stellen höher als die Zahl der

Bewerber für eine Ausbildungsstelle.

Ende September 2000 gab es 2.048

mehr offene Ausbildungsstellen im

dualen System als Bewerber. Im Jahr

2001 ist die Zahl auf 4.073 gestiegen.

Ausbildung und Beschäftigung

Aufbau Ost

Der Aufbau Ost und die Verwirklichung

der inneren Einheit Deutschlands gehören

zu den wichtigsten Zielen der Koalition.

Trotz strikter Haushaltsdisziplin und

erheblicher Einsparungen in allen Bun-

desressorts wurden die Ausgaben für den

Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgeführt

und in für den Aufbau Ost entscheidenden

Bereichen erhöht und durch neue Pro-

gramme ergänzt: Hilfen für Bildung und

Forschung, Ausbau der wirtschaftsnahen

Infrastruktur, Förderung von Investitionen

und Innovationen.

Mit neuen Maßnahmen wurde für

Arbeitslose die Brücke zum ersten Arbeits-

markt verstärkt und ausgebaut, durch

eine aktive Arbeitsmarktpolitik werden

auch in Zukunft soziale Verwerfungen ver-

mieden.

Das von 1999 bis zum Jahr 2002 lau-

fende Investitionsprogramm umfasst für

die Verkehrsprojekte in den neuen Län-

dern bei den Bundesfernstraßen ein Volu-

men von knapp 10 Mrd. € und bei den

Schienen-Investitionen ein Volumen von

6,5 Mrd. € . Damit fließt hier mehr als die

Page 58: perspektive21 - Heft 16

Lars Krumrey

56

Die Regierungskoalition von SPD und

Bündnis 90/ Die Grünen hat begonnen,

die Staatsfinanzen zu konsolidieren: Das

Zukunftsprogramm 2000 war ein tiefer

Einschnitt mit einem Einsparvolumen

von 30 Mrd. DM schon im ersten Jahr.

Damit wurde die Trendwende bei der Ver-

schuldung geschafft.

Der Haushalt 2000 enthielt wichtige

Konsolidierungsschritte, setzte aber auch

die nötigen Schwerpunkte bei Investitio-

nen in Bildung, aktiver Arbeitsmarktpoli-

tik, Familienpolitik und Kindergeld, dem

Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslo-

sigkeit und beim Aufbau Ost.

Die Haushalte 2001 und 2002 setzen

den Konsolidierungskurs fort. Gleichzeitig

werden Mittel für Verbesserungen beim

Wohngeld, Erziehungsgeld, BAföG und

der inneren Sicherheit bereitgestellt.

Mit dem Bundeshaushalt 2002 haben

die Koalitionsfraktionen zum vierten Mal

in Folge ein Budget beschlossen, dessen

Neuverschuldung geringer ist als im Vor-

jahr. Ziel bleibt es, im Jahr 2006 einen aus-

geglichenen Haushalt ohne einen einzi-

gen Euro Kreditaufnahme zu präsentie-

ren.

Damit ist ein wichtiger Schritt hin zu

einer zukunftsfähigen und nachhaltigen

Haushaltspolitik gegangen worden. Die

nachfolgenden Generationen werden

nicht mehr die Schulden der Vergangen-

heit begleichen müssen.

Hälfte der bundesweiten Investitionen in

die neuen Länder.

Bund und Länder haben sich Ende Juni

2001 auf eine Neuordnung des Länderfi-

nanzausgleichs und den Solidarpakt II

geeinigt. Damit haben die neuen Länder

und ihre Kommunen frühzeitig Klarheit

und vor allem Planungssicherheit. Im

Anschluss an den Solidarpakt I erhalten

sie für den Zeitraum von 2005 bis Ende

2019 aus der Bundeskasse insgesamt

156,5 Mrd. €. Zusätzlich hat die Bundesre-

gierung ein neues Programm „Stadtum-

bauprogramm Ost – für lebenswerte

Städte und attraktives Wohnen“

beschlossen. Das Programm umfasst

Finanzhilfen für Wohnungswirtschaft

und Städtebau im Umfang von jährlich

153 Mio. € bzw. über 450 Mio. € im Zeit-

raum 2002 bis 2004.

Im Bundeshaushalt 2001 betrugen die

Gesamtmittel des Bundes für den Auf-

bau Ost 16,12 Mrd.€ . Darauf entfielen auf

den Bereich Bildung und Forschung 667

Mio. €, den Bereich Wirtschaftsförderung

3,38 Mrd. €, die Infrastrukturförderung

2,73 Mrd. € und die Bundesergänzungs-

zuweisungen 7,596 Mrd. €.

Haushaltskonsolidierung

Page 59: perspektive21 - Heft 16

Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

57

Die Erhöhung des steuerlichen Grund-

freibetrages und die Absenkung des Ein-

gangssteuersatzes haben die Arbeitneh-

mer deutlich entlastet. Durch die drei

Stufen 2001, 2003 und 2005 der Steuer-

reform 2000 haben die privaten Haus-

halte rund 16,7 Mrd. € mehr zur Verfü-

gung.

Alle Steuerrechtsänderungen zusam-

men führen bis zum Jahr 2005 im Privatbe-

reich zu Entlastungen von rd. 41,1 Mrd. €.

1998 betrugen der Eingangs- und der

Spitzensteuersatz 25,9 % bzw. 53 %. Im

Jahr 2005 werden sie nur noch 15 % bzw.

42 % betragen. Gleichzeitig wurde der

Grundfreibetrag von 6.322 € auf 7.235 €

in diesem Jahr angehoben. Zum 1. Januar

2005 steigt er auf 7.664 € . Eine Familie

mit zwei Kindern und einem Jahresein-

kommen von 30.000 Euro hat 2002 rd.

1.900 € mehr zur Verfügung (einschließ-

lich Kindergeld) als 1998.

Die ökologische Steuerreform ist ein

wichtiges Projekt der sozialen und öko-

logischen Modernisierung. Der Faktor

Arbeit wird von Kosten entlastet und

der Faktor Energieverbrauch wird bela-

stet. Die Einnahmen werden an Arbeit-

nehmer und Unternehmen durch die

Senkung der Rentenversicherungs-

beiträge zurückgegeben.

Am 1. April 1999 ist die erste Stufe der

Ökosteuer in Kraft getreten, durch die

der Rentenversicherungsbeitrag um

0,8 Prozentpunkte auf 19,5 % gesenkt

werden konnte.

Am 1. Januar 2000 folgte die zweite

Stufe und am 1.Januar 2001 die dritte

Stufe. Der Rentenversicherungsbeitrag

beträgt seitdem 19,1 %. Die vierte Stufe

vom 1. Januar 2002 hat dazu beigetra-

gen, den Beitragssatz weiter zu stabili-

sieren. Der Rentenversicherungsbeitrag

ist damit in diesem Jahr um 1,5 Prozent-

punkte geringer, als er ohne die Einnah-

men aus der Ökosteuer wäre. Die Anhe-

bung von Steuern auf umweltbelasten-

den Energieverbrauch ist moderat und

kalkulierbar.

Durch die Einnahmen aus der Öko-

steuer werden zudem die Nutzung

regenerativer Energiequellen und der

rationelle Energieeinsatz in diesem

Jahr mit 200 Mio. € gefördert.

Ökologische Steuerreform und Senkung der Lohnnebenkosten

Steuerliche Entlastung

Page 60: perspektive21 - Heft 16

Damit wird die berufliche Bildung

mit der Hochschulbildung gleich

behandelt.

Das Wohngeld ist von der alten

Regierung 10 Jahre lang nicht an stei-

gende Mieten und Preise angepasst

worden. Rot-Grün hat ein Wahlverspre-

chen eingelöst und im Zuge der Bera-

tung des Zukunftsprogramms eine

Erhöhung des Wohngeldes beschlos-

sen. Die Wohngeldnovelle bringt seit

dem 1. Januar 2001 Leistungsverbesse-

rungen in Höhe von 700 Mio. € pro

Jahr. Insbesondere Familien mit Kin-

dern kommt die Erhöhung zugute.

Etwa 420.000 Haushalte kommen

zusätzlich zur Erhöhung in den Genuss

von Wohngeld. Das durchschnittliche in

den alten Ländern gezahlte Wohngeld

wird sich von 283 DM pro Monat auf

368 DM (188 € )erhöhen. Die Wohn-

geldleistungen von Bund und Ländern

werden sich in diesem Jahr auf 4,1 Mrd.

€ belaufen.

Lars Krumrey

58

Seit dem 1. April 2001 greift die BAföG-

Reform, die die Bedarfssätze durchgängig

heraufsetzt und den Höchstsatz auf 1.140

DM (582,88 € )steigen lässt. Das Kinder-

geld wird zukünftig nicht mehr bei der

BAföG-Berechnung angerechnet und die

Freibetragsgrenzen werden erheblich

erhöht, so dass zwei Kinder in der Ausbil-

dungsförderung die Vollförderung erhal-

ten,wenn die Eltern bis 3.900 DM (1.994 €)

brutto verdienen (bisherige Grenze: 2.900

DM). Die Förderbeträge zwischen Ost und

West wurden vollständig vereinheitlicht

und die Gesamtdarlehensbelastung für

Studierende auf 10.000 € reduziert.

Durch diese Reform des BAföG wer-

den in diesem Jahr rd. 500 Mio. € mehr

für die Förderung bereitgestellt. Ca.

81.000 junge Menschen erhalten

zusätzlich BAföG. Dies bedeutet eine

deutliche Trendwende bei der Förde-

rung von Studierenden.

1998 wurden unter der alten CDU-

Regierung lediglich noch 341.000

Schüler und Studenten mit BAföG

gefördert, bis 2002 werden es wieder

445.000 sein. Das reformierte Auf-

stiegsförderungsgesetz, das soge-

nannte Meister-BAföG, ist am 1. Januar

2002 in Kraft getreten.

BAföG-Reform

Das Wohngeld steigt

Page 61: perspektive21 - Heft 16

Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

59

Der Bundestag hat Ende Juni 2001 eine

nochmalige Erhöhung des Kindergeldes

für das erste und zweite Kind zum 1.

Januar 2002 beschlossen.Es beträgt seit 1.

Januar 2002 154 € (301,20 DM)pro Kind

und Monat. Damit ist das Kindergeld

jetzt rd. 42 € pro Monat höher als 1998.

Es ist insgesamt dreimal in dieser Legis-

laturperiode erhöht worden.

Die Kinderfreibeträge sind neu gestal-

tet. Das Gesetz lässt erstmalig im deut-

schen Steuerrecht den Abzug von Kinder-

betreuungskosten zu, die wegen Erwerb-

stätigkeit der Eltern entstehen. Es wurde

ein neuer Freibetrag für den Betreuungs-

und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf

eingeführt. Insgesamt sind die steuerli-

chen Freibeträge für jedes Kind auf 5.808

€ angestiegen. Die Familienleistungen

sind in dieser Wahlperiode im Vergleich

zur vorangegangenen von 148,1 Mrd. €

auf 196,7 Mrd. € gestiegen.

Die Rahmenbedingungen für die Ver-

einbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kin-

dererziehung sind neben der steuerlichen

Absetzbarkeit erwerbsbedingter Betreu-

ungskosten auch durch die Novellierung

des Bundeserziehungsgeldgesetzes deut-

lich verbessert worden. Neben der Anhe-

bung der Einkommensgrenzen wurde die

Wahlfreiheit für Mütter und Väter bei der

Ausgestaltung und Aufteilung der Eltern-

zeit (früher: Erziehungsurlaub)erheblich

ausgebaut. Alternativ zum monatlichen

Erziehungsgeld von 307 € (600 DM)über

einen Zeitraum von 24 Monaten erhalten

Eltern, die sich für eine verkürzte Bezugs-

dauer von 12 Monaten entscheiden,

monatlich bis zu 460 € (900 DM).

Die Wohngeldreform, die seit dem 1.

Januar 2001 in Kraft ist,stellt insbesondere

für Familien mit Kindern eine Verbesse-

rung dar. Die Anhebung der Tabellenwerte

und die Erhöhung der Abzugsbeträge für

Unterhaltsleistungen bei der Einkommen-

sermittlung sind hierbei die wichtigsten

Änderungen.

Durch eine Änderung des Bürgerlichen

Gesetzbuches ist die gewaltfreie Erzie-

hung zum Leitbild erhoben.

Familien- und Kinderpolitik

Page 62: perspektive21 - Heft 16

Lars Krumrey

60

Das Bundeskabinett hat das Aktions-

programm „Frau und Beruf“, das wesent-

liche Schritte zur Verwirklichung der

Gleichstellung von Frau und Mann ent-

hält,am 23. Juni 1999 beschlossen.Es wird

Schritt für Schritt umgesetzt.

Der Bundestag hat auf Initiative der

Koalition das Gleichstellungsdurchset-

zungsgesetz beschlossen, das Frauen und

Männer in der Bundesverwaltung und

den Gerichten des Bundes gleichstellt.

Bundesregierung und Vertreter der Spit-

zenverbände der deutschen Wirtschaft

haben eine Vereinbarung zur Förderung

der Chancengleichheit von Frauen und

Männern in den Unternehmen erarbeitet

und unterzeichnet, in der sich die Wirt-

schaft verpflichtet, eine aktive Gleichstel-

lungspolitik in den Unternehmen voran-

zubringen.

Das Teilzeitgesetz trägt mit dazu bei,

die Vereinbarkeit von Familie und Beruf

zu verbessern und Chancengleichheit von

Frauen und Männern zu ermöglichen.

Mit dem Job-AQTIV-Gesetz kommt die

Gleichstellung im Arbeitsförderungsge-

setz einen großen Schritt voran. Frauen

werden nicht nur entsprechend ihrem

Anteil an den Arbeitslosen gefördert, son-

dern auch entsprechend ihrer Arbeitslo-

senquote.

Die Rentenreform hat die Situation von

Frauen und Müttern verbessert, weil Kin-

dererziehungszeiten stärker als bisher

berücksichtigt werden.

Durch die Änderung des Arzneimittel-

gesetzes wird der kontrollierte Schwan-

gerschaftsabbruch auch per Arzneimittel

in Deutschland möglich.

Mit dem Aktionsplan der Bundesregie-

rung zur Bekämpfung von Gewalt gegen

Frauen ist ein umfassendes Gesamtkon-

zept vorgelegt worden. Das Gewalt-

schutzgesetz ermöglicht, dass der

gewalttätige Partner zumindest zeit-

weise die Wohnung verlassen muss.

Frauen und Kinder haben mehr Schutz.

Das Gesetz zur Regelung der Rechtsver-

hältnisse von Prostituierten soll Diskrimi-

nierung beseitigen und den Zugang zu

den Sozialversicherungssystemen er-

möglichen.

Politik für die Frauen

Page 63: perspektive21 - Heft 16

Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten

61

Das Gesetz, das das Institut der „einge-

tragenen Lebenspartnerschaft“ einführt.

ist am 1. August 2001 in Kraft getreten.

Das Gesetz schafft Regeln für gleichge-

schlechtliche Partnerschaften, die dauer-

haft füreinander einstehen und Verant-

wortung übernehmen möchten. Es gibt

rechtliche Anerkennung und Rechtssi-

cherheit, ohne dass die Partnerschaft mit

der Ehe gleichgestellt wird. Dies ist eine

Anerkennung und Akzeptanz des Wan-

dels in der Gesellschaft.

Wichtige Passagen dieses Beitragessind der Broschüre Zwischenbilanz derrot-grünen Koalition, Mai 2002, her-ausgegeben von der SPD-Bundestags-fraktion, entnommen.

Lebenspartnerschaften erhalten mehr Rechte

Lars Krumreyist Diplom-Politologe und beschäftigt sich mit

der Transformation des ostdeutschen Parteisystems

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1 Der vorliegende Beitrag ist die leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Aufsatzes, der unter dem Titel„Muslime im säkularen Rechtsstaat. Vom Muslime zur Mitgestaltung der Gesellschaft“ als Heft 2 der Reihe „Der Inter-kulturelle Dialog“, herausgegeben von der Ausländerbeauftragten des Landes Bremen (Bremen 1999), erschienen ist.

2 Vgl. Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg i.Br./München: Alber, 1965).

Der säkulare Rechtsstaat bildet die

politisch-institutionelle Rahmenord-

nung, in der Muslime in der Bundesrepu-

blik Deutschland und anderen westeu-

ropäischen Gesellschaften leben und

ihren Glauben praktizieren. Diese Situa-

tion wirft Fragen auf: Wie stehen Mus-

lime zum säkularen Rechtsstaat? Stellt er

für gläubige Muslime nur ein „Übel“ dar,

das sie aufgrund der zahlenmäßig massi-

ven Überlegenheit der Nicht-Muslime

nolens volens hinnehmen müssen? Oder

bietet die Säkularität der politisch-rechtli-

chen Ordnung Chancen für die Erpro-

bung neuer Formen islamischer Selbstor-

ganisation – womöglich mit Auswirkun-

gen über die „Diaspora“ hinaus auf die

islamischen Herkunftsländer? Fragen

stellen sich aber auch in umgekehrter

Richtung: Ist es überhaupt legitim, Mus-

lime auf die Säkularität des Rechtsstaats

verpflichten zu wollen? Wäre es nicht ein

Gebot interreligiöser und multikultureller

Toleranz, Muslimen die Option offenzu-

halten, ihre gemeinschaftlichen Angele-

genheiten nach islamischem Recht statt

nach säkularem Recht zu ordnen? Stellt

die Säkularität nicht ihrerseits eine Art

von religiösem oder postreligiösem

„Glauben“ dar, der für diejenigen ver-

bindlich sein sollte, die sich zu diesem

Glauben freiwillig bekennen?

Eine Antwort auf diese und ähnliche

Fragen hängt davon ab, was genau man

unter Säkularität versteht. Mehr noch als

andere politisch-rechtliche Leitbegriffe

ruft der Begriff der Säkularität unter-

schiedliche, ja gegensätzliche Assoziatio-

nen hervor.2 Er wird als antireligiöse oder

postreligiöse Ideologie, als spezifisch

westlich-christliche Organisationsform

des Verhältnisses von Staat und Religion,

als Versuch staatlicher Kontrolle der Reli-

gionsgemeinschaften oder als Ausdruck

des Respektes vor der religiösen Freiheit

der Menschen verstanden. Hinzu kommt,

dass sich schon innerhalb der westeu-

ropäischen Verfassungsstaaten – zwi-

Muslimische Minderheiten im säkularenRechtsstaat1

von Heiner Bielefeld

I. Säkularität – ein schwieriger Begriff

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Heiner Bielefeld

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schen Frankreich, England, Holland,

Deutschland und Italien – sehr verschie-

dene Traditionen des politisch-rechtli-

chen Umgangs mit der Religion heraus-

gebildet haben, in deren Kontext auch die

Säkularität je anders akzentuiert wird.3

Und vollends unübersichtlich droht die

Debatte zu werden, wenn auch noch

unterschiedliche wissenschaftliche Diszi-

plinen – Rechtswissenschaft, Soziologie,

Theologie, Philosophie – mit ihren Deu-

tungen der Säkularität aufeinandertref-

fen.4

Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes

besteht nicht nur darin, den Begriff der

Säkularität angesichts einer verwirren-

den Vielzahl von Interpretationen theore-

tisch zu klären. Vielmehr verfolge ich

damit zugleich und vorrangig ein prak-

tisch-politisches Anliegen: Es geht mir

darum, die Säkularität des Rechtsstaates

als unerlässliche Voraussetzung für eine

an den Menschenrechten orientierte

politische Gestaltung des religiösen und

weltanschaulichen Pluralismus zu vertei-

digen. Eine solche Verteidigung kann

allerdings nur dann überzeugen, wenn

sie die kritischen Anfragen an das Kon-

zept der Säkularität ernst nimmt und

aufgreift.

Mein besonderes Interesse gilt der

Möglichkeit, den säkularen Rechtsstaat

auch von muslimischer Seite zu würdi-

gen. Um einem möglichen Missverständ-

nis vorzubeugen, sei klargestellt, dass ich

selbst kein Muslim bin, wohl aber seit

mehreren Jahren regelmäßig im Dialog

mit Muslimen stehe. Vielen von ihnen

fühle ich mich politisch und teilweise

auch persönlich verbunden; andere

betrachte ich eher als politische Gegner.

Der vorliegende Aufsatz enthält Einschät-

zungen und Einsichten, die ich auch aus

Gesprächen mit Muslimen gewonnen

habe. Diese Gespräche sind für mich zum

Anstoß geworden, über den Sinn der

rechtsstaatlichen Säkularität grundsätz-

lich nachzudenken.

3 Vgl. Richard Potz, Die Religionsfreiheit in Staaten mit westlich-christlicher Tradition, in: Johannes Schwartländer(Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte (Mainz: Grünewald,1933), S. 119-134.

4 Vgl. GerhardDilcher/Ilse Staff (Hg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung(Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984)

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

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Die rechtsstaatliche Säkularität, so der

Ausgangspunkt der folgenden Überle-

gungen, resultiert aus der Religionsfrei-

heit. DieSäkularität ist notwendiges

Strukturprinzip einer Rechtsordnung, die

unter dem Anspruch steht, die Religions-

freiheit als Menschenrecht systematisch

zu verwirklichen. Um es zuzuspitzen: Es

gibt keine volle Verwirklichung der Religi-

onsfreiheit außerhalb einer säkularen

rechtsstaatlichen Ordnung. Diese These

wird vielleicht auf Anhieb einleuchten.

Lässt sich die Religionsfreiheit nicht auch

im Rahmen einer religiös begründeten

Rechtsordnung realisieren? Kann nicht

auch ein christlicher oder islamischer

Staat die religiöse Freiheit respektieren?

Gibt es nicht geschichtliche Beispiele für

eine friedliche Koexistenz unterschiedli-

cher Religionsgemeinschaften zum Bei-

spiel unter der Herrschaft muslimischer

Sultane?

Zugegeben: Religiöse Toleranz ist auch

unter den Vorzeichen einer religiösen

Rechtsordnung denkbar, und sie hat

gerade im islamischen Kontext Tradition.5

Religionsfreiheit als Menschenrecht

meint aber etwas anderes als Toleranz

und sollte auch nicht mit ihr gleichge-

setzt oder verwechselt werden. Wie alle

Menschenrechte verlangt die Religions-

freiheit Gleichberechtigung, während

Toleranz durchaus mit Ungleichheit ein-

hergehen kann. Der Anspruch des Men-

schenrechts auf Religionsfreiheit wäre

deshalb mit einer staatlichen Toleranzpo-

litik gegenüber religiösen Minderheiten

noch lange nicht eingelöst.

Weiter: Als Anspruch auf Gleichberech-

tigung bleibt die Religionsfreiheit – wie

andere Menschenrechte auch – keines-

wegs auf einen Katalog „vorstaatlicher“

und „vorpolitischer“ Grundrechte

beschränkt. Vielmehr soll sie die politsch-

rechtliche Ordnung im ganzen durchwir-

ken.6 Menschenrechte markieren nicht

nur eine Schranke der Staatsgewalt, son-

dern fungieren nach den Worten des

Grundgesetzes darüber hinaus „als

Grundlage jeder menschlichen Gemein-

schaft“ (Art. 1 Abs. 2 GG). Sie bilden nicht

allein die unüberschreitbare Grenze legi-

II. Zur Bestimmung der rechtsstaatlichen Säkularität

1. Die rechtsstaatliche Säkularität als Konsequenz für Religionsfreiheit

5 Vgl. Adel Theodor Khoury, Toleranz im Islam (Mainz: Grünewald/München: Kaiser, 1980); Christian W. Troll, Der Blickdes Koran auf die anderen Religionen, in: Walter Kerber (Hg.), Wie tolerant ist der Islam? (München: Kindt, 1991), S.47-69.

6 Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998) S. 87ff.

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Heiner Bielefeld

timer Staatsgewalt,sondern zugleich den

tragenden Grund der Legitimität der

staatlichen Rechtsform überhaupt. Das

menschenrechtliche Prinzip gleicher Frei-

heit kann aber nur dann als „Grundlage“

der staatlichen Rechtsordnung zum Zuge

kommen, wenn der politisch-rechtliche

Status der Menschen von ihrer Religions-

zugehörigkeit unabhängig ist. Daher

rührt die fundamentale Bedeutung der

Religionsfreiheit für die Verwirklichung

einer menschenrechtlichen und demo-

kratischen Ordnung überhaupt. Sie ver-

langt, dass niemand wegen seines reli-

giösen oder weltanschaulichen Bekennt-

nisses bevorzugt oder benachteiligt wird

und dass die Mitwirkung an der politisch-

rechtlichen Ordnung Menschen unter-

schiedlicher religiöser und weltanschau-

licher Orientierung möglich ist, und zwar

in voller Gleichberechtigung.

Um der Gleichberechtigung aller Men-

schen willen und aus Respekt vor ihren

unterschiedlichen Bekenntnissen ist es

dem Rechtsstaat verwehrt, sich mit einer

bestimmten Religion oder Weltanschau-

ung zu identifizieren oder diese gar zur

normativen Basis seiner eigenen Ordnung

zu erheben. Der auf die Religionsfreiheit

verpflichtete demokratische Rechtsstaat

muss folglich religiös und weltanschaulich

„neutral“ sein. Um dem verbreiteten Mis-

sverständnis entgegenzutreten, diese reli-

giöse bzw. weltanschauliche Neutralität

sei ein Ausdruck von Gleichgültigkeit, ethi-

scher Indifferenz oder „Wertneutralität“,

ziehe ich allerdings dem Begriff der „Nicht-

Identifikation“ vor. Weil diese Nicht-Identi-

fikation ihren ethischen Grund im gebote-

nen Respekt vor der religiösen und weltan-

schaulichen Freiheit der Menschen hat,

möchte ich genauer von dem Prinzip der

respektvollen Nicht-Identifikation spre-

chen. Dieses Prinzip macht den normati-

ven Kerngehalt der rechtsstaatlichen Säku-

larität aus.

Um ein Beispiel zu geben: Das Grundge-

setz bekennt sich zur unantastbaren

Würde jedes Menschen, die zu achten und

zu schützen Verpflichtung aller staatlichen

Gewalt ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Ob die Idee der

Menschenwürde aus dem biblischen

Motiv der Gottesebenbildlichkeit des Men-

schen gedeutet wird, ob man sie im Lichte

des Korans als Berufung des Menschen

zum Statthalter (khalifa) Gottes auf Erden

versteht, oder ob man sie aus humanisti-

schen Traditionen interpretiert werden

soll, bleibt jedoch offen. Dies kann, ja darf

der Staat nicht autoritativ entscheiden.

Wenn er solche religiösen und weltan-

schaulichen Fragen offen lässt, so

geschieht dies nicht aus Gleichgültigkeit,

Skepsis oder Indifferenz, sondern aus Ach-

tung vor der Freiheit der Menschen, die

den Staat unbeschadet ihrer unterschiedli-

chen Bekenntnisse als ihr politisches

Gemeinwesen verstehen können sollen.

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

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Wenn der säkulare Rechtsstaat „welt-

anschaulich neutral“ sein will, so folgt

daraus, dass die Säkularität nicht zu einer

quasireligiösen oder postreligiösen

Staatsideologie stilisiert werden darf. Die

politische Loyalität, die der Rechtsstaat

von seine Bürgerinnen und Bürgern ein-

fordert, zielt nicht auf umfassende Gesin-

nungstreue. Und auch das Bekenntnis

zur Säkularität, um das der Staat werben

(das er letztlich nicht erzwingen) kann,

bleibt als politisches Bekenntnis von

einem umfassenden religiösen oder

weltanschaulichen Glaubensbekenntnis

weit entfernt.

Kein Zweifel: Die Säkularität kann ideo-

logisch zu einem weltanschaulichen Kon-

zept aufgebauscht werden. Ein klassi-

sches Beispiel bietet das positivistische

Glaubensbekenntnis Auguste Comtes,

eines der Gründungsväter der Soziologie.

Comte formuliert seine Lehre als eine

neue Form atheistischer Religion, die er

„Religion der Menschheit“ (religion de

l’humanité) nennt.7 Auf der Grundlage

moderner Wissenschaft sollen die Sozio-

logen nach Comte gleichsam einen säku-

laristischen Klerus mit weltweitem Auto-

ritätsanspruch bilden. Ihre Aufgabe

besteht darin, als moderne „Priester der

Menschheit“ die Gesellschaft ideologisch

zu formieren und zu diesem Zweck die

fortschrittliche Kräfte von Wirtschaft und

Industriearbeiterschaft einzuspannen.

Unter dem Banner von „Ordnung, Liebe

und Fortschritt“ sollen nach Comte Staat

und Weltanschauung, die in den Krisen

der Moderne auseinander getreten

waren, somit zu einer neuen „soziokrati-

schen“ Synthese finden, die nicht weni-

ger geschlossen ist als die alte theokrati-

sche Einheit von Staat und Religion. Wie

in der christlichen Theokratie des Mittel-

alters andere Religionen bekämpft oder

allenfalls am Rande der Gesellschaft

geduldet wurden, so gilt analog auch für

die Comtesche Soziokratie, dass sie ihren

ideologischen Wahrheitsanspruch gegen

alle Konkurrenten mit politischen Mitteln

durchzusetzen sucht.

Eine solche säkularistische Fortschritt-

sideologie hat mit der rechtsstaatlichen

Säkularität nichts, aber auch gar nichts

gemein. Wenn der weltanschauliche

Säkularismus sich mit der Staatsmacht

verbindet, führt er in letzter Konsequenz

sogar zur Zerstörung der auf die Religi-

onsfreiheit gegründeten rechtsstaatli-

chen Säkularität. Unter dem Anspruch

der Religionsfreiheit muss der säkulare

2. Keine „postreligiöse“ laizistische Staatsideologie

7 Man könnte dies auch übersetzten als „Religion der Menschlichkeit „. Zum folgenden vgl. Auguste Comte, Systémede Politique Positive ou Traité de Sociologie, Institutant la Religion de l‘ Humantité. Drei Bände (Nachdruck der Aus-gabe von 1851, Osnabrück: Otto Zeller, 1967)

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Heiner Bielefeld

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Rechtsstaat deshalb darauf achten, dass

er sich nicht für die Zwecke eines weltan-

schaulichen Säkularismus oder Laizismus

einspannen lässt. Diese Gefahr besteht –

trotz der Krise der modernen Fortschritt-

sideologien – auch heute noch. Dazu

einige Beispiele: Etatistische Ordnungs-

politiker, die sich auf die Komplexität der

multireligiösen Gesellschaft inhaltlich

nicht einlassen wollen, mögen versucht

sein, die vielfältigen Forderungen der

Religionsgemeinschaften – vom schuli-

schen Religionsunterricht über den Bau

von Gebetsstätten bis hin zum rituellen

Schlachten – mit modernistischer

Attitüde als Dunkelmännertum abzutun.

Kopftuch tragende muslimische Frauen

und Mädchen sehen sich nicht nur im lai-

zistischen Frankreich, sondern auch in

Deutschland dem Vorwurf ausgesetzt,

rückständig zu sein und sich der Moderne

zu verweigern. Zeitungsberichten zufolge

hat der ehemalige Präsident des Bundes-

amtes für Verfassungsschutz, Peter

Frisch, türkische Eltern dazu aufgerufen,

ihre Töchter ohne Kopftuch zur Schule zu

schicken, weil das islamische Kopftuch

ein Zeichen mangelnder Integrationsbe-

reitschaft in die säkulare Verfassungsord-

nung sei.8 Auch das „Projekt der

Moderne“ kann, wenn es zum fortschritt-

sideologischen Zivilisationsmodell ver-

dinglicht und „vormodernen Kulturen“

(gemeint ist damit meist der Islam)

dichotomisch entgegengesetzt wird,

zum Bestandteil politischer Ausgren-

zungsrhetorik werden.9

Gegen die Verwechslung oder Ver-

quickung mit einem fortschrittsideologi-

schen Säkularismus oder Laizismus gilt

es, den Sinn der rechtsstaatlichen Säkula-

rität kritisch zu klären: Die Säkularität des

Rechtsstaats zielt nicht etwa darauf ab,

die Religionsgemeinschaften an den

Rand der Gesellschaft abzudrängen, son-

dern gewährleistet ihnen vielmehr Mög-

lichkeiten freiheitlicher Entfaltung. Es

geht darum, den Pluralismus der religiö-

sen und weltanschaulichen Überzeugun-

gen in der modernen Gesellschaft poli-

tisch-rechtlich so zu gestalten, dass Frei-

heit und Gleichberechtigung aller ermög-

licht werden. Die im Menschenrecht auf

Religionsfreiheit begründete Säkularität

ist deshalb das genaue Gegenteil jeder

vormundschaftlichen Staatsideologie,

das Gegenteil auch eines ideologischen

Laizismus.10

8 Vgl. z.B. Süddeutsche Zeitung vom 14. April 19979 Ein typisches Beispiel für solche Ausgrenzungsrhetorik biete Bassam Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die

Menschenrechte ( München/Zürich 1994), S. 48: „Angesichts der Dominanz vormoderner Werte und Normen in derpolitischen Kultur des Islam ergibt sich der Gegensatz zwischen dem Islam und dem modernen Konzept der Men-schenrechte und damit ein Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation“.

10 Vgl. Martin Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Dil-cher/Staff (Hg.), a.a.O., S. 35-95, hier S. 73.

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

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Dass im säkularen Rechtsstaat Religion

und Politik getrennt sein müssten, ist ein

selten hinterfragter verfassungspoliti-

scher Gemeinplatz. Die Formel der „Tren-

nung von Religion und Politik“ erweist

sich bei näherem Hinsehen jedoch als

unpräzise und irreführend. Nimmt man

sie wörtlich, dann geht der freiheitliche

Sinn der Religionsfreiheit – und damit

das normative Fundament der rechts-

staatlichen Säkularität – sogar verloren.

Die Religionsfreiheit beschränkt sich

nicht darauf, jedem einzelnen die Freiheit

seines persönliche Glaubens und seines

persönliches Bekenntnisses zu garantie-

ren. Sie umfasst über diese unverzicht-

bare individualrechtliche Komponente

hinaus auch das Recht der religiösen

Gemeinschaften, sich frei von staatlicher

Bevormundung selbst zu organisieren.

Und sie eröffnet den Religionsgemein-

schaften schließlich auch die Betätigung

in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Dass die Religionsgemeinschaften sich zu

politischen Fragen in der Öffentlichkeit

äußern können, ist mit der rechtsstaatli-

chen Säkularität nicht nur vereinbar, son-

dern erweist sich als Konsequenz jener

anspruchsvollen Auffassung von Religi-

onsfreiheit, die dem Rechtsstaat selbst

zugrunde liegt.

Religion ist nicht nur Privatangelegen-

heit, sondern hat ihren Ort auch in der

Öffentlichkeit. Und da die Öffentlichkeit

den Raum bildet, in dem Politik auch in

der Demokratie vollzieht, können Religi-

onsgemeinschaften auch an der Politik

teilhaben. Nicht um die Trennung von

Religion und Politik geht es demnach,

sondern um die institutionelle Trennung

von Religionsgemeinschaften und Staat.

Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn

wer im Namen der Säkularität die Tren-

nung von Religion und Politik fordert, plä-

diert womöglich für die Abdrängung aus

der Öffentlichkeit und redet damit einer

autoritär-laizistischen Kontrollpolitik das

Wort, die mit der Religionsfreiheit als

Menschenrecht unvereinbar ist.11

Die institutionelle Trennung von Religi-

onsgemeinschaften und Staat soll die

Religionsgemeinschaften vor staatlichen

Eingriffen in ihre inneren Angelegenhei-

ten schützen und gleichzeitig die Rechts-

stellung der Bürgerinnen und Bürger im

demokratischen Rechtsstaat von der Ver-

3. Keine Trennung von Religion und Politik

11 Vgl. Gerhard Luf, Die religiöse Freiheit und der Rechtscharakter der Menschenrechte, in: Schwartländer (Hg.), a.a.O.,S. 72-92, S. 90: „Sofern es Aufgabe des Grundrechts der Religionsfreiheit ist, nicht bloß formale Grenzen zu ziehen,sondern Realbedingungen des religiösen Freiheitshandelns zu gewährleisten, würde die, Privatisierung des Religiö-sen in einen Neutralismus münden, der eine spezifische Form der Diskriminierung religiöser Lebensformen dar-stellte „.

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Säkulare Verfassungsordnungen wur-

den historisch zunächst in Nordamerika

und Westeuropa durchgesetzt. Dies lässt

sich als Faktum schwerlich bestreiten. Es

stellt sich allerdings die Frage, wie man

dieses historische Faktum interpretiert.

Folgt daraus, dass die rechtsstaatliche

Säkularität ein exklusives Erbe des

Abendlandes darstellt? Ist die Säkularität

das gleichsam organische Resultat einer

spezifisch westlichen kulturellen Ent-

wicklung, vorbereitet bereits im mittelal-

quickung mit religiöser Mitgliedschaft

freihalten. Durch diese Trennung gewin-

nen daher beide an Freiheit: sowohl die

Religionsgemeinschaften als auch der

Staat.12

Auf der Grundlage wechselseitiger

Unabhängigkeit können Religionsge-

meinschaften und Staat durchaus mit-

einander kooperieren. Ihre institutionelle

Trennung meint keine völlige Bezie-

hungslosigkeit. Konkrete Kooperations-

verhältnisse zwischen beiden Seiten sind

mit der Religionsfreiheit allerdings nur

unter der Voraussetzung vereinbar, dass

die Zusammenarbeit nicht zur Privilegie-

rung bzw. Diskriminierung bestimmter

religiöser Gruppen führt. Das Prinzip der

religiös-weltanschaulichen Neutralität

des Staates muss also gewahrt bleiben. In

der Bundesrepublik Deutschland haben

sich Kooperationsverhältnisse zwischen

Staat und Kirchen in vielen Bereichen des

gesellschaftlichen Lebens entwickelt –

angefangen von der staatlichen Subven-

tionierung kirchlicher Krankenhäuser

über theologische Lehrstühle an staatli-

chen Universitäten bis hin zur Anerken-

nung der Kirchen (aber auch einiger

anderer Religionsgemeinschaften) als

Körperschaften öffentlichen Rechts.Diese

Kooperation hat sich in vieler Hinsicht

bewährt. Angesichts der neuen multireli-

giösen Realität in Deutschland bedürfen

die gewachsenen Strukturen des Zusam-

menwirkens von Staat und Kirchen

sicherlich kritischer Überprüfung, weil sie

sonst auf eine staatliche Privilegierung

der christlichen gegenüber nicht-christli-

chen Religionsgemeinschaften hinaus-

laufen können. Die notwendige Überprü-

fung sollte allerdings nicht der Anlass für

einen „Kahlschlag“ sein,sondern zu Über-

legungen führen, wie staatliche Förde-

rung in gerechter Weise auch nicht-

christlichen Religionsgemeinschaften

zugute kommen kann.

12 Vgl. José Casanova, Chancen und Gefahren öffentlicher Religion. Ost- und Westeuropa im Vergleich, in: Otto Kall-scheuer (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus (Frank-furt a.M.: Fischer, 1996), S. 181-210, hier S. 189.

4. Kein exklusiv abendländisches Zivilisationsmodell

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

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terlichen Investiturstreit zwischen Impe-

rium und Sacerdotium, wenn nicht gar

schon im Jesuswort „Gebt dem Kaiser,

was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes

ist“? Der derzeit prominenteste Vertreter

einer solchen „kulturalistischen“ Verein-

nahmung der Säkularität heißt Samuel

Huntington, bekannt geworden durch

seine umstrittenen These vom drohen-

den Zusammenstoß der Zivilisationen

(„clash of civilisations“). In seiner weltpo-

litischen Landkarte bildet die Trennung

von Staat und Religionsgemeinschaften

ein exklusives Merkmal der westlichen

Zivilisation, durch das diese sich von allen

anderen Zivilisationen, namentlich der

Islam, dem Wesen nach unterscheidet.13

Wer wie Huntington die institutionelle

Trennung von Staat und Religionsge-

meinschaften zum Bestandteil des „kul-

turellen Codes“ der westlichen Zivilisa-

tion – und nur des Westens – stilisiert,

begeht allerdings zwei fundamentale

Fehler. Zunächst blendet er die geschicht-

lichen Kämpfe aus, die auch im Westen

nötig waren, um den säkularen Rechts-

staat durchzusetzen. Die katholische Kir-

che hat die Religionsfreiheit nach langem

internem Ringen erst auf dem Zweiten

Vatikanischen Konzil (1962-1965) offiziell

anerkannt.14 Das Jesuswort „Gebt dem

Kaiser, was des Kaisers ist“, das Vertreter

der christlichen Kirchen heute für eine

theologische Würdigung des säkularen

Rechtsstaates fruchtbar machen, bildet

nicht etwa die religiös-kulturelle „Wur-

zel“, aus der im Laufe von fast zweitau-

send Jahren der säkulare Staat mehr oder

minder organisch herausgewachsen ist.

Vielmehr verhält es sich umgekehrt, dass

erst auf dem Boden der Moderne rück-

blickend jene religiösen und kulturellen

Motive ausgemacht werden können, die

es erlauben, durch alle historischen

Umbrüche hindurch auch Elemente der

Kontinuität zu rekonstruieren.15

Die Vereinnahmung der Säkularität

zum ausschließlichen Erbe des christli-

chen Abendlandes bedeutet außerdem –

dies ist das zweite Problem –, dass man

dadurch Menschen nicht-westlicher Her-

kunft und nicht-christlicher Orientierung

(insbesondere Muslimen) von vornherein

die Möglichkeit abspricht, die Säkularität

auch im Blick auf ihre eigenen religiösen

und kulturellen Traditionen zu verstehen

und zu würdigen. Die Forderung, Mus-

lime müssten dem säkularen Rechtsstaat

anerkenne, wird somit unter der Hand

zur Zumutung einer zumindest kulturel-

len Konversion zum Abendland und sei-

nen „christlichen Werten“. Wenn Mus-

13 Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York: Simon & Schuster,1996), S. 42ff. u.ö.

14 Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität (Düsseldorf: Patmos, 1991), S. 147.15 Vgl. Bielefeldt, a.a.O., S. 124ff., 194.

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Heiner Bielefeld

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Es hat lange gedauert, bis die christli-

chen Kirchen gelernt haben, den säkula-

ren Rechtsstaat als politisch-rechtliche

Voraussetzung für die freiheitliche Ent-

faltung der Religionsgemeinschaften in

der modernen Gesellschaft anzuerken-

nen und zu würdigen. Bis ins 20. Jahr-

hundert hinein herrschte in kirchlichen

Kreisen die Tendenz vor, Säkularität, reli-

giöse Gleichgültigkeit und Atheismus

eng miteinander zu assoziieren, wenn

nicht gar zu identifizieren. Mittlerweile

verstehen sich die christlichen Kirchen

als attraktive Anwälte der Religionsfrei-

heit und des säkularen Rechtsstaats. Dies

ist zweifellos einer erfreuliche Entwick-

lung. Problematisch ist es allerdings,

wenn die theologische Würdigung der

rechtsstaatlichen Säkularität in ihre Ver-

einnahmung zu „christlichen Werten“

umschlägt, wie dies gelegentlich

geschieht.

Vieles deutet darauf hin, dass unter

Muslimen Vorbehalte gegen den Begriff

der Säkularität nach wie vor stark verbrei-

tet sind. Sie treten gelegentlich selbst bei

ausgesprochen liberalen Reformern

zutage. Mohamed Talbi beispielsweise,

seit Jahrzehnten einer der entschieden-

sten muslimischen Vorkämpfer der Religi-

lime sich gegen eine solche Zumutung

verwahren, kann dies nicht verwundern.

Um der gleichen Freiheit und gleichbe-

rechtigten Partizipation aller in der multi-

kulturellen und multireligiösen Gesell-

schaft willen muss der Rechtsstaat darauf

verzichten, die tragenden Verfassungs-

prinzipien in der Manier Huntingtons als

exklusives Erbe der westlich-christlichen

Zivilisation zu propagieren. Die Tatsache,

dass der säkulare Rechtsstaat in Norda-

merika und Westeuropa historisch erst-

mals wirksam geworden ist, bleibt unbe-

stritten. Deshalb aber die Geltung des

säkularen Verfassungsmodells auf die

westliche Zivilisation oder Kultur zu

beschränken, wäre politisch verhängnis-

voll und rechtssystematisch ein Kurz-

schluss. Denn durch eine solche exklusive

Identifizierung der rechtsstaatlichen

Säkularität mit einer bestimmten religiö-

sen oder kulturellen Tradition müsste

gerade jenes Prinzip der respektvollen

Nicht-Identifikationn, das dem säkularen

Rechtsstaat normativ zugrunde liegt, aus

dem Blick geraten.

III. Muslimische Kritik der Säkularität

1. Säkularität als Ausdruck des Unglaubens

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

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onsfreiheit, äußert sein Unbehagen

gegenüber säkularen Rechtsvorstellun-

gen, in denen, wie er meint,„unterschwel-

lig eine Vergötzung des Menschen“

anklingt.16 Ähnlich ambivalent reagiert

die islamische feministische Theologin

Riffat Hassan. Sie glaubt, die Allgemeine

Menschenrechtserklärung der Vereinten

Nationen nur dadurch retten zu können,

dass sie sie zu einem quasireligiösen

Dokument ummünzt. Obwohl der Termi-

nologie nach „säkular“, sei die Menschen-

rechtserklärung „ihrem Wesen nach ‚reli-

giöser‘ als zahlreiche ‚Fatwas‘, die von vie-

len muslimischen oder anderen religiösen

Autoritäten und Institutionen ausgestellt

wurden“.17 Auch der liberale islamische

Rechtstheoretiker Abdullahi An-Na’im,

sowohl wissenschaftlich wie politisch seit

langem für die Menschenrechte aktiv, ver-

steht sein Plädoyer für eine Reform des

islamischen Rechts als bewusste Alterna-

tive zum westlichen säkularen Reht.18

Selbst im liberal-islamischen Diskurs wird

der Begriff der Säkularität also offenbar

weithin als Ausdruck einer antireligiösen

Ideologie wahrgenommen, gegen die

Muslime geistigen Widerstand leisten

sollten.

Von ganz anderer Qualität sind die Vor-

behalte gegen die Säkularität bei islami-

schen Politikern und Intellektuellen, die

das „islamische System“ (dessen Kontu-

ren allerdings zumeist sehr vage bleiben)

als überlegene Alternative gegen den

säkularen Rechtsstaat ausspielen. So plä-

diert der einflussreiche pakistanische

Schriftsteller Abul A’la Mawdudi, zwanzig

Jahre nach seinem Tod mittlerweile

schon ein Klassiker des Islamismus, für

eine islamische „Theo-Demokratie“, in

der die Gemeinschaft der Gläubigen

gleichsam als kollektiver Statthalter

Gottes auf Erden die Weisungen der

Scharia politisch zur Geltung bringen

soll.19 Mawdudis Entwurf der Theo-

Demokratie versteht sich ausdrücklich als

Alternative zu den säkularen Demokra-

tien des Westens. Zwar soll auch die

Theo-Demokratie eine demokratische

Komponente haben. Sie bleibt jedoch

eine Demokratie primär der Muslime.

Zumindest die politischen Schlüsselfunk-

tionen des Staates müssen nach Maw-

dudi den Muslimen vorbehalten bleiben,

weil nur sie die religiös-normativen

Grundlagen der Verfassung verstehen

und konsequent verwirklichen können.20

16 Mohamed Talbi, Religionsfreiheit – Recht des Menschen oder Berufung des Menschen?, in: Schwartländer (Hg.), Frei-heit der Religion, a.a.O., S. 242-260, hier S. 259.

17 Riffat Hassan, On Human Rights and the Qur’anic Perspective, in: Arlene Swidler (Hg.), Human Rights in ReligiousTraditions (New York: The Pilgrim Press, 1892), S. 51-65, hier S. 53.

18 Vgl. Abdullahi Ahmed An-Na’im,Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law(New York: Syracuse Univerisity Press, 1990), S. 10: „The aim of this book is to contributeto the process of changingMuslim perceptions, attitudes, and policies on Islamic and not secular grounds. „

19 Abdul A’la Mawdudi, The Islamic Law and Constitution (Lahore: Islamic Publications, 3. Aufl. 1967), S. 147f.20 Vgl. Mawdudi, a.a.O. , S. 295ff.

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74

21 Yvonne Y. Haddad, Sayyid Qutb: Ideologue of the Islamic Revival, in: Joseph L. Esposito (Hg.), Voices of ResurgentIslam ( Oxford University Press, 1983), S. 67-98

22 Vgl. Dursun Tan, Aleviten in Deutschland. Zwischen Selbstethnisierung und Emanzipation, in: Gerdin Jonker (Hg.), Kernund Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei in Deutschland (Berlin: Verlag Das Arabische Buch, 1999), S. 65-88

23 Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche inDeutschland (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997), S. 103f.

24 Vgl. Heitmeyer u.a., a.a.O., S. 123.

Polemischer noch als Mawdudi ist Sayyid

Qutb, der 1966 hingerichtete Märtyrer

der ägyptischen Muslimbruderschaft.

Sein politischer Kampf gilt der „jahiliyya“,

d.h. jener heidnischen „Unwissenheit“,

die im traditionellen Islam als Bezeich-

nung der vor-islamischen Zeit diente und

die sich nach Qutb in allen nicht-islami-

stischen Vorstellungen manifestiert.21

Auch der säkulare Rechtsstaat, der nicht

göttliches, sondern weltliches Recht zur

Grundlage hat, ist nach Qutb Ausdruck

der gottlosen jahiliyya, die die Muslime

mit aller Entschiedenheit überwinden

sollen. Die Schriften von Mawdudi und

Sayyid Qutb sind in zahlreiche Sprachen

übersetzt worden und liegen mittler-

weile auf den Büchertischen islamischer

Gruppen in aller Welt aus; sie sind auch

unter den in Deutschland lebenden Mus-

limen verbreitet. Solche islamistischen

Schriften tragen sicherlich dazu bei, Skep-

sis und Vorbehalte gegenüber der rechts-

staatlichen Säkularität zu verfestigen.

Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber

dem säkularen Staat ist in Deutschland

jedoch offenbar Sache einer radikalen

Minderheit unter Muslimen. Die Mehr-

heit hingegen scheint sich mit den beste-

henden Verhältnissen mehr oder weniger

arrangiert zu haben (was Unsicherheiten

und Ambivalenzen im Verständnis der

Säkularität natürlich nicht ausschließt).

Besonders deutlich fällt die Bejahung des

säkularen Rechtsstaates auch bei den

Aleviten aus, einer innerislamischen Min-

derheit, die aufgrund einer langen Diskri-

minierungsgeschichte weiß, was die

institutionelle Differenz zwischen Staat

und Religionsgemeinschaften wert ist.22

Bemerkenswert sind in diesem Zusam-

menhang einige Ergebnisse der Bielefel-

der „Fundamentalismus-Studie“ von

1997: Drei Viertel der befragten türkisch-

stämmigen muslimischen Jugendlichen

gaben an, dass sie mit den Möglichkei-

ten, in Deutschland ein religiöses Leben

zu führen, zufrieden oder sogar voll

zufrieden sind;23 zwei Drittel lehnten die

Auffassung ab, dass die Religion die Poli-

tik einseitig dominieren solle, während

zugleich eine Mehrheit von ca. 60 Pro-

zent die öffentliche Wirksamkeit des

Islams – vergleichbar dem Wirken ande-

rer öffentlicher Institutionen – befürwor-

tete.24

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

75

Islamische Vorbehalte gegen die Säkula-

rität von Staat und Recht werden häufig

auch mit dem Hinweis begründet, dass es

sich dabei um eine spezifisch christliche

Antwort auf ein spezifisch christliches Pro-

blem handle. Im Gegensatz zum Christen-

tum habe der Islam (jedenfalls der sunniti-

sche Islam) einen institutionalisierten Kle-

rus niemals gekannt.25 Der Prozess der

Befreiung des Staates vom Klammergriff

einer klerikalen Hierarchie, der in Europa in

der Neuzeit zur Säkularisierung des Staa-

tes und des staatlichen Rechts geführt

habe, sei deshalb für den Islam niemals

nötig gewesen. Da der Islam das christli-

che Problem der Priesterherrschaft nicht

kenne, müsse er auch die christliche

Lösung dieses Problems nicht überneh-

men.

Das Argument, dass der Islam eine kle-

rusfreie Religion sei, mündet gelegentlich

auch in den Anspruch, dass die Säkularität

des Staates im Islam im Grunde immer

schon anerkannt sei. Die pauschale Nega-

tion der Säkularität als eines vermeintlich

exklusiv westlich-christlichen Modells

kann so umschlagen in eine pauschale

Anerkennung der Säkularität, die aller-

dings vordergründig bleibt, wenn sie die

inhaltliche Auseinandersetzung mit dem

freiheitlichen „Sinn“ des säkularen Rechts-

staates ausspart, ja geradezu unterläuft.

Denn wenn der Begriff der Säkularität von

vornherein ausschließlich auf spezifisch

westlich-christliche Formen des politi-

schen Klerikalismus bezogen ist, dann blei-

ben islamische Erfahrungen mit einem

autoritären, oft auch politisch manipulier-

ten Gottesrecht gänzlich aus dem Blick.

Diese Sorge jedenfalls äußert Fuad Zaka-

riya, der kritisch zu bedenken gibt:„Gewiss

ist der Islam ohne Äquivalent zum Papst-

tum, aber es hat immer starke religiöse

Machtorgane gegeben, deren Autorität

gelegentlich weiter reichte als die des

Staates“.26 Die innerislamische Auseinan-

dersetzung mit religiöser und politischer

Unfreiheit, die aus der Verquickung von

Staatsgewalt und religiöser Autorität

resultiert, steht für Zakariya weiterhin

noch aus. Es wäre ein Fehler, wenn Mus-

lime sich diese kritische und selbstkritische

Auseinandersetzung mit dem lapidaren

Hinweis ersparen würden, dass es einen

Klerus im sunnitischen Islam nie gegeben

habe.

2. Die Säkularität des Staates – eine spezifisch christliche Lösung?

25 Auch Mawdudi (a.a.O., S. 147) besteht darauf, dass die von ihm propagierte „Theo-Demokratie „ nicht mit der politi-schen Herrschaft eines Klerus verwechselt werden dürfte, wie sie für das christliche Mittelalter typisch gewesen sei.Vielmehr sei die islamische Theokratie vom Klerikalismus westlicher Prägung völlig verschieden: „…Islamic theo-cracy of which Europe has had bitter experience wherein a priestly class, sharply marked off from the rest of thepopulation, exercises unchecked domination and enforces laws of ist own making in the name of God…“

26 Fuad Zakariya, Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit, in: Michael Lüders (Hg.), Der Islam im Aufbruch?Perspektiven der arabischen Welt (München/Zürich: Piper, 1992), S. 228-245, insbes. S. 236.

Page 78: perspektive21 - Heft 16

Heiner Bielefeld

76

Die ernsthafte innerislamische Ausein-

andersetzung um den säkularen Rechts-

staat, wie Fuad Zakariya sie anmahnt, ist

auch im islamischen Kontext nichts völlig

Neues. Schon im Jahre 1925 erschien ein

Werk, in dem die Säkularität des Staates

ausdrücklich gefordert wird, und zwar

interessanterweise mit genuin islami-

schen Argumenten. Das Buch trägt den

Titel „Der Islam und die Grundlagen der

Macht“; sein Verfasser, damals Professor

an der Kairoer Al-Azhar-Universität, heißt

Ali Abdarraziq.27 Konkreter Anlass des

Buches war die Abschaffung des Kalifats

durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahre

1924. Obwohl die Absetzung des letzten

Kalifen ein machtpolitischer Akt und

gewiss keine religiöse Reformmaßnahme

war, sieht Abdarraziq in der Überwin-

dung des Kalifats eine Chance für den

Islam. Denn der Anspruch der Kalifen, ein

göttlich begründetes Herrschaftsamt

auszuüben oder gar als unmittelbare

„Schatten Gottes auf Erden „ zu fungie-

ren, bedeute nichts anderes als abergläu-

bischen Bilderkult.28 Dieser aber sei

unvereinbar mit dem strengen Mono-

theismus, wie ihn der Koran verkündet.29

Außerdem verweist Abdarraziq darauf,

dass der Koran so gut wie keine detaillier-

ten Anweisungen zur Staatsführung ent-

hält.30 Die koranische Offenbarung als

staatspolitisch maßgebendes Gesetz-

buch zu lesen, sei daher nicht nur sinnlos,

sondern stehe im Widerspruch zu Geist

und Buchstaben des Korans, ja laufe

zuletzt sogar auf die Leugnung des kora-

nischen Anspruchs auf die Endgültigkeit

und Abgeschlossenheit der Offenbarung

hinaus.31

In der Tradition Abdarraziqs stehen

heute beispielsweise seine ägyptischen

Landsmänner Muhammad Said al-

Ashmawy, Nasr Hamid Abu Zaid und Fuad

Zakariya, die mit unterschiedlichen Akzen-

ten die Säkularität von Recht und Staat aus

islamischer Sicht vertreten. So wendet sich

al-Ashmawy gegen jedwede Sakralisie-

rung staatlicher Politik, die sowohl für die

Politik als auch für die Religion verhee-

rende Konsequenzen haben müsse.32

Denn, wie die Erfahrung lehrt, mündet die

durch Sakralisierung gegen kritische Infra-

gestellung immunisierte politische Herr-

IV. Das Erbe Ali Abdarraziqs

27 Ich beziehe mich im folgenden auf die französische Übersetzung : Ali Abdarrazig, L’islam et les bases du pouvoir, inzwei Teilen erschienen in: Revué des Études Islamiques, Bd. VII (1933), S. 353-391 und Bd. VIII (1934), S. 163-222.

28 So Abdarrazig, a.a.O., Teil 1, S. 391.29 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 220f.30 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 198.31 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 206f32 Vgl. Muhammad Said al-Ashmawy, l’islamisme contre l’islam (Paris: La Découverte, 1989), S. 11, 34, 85 u.ö.

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Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

77

schaft nicht selten in Despotie. Gleichzei-

tig verkommt die Religion zum Instrument

machtpolitischer Strategien und Intrigen.

Über solche Miss-brauchserfahrungen

hinaus widerstreitet nach al-Ashmawy

theokratische Herrschaft bereits ihrem

Anspruch nach der Zentralbotschaft des

Korans, nämlich dem strengen Monotheis-

mus, in dessen Licht Theokratie als eine

Form der Gotteslästerung erscheinen

muss, weil dadurch der Name Gottes auf

die Ebene des politischen Machtkampfes

herabgewürdigt wird.

Abu Zaid weist in seiner Kritik des herr-

schenden religiösen Diskurses auf eine

strategisch motivierte Vermischung

zweier unterschiedlicher Ebenen hin: Die

in der modernen Säkularität angelegte

institutionelle Trennung von Staat und

Kirch bzw. Religionsgemeinschaften werde

von Konservativen und Islamisten fälsch-

lich mit einer Abtrennung des Glaubens

vom Leben und von der Gesellschaft

gleichgesetzt.33 In der vom herrschenden

religiösen Diskurs beeinflussten öffentli-

chen Meinung erscheine die Säkularität

schließlich gar als Äquivalent für Atheis-

mus.34 Dagegen stellt Abu Zaid ein Ver-

ständnis von Säkularität, das „nicht gegen

die Religion, sondern gegen die Herrschaft

der Religion über alle Bereiche „35 gerichtet

ist und konkret die politische Macht der

Theologen beschränken soll. Mit der Forde-

rung nach Säkularisierung des staatlichen

Rechts will Abu Zaid die Religion nicht aus

der Öffentlichkeit verdrängen, sondern

den religiösen Diskurs aus dem Klammer-

griff politischer Institutionen und Ideolo-

gien befreien und damit überhaupt erst

als einen freien Diskurs etablieren.

Ein ähnliches Verständnis von Säkula-

rität vertritt auch Fuad Zakariya. Er entlarvt

die von manchen Islamisten beschworene

Antithetisch von göttlichem und mensch-

lichem Recht als eine ideologische Schein-

alternative. Denn auch diejenigen, die

göttliches Recht für sich und ihre Position

in Anspruch nehmen, bleiben fehlbare

Menschen, die sich allerdings weigern, ihre

Fehlbarkeit offen einzugestehen und ihre

politischen Vorschläge demokratischer Kri-

tik zu unterwerfen. Dagegen versteht

Zakariya die moderne Säkularität als politi-

sches Ordnungsprinzip, das der Fehlbarkeit

des Menschen gerecht wird und das Attri-

but der Unfehlbarkeit allein Gott über-

lässt:„Die Säkularisierung weigert sich,aus

dem Menschen einen Gott zu machen

oder ein unfehlbares Wesen. Gleichzeitig

erkennt sie die Grenzen menschlicher Ver-

nunft und weiß um die Unzulänglichkeit

politischer und sozialer Systeme.“36

33 Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Dikurses (Frankfurt a.M.: dipa-Verlag, 1996), S. 26f.34 Vgl. Abu Zaid, a.a.O., S. 45.35 Abu Zaid, Die Befreiung des Korans (Interview-Gespräch mit Navid Kermani), in: Abu Zaid, a.a.O., hier S. 243.36 Zakariya, a.a.O., S. 243.

Page 80: perspektive21 - Heft 16

Heiner Bielefeld

78

Die Säkularität des Rechtsstaates ist

ein hohes, aber auch ein hochgradig

gefährliches Gut. Sie kann nur dann als

freiheitliches Prinzip der demokratischen

Verfassung zur Geltung kommen, wenn

man sie als politische Herausforderung

ernst nimmt. Zunächst gilt es den frei-

heitlichen Anspruch des säkularen

Rechtsstaats gegen ideologische und kul-

turalistische Verkürzungen kritisch zu

klären. Es muss klargestellt werden, dass

die Säkularität des Rechtsstaats weder

Ausdruck einer laizistischen Fortschrittsi-

deologie noch Bestandteil etatistischer

Kontrollpolitik ist, noch auch ein exklusiv

westlich-christliches Modell der Rege-

lung des Verhältnisses von Staat und

Religionsgemeinschaften darstellt. Viel-

mehr hat der säkulare Rechtsstaat seinen

Sinn im Menschenrecht auf Religionsfrei-

heit. Auf der Grundlage einer solchen

prinzipiellen Klarstellung kann ein pro-

duktives Gespräch mit Muslimen statt-

finden, darunter auch mit Angehörigen

islamistischer Gruppen. Die autoritären

Implikationen islamistischer Ideologien

nach Art Mawdudis oder Sayyid Qutbs

müssen dabei offen und kritisch ange-

sprochen werden.

Die beste Verteidigung des säkularen

Rechtsstaat besteht darin, die Religions-

freiheit als Auftrag ernst zu nehmen und

möglichst konsequent zur Geltung zu

bringen. Wie alle Menschenrechte zielt

auch die Religionsfreiheit auf Gleichbe-

rechtigung. Es ist jedoch bekannt, dass

für die muslimischen Minderheiten in

Deutschland die rechtliche Gleichstel-

lung mit den christlichen Kirchen noch

aussteht. Hier hat die Mehrheitsgesell-

schaft gegenüber den Muslimen eine

Bringschuld abzutragen. Gewiss: Die

Obwohl die genannten Autoren von

Abu Zaid bis Zakariya im islamischen Kon-

text sehr umstritten sind (welcher profi-

lierte Denker wäre dies nicht!), zeigen sie,

dass eine islamische Würdigung der

rechtsstaatlichen Säkularität sinnvoll ist.

Dadurch wird die Säkularität selbst nicht

zum islamischen Prinzip stilisiert.Sowenig

eine christliche Anerkennung der Säkula-

rität dazu führen sollte, letztere in einen

Kanon „christlicher Werte“ zu vereinnah-

men (wie dies oft genug geschieht), sowe-

nig darf die islamische Würdigung der

Säkularität in ihre einseitige „Islamisie-

rung“ münden. Vielmehr bleibt die Säku-

larität des Rechtsstaats eine Konsequenz

der Religionsfreiheit, die als allgemeines

Menschenrecht für eine Würdigung von

unterschiedlichen religiösen und weltan-

schaulichen Perspektiven offen steht.

V. Konsequenzen

Page 81: perspektive21 - Heft 16

Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat

79

konkreten Probleme – von der Anerken-

nung islamischer Verbände als Körper-

schaften öffentlichen Rechts über die

Organisation eines islamischen Religi-

onsunterrichts bis hin zur Ausbildung

islamischer Theologen und Religionsleh-

rer(innen) an staatlichen Universitäten –

lassen sich nicht leicht lösen. Immer noch

bleibt unklar, welcher Verband in

Deutschland welche Teile der muslimi-

schen Bevölkerung repräsentiert. Es fehlt

an Transparenz der innerislamischen

Strukturen. Auch die Artikulationsfähig-

keit der islamischen Verbände in der

demokratischen Zivilgesellschaft kann

sicherlich noch verbessert werden. Gele-

gentlich wird auf muslimischer Seite

allerdings der Verdacht laut, dass Reprä-

sentanten der deutschen Politik und Ver-

waltung die unbestreitbaren Defizite und

Probleme zum willkommenen Vorwand

dafür nehmen, muslimische Forderun-

gen auf unbestimmte Zeit zu verschie-

ben. Wenn selbst die Befürworter eines

islamischen Religionsunterrichts gern

mit der Notwendigkeit argumentieren,

auf diese Weise den nichtsstaatlichen

Koranschulen das Wasser abgraben zu

können, so ist dies eines freiheitlichen,

auf die Religionsfreiheit gegründeten

Rechtsstaates eigentlich unwürdig.

Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen.

Bei allen unleugbaren Schwierigkeiten

und trotz vieler ungeklärter Fragen gibt

es prinzipiell keine Alternative dazu, Mul-

simen die Chance zur Mitgestaltung an

dieser Gesellschaft zu geben, und zwar

nach Maßgabe gleicher Freiheit. Wer

darin eine Gefahr für die säkulare Rechts-

ordnung sieht, hat nicht verstanden,

worin der Sinn der rechtsstaatlichen

Säkularität besteht.

Dr. HD. Heiner Bielefeld unterrichtet an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld.

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Notizen

80

Page 83: perspektive21 - Heft 16

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Page 84: perspektive21 - Heft 16

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Bislang erschienen:1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*2. Sozialer Rechtsstaat*3. Informationsgesellschaft*4. Verwaltungsreform*5. Arbeit und Wirtschaft*6. Rechtsextremismus*7. Brandenburg – die neue Mitte Europas*8. Was ist soziale Gerechtigkeit?9. Bildungs- und Wissensoffensive10. Zukunftsregion Brandenburg11. Wirtschaft und Umwelt12. Frauenbilder13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem14. Brandenburgische Identitäten15. Der Islam und der Westen