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Bilanz - 4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt
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perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik
Heft 16 • Juni 2002
Bilanz4 Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt
Mit Beiträgen von Norbert Seitz und Tobias Dürr
Harald L. Sempf
Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalenStandortwettbewerbsEine Untersuchung am Beispieldes Landes Brandenburg
352 Seiten, Paperback, 29,80 €ISBN 3-936130-03-5
Die in der Bundesrepublik praktizierte Regionale Wirtschaftspolitik geräthinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Effizienz insbesondere in den neuenBundesländern zunehmend in die wissenschaftliche Kritik. In dem Buchwerden der Nachweis bestehender regionaler Disparitäten auf unter-schiedlichen Ebenen innerhalb der EU geführt, regionalökonomisch rele-vante Begrifflichkeiten diskutiert und die theoretischen Grundlagen derRegionalen Wirtschaftspolitik verdichtet dargestellt. Am Beispiel des Lan-des Brandenburg untersucht der Autor, ob eine Neuorientierung der bis-herigen Regionalen Wirtschaftspolitik vor dem Hintergrund des zuneh-menden Wettbewerbs der Regionen geboten scheint. Raumordnung,Regionalentwicklung und Regionale Wirtschaftspolitik werden dabei insSpannungsfeld zueinander gesetzt. Die brandenburgische Strategie,Raumordnung und Regionale Wirtschaftspolitik zum Leitbild der Dezen-tralen Konzentration zu vernetzen, wird dabei einer kritischen Untersu-chung unterzogen. Anhand von ausgewählten Indikatoren werden diewirtschaftlichen Ergebnisse in Brandenburg denen in den anderen NeuenBundesländern gegenübergestellt, die wirtschaftliche Entwicklung Bran-denburgs nach regionalen Gesichtspunkten analysiert und das Erreichender Ziele nach Leitbildkriterien überprüft und bewertet.
Die Untersuchung formuliert Anforderungen an eine langfristig erfolgver-sprechende Regionale Wirtschaftspolitik in Brandenburg, die sowohl"leitbildgerechte, bzw. -ergänzende" als auch "nicht leitbildkonforme"Aspekte enthalten, die jedoch auch eine Neuorientierung nicht aussch-ließen, die mit einer vollständigen Abkehr vom Leitbild verbunden wäre.
Damit richtet sich das Buch gleichermaßen an Praktiker in Politik und Ver-waltung sowie Wissenschaftler aus den Bereichen Regionale Wirtschafts-politik, Regionalwissenschaft und Landesplanung.
weber • brandenburgische hochschulschriften
Harald L. Sempf
Regionale Wirtschaftspolitikvor dem Hintergrund desregionalen Standortwettbewerbs
Eine Untersuchung am Beispiel des Landes Brandenburg
k a i w e b e r m e d i e n p r o d u k t i o n e nb r a n d e n b u r g i s c h e h o c h s c h u l s c h r i f t e n
h e b b e l s t r a s s e 3 9 · 1 4 4 6 9 p o t s d a mf o n 0 3 3 1 – 2 0 0 8 7 2 2 · f a x 2 0 0 8 7 2 4
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W i r l i e f e r n v e r s a n d k o s t e n f r e i a u f R e c h n u n g .hoch
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Vorwort 3
THEMA
Norbert Seitz 5Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz
Tobias Dürr 11Abschied von der rotgrünen Mentalität
Klaus Faber 23Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
Eugen Meckel 47Die Grünen und der deutsche Osten
Lars Krumrey 53Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten
MAGAZIN
Heiner Bielefeld 63Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
Inhalt
Bilanz4 Jahre sozialdemokratisch-
bündnisgrünes Reformprojekt
BezugBestellen Sie Ihr kostenloses
Abonnement direkt beim Herausgeber.
Senden Sie uns eine Mail.
HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg
RedaktionKlaus Ness (ViSdP)
Benjamin Ehlers
Klaus Faber
Klara Geywitz
Madeleine Jakob
Lars Krumrey
Christian Maaß
Manja Orlowski
Silke Pamme
Harald L. Sempf
AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 6114469 Potsdam
Telefon0331 - 200 93 – 0
Telefax0331 - 270 85 35
Internethttp://www.perspektive21.de
Gesamtherstellung, Vertriebkai weber medienproduktionen
hebbelstraße 3914469 potsdam
Impressum
2
am 22. September 2002 werden die
Deutschen eine Bilanz der Politik der Rot-
grünen Regierung unter Gerhard Schrö-
der ziehen. Mit dieser Ausgabe der Per-
spektive 21 wollen wir ein wenig Ent-
scheidungshilfe geben. Erinnern wir uns:
Die Bildung dieser Regierung nach den
Wahlen am 27. September 1998 war in
gewisser Hinsicht ein „Zufallsprodukt“.
Sie kam zustande, weil die Bevölkerung
mehrheitlich Helmut Kohl abwählen
wollte und die SPD insbesondere im
Osten Deutschlands so viele Überhang-
mandate produziert hatte, dass Gerhard
Schröder – trotz einiger unsicherer Kanto-
nisten in der grünen Fraktion – damit
rechnen konnte, eine verlässliche Mehr-
heit über vier Jahre zu haben.
Die Regierungsbildung 1998 löste
große Erwartungen auf der einen Seite
und wildeste Befürchtungen vor einem
„Rot-grünen Chaos“ auf der anderen
Seite aus. Das von konservativer Seite an
die Wand gemalte Chaos blieb aus. Aber
was ist aus den Erwartungen geworden?
Wir freuen uns, dass mit Dr. Norbert
Seitz (leitender Redakteur der „Neuen
Gesellschaft“) und Dr. Tobias Dürr (Chef-
redakteur der „Berliner Republik“) zwei
bekannte und (vor allem!) interessante
Publizisten ihre Bilanzen und Ausblicke
des Rotgrünen Regierungsprojektes in
unserer Zeitschrift veröffentlichen.
Zwei Zitate sollen Sie hier auf diese
Beiträge neugierig machen.
Seitz: „Das, was grüne Ideologen und
linke Sozialdemokraten etwas verquast
visionär unter ‘rot-grüner Reformpolitik’
stets verstanden, war indes nie mit dem
identisch, was Gerhard Schröder als
Modernisierungspolitik für notwendig
gehalten hat.“
Dürr: „Natürlich wählen die habituell
Rotgrünen weiterhin die Grünen oder die
angejährten Repräsentanten der ange-
grünten Achtziger-Jahre-SPD. Nur tun sie
es freudlos, nörgelnd und nur noch aus
Gewohnheit. Man ist gemeinsam ‘ange-
kommen’ man ist gemeinsam gealtert.
Wer endlich selbst im Zentrum sitzt, hat
keine Ziele mehr.“
Insbesondere der streitbare Beitrag von
Dürr, der messerscharf und sprachlich
elegant der Sozialdemokratie – um ihrer
Zukunft willen – rät,das Lebensgefühl der
80er Jahre endgültig zu verabschieden,
wird sicherlich noch viele Diskussionen
auslösen und befördern. Auf die Reaktio-
nen bin ich schon jetzt sehr gespannt.
Die Regierung hat vier Jahre gehalten
und ihre Reformbilanz, wie der Beitrag
von Lars Krumrey in diesem Heft zeigt, ist
umfangreich; ein großer Teil des von Kohl
hinterlassenen Reformstaus konnte auf-
Vorwort
3
Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“,
gelöst werden. Perspektive 21 als Zeit-
schrift für Wissenschaft und Politik inter-
essiert sich natürlich besonders für die
Bilanz der Regierung in diesem Bereich.
Unser ständiger Mitarbeiter Klaus Faber
legt dazu eine umfangreiche Analyse vor.
Eugen Meckel, Leiter des Brandenburger
Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, be-
schließt den thematischen Schwerpunkt
dieser Ausgabe mit einer Antwort auf die
Frage, warum der Osten mit den Grünen
nicht so richtig warm wird.
Im Magazin-Teil veröffentlichen wir
zusätzlich einen Text von Dr. Heiner Biele-
feld, der noch einmal den Schwerpunkt
des vergangenen Heftes „Der Islam und
der Westen" aufnimmt.
Am 22. September 2002 wird die wich-
tigste Bundestagswahl der vergangenen
zehn Jahre entschieden. Die Alternative
heißt Schröder/Fischer oder Stoiber/
Westerwelle/Möllemann. Also: Fortset-
zung der Reformpolik oder Rückkehr zu
den Rezepten von gestern und dem Per-
sonal aus der zweiten Reihe hinter Hel-
mut Kohl. Unabhängig von allen auch
sehr kritischen Gedanken zu der Reform-
bilanz der Regierung in diesem Heft, ist
die Wahlempfehlung der Redaktion ein-
deutig: Gerhard Schröder.
Ich wünsche eine spannende Lektüre.
Ihr Klaus Ness
P. S. Endlich haben wir unser Interne-
tangebot renoviert. Unter www.perspek-tive21.de können Sie ältere Hefte als pdf-
Datei herunterladen, per mail ein kosten-
loses Abo oder ältere Hefte bestellen und
uns natürlich auch ihre Kritik zum aktuel-
len Heft mitteilen.
4
Vorwort
perspektive 21 im InternetDie Hefte 10-15 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.
Gebrannte Koalitionsschmiede scheuen
das visionäre Feuer. Denn noch jede sozi-
aldemokratische Bündnisformation seit
´45 war vor eifriger historischer Über-
höhung nicht gefeit. Zum Teil mit tragi-
schen Konsequenzen, wie bei der
„Zwangsvereinigung“ mit der KPD zur
SED, die zum Gründungsschrecken einer
neuen Diktatur geriet.
Aber auch demokratisch vollzogene
Verbindungen sind ohne überanstreng-
tes Aussöhnungspathos nicht ausge-
kommen. Sogar die wenig geliebte Große
Koalition hatte man Ende der 60er Jahre
zum symbolischen „Ende der Nachkriegs-
zeit“ (Johannes Gross) stilisiert, weil sie
von einem früheren Nazi (Kiesinger) und
ehemaligen Kommunisten (Wehner)
geschlossen worden war.
Das sozialliberale Bündnis mit der fort-
schrittlich gewendeten FDP in den 70er
Jahren wurde von Beratern Willy Brandts,
assistiert von linksliberalen Denkern wie
Karl-Hermann Flach und Werner Maiho-
fer, als historisches Bündnis zwischen
dem demokratischen Teil der Arbeiterbe-
wegung und einem aufgeklärten Bürger-
tum überzeichnet. Der erste SPD-Kanzler
fand dafür nach seinem strahlenden
Wahlsieg vom November 1972 den Begriff
der „Neuen Mitte“, den die Berater Ger-
hard Schröders im Wahljahr 1998 eben-
falls verwendeten, um Wechselwähler
begrifflich willkommen zu heißen.
Diesem angeblich geschichtsmächtigen
sozialliberalen Schulterschluss stellte der
nüchterne Verfassungsrechtler Theodor
Eschenburg den Totenschein aus, als er im
Oktober 1982 nach den Verratslegenden
auf Helmut Schmidts Kanzlersturz Koali-
tionen schlicht zu weitgehend emotions-
frei zu bildenden „Zweckbündnissen“ ver-
donnerte, deren Geschäftsgrundlage sich
in der Politik täglich ändern könne. Eheli-
che Begriffe wie „Treue“ und „Verspre-
chen“ taugten für Koalitionen nicht.
Jene bis heute gültige Entromantisie-
rung von Koalitionen überstand auch die
5
Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?Versuch einer Zwischenbilanz
von Norbert Seitz
I. Kein historisches Bündnis
Immerhin schaffte Rot-Grün mit nicht
einmal 48 Prozent der Wählerstimmen
(SPD: 40,9 %; Bündnis 90/Die Grünen:
6,9 % = 47,8 %) im September 1998 eine
Bundestagsmehrheit, dank etlicher
Überhangmandate, aber mit deutlichem
Vorsprung vor den Parteien des bisheri-
gen Kohl-Bündnisses (CDU: 35,1 %; FDP:
6,2 % = 41,3 %).Wer viele Jahre mehr des-
kriptiv als analytisch über eine „struktu-
rellen Mehrheit“ der Konservativen in
Deutschland lamentierte, wurde damit
eines Besseren belehrt.
Willy Brandts „Mehrheit diesseits der
Union“, 1982 nach einer Hessen-Wahl
erstmals angedeutet, war auch von
Zweiflern in der SPD nicht zu umgehen,
die lieber ein Große Koalition gebildet
hätten. Vom „Sieg der 68er“ oder gar
„Kulturbruch, von links“ (Die Zeit) war die
Rede, während nüchtern urteilende kon-
servative Kritiker hinter den rot-grünen
Siegern keine epochalen Projektleiter,
sondern nur Profiteure eines Anti-Kohl-
Plebiszites vermuteten.
Ob „Berliner Republik“, „Neue Mitte“
oder „Dritter Weg“ – die Spur eines
Modellcharakters war für rot-grüne
Euphoriker, die auf den Beginn einer
neuen politischen Kultur gehofft hatten,
nur schwer zu erkennen. Nach Kohls
Neo-Biedermeier habe es an einer „kla-
ren Begrifflichkeit“ gemangelt, da Schrö-
der auf jedes säkulare Pathos verzichtet
und die eigentliche Zäsur auf einen
„Generationswechsel im Leben unserer
Nation“ reduziert hat. Doch Berufungen
auf die eigene Generation erinnern
zumeist an dekorierte Kriegsteilnehmer
oder kampferprobte Alt-68er. Kein Zwei-
fel: Die rot-grüne Formation galt schon
´98 als verspätet oder überständig.
Schröder hat mit seinem pragmati-
schen Wahlkampfversprechen „nicht
alles besser, aber vieles anders“ zu
machen, nicht nur die Bürgerängste vor
freilich nur noch zaghaft zu beobachten-
den Versuche rot-grüner Bündnismacher,
im September 1998 einen neuen histori-
schen Modellversuch zu verkünden –
auch wenn die Neigung verständlich
erscheint, rare sozialdemokratische
Wahlsiege auf Bundesebene mit histori-
schen Zäsuren gleich zu setzen, um hin-
terher dem Eindruck einer Episode zu
entgehen. Gerhard Schröders unter-
kühlte Antrittsbotschaft bremste jeden
visionären Schaum.
Norbert Seitz
6
II. Große Hoffnungen
Rot-Grün, sondern auch überschießende
Zukunftserwartungen im eigenen Lager
vorzeitig zu dämpfen versucht. Außer-
dem schreckten ihn die Negativerfah-
rungen mit leicht enttäuschbaren Säkul-
arbotschaften in Regierungserklärungen
– wie zum Beispiel Willy Brandts „mehr
Demokratie zu wagen“ anno ´69 oder
Helmut Kohls „geistig-moralischer
Wende“ von 1982, die sich in beiden Fäl-
len zu fordernden Kampfparolen eines
minoritären Parteiflügels entwickelten.
Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?
7
Der Verlauf der ersten vier Jahre einer
rot-grünen Bundesregierung vollzog sich
in quasi zyklischen Schwüngen: Ein
schwacher Start im ersten Regierungs-
jahr 1999, in dessen Mittelpunkt der
Durchsetzungsstreit um den „Doppel-
pass“, das auch von linken Medien
bekämpfte 630-Mark-Gesetz, der erste
Kriegseinsatz von Bundeswehrsoldaten
im Kosovo, peinliche Selbstdarstellungs-
mängel („der Brioni-Kanzler“) und die
innerparteilich weitreichende Affäre um
Oskar Lafontaines Totalausstieg aus der
Politik standen.
Danach konsolidierte sich das Regie-
rungsbündnis – vom Frühjahr 2000 an,
gewiss auch von der schweren Spenden-
krise der CDU begünstigt. Jene Phase war
gekennzeichnet von Erfolgen des „res-
ponsiven“ Regierungsstils Gerhard
Schröders, Hans Eichels mehrheitlich
befürworteten Sparkurs und der Steuer-
reform, die die Koalition, machtpolitisch
bedeutsam, im Bundesrat gegen erhebli-
che Widerstände durchsetzen konnte.
Am jenem 14. Juli 2000 standen Kanzler
und Koalition im Zenit ihres Ansehens.
Nach einer Serie von Ministerrücktrit-
ten behauptete sich die Regierung seit
dem Frühjahr 2001 von der couragiert
betriebenen Agrarwende im Zuge der
BSE-Krise bis zur düsteren Konjunktu-
raussicht im August 2001. Löste dabei
das missverständliche Stichwort von der
„ruhigen Hand“ auch erheblichen Ver-
druss und Erinnerungen an den „aussit-
zenden“ Schröder-Vorgänger Kohl aus, so
konnte die Regierung über das Meistern
der Krisenwochen nach dem epochalen
11. September 2001 neuerlich Pluspunkte
sammeln.
Das zweite Tief der rot-grünen Regie-
rung dauerte von der Vertrauensabstim-
mung im Bundestag (November 2001)
bis zu einer zunächst nicht enden wol-
lenden Serie von Missgeschicken und
Pannen im Frühjahr 2002 (NPD-V-Leute
Affäre, „blauer Brief“ aus Brüssel?, Mani-
III. Zyklischer Verlauf
pulationsverdacht bei der Arbeitslosen-
statistik, die Jagoda-Affäre in Nürnberg), -
vom regionalen Kölner Spendenskandal
und dem von den Bürgern nur kopfschüt-
telnd quittierten Bundesratsdrama um
das Zuwanderungsgesetz nicht zu reden.
In einer Zeit des täglich verabreichten
Alarmismus zwischen Konjunkturdaten
und Umfragewerten läuft die rot-grüne
Regierung seither Gefahr, Opfer ihrer eige-
nen Medienlogik zu werden. Tops und
Flops wechseln nahezu täglich, simultan
und sukzessiv. Der zunächst propagierte
„Mut zur Reform“ ist inzwischen zuneh-
mend einer „Angst vor der eigenen Cou-
rage“ gewichen, wie die „Frankfurter Rund-
schau“ jüngst treffend kommentierte.
Im November 2001 war nach der Ver-
trauensfrage des Kanzlers ein Grad an
Verdruss auf Seiten der Bürger eingetre-
ten, den Christoph Schwennicke von der
„Süddeutschen Zeitung“ mit den Worten
beschrieb: „Eine Regierung, die ständig
gegen den inneren Zerfall ankämpft, ver-
schleißt zu viele Kräfte an der falschen
Stelle. Ja, es ermüdet die Zuschauer, eine
Regierung im ständigen Ringen mit sich
selbst zu erleben“.
Deshalb durfte es auch nicht verwun-
dern, dass im Januar 2002 mit der Lösung
der K-Frage in einer dahindümpelnden
Union durch einen starken und erfolgrei-
chen Politiker von außen ein Stimmungs-
umschwung im Lande sich abzeichnete.
Stoibers Berufung wirkte auf viele fru-
strierte Unionsanhänger wie der lang
ersehnte Befreiungsschlag aus dem Tal
der Tränen und löste bei enttäuschten
SPD-Wählern nicht den zunächst vermu-
teten Abschreckungsaffekt aus, den man
sich im rot-grünen Lager als ersten Mobi-
lisierungsschub erhofft hatte.
Norbert Seitz
8
IV. Fazit
„War da was?“, titelte „Der Spiegel“
seine gesellschaftspolitische Bilanz von
Rot-Grün. Von Enttäuschung auf ganzer
Linie kann indes keine Rede sein. Im
sozialen (Lohnfortzahlung, novellierte
Betriebsverfassung), im ökologischen
(Atomausstieg, Klimaschutz) und im
gesellschaftspolitischen Bereich (dop-
pelte Staatsbürgerschaft) sind die Erwar-
tungen eines aufgeklärt-sozialliberalen
Publikums befriedigt worden. Mögen sol-
che Reformen nicht immer von der Mehr-
heit der Bevölkerung getragen worden
sein, so waren sie zumindest „klimabil-
dend“.
Nicht zu vergessen die positive außen-
politische Bilanz, wie sie von Reinhard
Mohr im „Spiegel“ veranschaulicht
wurde: „Deutsche Geschäftsleute im
Ausland, durchaus kritisch gegenüber
Rot-Grün, konstatieren eine klare Stär-
kung der internationalen Rolle in den
letzten Jahre“. Auch die amerikanische
Journalistin Melinda Crane schrieb in den
„Frankfurter Heften:“Die transatlanti-
sche Politik der rot-grünen Regierung
widerspiegelt ein neues Rollenverständ-
nis, das noch nicht beim deutschen Volk
angekommen ist.“
Ist also Rot-grün ein unvollendetes Pro-
jekt, wie Gunter Hofmann („Die Zeit“)
meint? Von der Aufbruchstimmung sei
rasch nichts mehr zu spüren gewesen.„Es
weht leider kein wirklich kritisches Lüft-
chen von Seiten der Linken“. Die wahre
Aufgabe habe Rot-Grün noch gar nicht
richtig angepackt. „Die Linke, das ist
meine Kritik“, so Hofmann, „hat die ‘Glo-
balisierung’ zum Gegner erklärt und übe-
rall nur Neoliberalismus entdeckt, dabei
aber versäumt, den kleinen großen
Unterschied zum Neoliberalismus klar zu
machen.“
Dennoch geben auch viele Sozialde-
mokraten Rot-Grün – nicht nur aus nahe
liegenden demoskopischen Gründen –,
sondern auch als langfristige politische
Alternative für verloren. Spätestens seit
der ärgerlichen Vertrauensfrage im
November 2001, zu der sich der Kanzler
gezwungen sah, tickt in Berlin die Koaliti-
onsuhr bis zum September wohl auch
aus Gründen eines latenten Koalitions-
verdrusses.
Thomas E. Schmidt schrieb dazu in der
„Zeit“:„Reformpolitik“ hing immer etwas
von abgestandenem Utopismus an, von
lustloser Abarbeitung eines Unterneh-
mens, das ans Mangel- und Enttäu-
schungssyndrom der Ära Helmut
Schmidt erinnerte und den Appeal der
Achtziger nie loswurde.“
Auch wenn man der gängigen Auffas-
sung nicht zustimmen mag, Rot-Grün sei
das Projekt maximalistisch gestimmter
68er und Post-68er gewesen, dem es
mehr um Stilfragen gegangen sei-, richtig
bleibt dennoch die Feststellung, dass der
sogenannte „identitätsverbürgende“ und
reformverheißende Forderungskatalog
von Rot-Grün für die Bewältigung klassi-
scher, an Bevölkerungsmehrheiten orien-
tierten Themen wie Arbeit und Wohl-
stand, innere und äußere Sicherheit
eigentümlich wenig zu bieten hat. Selbst
dort, wo etwa Joschka Fischer vom Koso-
vokrieg bis nach dem 11. September ein
klassisches Feld mit löblichen Initiativen
zu besetzen suchte, bildete sich in der
Partei kein neues gouvernementales
Selbstbewusstsein heraus. Kräfte zeh-
rende Zerreißproben waren die Folge.
Alle internen Querelen um die Kriegs-
einsätze im Kosovo, in Mazedonien und
Afghanistan haben die beträchtlichen
Regierungserfolge des sozialdemokrati-
schen Bündnispartners in den Hinter-
grund treten lassen. Atomausstieg,
Ist Rot-Grün ein unvollendetes Projekt?
9
Agrarwende, Ökosteuer, Dosenpfand
oder der Tierschutz als Staatsziel
gehören ebenso zum gängigen Forde-
rungskatalog der Ökopartei wie die dop-
pelte Staatsbürgerschaft oder die gleich-
geschlechtliche Ehe. Dazu der Popula-
ritätsfaktor Joschka Fischer als weltweit
angesehener Mittler im Nahen Osten
und Brückenbauer nach Russland
während des Kosovo-Krieges. Die ehe-
malige Alternativpartei scheint sich die-
ser Bilanz – gemessen an eigenen Maß-
stäben – nicht ganz bewusst zu sein,
weil sie mental den Sprung zur Regie-
rungspartei noch immer nicht geschafft
zu haben scheint. Stattdessen lässt sie
sich im Kampf um Platz 3 des hiesigen
Parteienspektrums von einer Partei wie
der FDP ins Bockshorn jagen, die mit lau-
ter sattsam bekannten Gesichtern aus
der Kohl-Ära eine politische Erneuerung
in Deutschland anstrebt.
Wer sich von der Regierung Schrö-
der/Fischer den Anhub einer politi-
schen Kultur erhoffte, ist gewiss ent-
täuscht worden. Im Gegenteil: Die Grü-
nen haben in der Zeit vor ihrer Regie-
rungsbeteiligung die Mentalität der
Deutschen mehr beeinflusst als
während ihrer Ministerzeit. Doch das,
was grüne Ideologen und linke Sozial-
demokraten etwas verquast visionär
unter „rot-grüner Reformpolitik“ stets
verstanden, war indes nie mit dem
identisch, was Gerhard Schröder als
Modernisierungspolitik für notwendig
gehalten hat. Am Ende der Legislatur-
periode 2002 lässt sich nüchtern fest-
stellen, dass das beliebte multioptio-
nale Spiel des medienbewährten Kanz-
lers mit mehreren Koalitionsmöglich-
keiten zwar rasch entzaubert, aber
damit auch pragmatisch entschieden
wurde.
Norbert Seitz
10
Norbert Seitzist verantwortlicher Redakteur der monatlich erscheinenden Kulturzeitschrift
„Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte“ in Berlin.
11
Jetzt plakatieren sie wieder.* Im Früh-
sommer 2002 biegen die Parteien in die
Zielgerade ein. Nun muss dringend auf
Touren kommen, was professionelle
Wahlkämpfer in den Parteizentralen
gern die Mobilisierungsphase ihrer Kam-
pagnen nennen. Und tatsächlich: Schon
beschwören ein paar frühe Poster, aufge-
hängt von Aktivisten des kleineren Koali-
tionspartners, die Passanten in Berliner
Stadtteilen wie Kreuzberg und Schöne-
berg. Jetzt erst recht komme es darauf
an, Grün zu wählen. Warum? Weil es
auch nach dem 22. September bei Rot-
Grün bleiben müsse, lautet die Bot-
schaft.
Formulierung, Ort, Zeitpunkt: Alles ist
hier aufschlussreich. Da ist der eindringli-
che Ton des „Jetzt erst recht”.Während des
gesamten Frühjahrs 2002 haben die
addierten Umfragewerte von SPD und
Grünen stets deutlich niedriger gelegen
als jene von Union und FDP zusammenge-
nommen. Nun wird die Zeit knapp, und
zumal die Lage der Grünen ist bitter ernst.
Denn einen anderen möglichen Koaliti-
onspartner als die SPD besitzen sie nun
einmal nicht. Sollten sich die bisherigen
Zahlen der Demoskopen am Wahltag
bestätigen, wäre es um die Grünen als
Regierungspartei auf jeden Fall gesche-
hen. Dass es diesmal ums Ganze gehe,
dass es deshalb auf jeden einzelnen
Wähler und jede einzelne Wählerin ganz
dringend ankomme – genau das soll jener
dramatische Ton des „Jetzt erst recht”
nahe legen: Wer nicht die Grünen wählt,
ist selber schuld! Der darf sich hinterher
Abschied von der rotgrünenMentalitätWie die Bundestagswahl auch ausgeht: Die deutsche Sozialdemokratiemuss sich ihrer eigenen Ziele und Werte vergewissern
von Tobias Dürr
1. Rot-Grün muss bleiben, damit Rot-Grün bleibt
* In diesem Essay werden die Kategorien „Rot-Grün” und „rotgrün” verwendet. Das ist kein Versehen. „Rot-Grün”beschreibt das politische Bündnis von Sozialdemokratie und Grünen, „rotgrün” verweist auf die mentalen und kul-turellen Prägungen, die dieses Bündnis möglich machten und weiterhin tragen.
Tobias Dürr
auch nicht beschweren, wenn ... – ja, wenn
was eigentlich? Was steht überhaupt auf
dem Spiel? Gewiss ist es schon so,wie jene
Plakate behaupten: Rot-Grün muss blei-
ben, damit die gouvernementalen Grünen
überleben können. Aber reicht das schon
aus? Was eigentlich wäre damit gewon-
nen? Und für wen?
Natürlich, für Plakattexte ist bei den
Grünen wie überall sonst die Abteilung
Agitation und Propaganda zuständig; wer
den differenzierten politischen Diskurs
bevorzugt, sollte sich andere Lektüre
suchen. Aber bemerkenswert ist dennoch,
wie vollständig die Texter jener grünen
Werbetafeln auf jede inhaltliche Unter-
fütterung verzichten. Nicht etwa, auf dass
der Himmel über Berlin noch blauer
werde, die Gesellschaft in Deutschland
noch multikultureller oder das Essen noch
gesünder, sollen die Bürger diesmal die
Grünen wählen – sondern ganz einfach
damit es bei der gegenwärtigen rot-grü-
nen Regierungskonstellation bleibt.
Genau genommen also wird hier das Ein-
verständnis des Passanten kurzerhand
vorausgesetzt. Das Ansinnen der Grünen
erfordert keine weiteren Erklärungen, es
versteht sich von selbst, es ist gewisser-
maßen zu seiner eigenen Letztbegrün-
dung geronnen. Rot-Grün muss bleiben,
damit Rot-Grün bleibt.
Selbstverständlich gibt es in dieser
Republik auch heute noch Menschen,
denen diese Forderung auf Anhieb ein-
leuchtet. Die Erwartung grüner Wahl-
kämpfer, dass Zirkelschlüsse nach dem
Muster Rot-Grün-muss-bleiben bereits
genügen könnten, um die eigenen Leute
auch diesmal wieder zum Wahlgang zu
aktivieren, muss insofern nicht völlig
irregeleitet sein. Zugleich aber ist sie ein
sehr präziser Indikator des inneren
Zustandes dessen, was einmal eupho-
risch als „rot-grünes Projekt” oder gar
noch überbordender als „rot-grünes
Gesellschaftsprojekt” gefeiert wurde.
Denn überhaupt nur noch dort, wo die-
ses „Projekt” in politischer, sozialer und
kultureller Hinsicht in der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre besonders hoch im
Kurs stand, versteht sich Rot-Grün hier
und da auch heute noch von selbst.
Überhaupt nur noch in einem ganz
bestimmten generationellen Traditions-
milieu der deutschen Gesellschaft exi-
stieren Restbestände jener enttäu-
schungsresistenten Selbstverständlich-
keit von Rot-Grün, überhaupt nur in die-
sen sozialkulturellen Nischen kann Rot-
Grün noch die Projektionsfläche irgend-
welcher Erwartungen bilden. Überall
sonst in der Republik, unter den Jünge-
ren sowieso und im Osten erst recht, ist
Rot-Grün längst nur noch „irgendeine
Koalition” (Joachim Raschke), so gut oder
schlecht, so wichtig oder egal wie andere
auch.
12
Abschied von der rotgrünen Mentalität
13
Wer jene urbanen Quartiere von Kreuz-
berg und Schöneberg kennt, in denen
Rot-Grün bei Wahlen auch heute noch
schöne Erfolge erzielt, der bekommt eine
Ahnung von der wachsenden histori-
schen Überständigkeit der generationel-
len Milieus und Mentalitäten, für die Rot-
Grün unverändert die erste politische
Option bedeutet. Es mag diese Inseln
sentimentaler rotgrüner Wohligkeit hier
und da auch noch anderswo im Westen
der Republik geben, in Hamburg-Eims-
büttel vielleicht, in der Kölner Südstadt
oder in Freiburg im Breisgau. Wo die Ori-
entierung an Rot-Grün als sozialkulturel-
len Normalfall noch existiert, da sind es
zwar auf ihre Art durchaus moderne
Menschen aus einem beträchtlichen Teil-
segment der gesellschaftlichen Mitte,
von denen sie getragen wird. Denn bei
den Trägern dieser rotgrünen Gesamt-
mentalität handelt es sich heute um
überdurchschnittlich gebildete Bürgerin-
nen und Bürger in der Erwerbs- und Fami-
lienphase ihres Lebens, typischerweise
um Angehörige der Geburtsjahrgänge
1950 bis etwa 1970. Das sind genau jene
Alterskohorten, die bei allen Wahlen seit
den frühen achtziger Jahren konstant
und mit großen Mehrheiten die eine oder
die andere der heutigen Regierungspar-
teien gewählt haben.
Diese Jahrgänge besitzen zutiefst
westdeutsche Biografien – aber sie
haben durchaus einiges erlebt. Sie sind
überdurchschnittlich stark geprägt vom
Zeitgeist, der Unruhe und den Konflikten
der siebziger und der frühen achtziger
Jahre, von der „Willy-Wahl” 1972 bis zu
den Protesten von Mutlangen und Brok-
dorf gegen Nachrüstung und Kernener-
gie. Diese Kohorten haben die Entste-
hung der so genannten Neuen Sozialen
Bewegungen erlebt, als diese tatsächlich
noch neu waren und in Bewegung. Sie
haben den Aufstieg der Grünen ermög-
licht, als die junge „Anti-Parteien-Partei”
(Petra Kelly) noch der politische und –
wenig später – parlamentarische Arm
einer machtvoll anschwellenden Strö-
mung innerhalb der westdeutschen
Gesellschaft war. Auch der Umstand,dass
nunmehr postmaterialistische Orientie-
rungen subkutan in die zuvor zutiefst
arbeitnehmerisch gesinnte Sozialdemo-
kratie eindrangen, war das Werk von
Angehörigen dieser Jahrgänge. Sie vor
allem waren es, die für die Überlagerung
der zentralen Konfliktlinie der Politik
durch neuere wertbezogene, „postmate-
rialistische”Themen der Auseinanderset-
zung sorgten. Statt um Kapital und Arbeit
ging es nun um Kategorien wie Ökologie
und Frieden, um Frauen und Emanzipa-
2. Als Rot-Grün die Sozialdemokratie eroberte
Tobias Dürr
tion, um Selbstverwirklichung, um Auto-
nomie und um die Dritte Welt.
Bekanntlich hatte sich die regierende
SPD in der Ära Schmidt der postmateriali-
stischen Welle zunächst strikt verwei-
gert. Dafür gab es Gründe, aber es
machte den Aufstieg der Grünen als aut-
hentische politische Repräsentanten der
neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie
und des neuen Lebensgefühls geradezu
unvermeidlich. Als die Sozialdemokraten
in ihren Jahren der Opposition seit 1982
damit begannen, die Impulse der Frie-
dens-, Frauen- und Umweltbewegungen
umso begieriger aufzusaugen, war es
längst zu spät. Den Grünen war auf diese
Weise das Wasser nicht mehr abzugra-
ben. Stattdessen führte die eifrige, oft
ziemlich unkritische Übernahme von
postmaterialistischen Gedanken und
Mentalitäten durch die Sozialdemokratie
zum zweiten großen Veränderungsschub
der westdeutschen SPD nach 1945. Wie
schon beim Eindringen der akademisier-
ten APO-Generation in die alte Arbeiter-
partei ging auch dieser Umbruch nicht
ohne harte Kulturkämpfe, ohne tiefe Ver-
letzung und stille Entfremdung traditio-
nal gesinnter Mitglieder- und Wähler-
gruppen vonstatten. Die SPD der achtzi-
ger Jahre öffnete sich nachholend für
neue Gruppen. Zugleich aber begann in
jenen Jahren zum einen die Abwendung
proletarischer und postproletarischer
Milieus von der SPD, zum anderen schuf
die Durchsetzung der rotgrünen Menta-
lität innerhalb der deutschen Sozialde-
mokratie auch die Vorausetzungen dafür,
dass junge und moderne Angehörige der
ständig wachsenden postindustriellen
Arbeitnehmermilieus den Sozialdemo-
kraten heute habituell distanziert
gegenüberstehen. Beides zusammen
macht der SPD heute schwer zu schaffen
– und beides wird mit rotgrünen Mitteln
niemals umzukehren sein.
Gewiss, eine Volksausgabe der Grünen
ist die westdeutsche Sozialdemokratie
niemals geworden. Viel von den Verände-
rungen der achtziger Jahre blieb ohnehin
bloß Masche und Dekor. Im Grunde war
völlig unklar, worin die postmaterialisti-
sche Wende der Sozialdemokratie im
Kern bestehen sollte. Im entschlossenen
Kampf für den Weltfrieden und gegen
den Atomtod? Oder bei Licht besehen
doch eher in exaltiertem Hang zu violet-
ten Seidenhemden, zur Toskana und zu
Grauburgunder, den avancierte Sozialde-
mokraten nun kennerisch Pinot Grigio
nannten und am liebsten eiskalt genos-
sen? Etliches an der Wende der SPD zum
Postmateriellen blieb, so gesehen, in
Gestus und Pose stecken, war beliebig
und unausgegoren, vorläufig und irgend-
wie unernst. Nur „links” war man auf
jeden Fall,und „links”waren auch die Grü-
nen. Und so jubelten sie alle zusammen
14
Abschied von der rotgrünen Mentalität
15
begeistert, als Willy Brandt im Herbst
1982 die Existenz einer neuen „Mehrheit
diesseits der Union” verkündete.
In jenen Jahren, in der westdeutschen
ersten Halbzeit der Ära Kohl, wuchs
heran, was heute noch als übrig gebliebe-
nes und erstarrtes Restphänomen exi-
stiert: die rotgrüne Gesamtgesinnung
über die gerade erst gezogene Partei-
grenze zwischen SPD und Grünen hin-
weg. Schon versanken die Ursachen der
Abwendung einer ganzen Alterskohorte
von der SPD im Nebel der Vergangenheit.
Es war eine spezifische politische Genera-
tion, die sich angesichts ganz spezifischer
Bedingungen unter dem Banner Rot-
Grün wiedervereinigte. So wie nach 1969
das Zusammengehen von SPD und FDP
als finale Erfüllung des historischen Ver-
sprechens von 1848 gefeiert worden war,
so wurde nun Rot-Grün zuweilen gera-
dezu erlösungskulthaft verklärt.
3. Wie die Völker Mitteleuropas 1989 Rot-Grün überholten
Die rot-grüne Erlösung sollte in der
Wahl Oskar Lafontaines zum Kanzler der
westdeutschen Republik bestehen, die
man zuversichtlich für das Jahr 1990 vor-
gesehen hatte. Doch dann kam alles
doch ganz anders. Mit ihren Revolutio-
nen von 1989 beseitigten die Bürger Mit-
tel- und Osteuropas die totalitäre Nach-
kriegsordnung, unter der nicht nur ihre
Hälfte des Kontinents, sondern indirekt
auch der Westen Europas – wenn auch
unvergleichlich weniger – jahrzehnte-
lang gelitten hatte. „Ein Jahrhundert
wird abgewählt”, schrieb Timothy Garton
Ash in jenen atemberaubenden Mona-
ten. Und in der Tat, genau das und kein
bisschen weniger bedeuteten die Revolu-
tionen von 1989.
Dass danach nichts mehr sein konnte
wie bisher, begriff als einer der ersten
Willy Brandt, der eben noch Säulenheili-
ger des rotgrünen Gesamtsentiments in
der Bonner Republik gewesen war. Die
westdeutsche Sozialdemokratie insge-
samt hingegen war nicht imstande, der
historischen Dimension der Ereignisse
gerecht zu werden, die von Warschau
und Prag bis nach Leipzig, Lübben oder
Liebenwerda die Koordinaten aller
europäischen und deutschen Politik so
grundstürzend veränderten. So war das
Berliner Programm der Sozialdemokra-
ten, verabschiedet Ende 1989 inmitten
der über Europa hinwegjagenden revolu-
tionären Stürme Makulatur – im Grunde
bereits an dem Tag, da es beschlossen
wurde. Als sich alles veränderte, fasste es
noch einmal in epischer Breite das eben
zu Ende Gegangene zusammen: „Dieses
Programm”, schrieb Erhard Eppler 1991
Tobias Dürr
mit nostalgischem Bedauern, „sollte die
traditionelle Arbeiterbewegung zusam-
menführen mit den neuen sozialen
Bewegungen, mit der Ökologie-, der
Frauen-, Friedens- und der Dritte-Welt-
Bewegung. Ökologisches Denken, die
neue Rollenverteilung der Geschlechter,
die Suche nach Frieden und die Rücksicht
auf die ärmeren Völker sind, von der
ersten bis zur letzten Seite, Dimensionen
des Gesamtprogramms.”
Tempi passati, die Völker Europas hiel-
ten sich nicht an das rotgrüne Drehbuch.
Zwar ist nichts von alledem seither ganz
und gar verdammenswert geworden.
Nur spiegelt dieser Kanon eben nicht viel
mehr wider als den gesamtrotgrünen
Bewusstseinstand in Westdeutschland,
der mit dem Epochenjahr 1989 historisch
überholt war – und der seither dennoch,
gleichsam als schmerzvolle Sehnsucht
nach der guten alten Zeit, die rotgrünen
Herzen erfüllt. Gewiss, in ihrer alltägli-
chen Politik hat sich die Sozialdemokratie
längst meilenweit vom hohen Ton ihres
Berliner Programms entfernt, das nicht
von ungefähr sofort vollständig in Ver-
gessenheit geriet. Heute jedenfalls bele-
gen die Existenz großer und sozial-libera-
ler Koalitionen auf der Ebene der Länder
sowie, mehr noch, der um jeden Preis auf
Pragmatismus setzende Kurs des sozial-
demokratischen Bundeskanzlers sehr
anschaulich, wie entbehrlich Rot-Grün im
Grunde längst geworden ist – als Regie-
rungskonstellation sowieso, aber eben
auch als emphatisch begriffenes Gesell-
schaftsprojekt.
Das hat neue Probleme geschaffen. Es
mag ja sein, dass die Grünen Gerhard
Schröder in den vergangenen vier Jahre
beim pragmatischen Regieren nicht nen-
nenswert gestört haben. Doch das reicht
– für beide Partner – nicht aus, um Rot-
Grün insgesamt neue Attraktivität zu ver-
schaffen. Mehr als jede andere Koalitions-
konstellation müsste sich ein – obendrein
ja eher zufällig an die Macht gekomme-
nes – rot-grünes Bündnis schon sehr
genau über seinen gemeinsamen gesell-
schaftlichen Auftrag, ja über seine Mis-
sion im Klaren sein, um überhaupt einen
bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Andere Koalitionen mögen sich als
Instanzen der pragmatischen Problemlö-
sung verstehen – und werden sogar
genau dafür gewählt. Für rot-grüne
Regierungen gilt das so nicht. Ihr
Dilemma kommt gleich im Doppelpack:
Würde sie heute tatsächlich noch mit
Inbrunst jenes „Projekt”verfolgen, für das
westdeutsche Sozialdemokraten und
Grüne sich vor 1989 so sehr begeisterten,
wäre Rot-Grün bei gesamtdeutschen
Wahlen heute völlig chancenlos – die
Bonner Republik mit ihren spezifischen
Konfliktlagen existiert nicht mehr. Wo
eine rot-grüne Regierung jedoch umge-
16
Abschied von der rotgrünen Mentalität
17
Sogar den Grünen selbst gelingt es
heute kaum noch, in einer ihnen eigenen,
unverwechselbaren Sprache und Seman-
tik zu begründen, wofür sie eigentlich
stehen. Ihre einstige Selbstgewissheit ist
verflogen, die gesellschaftlichen Wur-
zeln, aus denen sie einst hervorgingen,
sind abgestorben – oder wurden von den
Staat gewordenen Anführern der Grü-
nen mutwillig gekappt. Vor vier Jahren
unvermittelt an die Macht gelangt, kann
die ehemalige Bewegungspartei nicht
mehr überzeugend benennen, was sie
eigentlich ist oder will. Defensiv und wol-
kig fällt ihr Versuch aus, den eigenen
gesellschaftlichen Ort zu markieren. Was
sie waren, sind sie nicht mehr – und wol-
len sie offensichtlich auch gar nicht mehr
sein. Aber was um Himmels willen sind
sie dann? „Man steigt nicht zweimal in
denselben Fluss”, heißt es schwermütig
im neuen Grundsatzprogramm der Par-
tei. „Inzwischen sind wir nicht mehr die
‚Anti-Parteien-Partei’, sondern die Alter-
native im Parteiensystem. Die entschei-
dende Veränderung war, dass wir uns zu
einer Reformpartei entwickeln wollten
und mussten, um erfolgreich zu bleiben.
Unsere Visionen und Ziele wollen wir
heute durch eine langfristig angelegte
Reformstrategie erreichen.”
Das klingt ein bisschen jämmerlich.
Die Grünen sind sich ihrer Sache erkenn-
bar nicht mehr sicher. Einleuchtende
Erklärungen dafür haben sie durchaus
zur Hand: „Themen, mit denen wir zu
Beginn als Außenseiter auftraten, sind
heute im Zentrum der Gesellschaft ange-
kommen.”Genau das war gewiss das Ziel
der Grünen – unter dem Gesichtspunkt
der Unterscheidbarkeit ist es heute
zugleich ihr Problem:„Fast alles, was ein-
mal die Grünen als links, sektiererisch,
versponnen, kurz: als politisch nicht wirk-
lichkeitstauglich auszeichnete, scheint
beseitigt zu sein”, bemerkt der
langjährige Grünen-Beobachter Eckart
Lohse, „zu starke Zugeständnisse an den
neoliberalen Zeitgeist” wiederum wirft
Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerk-
schaft Verdi, seiner eigenen Partei vor.
Doch auf der Klaviatur von forcierter
kehrt ihr spezifisches gesellschaftspoliti-
sches Reformprogramm aus den Augen
verliert, da ist überhaupt nicht mehr
erkennbar, in welcher Weise und warum
gerade Rot-Grün für die Republik besser
oder wichtiger sein sollte als irgendeine
andere Koalition. Mit Rot-Grün ist die SPD
in eine kulturelle und damit, mittelfristig
gesehen, auch in eine strategische Sack-
gasse geraten.
4. Ankunft in der betulichen Mitte
Tobias Dürr
18
Wirklichkeitstauglichkeit und Neolibera-
lismus spielen in Deutschland längst
andere – und im Zweifel virtuoser. Dass
die Grünen in dieser Republik ausgerech-
net dafür ganz dringend gebraucht wer-
den, darf als ziemlich unwahrscheinlich
gelten.
Es stimmt ja, all die einst von den west-
deutschen Grünen auf die Agenda
gesetzten und von den Sozialdemokraten
eifrig übernommenen Themen sind
inzwischen „im Zentrum der Gesellschaft
angekommen”. So sehr sind sie zum poli-
tischen Allgemeingut geworden, dass im
Grunde kein Mensch mehr glaubt, zur
Verteidigung grüner Errungenschaften
müsse unbedingt weiterhin die grüne
Partei regieren. Nicht einmal die ihrer-
seits oft genug in der Mitte der Gesell-
schaft Angekommenen in den rotgrünen
heartlands von Kreuzberg, Schöneberg
oder Freiburg im Breisgau befürchten
heute im Ernst einen gesellschaftlichen
und kulturellen Rückschlag für den Fall,
dass Joseph Fischer den Job des Außen-
ministers verliert oder Renate Künast
nicht mehr die Agrarkrise beaufsichtigen
darf. Natürlich wählen die habituell Rot-
grünen weiterhin die Grünen oder die
angejährten Repräsentanten der ange-
grünten Achtziger-Jahre-SPD. Nur tun sie
es freudlos, nörgelnd und nur noch aus
Gewohnheit. Man ist gemeinsam „ange-
kommen”, man ist gemeinsam gealtert.
Wer endlich selbst im Zentrum sitzt, hat
keine Ziele mehr.
5. Rot-Grün als geronnene Gesellschaftsgeschichte
Dass die SPD im Wahlkampf für die
Fortsetzung der 1998 eingegangenen
Koalition mit den Grünen wirbt, ist eine
pure Selbstverständlichkeit. Alles andere
wäre das Dementi des eigenen Regie-
rungshandelns in den nun ablaufenden
vier Jahren. So weit, so nachvollziehbar.
Und, wer weiß, womöglich reicht es für
das Gespann Schröder/Fischer am 22.
September ja tatsächlich noch einmal.
Doch gerade Sozialdemokraten sollten
sich keine Illusionen machen: Irgendeine
Faszination des Aufbruchs und Anfangs
wird von Rot-Grün nie wieder ausgehen,
irgendeine Strahlkraft in die Gesellschaft
hinein kann dieses in der untergegange-
nen westdeutschen Welt der achtziger
Jahre ersonnene „Projekt” nicht mehr
entfalten. Rot-Grün ist gegenwärtige
Wirklichkeit – und bedeutet doch
zugleich nur noch zur Regierung geron-
nene Gesellschaftsgeschichte der Bonner
Republik.
Für die etablierten Grünen ist das
kein Drama. Sie rechnen im Grunde
nicht ernsthaft damit, dass ihr eigenes
Abschied von der rotgrünen Mentalität
19
Projekt sie und ihre Generation über-
dauern werde. Damit haben sie sich
innerlich abgefunden. Das vielfältige
Universum der Selbsthilfegruppen,
Ökoläden und Stadtteilinitiativen in den
besseren Quartieren der westdeut-
schen Städte wird auch ohne die Grü-
nen über die Runden kommen; das –
ohnehin nur winzige – Fähnlein der
nachwachsenden Berningers oder
Özdemirs wiederum wird notfalls
geschmeidig anderswo unterzuschlüp-
fen wissen. Für Sozialdemokraten mit
Selbstachtung und einem Minimum an
Geschichtsbewusstsein kann das keine
Perspektive sein. Den eigenen politi-
schen Laden, wenn es denn sein muss,
kurzerhand zu schließen ist eine Option,
die ihnen schlechterdings nicht offen
steht. Die SPD ist eine alte Partei – alt
geworden, weil sie sich immer wieder
rechtzeitig gewandelt hat. Noch älter
werden und dabei stark bleiben wird die
Sozialdemokratie deshalb auch in
Zukunft nur dann, wenn es ihr auch
weiterhin gelingt, eng am Pulsschlag
der Gesellschaft zu bleiben, die zu
gestalten sie beansprucht. „Kraftvolle
Parteien sind das Ergebnis kraftvoller
Anstöße, die sich aus historischen Lagen
ergeben”, hat der Politologe Wilhelm
Hennis sehr zu Recht aufgeschrieben.
Die fortgesetzte, nur noch mentalitäts-
geleitete Orientierung am schal gewor-
denen rot-grünen „Projekt” schadet, so
gesehen, der dringend nötigen Selbst-
vergewisserung der Sozialdemokratie
über ihre Ziele und strategischen Optio-
nen im 21. Jahrhundert.
Neues Nachdenken ist deshalb drin-
gend notwendig. Nirgendwo steht
geschrieben, dass eine Partei, deren
Wurzeln tief im 19. Jahrhundert liegen,
noch im 21. Jahrhundert zum selbstver-
ständlichen Inventar demokratischer
Politik gehören müsste. Das Gegenteil
ist viel wahrscheinlicher. Hervorgegan-
gen aus den Großkonflikten des Indu-
striezeitalters, sind gerade sozialdemo-
kratische Parteien existentiell darauf
angewiesen, den Wandel der Vorausset-
zungen des eigenen Erfolgs haargenau
im Blick zu behalten. Weil der Industria-
lismus mit seinen Einstellungen und
Mentalitäten Geschichte ist und auch
der rot-grüne Postmaterialismus an
sein Ende kommt, gilt das heute mehr
denn je.
Tobias Dürr
20
Wird es deshalb bald um die soziale
Demokratie geschehen sein? Nicht unbe-
dingt. Das Streben nach mehr gesell-
schaftlicher Gleichheit angereichert um
die Zuversicht, dieses größere Maß an
sozialer Egalität mit den Mitteln freiheit-
licher und demokratischer Politik tatsäch-
lich verwirklichen zu können – so könnte
man das Anliegen sozialdemokratischer
Politik in maximaler Verknappung
womöglich zusammenfassen. Dass für so
verstandene Politik kein Anlass mehr
bestünde, werden angesichts der unbe-
streitbaren Realität von Globalisierung,
von flexiblem und digitalem Kapitalis-
mus im Ernst nur die wenigsten behaup-
ten. Aber es kommt darauf an, intensiv zu
erfassen, was eigentlich geschieht. Dra-
matische Umbrüche der sozialen und
kulturellen Voraussetzungen demokrati-
scher Politik sind längst in vollem Gange.
„Es herrscht ein starkes, tief verwurzeltes
und weit verbreitetes Gefühl, dass es so
nicht weitergeht”, schreibt der liberale
Soziologe Ralf Dahrendorf. Künftig werde
der aufsteigenden „globalen Klasse” ein
Heer der dauerhaft Überflüssigen und
Ausgeschlossenen, Verlorenen und Hoff-
nungslosen gegenüberstehen, sagt er
voraus. Den einen geht es grenzenlos
glänzend, die anderen werden in der
neuen Ökonomie – anders als in der
untergehenden Ära des Industrialismus –
schlechterdings nicht gebraucht.Von den
„verbleibenden 40 Prozent, wenn es nicht
mehr sind”, spricht der liberale Soziologe:
„Sie vereinigen nämlich alle Nachteile auf
sich: niedrigere Einkommen, höhere
Arbeitslosigkeit, einen schlechten
Gesundheitszustand, größere Gefähr-
dung durch Unfälle, weniger Engage-
ment in öffentlichen Dingen und nicht
zuletzt mehr Bildungsprobleme mit ihren
Kindern.”
Es leuchtet auf Anhieb ein, dass diese
historisch beispiellose Konstellation
gerade Parteien wie die SPD ins Mark
treffen muss. Als historische Schrittma-
cher von Gleichheit und Fortschritt, für
die sie noch immer gehalten werden,sind
sie bei Strafe ihres Abstiegs darauf ver-
wiesen, weiterhin glaubwürdige „Zuver-
sicht in die Gestaltbarkeit der Zukunft”zu
vermitteln – gerade der gesellschaftli-
chen Mitte gegenüber, die sich vor unge-
steuertem Wandel und relativem Abstieg
fürchtet. Gleichzeitig aber belegen Wahl-
ergebnisse überall in Europa nur zu deut-
lich, dass sozialdemokratische Tradition
und Programmatik derzeit keine wirklich
überzeugenden Antworten auf die Phä-
nomene neuer Ungleichheit, Exklusion
und Entfremdung im postindustriellen
Kapitalismus bieten. In diesem Dilemma
6. Soziale Demokratie nach den Zeiten von Rot-Grün
Abschied von der rotgrünen Mentalität
21
behilft man sich im Wahljahr 2002 noch
einmal mit Bordmitteln und dem techno-
kratischen Jargon der Neuen Mitte – auf
die Dauer aber wird das nicht mehr genü-
gen.
„Die Globalisierung gestalten” wollen
heute alle Parteien, auch die SPD. Nichts
anderes müssen sie tun, um erfolgreich
zu bleiben. Aber niemand vermag so
richtig zu sagen, was so ein Satz bedeu-
ten soll, und viel spricht dafür, dass es
nicht zuletzt Leerformeln wie diese sind,
die das Vertrauen der Menschen in die
Gestaltungskraft demokratischer Politik
so gründlich untergraben – und sie in die
Arme der neuen Parteien der Angst trei-
ben. Doch wo man für die eigenen Prin-
zipien und Ziele keine eigenen Worte
mehr findet, da geht das Eigene irgend-
wann ganz verloren.Was sozialdemokra-
tisch ist in Deutschland und wie ein
unverwechselbar sozialdemokratischer
Kurs sozialer und ökonomischer Moder-
nisierung aussehen könnte, das wird
nach dem 22. September sehr gründlich
neu vermessen werden müssen. Mit
Koalitionsoptionen wird das nicht viel zu
tun haben, mit dem Abschied von der
schal gewordenen rotgrünen Mentalität
eine ganze Menge.
Literatur
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Walter, Franz, Die SPD: Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002
Walter, Franz und Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht: Wie die Politik in
Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000
Tobias Dürr, Dr. disc. Pol.,geb. 1965, Politikwissenschaftler und Publizist, arbeitet als Chefredakteur der Zeitschrift
„Berliner Republik“ in Berlin. Buchveröffentlichungen u.a.: Die CDU nach Kohl (Hrsg. mit
Rüdiger Soldt), Frankfurt/Main 1998; Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in
Deutschland ihren Boden verlor (mit Franz Walter), Berlin 2000.
Anschrift: Redaktion „Berliner Republik”, Stresemannstraße 30, 10963 Berlin.
E-Mail: [email protected]
Tobias Dürr
22
23
Ein Rückblick am Ende einer Legislatur-
periode des Bundestages auf Aufgaben-
felder wie etwa die Sozial-, Wirtschafts-,
Rechts-,Verteidigungs- oder Außenpolitik
wird sich auf die Schwerpunkte in der
politischen Auseinandersetzung und die
erfolgreichen oder gescheiterten Projekte
konzentrieren können. Auf allen diesen
Gebieten verfügt der Bund über ver-
gleichsweise solide Zuständigkeiten in
der Gesetzgebung, teilweise auch in der
Finanzierung oder Administration. Die
Steuerungsinstrumente geben ihm dabei
in jedem Fall ein wesentliches Überge-
wicht gegenüber den entsprechenden
Landeskompetenzen, soweit es in den
fünf erwähnten Politiksektoren über-
haupt Landeszuständigkeiten gibt – was
für die Verteidigungspolitik nicht zutrifft.
Der Bundesrat wirkt nicht nur in Ange-
legenheiten, in denen ausgedehnte Län-
derzuständigkeiten bestehen, sondern
allgemein an der Bundesgesetzgebung
mit. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan.
Seine Mitwirkungsstellung ist bei Bun-
desgesetzen besonders stark, die seiner
Zustimmung bedürfen. Im letzten Jahr
der 1998 begonnenen Legislaturperiode
ist dies z.B. bei der Gesetzgebung zur
Zuwanderung politisch sichtbar gewor-
den. Noch deutlicher spürbar ist das Län-
dergewicht selbstverständlich dort,wo es
nicht nur um die Mitwirkung an der Bun-
desgesetzgebung geht, sondern den Län-
dern große Zuständigkeitsbereiche zur
eigenen Gestaltung vorbehalten sind.
Das ist in unterschiedlichem Umfang z. B.
in Fragen der Schule, der Berufsbildung
und der Wissenschaft der Fall.
Gesetzgebungszuständigkeiten des
Bundes gibt es nach dem Grundgesetz,
das sich insoweit deutlich von der Wei-
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
Modernisierung und Erneuerung unterden Bedingungen der föderativen Politikverflechtung
von Klaus Faber
I. Rahmenbedingungen für die Willensbildung
1. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern: Voraussetzungen für die politische Veränderung
Klaus Faber
marer Verfassung unterscheidet, auf die-
sen Gebieten im wesentlichen nurfür die
außerschulische Berufsbildung (unter
Inanspruchnahme der Zuständigkeiten
für das Recht der Wirtschaft und für das
Arbeitsrecht), für die Förderung der wis-
senschaftlichen Forschung, von denen
u.a. mit den Bestimmungen über die
Drittmittelforschung im Hochschulrah-
mengesetz nur sehr zurückhaltend
Gebrauch gemacht worden ist, für die
Ausbildungsbeihilfen, auf denen das
Bundesausbildungsförderungsgesetz be-
ruht, für Rahmenvorschriften über die all-
gemeinen Grundsätze des Hochschulwe-
sens, welche die Hauptgrundlage für das
Hochschulrahmengesetz bilden, und für
Besoldungsregelungen, die vor allem für
die Besoldung des beamteten Hoch-
schulpersonals Bedeutung haben.
Von den 1969 eingeführten Gemein-
schaftsaufgaben von Bund und Ländern
sind in dem hier interessierenden Zusam-
menhang die Gemeinschaftsaufgaben
Hochschulbau, Bildungsplanung und For-
schungsförderung relevant. Die Aus-
führung von Bundesgesetzen oder die
Umsetzung von Planungsbeschlüssen
durch die Länder bei den Gemeinschafts-
aufgaben ist, soweit nicht das Grundge-
setz im Einzelfall etwas anderen
bestimmt, Sache der Länder, ebenso die
Wahrnehmung aller übrigenAufgaben,
für die das Grundgesetz dem Bund keine
Kompetenzen zugewiesen hat. Das gilt
insbesondere für den Schulbereich, für
den, abgesehen von unbedeutenden
Ausnahmen, die Länder allein zuständig
sind (vgl. zur Kompetenzverteilung
Glotz/Faber, S.1393 ff.).
Auch die Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts zu den Grundrechten
des Grundgesetzes leistet wesentliche
Beiträge zum bildungs- und wissen-
schaftspolitischen Entscheidungsprozeß,
vor allem im Hochschulwesen, z.B. für die
Hochschulzulassung oder die Hochschul-
organisation. Eine große Rolle spielt darü-
ber hinaus die Selbstkoordination der
Länder insbesonderein der Kultusmini-
sterkonferenz, die zwar keine die Landes-
regierungen oder gar die Länderparla-
mente bindenden Entscheidungen tref-
fen kann, durch ihre zahlreichen oft sehr
detaillierten Beschlüsse aber de facto in
weiten Bereichen die Landespolitik vor-
formt (zu beiden Aspekten – Vereinheitli-
chung durch Grundrechte und durch Län-
derselbstkoordination – vgl. Glotz/Faber,
S. 1396 ff.).
Der starke Ausbau einer dritten Ebene
zwischen dem Bund und den einzelnen
Ländern ist ein besonderes, international
auffälliges Merkmal im deutschen födera-
tiven System. Es ist historisch auf den Exe-
kutiv- und Bürokratieföderalismus der Bis-
marckzeit – zum Teil auf noch ältere Wur-
zeln – zurückzuführen. Koordinations- und
24
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
25
Verflechtungsinstanzen kennen auch
andere föderativ organisierte Staaten. Aus-
maß und Dichte des Verflechtungsnetzes
übersteigen jedoch in Deutschland das für
ältere Bundesstaaten mit einer ausge-
prägt demokratisch-parlamentarischen
Tradition übliche Maß (Glotz/Faber, S. 1415
ff.). Die im Vergleich zu anderen Bundes-
staaten sehr weit gehende Mitwirkung der
Gliedstaaten an der Willensbildung des
Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebung
verstärkt die Exekutiv- und Bürokratieori-
entierung, die in der dritten Ebene ange-
legt ist. Dies wird vor allem dann deutlich,
wenn, wie dies in Deutschland häufig der
Fall ist, die politischen Mehrheiten im Bun-
destag und im Bundesrat nicht überein-
stimmen. Der in derartigen Konstellatio-
nen angelegte Zwang zur Bildung von All-
parteienkoalitionen schaltet den Parteien-
wettbewerb und damit einen unverzicht-
baren Innovationsmotor weigehend aus.
Er begünstigt die Neigung, Zustimmungs-
akte durch politisch fragwürdige Gegenlei-
stungen zu erkaufen – wie einst etwa bei
der früheren deutschen Königs- und Kai-
serwahl. Der Exekutiv- und Verflechtung-
scharakter in der deutschen föderativen
Bildungs- und Wissenschaftpolitik prägt
den Willensbildungsprozeß im Verfahren
und im Ergebnis, wie auch eine Bilanz zum
Erreichten und Nicht-Erreichten in der
Legislaturperiode des Bundestages von
1998 bis 2002 zeigen wird.
Politikverflechtung im deutschen Bun-
desstaat hat nicht nur im engeren Bereich
von Bildung und Forschung Auswirkun-
gen. Sie erklärt zumindest zum Teil Nei-
gungen in der deutschen politischen
Klasse zur Konsensbetonung und Kon-
fliktvermeidung, zur Medienorientierung,
zur Beharrung und zur langsamen Reak-
tion auf Veränderungsbedürfnisse, denen
man nicht allzu selten erst sehr spät und
im geringst möglichen Umfang nach-
kommt. Es geht bei der Kritik an diesen
Orientierungstendenzen, um mögliche
Mißverständnisse auszuschließen, nicht
darum, die durchaus legitime Abwägung
zwischen einer auch in den Zeitphasen
kontrollierten Veränderung („Sicherheit
im Wandel”, vgl. Müntefering, S. 5 ff.) und
einem eher schnell durchgeführten, radi-
kalen Umstellungskurs in Frage zu stellen.
Für die gemeinten problematischen Ori-
entierungsaspekte und ihre Ergebnisse
können als Einzelbeispiele – mit unter-
schiedlichem Gewicht – etwa die langan-
haltende, bis vor kurzem überwiegend
folgenlose Diskussion über die Tätigkeit
von Koranschulen oder über das seit vie-
len Jahren bekannte Defizit Deutschlands
bei den öffentlichen Ausgaben für die
Wissenschaft angeführt werden. Die
Debatte über die PISA-Studie der OECD
(vgl. Lernen für das Leben; zur Bewertung
der großen Vergleichsstudie s. Klemm)
zeigt genügend Ansätze für die Befürch-
Klaus Faber
26
Vor dem Hintergrund der Kompetenz-
verteilung zwischen Bund und Ländern ist
eine annähernd flächendeckend ange-
legte Bildungs- und Forschungspolitik des
Bundes kaum vorstellbar. Der euphorische
Aufbruchsduktus der frühen siebziger
Jahre ist längst passé, in denen die Bun-
desregierung der Bildungs- und Wissen-
schaftspolitik höchste Priorität einräumte
und den Anspruch erhob, das gesamte Bil-
dungswesen mitzugestalten. Einen
gemeinsamen Bildungsgesamtplan von
Bund und Ländern zu erarbeiten, beab-
sichtigt heute, anders als in den siebziger
Jahren, niemand mehr. Die erste Reaktion
auf die PISA-Studie der OECD hat zwar zu
Vorschlägen aus dem Bundestag an die
Bundesregierung geführt, regelmäßig
einen nationalen Bildungsbericht zu ver-
öffentlichen – eine Idee, die an den ersten
Bildungsbericht der Bundesregierung aus
dem Jahre 1970 anknüpft (zu einigen
damit verbundenen institutionellen und
inhaltlichen Aspekten vgl. Schlegel). Die
Antworten auf der Länderseite waren
jedoch zunächst überwiegend negativ.
Bildungspolitik, hier wiederum eher im
Sinne von Schulpolitik verstanden,sei Län-
dersache; die Zusammenfassung der bil-
dungspolitischen Darstellungen aus 16
Ländern ergebe den nationalen Bildungs-
bericht, so die von manchen Ländervertre-
tern zu hörende Kommentierung.
Das aktuelle Beispiel macht das
Dilemma deutlich, vor dem jede Bundes-
regierung steht und dem gegenüber vor
allem jede neugebildete Bundesregierung
eine Verhaltensstrategie entwickeln muß.
Wie Umfragen und Medienreaktionen
immer wieder zeigen, wird der Bund weit
über das tatsächlich vorhandene Maß an
eigenen Kompetenzen hinaus für den
tung, daß unter den Bedingungen der
föderativen Konsensfindung künftig auch
dieser Fall in dieselbe Erfahrungsreihe
eingeordnet werden muß.
Die Eingrenzung und Beschreibung der
Bilanzbereiche „Bildung und Forschung” –
richtet sich an der 1998 eingeführten
Namensgebung für das neu zugeschnit-
tene Bundesministerium aus, das schon in
der Regierungszeit von Helmut Kohl aus
zwei verschiedenen Ministerien gebildet
worden war. Bildung umfaßt dabei im eher
ungewöhnlichen Sinn u.a. die Bereiche
Schule, Berufsbildung, Hochschule und
Weiterbildung, Forschung demgegenüber
die außerhochschulische Forschung.
2. Bundespolitisches Gesamtkonzept für Bildung und Forschung:Spannungsverhältnis zwischen Modernisierungsziel und föderativer Willensbildung
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
Stand und vor allem für die Defiziteim
Schul- und Hochschulbereich verantwort-
lich gemacht. Gegenüber diesem Sachver-
halt sind, von den Extremen her gesehen,
zwei unterschiedliche Reaktionsmuster
denkbar: einerseits die Thematisierung
von Schwerpunktproblemen und
Lösungsansätzen durch die Bundespolitik
auch bei schwacher Kompetenzausstat-
tung des Bundes,etwa unter Berufung auf
eine gesamtstaatliche Aufgabe, anderer-
seits die Konzentration auf einige Gebiete
mit wichtigen Bundeskompetenzen, ver-
bunden mit der Abwehr einer weiterge-
henden Erwartung durch den wiederhol-
ten Hinweis auf die Landeszuständigkeit.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die
Bundespolitik für „Bildung und For-
schung” in der Regel zwischen den damit
beschriebenen Flügelpositionen bewegt.
Gebiete mit umfassenden Bundeskompe-
tenzen, etwa in der außerhochschulischen
Forschung, bildeten in diesem Rahmen
einen Aufgabenschwerpunkt der politi-
schen und administrativen Arbeit. Vor
allem im Schulbereich, dem Zentrum star-
ker Landeszuständigkeiten, war demge-
genüber der Bund politisch weniger prä-
sent. Der Hochschulsektor nimmt im Ver-
gleich zu den beiden genannten Berei-
chen der außerhochschulischen For-
schung und der Schulpolitik bei der Bund-
Länder-Kompetenzverteilung eher eine
Mittellage ein. Der Bund verfügt dort
sowohl über Finanzierungsmöglichkeiten,
etwa im Hochschulbau oder über die
ebenfalls zu den Gemeinschaftsaufgaben
zu rechnenden Hochschulsonderpro-
gramme, als auch über die Befugnis, Rah-
menvorschriften für die allgemeinen
Grundsätze des Hochschulwesens zu
erlassen (vgl. I. 1., S. 1 f.). Die Hauptfinanzie-
rungslast tragen insbesondere im Perso-
nalbereich aber nach wie vor die Länder.
Sie sind auch für die unmittelbar geltende,
ins Einzelne gehende Hochschulgesetzge-
bung zuständig.
Die Landeshochschulgesetzgebung hat
vor allem durch die 4. HRG-Novelle von
1998 an Bedeutung gewonnen, die noch
von der CDU/CSU-geführten Bundesre-
gierung konzipiert und durchgesetzt wor-
den war. Die Novelle von 1998 hat fast alle
Vorschriften zur inneren Hochschulorga-
nisation und zur Hochschulmitwirkung
aus dem Hochschulrahmengesetz gestri-
chen und damit den Ländern Freiräume
für eigene Regelungen eröffnet. Durch die
Novelle wurden, sozusagen als Ausgleich,
Orientierungsmaßstäbe, etwa für die Lei-
stungsorientierung bei der Hochschulfi-
nanzierung oder die Evaluation von For-
schung und Lehre, festgelegt, die auch auf
die Hochschulorganisation Auswirkungen
haben können. Die in diesem Punkt von
der Mehrheit der SPD-geführten Länder
mitgetragene 4. HRG-Novelle ist von der
rot-grünen Bundesregierung nach 1998
27
Klaus Faber
nicht korrigiert worden. Eine ins Gewicht
fallende bundespolitische Einflußnahme
auf die aktuelle Hochschulorganisati-
onsdebatte hat es, abgesehen von der
2002 eingebrachten Initiative zur bundes-
rechtlichen Absicherung der verfaßten
Studierendenschaft (vgl. II. 2., S. 10), seit
1998 nicht gegeben. Es geht bei der zur
Zeit von den Ländern umgesetzten Neu-
ordnung der Hochschulorganisation vor
allem darum, die Position der Hochschul-
leitung und die Hochschulautonomie zu
stärken sowie die Effizienz der Hochschul-
verwaltung zu verbessern (vgl. Faber,
Dezember 2000). Die Abgrenzung zwi-
schen der Hochschulselbstverwaltung
und außerhochschulischen Einflüssen,
etwa über einen vom Staat eingesetzten
Hochschulrat, sowie das Binnenverhältnis
zwischen Kollegialorganen und Exekutiv-
spitze der Hochschule stehen im Mittel-
punkt einer Verfassungsbeschwerde
gegen das Hochschulgesetz des Landes
Brandenburg. Die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts über die Verfas-
sungsbeschwerde kann eine wichtige
Grundatzorientierung für die künftige
Hochschulorganisation geben.
Die Abstinenz der Bundespolitik auf die-
sem Gebiet ist ein Indiz für die Absicht, in
der Hochschulpolitik insgesamt ein
zurückgenommenes Profil zu zeigen und
sich dort mehr auf konkrete Gesetzge-
bungs-, Finanzierungs- sowie andere Ein-
zelschritte zu konzentrieren. Dazu paßt
die nach der Kompetenzlage und der Bun-
desratsstellung nachvollziehbare, zum Teil
notwendige Position, für wichtige Vorha-
ben vor allem in der Gesetzgebung Kom-
promisse mit den von der CDU/CSU
geführten Ländern, z.B. durch eine vorbe-
reitende Abstimmung im Rahmen der Kul-
tusministerkonferenz oder von Sachver-
ständigenkommissionen, zu suchen. Eine
alle wesentlichen Hochschulfragen
umfassende Gesamtkonzeption des Bun-
des zur Hochschulpolitik war demgegenü-
ber weniger deutlich zu erkennen.
Noch klarer als im Hochschulwesen
bestimmten im Schulbereich und in wei-
teren Bildungssektoren zumindest in den
ersten drei Jahren seit 1998 zurückhal-
tende Äußerungen das bundespolitische
Bild. Bildungspolitische Grundsatzpositio-
nen wurden auch auf diesem Gebiet unter
Berufung auf Eckwerte der sozialdemo-
kratischen Orientierung (u. a.: Chancen-
gleichheit beim Bildungszugang, Vermei-
dung von Benachteiligung einerseits und
Begabtenförderung andererseits, Wer-
tentscheidung für Demokratie und Tole-
ranz,Überwindung des überholten Rollen-
schemas von Frauen und Männern, Förde-
rung der Integration von Migranten, Prin-
zip des lebenslangen Lernens, vgl. Bul-
mahn, 2001, S. 223 ff.) durchaus vertreten.
Die Debatte wurde allerdings eher kon-
sensorientiert und weniger durch die Aus-
28
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
29
einandersetzung mit abweichenden Poli-
tikkonzepten geführt. Das „Forum Bil-
dung”, eine gemeinsame Bund-Länder-
Einrichtung im Rahmen der Bund-Länder-
Kommisssion für Bildungsplanung und
Forschungsförderung, hat in diesem
Bereich eine Plattform für Diskussionspro-
zesse und die Konsensfindung geschaffen.
Es weist in seiner Konstruktion und Prä-
sentation auf die Zuständigkeitsvertei-
lung des Grundgesetzes – insbesondere
auf das deutliche Übergewicht der Län-
derzuständigkeiten im Schulbereich – hin
und wehrt damit in gewisser Weise allzu
weit gespannte Erneuerungs- und Refor-
merwartungen ab,die sich unmittelbar an
den Bund richten.
Auf den ersten Blick enthält das damit
skizzierte Politikszenario mit einer
Schwerpunktsetzung in konkreten Einzel-
schritten auf Gebieten mit ausreichenden
Bundeskompetenzen überzeugende Ele-
mente, die auch die Konfliktpotentiale im
Bund-Länder-Verhältnis berücksichtigen.
Es enthält aber ebenso Risiken. Als verbin-
dendes Thema rot-grüner und insbeson-
dere sozialdemokratischer Bundespolitik
dient aus verschiedenen, hier nicht im
einzelnen auszuführenden Gründen die
Orientierung am Ziel der „Modernisie-
rung”, des Ausgleichs von „Innovation und
Gerechtigkeit” oder der Vermittlung von
„Sicherheit im Wandel” (vgl. I. 1., S. 3). Dies
setzt in den einzelnen Politikfeldern eine
dem Leitthema entsprechende, überzeu-
gende und geschlossene Konzeption vor-
aus, die bei geeigneter Gelegenheit – und,
mit Blick auf Wahlen, rechtzeitig – offen-
siv und profilbildend gegenüber anderen
Positionen im Parteienwettbewerb dar-
gestellt werden muß. Eine derartige Ziel-
setzung steht jedoch in einem deutlichen
Spannungsverhältnis zu den Regeln für
die politische Willensbildung, die unter
den Bedingungen der föderativen Poli-
tikverflechtung im Bildungssystem– mit
einer Tendenz zum Einstimmigkeitsprin-
zip – gelten.
Sichtbar werden das Spannungsver-
hältnis und dabei ebenso die Risiken der
geschilderten Bundespolitikorientierung
u.a. dann, wenn die öffentliche Debatte
die föderative Grenzziehung der Zustän-
digkeiten überschreitet und, zu Recht
oder zu Unrecht, gesamtstaatliche Ent-
scheidungen über die Kompetenzgrenzen
hinweg verlangt. Derartige Tendenzen
zeigt z.B. die Diskussion um die PISA-Stu-
die (vgl. II. 2., S. 11 f.; III., S. 16 f.). Im folgen-
den sollen die damit beschriebenen Kon-
fliktlagen, exemplarisch und in der
Gesamtbilanz von Modernisierungserfol-
gen oder -defiziten sowie in denHand-
lungsperspektiven, für die Bereiche Bil-
dung und Forschung geschildert und
bewertet werden.
Klaus Faber
30
Der Ausgabenansatz des Bundesmini-
steriums für Bildung und Forschung im
Bundeshaushalt beträgt im Jahr 2002
rund 8,8 Mrd Euro. Im Vergleich zu 1998,
dem letzten Jahr der von der CDU/CSU
und FDP gebildeten Bundesregierung, ist
das eine Steigerung um etwa 15,5%. Der
Bildungs- und Forschungshaushalt des
Bundes hat damit in der Bundesrepublik
Deutschland seinen bislang höchsten
Stand erreicht (vgl.Tabelle, in:Versprochen
und Wort gehalten, S.167). Die beachtliche,
von der zuständigen Bundesministerin
Edelgard Bulmahn mit Geschick und
Fortune durchgesetzte Erhöhung des Etat-
volumens belegt nicht nur, daß eine
wesentliche Zielsetzung in den program-
matischen Aussagen vor der Wahl und im
rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998
(vgl. Aufbruch und Erneuerung) erreicht
wurde. Sie macht über die im engeren
Sinne finanzpolitische Dimension hinaus
Qualität und Tragweite des Kurswechsels
nach 1998 deutlich.
Die Ausgaben des Bundes für Bildung
und Forschung wurden von 1993 bis 1998
um rund 700 Mio DM gekürzt. Der Anteil
der Ausgaben für Forschung und Entwick-
lung am Bruttoinlandsprodukt betrug
19872,9 %, 1997 nur noch 2,3 %, was auch
der Wissenschaftsrat unter Hinweis auf
die langfristig wirkenden, problemati-
schen Folgen kritisiert hat (Wissenschafts-
rat, S. 51 f.). Deutschland liegt beim Anteil
der Studierenden an der Gesamtbevölke-
rung weit hinter vielen europäischen Staa-
ten; der entsprechende Anteil am jeweili-
gen Altersjahrgang ist nach OECD-Studien
auch jetzt noch deutlich niedriger als in
einer ganzen Reihe vergleichbarer Länder,
darunter den USA, Japan, Südkorea, Finn-
land oder Schweden (vgl. OECD: Bildung
auf einen Blick; Zukunft der Wissenschaft,
S. 7 f., S. 38 f.; Teichler). Bei den Anteilen des
Wissenschaftsbereichs am Bruttoinlands-
produkt befindet sich Deutschland ebenso
am unteren Ende der OECD-Plazierung.
Das deutsche Defizit bei den Studieren-
denanteilen wird durch die traditionell
hohe Qualität der Berufsbildung in Teilbe-
reichen zur Zeit vielleicht noch ausgegli-
chen oder zumindest reduziert. Wie in
anderen Ländern wird sich allerdings auch
in Deutschland der tertiäre Bereich aus
verschiedenen Gründen zu Lasten der
Berufsbildung ausdehnen (vgl. Zukunft
der Wissenschaft, S. 7 f.). Zu der Zielset-
zung, die Studierendenanteile zu erhöhen,
gibt es also keine auf Dauer tragfähige
Alternative.
II. Erfolge und Mißerfolge der Bundespolitik
1. Finanzpolitischer Kurswechsel
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
Der 1998 vollzogene Kurswechsel in der
Haushaltspolitik des Bundes war vor allem
notwendig, um den Rückstand Deutsch-
lands in der Qualifikationsstruktur der
Bevölkerung aufzuholen und damit die
internationale Wettbewerbsfähigkeit zu
sichern. Der Bundeshaushalt kann zu die-
ser Zielsetzung allerdings nur einen Bei-
trag leisten. Ohne diesen Beitrag ist jedoch
eine Änderung auf Ebene der Landeshaus-
haltspolitik für die Gebiete von Bildung
und Forschung kaum zu erwarten. Verglei-
chende internationale Untersuchungen
belegen immer wieder, daß sich die Inve-
stitionen eines Landes in Bildung, Wissen-
schaft und Forschung auf den Weltmärk-
ten auszahlen. Der internationale Trend
zur Erhöhung des Studenten- und Akade-
mikeranteils – als Teil der allgemeinen Ver-
besserung des Qualifikationsniveaus – hat
sich deshalb in vielen entwickelten Län-
dern durchgesetzt. Es geht bei dieser Frage
seit langem nicht mehr um das „Ob”, son-
dern nur um das „Wann”. Der rasche Über-
gang in die „Wissensgesellschaft” ist eine
zentrale Modernisierungsvoraussetzung
für die Gesamtgesellschaft. Länder, welche
die neue Entwicklung später als andere
aufnehmen, also, wie Deutschland jeden-
falls bis 1998, zu wenig oder zu spät in Bil-
dung und Forschung investieren, werden
die negativen Folgen auf den internationa-
len Märkten und auch auf anderen Gebie-
ten zu tragen haben.
Die Defizite Deutschlands bei den Bil-
dungs- und Forschungshaushalten sind
vor 1998 auf der Bundesebene auch in den
einzelnen Gestaltungsinstrumenten sicht-
bar geworden, soweit diese einen Finan-
zierungsbeitrag leisten. Die Finanzierung
des Hochschulbaus, gefördert im Rahmen
der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe
für den Hochschulbau, war vor 1998 redu-
ziert und dabei auch die Ausstattung mit
neuen Geräten vernachlässigt worden.
Vergleichbares gilt u.a. für die Ausbil-
dungsförderung, die 1998 einen Tiefstand
erreicht hatte. Auf den beiden genannten
Gebieten sind seit 1998 erhebliche Steige-
rungen in den Mittelansätzen erfolgt.
Wichtige Zukunftsinvestitionen werden
mit den Zinsersparnissen finanziert, die
sich daraus ergeben, daß die Erlöse aus der
Versteigerung der UMTS-Lizenzenfür den
Abbau von Bundesschulden verwandt
werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei in
Investitionen für Forschung und Bildung.
Zu nennen sind im Rahmen des dreijähri-
gen Zukunftsinvestitionsprogramms (2001
bis 2003) u.a. die Ansätze im Bundeshaus-
halt 2002 für die Genomforschung (etwa
56 Mio Euro), für die Zukunftsinitiative
Hochschule (über 180 Mio Euro), mit der
attraktive Arbeitsbedingungen in der For-
schung insbesondere für den Wettbewerb
um Spitzenkräfte geschaffen werden sol-
len, und die Zukunftsinitiative für Berufli-
che Schulen (etwa 40 Mio Euro).
31
Klaus Faber
32
Im Vordergrund der hochschulpoliti-
schen Aktivitäten stand in der neuen,
1998 begonnenen Legislaturperiode des
Bundestages die Reform des „Dienst-
rechts” an den Hochschulen. Gemeint ist
mit dieser Bezeichnung – gegen die Ver-
mutung, die der Begriff selbst nahelegt –
vor allem die Reform der Hochschulper-
sonalstruktur, dabei insbesondere die
Neuregelung des Qualifikationsweges
zur Professur, und der Hochschullehrer-
besoldung (vgl. Bulmahn, 2000). Eine
Sachverständigenkommission hatte,
unter nicht-stimmberechtigter Beteili-
gung der Länder und von Verbänden, bis
zur Mitte der Legislaturperiode Neuord-
nungsvorschläge vorbereitet. Diese
waren die Grundlage für Abstimmungs-
gespräche mit den Ländern in der Kultus-
ministerkonferenz und, insbesondere für
das Besoldungsrecht, auch in anderen
Zusammenhängen. Federführend war
für denjenigen Teil der Gesetzesinitiati-
ven, der die Hochschulpersonalstruktur
betrifft und durch eine Änderung des
Hochschulrahmengesetzes umgesetzt
werden mußte, das Bundesministerium
für Bildung und Forschung, für die Besol-
dungsregelungen demgegenüber das
Bundesinnenministerium.
Von Anfang an war es das Ziel der Bun-
desregierung, auch mit Rücksicht auf den
Bundesrat, in dem seit den Niederlagen
in einigen Landtagswahlen zu Beginn der
Legislaturperiode die sozialdemokratisch
geführten Länder keine Mehrheit mehr
hatten, eine Einigung mit den von der
CDU/CSU regierten Ländern herbeizu-
führen. Für die Besoldungsregelung, die
im Rahmen der Reform des „Hochschul-
dienstrechts” angestrebt wurde und
durch eine Änderung des Bundesbesol-
dungsgesetzes vollzogen werden sollte,
war in jedem Fall die Zustimmung des
Bundesrates erforderlich. Die vorgese-
hene Änderung des Hochschulrahmen-
gesetzes war dann zustimmungspflich-
tig, wenn in ihr das Verfahren oder die
Behördeneinrichtung im Landesbereich
geregelt werden sollten; sie konnte zur
Not, mit Auswirkungen auf den Inhalt,
der bei dieser Variante keine Verfahrens-
regelungen enthalten durfte, auch ohne
Zustimmung des Bundesrates erfolgen.
Die Bundesregierung ist in der Tat der
Auffassung, daß die vom Bundestag 2001
beschlossene Änderung des Hochschul-
rahmengesetzes – die 5. HRG-Novelle –
nicht zustimmungspflichtig sei. Dies ist
allerdings eine Position, die von denjeni-
gen Ländern nicht geteilt wird, die von
der CDU/CSU geführt werden.Der darin
liegende Dissens kann nach den Bundes-
tagswahlen unter Umständen zu einer
2. Bildung (Hochschule, Berufsbildung, Schule)
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
Auseinandersetzung vor dem Bundesver-
fassungsgericht führen, da der Bundesrat
der 5. HRG-Novelle nicht zugestimmt hat.
Die Änderung des Bundesbesoldungsge-
setzes zur Neuordnung der Professoren-
besoldung hat auf der anderen Seite die
Zustimmung des Bundesrates erhalten.
Darin wird deutlich, daß wesentliche
Grundpositionen der beiden Novellen zur
Reform des „Hochschuldienstrechts” auf
einem in langwierigen Verhandlungen
ausgehandelten Kompromiß beruhen,
trotz einiger Vorbehalte der CDU/CSU-
regierten Länderzur 5. HRG-Novelle ins-
besondere zur Abschaffung der Habilita-
tion.
Vom Konsens getragen sind dement-
sprechend die Hauptelemente der bei-
den Novellen: eine neue Besoldungsrege-
lung für Professoren mit erweiterten lei-
stungsbezogenen Elementen und die
Einführung der neuen Personalfigur einer
Juniorprofessur für die Qualifizierung des
wissenschaftlichen Nachwuchses. Der
neue Qualifikationsweg wird, so die Vor-
stellung der Bundesregierung, nach einer
längeren Übergangsphase das Habilitati-
onsverfahren ersetzen – der weiterbeste-
hende politische Dissens bezieht sich in
diesem Punkt auf die Frage, ob neben
dem neuen Amt in einigen Bereichen die
Habilitiation erhalten bleiben soll. Die
Neuordnung des Qualifikationsweges
zur Professur war bereits vor 1998 von
verschiedenen Teilnehmern an der
öffentlichen Debatte gefordert worden,
auch in Stellungnahmen des Wissen-
schaftsrats oder von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft. Die Reform auf
den Weg gebracht und umgesetzt zu
haben, wird im Rück- und Ausblick neben
dem finanzpolitischen Kurswechsel, der
allerdings nicht nur den Hochschulbe-
reich betrifft, der wichtigste hochschul-
politische Erfolg der Legislaturperiode
von 1998 bis 2002 sein, trotz der Kritik aus
verschiedenen Richtungen, etwa derjeni-
gen der CDU/CSU-Länder oder von der
Gewerkschaftsseite, die eine weiterge-
hende Reform u.a. mit dem Ziel gefordert
hatte, eine attraktive neue Position für
den akademischen „Mittelbau” einzu-
führen. Der wissenschaftliche Nach-
wuchs wird im übrigen, soweit hier Initia-
tiven außerhalb des Gesetzgebungsbe-
reichs anzusprechen sind, auch durch
besondere Bundesprogramme gefördert,
die finanzielle Unterstützung gewähren (
Emmy-Noether-Programm der DFG; Pro-
gramm „PHD – Promovieren in Deutsch-
land”; vgl. auch Deutsche Nachwuchs-
wissenschaftler in den USA). Nicht ganz
so deutlich wird der Erfolg für die Reform
der Professorenbesoldung festgestellt
werden können. Problematische Zuge-
ständnisse bei der Kompromißbildung,
die wegen der Bundesratsmehrheiten
notwendig war, werden z. B. in der im
33
Klaus Faber
Bundesgesetz offen gelassenen Frage
sichtbar, ob die Länder im Fachhochschul-
bereich nur ein neues Professorenamt
oder, wie an den Universitäten, zwei
Ämter einführen. Die nach der Neuord-
nung erforderliche Leistungsmessung für
die Professorenbesoldung wird sich
zudem in einigen Sektoren in der Länder-
und Hochschulpraxis bewähren müssen
(wozu von der Bundesregierung Orientie-
rungshilfen gegeben werden, vgl. Lei-
stungsbegutachtungssysteme an staatli-
chen US-Universitäten).
Für die politische Willensbildung, den
Verlauf der öffentlichen Auseinanderset-
zung und die Umsetzung der gesetzli-
chen Neuregelungen hat sich der Zeit-
punkt für die Verabschiedung der
Gesetze am Ende der Legislaturperiode
als ungünstig erwiesen. Dies gilt auch für
die Diskussion über die neuen Vorschrif-
ten für Zeitverträge an Hochschulen und
Forschungseinrichtungen in der 5. HRG-
Novelle. Die öffentliche, zum Teil überzo-
gen formulierte Kritik betraf die im
neuen Gesetz vorgesehene Obergrenze
von 12 Jahren für Zeitverträge;diese Ober-
grenze schließe, so die Behauptung, in
einigen Bereichen die nach altem Recht
gegebenen, längeren Beschäftigungs-
möglichkeiten in befristeten Arbeitsver-
hältnissen ohne praktikable Alternative
aus. Eine gesetzliche „Klarstellung”, die
im Rahmen der 6. HRG-Novelle erfolgen
soll, wird nach den Vorschlägen des Bun-
desministeriums für Bildung und For-
schung den Beschwerden abhelfen. Die
in diesem Zusammenhang geäußerte
Kritik (vgl. dazu etwa Kühne) richtet sich
wohl weniger gegen die beanstandete
Zeitvertragsregelung selbst, als gegen die
Vermittlung der Neuregelung und der
gesamten hochschul- und forschungspo-
litischen Politikkonzeption. Der Zeitpunkt
der Debatte – einige Monate vor der Bun-
destagswahl – erklärt dabei zum Teil die
Schärfe der Argumentation.
Für die Schwerpunkte der von der Bun-
desregierung im Jahre 2002 eingebrach-
ten 6. HRG-Novelle – die bundesrechtli-
che Festschreibung der verfaßten Studie-
rendenschaft in allen Ländern und des
Verbots von Studiengebühren für das
erste berufsqualifizierende Studium –
wird ein Kompromiß mit den von der
CDU/CSU geführten Ländern nicht mög-
lich sein. Die Bundesregierung hatte seit
1998 immer wieder – erfolglos – versucht,
eine Staatsvertragsregelung mit den Län-
dern zu vereinbaren, nach der sich diese
auf eine Gebührenverbotsvariante festle-
gen sollten. Bei einem Teil der Studieren-
den gibt es Vorbehalte zum Vorschlag der
Bundesregierung für ein Studienge-
bührenverbot, weil es, so die Argumenta-
tion, nicht weit genug gehe, nur das Erst-
studium betreffe und – zum Beispiel –
Regelungen über Studienkonten zulasse.
34
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
Die Gesetzesinitiative ist von der Bundes-
regierung so angelegt, daß sie nicht der
Zustimmung des Bundesrats bedarf.
Auch auf diesem Gebiet sind verfas-
sungsrechtliche Auseinandersetzungen
nicht auszuschließen.
Mit der von der Bundesregierung
durchgesetzten Reform des Ausbildungs-
förderungsgesetzes ist die längst fällige
Verbesserung der Studienförderung
erreicht worden (vgl. Versprochen und
Wort gehalten, S. 168 ff.). Das kommt vor
allem Jugendlichen aus Familien mit
geringerem Einkommen zu gute. Für die
Ausbildungsförderung stehen jährlich
810 Mio Euro mehr als früher zur Verfü-
gung. Etwa 81 000 Studierende sind
dadurch zusätzlich in die Förderung auf-
genommen worden. Das Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung hatte
sich ursprünglich mit allen Ländern in der
Kultusministerkonferenz auf eine noch
weiter gehende Neuordnung geeinigt,
die auch Elemente einer elternunabhän-
gigen Förderung enthielt (nach dem
„Dreikörbemodell”). Ein derartiger,
„großer” Wurf war jedoch innerhalb der
Bundesregierung nicht durchzusetzen.
Der Erfolg der in zwei Gesetzesnovellen
1999 und 2001 schließlich realisierten
Reform des Bundesausbildungsförde-
rungsgesetzes kann aber in der Bilanz
nicht deshalb in Frage gestellt werden,
weil ursprünglich eine noch bessere
Lösung angestrebt wurde. Das Problem
lag in diesem Fall nicht im Bereich der
föderativen Politikverflechtung, sondern
betraf die Ressortkoordination innerhalb
der Bundesregierung.
Auf dem Gebiet der beruflichen Bil-
dung sind ab 1998, in Anknüpfung an
schon früher eingeleitete Schritte, neue
Ausbildungsberufe geschaffen und
damit, vor allem im Rahmen des Bünd-
nisses für Arbeit, die Modernisierungs-
ansätze intensiviert worden. Das bereits
erwähnte Zukunftsinvestitionspro-
gramm der Bundesregierung wird eine
Ausstattung von Berufsschulen auch im
Bereich der neuen Medien verbessern.
Das Sofortprogramm zum Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit hat sich bewährt.
Seit 1999 haben etwa 377 000 Jugendli-
che an verschiedenen ausbildungs- und
beschäftigungsfördernden Maßnahmen
teilgenommen. Besondere Bedeutung
hatten und haben die Bund-Länder-
Initiativen für Ostdeutschland.
Die PISA-Studie hat, für die Medien
eher unerwartet, die Schulpolitik wieder
zu einem wichtigen Thema der öffentli-
chen Debatte gemacht. Die für den Som-
mer 2002 angekündigte Folgestudie zu
den Ergebnissen in den einzelnen deut-
schen Ländern wird den Fragenkomplex,
mitten im Wahlkampf, erneut in die Dis-
kussion bringen. Im Vergleich zu den Bil-
dungsystemen vieler anderer OECD-
35
Klaus Faber
Staaten liegt Deutschland nach der PISA-
Untersuchung deutlich zurück. Das deut-
sche Schulsystem produziert unterdurch-
schnittliche Leistungen in allen Untersu-
chungsbereichen, also auf dem Gebiet
der Lesekompetenz, in der Mathematik,
in den Naturwissenschaften und bei der
Anwendung des Erlernten im Alltag. Das
deutsche Schulsystem ist nach dem
internationalen Vergleich ungerechter als
das Schulwesen in vielen anderen Län-
dern. Die soziale Herkunft entscheidet in
Deutschland weitaus mehr als in den
zum Vergleich herangezogenen anderen
Staaten über den Bildungserfolg. Verzö-
gerungen in der Bildungslaufbahn gibt
es in Deutschland besonders häufig.
Sowohl in den Spitzenleistungen als auch
bei den schwächeren Schülern zeigt
Deutschland unterdurchschnittliche
Werte. Auffällig ist, daß Länder mit Spit-
zenergebnissen wie Finnland, Kanada,
Neuseeland, Australien oder Irland über
ein Schulwesen verfügen, in der die
Schüler bis mindestens zur 9. Klasse
gemeinsam in eine Schule gehen. Der in
den einzelnen deutschen Ländern unter-
schiedlich ausgeprägte, aber insgesamt
hochselektive Charakter des deutschen
Bildungswesens hat sich also in der
Bilanz nicht als leistungsfördernd erwie-
sen. Es überrascht in diesem Zusammen-
hang kaum, daß nach der PISA-Studie,
wie bereits frühere OECD- und andere
Untersuchungen bestätigt haben,
Deutschland beim Anteil sowohl der
Hochschulabsolventen als auch der Stu-
denten am jeweiligen Altersjahrgang ein
Defizit aufweist. Deutschland liegt nach
dem internationalen Vergleich sowohl in
qualitativer – bei den Einzelleistungen
nach der PISA-Studie – als auch in quanti-
tativer Hinsicht – nach dem jeweiligen
Anteil derjenigen,die über bestimmte Bil-
dungsabschlüsse verfügen – im durch-
schnittlichen Ausbildungsniveau der
Bevölkerung im unteren Drittel der unter-
suchten Länder. Seine frühere Spitzenpo-
sition in Bildung und Wissenschaft etwa
in den zwanziger oder zu Beginn der
dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, auf
der Grundlage des Schulkompromisses in
der Weimarer Verfassung und vor der Ver-
folgung der Juden, hat es inzwischen
längst verloren (vgl. zu den kulturellen
Aspekten Nida-Rümelin; zu der in diesem
Zusammenhang aufschlußreichen Ent-
wicklung des Spannungsverhältnisses
zwischen der Erziehungswissenschaft
und der Bildungspolitik in Deutschland s.
Weiler).
Die Bundesregierung setzt seit 1998 auf
eine abgestimmte Politik der bildungspo-
litischen Veränderung im „Forum Bil-
dung” (siehe I. 2., S. 5) und betont, vor
allem nach der Veröffentlichung der PISA-
Studie, damit einen „Anstoß zu einer
neuen Bildungsreform” gegeben zu
36
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
37
Eine deutliche Steigerung der Haus-
haltsansätze ist im Rahmen des finanz-
politischen Kurswechsels seit 1998 auch
im Bereich der Forschungsförderung
erfolgt. Die Förderung zentraler Schlüs-
seltechnologien spielt dabei eine beson-
dere Rolle. Beispiele dafür sind die IT-For-
schung, die Nanotechnologie, die Mate-
rialforschung oder die Biotechnologie.
Die Genomforschung und die Life Scien-
ces bilden ebenso Schwerpunktbereiche.
Das Nationale Genomforschungsnetz
verzahnt Grundlagenforschung und kli-
nische Forschung. Molekularbiologen,
Mediziner oder Chemiker arbeiten
zusammen, um für verbreitete Krankhei-
haben. Prioritäre Handlungsfelder sind, so
die Position der Bundesregierung auf der
Grundlage der Empfehlungen des Forums
Bildung, die frühe und individuelle Förde-
rung, die bereits im Kindergarten einset-
zen soll, eine Evaluation und Qualitätssi-
cherung z.B. durch die Einführung von Bil-
dungstests an Schulen oder in der Weiter-
bildung, die gezielte Unterstützung von
Kindern mit Migrationshintergrund oder
mit sozialer Benachteiligung sowie der
flächendeckende Ausbau eines Angebots
von Ganztagsschulen mit einem überzeu-
genden pädagogischen Konzept (Bul-
mahn, 2002). Bundeskanzler Gerhard
Schröder hat für den Ausbau von Ganz-
tagseinrichtungen auch im finanziellen
Bereich eine Unterstützung durch den
Bund in Aussicht gestellt (vgl. Schröder).
Ergebnisse im engeren Sinne sind in der
neuen schulpolitischen Debatte noch
nicht zu verzeichnen, wenn man einmal
von dem – durchaus vorhandenen –
Zusammenhang zwischen höheren
Hochschul- und Ausbildungsinvestitio-
nen des Bundes und der ebenso von den
neueren KMK-Beschlüssen verfolgten
Zielsetzung absieht, das Qualifikationsni-
veau, die Standardsicherung und den Bil-
dungszugang auch im Schulwesen zu
verbessern. Die öffentliche Diskussion hat
aber auf jeden Fall den Bund – anders als
in den ersten drei Jahren seit dem Regie-
rungswechsel von 1998 – wieder deutlich
in die Mitverantwortung für die Schulpo-
litik geführt – trotz der beschriebenen
Kompetenzschwächen auf diesem
Gebiet. Er wird künftig stärker an den
dadurch begründeten Erwartungen
gemessen werden, was voraussichtlich
auch die letzte Wahlkampfphase vor der
Bundestagswahl 2002 zeigen wird (vgl.
dazu etwa PISA – Aufforderung zum Han-
deln).
3. Forschung und Innovation
Klaus Faber
ten, wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankun-
gen oder Krebs, neue Verfahren in der
Prävention und in der Therapie zu ent-
wickeln.
Auf dem Gebiet der Gentechnik kam in
der öffentlichen Debatte ethischen und
rechtlichen Fragen eine größere Bedeu-
tung zu, wobei zunächst die Themen
„Stammzellenforschung” und „Präim-
plantationsdiagnostik” im Vordergrund
standen. Der „Nationale Ethikrat” hat in
diesem Bereich besondere Beratungs-
aufgaben. Die Abstimmung zwischen
den nationalen und den supranationalen
EU-Instanzen wird auf diesem Gebiet,
wie etwa die Diskussionum die EU-Bio-
patentrichtlinie zeigt, ein wachsendes
Gewicht erhalten.
Für die außerhochschulischen For-
schungseinrichtungen gibt es sowohl in
der Finanzierung als auch in der Gesetz-
gebung starke Bundeskompetenzen (vgl.
I.1., S. 1 f.). In diesem Sektor besteht, im
Gegensatz zum Hochschulwesen, zum
Elementar- oder zum Grundschulbe-
reich, nach dem internationalen Ver-
gleich kein wesentliches Finanzierungs-
defizit, intern und extern wohl aber aus-
geprägte Kritik an der „Versäulung” in
den verschiedenen Forschungsorganisa-
tionen von der Max-Planck- bis hin zur
Fraunhofer-Gesellschaft. Die Kritik bezog
und bezieht sich auch auf die bislang
geltenden Finanzverteilungsregeln und
die Ausrichtung der Forschungsschwer-
punkte. Zu wenig sei, so ein in diesem
Zusammenhang zu hörendes Beispiel, in
der Vergangenheit für die Entwicklung
der erneuerbaren Energien oder für die
Beurteilung der Risiken in der Kernener-
gie getan worden. Die neue „program-
morientierte Forschungsförderung”, eine
Variante der Projektförderung, soll
gegenüber der früheren institutionellen
Förderung Veränderungen voranbringen,
in der Programmsetzung, in der Finanz-
verteilung und in der Ausrichtung auf
den Wettbewerb. Kontrovers diskutiert
wurden und werden bei der vom Bun-
desministerium für Bildung und For-
schung auf den Weg gebrachten Neu-
ordnung insbesondere die dafür ver-
wandten Operationswerkzeuge – die
Verlagerung von Programmentschei-
dungsbefugnissen von unten nach oben,
ihre Auswirkungen auf die Personal-
struktur, die bislang, so einige Debatten-
teilnehmer, zu geringe Beteiligung
von externem Sachverstand sowie das
Verhältnis von Grundhaushalt und
Programmmittelzuweisung. Unabhän-
gigkeit für einzelne Forschungseinrich-
tungen durch einen ausreichenden
Grundhaushalt sei, so etwa die Gewerk-
schaften, auch eine Garantie dafür, dass
nicht nur main-stream-Trends Pro-
grammdefinition und Forschungsresul-
tat bestimmten.
38
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
39
Ob die programmorientierte For-
schungsförderung und die dem ent-
sprechende Reform der Helmholtz-Zen-
tren (der Großforschungseinrichtun-
gen) die erwarteten, wettbewerbsge-
prägten Ergebnisse erzielen, kann erst
zu einem späteren Zeitpunkt absch-
ließend beurteilt werden. Auffällig ist,
ein Punkt, der in der Debatte bislang
praktisch keine Rolle gespielt hat, daß
kaum ein Zusammenhang in der Ziel-
setzung der Veränderungen für die
Hochschulen einerseits – Verlagerung
von Haushalts- und Sachverantwor-
tung vom Land auf die Hochschule –
und für die Forschungseinrichtungen
andererseits – Verlagerung von Zustän-
digkeiten auf die nationale Ebene der
Forschungseinrichtungen – zu erken-
nen ist, wenn man einmal von der allge-
meinen Forderung nach Effizienz und
Leistung absieht. Eher das Gegenteil
scheint der Fall zu sein: ein Ausbau der
Versäulung auf einer höheren Ebene,
nämlich zwischen Hochschulen und
Forschungsinstituten, mit allen damit
verbundenen problematischen Folgen.
Vielleicht wirkt sich auf diesem Gebiet,
zumindest in der Diskussionsführung,
auch die Tatsache aus, daß sich der
Bund in der politischen Praxis weitge-
hend aus der Debatte über die Hoch-
schulorganisation zurückgezogen hat.
Falls und soweit diese Annahme zutref-
fen sollte, wäre in dem Rückzug des
Bundes ein negatives Entwicklungsele-
ment zu erkennen, das vor dem Hinter-
grund der historisch gewachsenen
Finanzierungs- und Organisationsver-
hältnisse trotz der inzwischen auf
anderen Gebieten erzielten Auflocke-
rungserfolge die „Versäulung” eher för-
dert, als ihr entgegenwirkt.
Besondere Innovationsbedeutung
hat die Nutzung und Verbreitung
moderner Informations- und Kommuni-
kationstechnologien in Wirtschaft und
Gesellschaft. Im Hochschulwesen, aber
auch in anderen Bildungsbereichen,
etwa in der Weiterbildung, stellt sie
eine wesentliche Voraussetzung z. B.
dafür dar, im entstehenden internatio-
nalen Bildungsmarkt mit Studien- und
anderen Angeboten überhaupt wettbe-
werbsfähig zu sein. Die Bundesregie-
rung hat auf diesem Gebiet seit 1998
neue Initiativen und Förderprogramme
auf den Weg gebracht. Dazu gehört u.a.
das Programm „Neue Medien in der Bil-
dung” zur Förderung der Lehr- und Lern-
software in den Schulen, Hochschulen
und in der Berufsbildung. Von der Bun-
desregierung mitgetragene Initiativen
haben dazu geführt, daß Ende 2001
nahezu alle Schulen an das Internet
angebunden sind.
Klaus Faber
40
Auch für die ostdeutschen Länder sind
seit 1998 die Ansätze im Bildungs- und
Forschungsteil des Bundeshaushalts
erhöht worden. Im Jahre 2001 waren dies
ungefähr 3,4 Mrd DM, was gegenüber
1998 einen Zuwachs von über 600 Mio
DM bedeutet (vgl.Versprochen und Wort
gehalten, S. 85). Die größten Anteile ent-
fallen dabei auf den Hochschulbau und
die Förderung der außerhochschulischen
Forschung.
Nach wie vor studieren im Vergleich zu
den westdeutschen Ländern in Ost-
deutschland noch zu wenig Jugendliche
– wobei, wie bereits geschildert,
Deutschland insgesamt bei den Studen-
tenanteilen im internationalen Vergleich
ein Defizit aufweist. Die ostdeutschen
Potentiale in der Industrieforschung lie-
gen in vielen Regionen hinter den ent-
sprechenden Kapazitäten im Westen
weit zurück. Gemessen an den Hoch-
schulausgaben pro Kopf der Bevölkerung
oder an den Haushaltsanteilen für die
Hochschulen belegen einige ostdeut-
sche Flächenstaaten einen Platz am
Ende der deutschen Leistungsskala.
Sachsen nimmt dort die erste, Mecklen-
burg-Vorpommern, das Land mit der
kleinsten Bevölkerungszahl in Ost-
deutschland, die zweite Position ein.
Trotz der Auswirkungen des dramati-
schen Geburtenrückgangs nach 1990,
des „Wendeknicks”, gibt es – infrastruk-
turpolitisch gesehen – keine sinnvolle
Alternative zum Ausbau von Wissen-
schaft und Forschung in Ostdeutsch-
land. Der umgekehrte Ansatz ist viel-
mehr richtig: Die demographische Per-
spektive zwingt dazu, die Begabungsre-
serven ganz auszuschöpfen – was in Ost-
deutschland bislang noch weniger als im
Westen gelungen ist.
Der Anteil der gesamtdeutschen Stu-
dierendenquote muß in jedem Fall
erhöht werden, um die internationale
Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Daß
über die Landesgrenzen hinaus mit
attraktiven Angeboten Bewerber für ein
Studium an ostdeutschen Hochschulen
motiviert werden können, zeigt beson-
ders deutlich die 1991 gegründete
Europa-Universität in Frankfurt/Oder.
Dort sind etwa 40% der Studierenden
Ausländer, mehr als an jeder anderen
deutschen Hochschule. Es gibt viel mehr
Bewerber aus dem Ausland, vor allem
aus Polen, als Studienplätze an der
Europa-Universität.
Auf diesem Gebiet, im Bereich der
Pflege der internationalen Beziehungen,
verfügt übrigens auch der Bund über
4. Aufbau in Ostdeutschland; Strukturverzerrungen zwischen den Ländern
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
41
In diesem Punkt verbindet sich die ost-
deutsche Problematik mit einem ande-
ren, regional übergreifenden Defizita-
spekt. Gemessen an den Ausgaben pro
Kopf der Bevölkerung ist die Kluft in der
Hochschulfinanzierung auch zwischen
den westdeutschen Flächenstaaten zu
groß geworden. Das Instrument der
Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau
hat nicht ausgereicht, um die Lücke –
annähernd – zu schließen. Vor dem Hin-
tergrund der Bildungs- und Wissen-
schaftsdefizite Deutschlands im OECD-
Vergleich gibt dieser Tatbestand Anlaß,
über eine neue Dimension des Bundes-
engagements nachzudenken, die den
Ausgleich von Strukturunterschieden in
ost- und westdeutschen Regionen zum
Ziel hat. Dies gilt verstärkt dann, wenn
die einzelnen Länder auch auf anderen
strukturpolitisch wichtigen Gebieten
unterschiedliche Positionen einnehmen.
Nach der 5. HRG- und der damit verbun-
denen Besoldungsnovelle ist eine derar-
tige Entwicklung u. a. bei den Entschei-
dungen über die schnelle oder verzö-
gerte Einführung der Juniorprofessur
sowie über die Ausstattung der Fach-
hochschulen mit Professorenämtern
möglich und in der Praxis in bestimmten
Bereichen bereits jetzt abzusehen (vgl. II.
2., S. 8 f.).
eigene Fördermöglichkeiten, die z.B. in
einem darauf zugeschnittenen Hoch-
schulsonderprogramm eingesetzt wer-
den könnten. Vergleichbares gilt aber
auch für andere Zielsetzungen derarti-
ger Sonderprogramme, etwa für die Ein-
richtung besonderer Kompetenzzentren
z.B. in Greifswald, Wittenberg oder in
Frankfurt/Oder, die mit der Erprobung
neuer Finanzierungsmodelle und Orga-
nisationsstrukturen verbunden sein
könnten.
Ein Teil der ostdeutschen Länder wird
den finanzpolitischen Anforderungen an
den notwendigen Infrastrukturausbau im
Hochschulwesen und bei den For-
schungsinstituten nicht gerecht (vgl.
Faber, Januar 2000). Alle ostdeutschen
Länder haben – im historischen Rückblick
auf die negativen Folgen der deutschen
Teilung für die ostdeutsche Wirtschaft
und aus gesamtstaatlicher, aktueller Sicht
– einen Anspruch darauf, daß sich der
Bund an den erforderlichen Maßnahmen
eines Lastenausgleichs beteiligt – wie
dies im Ansatz, aber sicherlich nicht der
Höhe nach auch unbestritten ist (vgl.
Thierse, S. 83 ff.; Faber, 2002).
III. Zwischenbilanz und Perspektiven
Klaus Faber
Die zuletzt angesprochene Überlegung
führt zu dem ersten Ansatz für eine Zwi-
schenbilanz: Der finanzpolitische Kurs-
wechsel von 1998 zugunsten deutlich
höherer Ansätze für die Bildung und For-
schung im Bundeshaushalt enthält eine
in der Öffentlichkeit viel zu wenig beach-
tete und gewürdigte positive Weichen-
stellung. Die Modernisierung in Bildung
und Forschung konnte und kann nur
erfolgreich sein, wenn sie einen wichti-
gen – nicht den einzigen – Aspekt im
deutschen Rückstand, das finanzielle
Defizit, erkennt und Änderungsmaßnah-
men einleitet. Der Bund hat dazu finanz-
politisch seit 1998 einen entscheidenen-
den Beitrag geleistet. Für die Länder läßt
sich dies nicht in gleicher Weise feststel-
len.
Zu den wichtigen positiven Bilanza-
spekten gehören ebenso die Neuord-
nung des Qualifikationsweges für den
wissenschaftlichen Nachwuchs, die
Reform der Ausbildungsförderung, die
Förderprogramme sowie die Modernisie-
rung in der dualen Berufsausbildung, die
Weiterführung des hier nicht im einzel-
nen darzustellenden Internationalisie-
rungsansatzes im Hochschulbereich
etwa im Rahmen des Bologna-Prozesses
oder auf dem Gebiet der neuen Studien-
abschlüsse (vgl. dazu Zukunft der Wissen-
schaft, S. 22 f.), Initiativen zur Herstellung
der Chancengleichheit zwischen Frauen
und Männern (vgl.Versprochen und Wort
gehalten, S. 233 f., Zukunft der Wissen-
schaft, S. 15 ff.), die Förderung der neuen
Medien, das starke, nicht nur im Finanz-
politischen sichtbare Engagement in der
außerhochschulischen Forschung, oder,
mit gewissen Einschränkungen (s. dazu I.
2., S. 5 f.), die Einrichtung eines Gremiums
für übergreifende bildungspolitische Fra-
gen, des Forums Bildung.
Eine Legislaturperiode ist auch für
wenigerehrgeizige Zielsetzungen zur
politischen Veränderung eine kurze Zeit.
Für die strukturellen Ansätze der 1998
eingeleiteten Erneuerung in Bildung und
Forschung ist sie in jedem Fall zu kurz.
Eine einigermaßen abgewogene, distan-
zierte Bewertung des Erreichten und des
(noch) Nicht-Erreichten wird die von der
Bundesregierung erzielten Erfolge nicht
gering einschätzen können. Probleme
und Schwierigkeiten, die auf dem Gebiet
von Bildung und Forschung in besonde-
rer Weise mit der föderativen Willensbil-
dung verbunden sind, können nur in
begrenztem Umfang der Verantwortung
der bundespolitischen Akteure zugeord-
net werden. An diesem Maßstab gemes-
sen wird man eine im Ergebnis beein-
druckende sachpolitische Zwischenbi-
lanz zu ziehen haben.
Zur Vermittlung und Darstellung der
politischen Positionen sowie der Erfolge
und der Mißerfolge stellen sich jedoch
42
Rot-grüne Zwischenbilanz für Bildung und Forschung
zum Teil Fragen. In einem wesentlichen
Aspekt, bei der geschilderten Zurückhal-
tung des Bundes gegenüber einer bil-
dungs- und forschungspolitischen
Gesamtkonzeption oder in Hochschulor-
ganisations- und Schulfragen (vgl. I. 2., S. 4
ff.), spielen Konstellationen eine Rolle, die
wiederum auf in langen Jahren gewon-
nenen Erfahrungen mit dem föderativen
Bildungssystem beruhen. Die PISA-Studie
hat die in der Bundeszurückhaltung
angelegten Grenzen, wohl zur Überra-
schung der politisch Verantwortlichen,
gesprengt. Die große bildungspolitische,
nicht immer nur im Konsens zu führende
Debatte ist, vielleicht nur für eine kurze
(Wahlkampf-) Zeit, zurückgekehrt. Für
Parteienformationen wie die SPD oder
auch die Grünen liegen darin Risiken und
Chancen. Chancen eröffnen sich vor
allem dadurch, daß mit dem Debatten-
feld „Übergang in die Wissensgesell-
schaft” ein zentraler Modernisierungsan-
satz für eine Politik angesprochen wird,
die sich an der Zielsetzung „Innovation
und Gerechtigkeit” orientieren will. Als
Leitthema kann dieser Ansatz allerdings
nur dann Erfolg haben, wenn er gegen
traditionelle Vorbehalte gegenüber Wis-
senschaftseinrichtungen oder ihren
Milieus und auch in der Finanzpolitik
durchgesetzt wird. Sozialdemokratisch
oder, allgemeiner, reform-orientierte Bil-
dungs- und Wissenschaftspolitik wird
zudem, wie geschildert (vgl. I. 2., S. 6), mit
dem Spannungsverhältnis zwischen wei-
tergehenden Modernisierungszielen für
und durch Bildung und Forschung sowie
dem ausgeprägt dezentralisierten, föde-
rativen System vor größere Herausforde-
rungen gestellt als eine auf dem politi-
schen Gegenpol angesiedelte struktur-
konservative Position (zu den damit ver-
bundenen Problemen der Politikverflech-
tung, der parlamentarisch-demokrati-
schen Legitimation und der Parteienkon-
kurrenz im föderativen Bildungssystem
vgl. Bericht der Bundesregierung vom 22.
2. 1978 sowie Glotz/Faber, S. 1415 ff.).
Es könnte sein, daß dieses Spannungs-
verhältnis künftig auch in der öffentli-
chen Diskussion über die Frage, wie es zu
dem deutschen Rückstand in Bildung
und Wissenschaft kommen konnte, eine
größere Rolle spielen wird. Eine reform-
orientierte Position wird sich in den Per-
spektivenfür die geplante Politik dem
damit beschriebenen Problem in jedem
Fall, nicht nur aus defensiv-abwehrenden
Gründen, stellen müssen – vor allem
wenn sie von einer sozialdemokratisch
geführten Bundesregierung vertreten
wird. Eine erste Konsequenz dieser Ein-
sicht wird es sein, daß die Bundespolitik
gesamtstaatliche Verantwortung für Bil-
dung und Wissenschaft – als Einheit jen-
seits der föderalen Kompetenzgrenzen
verstanden – übernehmen muß, z. B. mit
43
Klaus Faber
44
einem eigenen Bildungsberichtund nicht
nur durch Stellungnahmen für einstim-
mig/einvernehmlich beschließende Gre-
mienoder ebenso mit der weiterhin not-
wendigen haushaltspolitischen Prioritä-
tensetzung für Bildung und Forschung
(vgl. Zukunft der Wissenschaft, S. 6 und
38; Bensel/Weiler, C. 3., S. 12 f.). Ein Ziel die-
ses Engagements sollte es u. a. sein, mit
dem Instrument gemischt finanzierter
Bund-Länder-Vereinbarungen nach dem
Vorbild der Hochschulsonderprogramme
die Länder für Reformen in ihrem eigenen
Zuständigkeitsbereich und für die ent-
sprechenden finanzpolitischen Anstren-
gungen zu gewinnen
Überarbeitete Fassung eines Beitragszu dem im Juni 2002 im VSA-Verlagerscheinenden Buch von Ulrich Hey-der/Ulrich Menzel/Bernd Rebe (Hrsg.)„Das Land verändert? – Rot-grüne Poli-tik zwischen Interessenbalancen undModernisierungsdynamik“
Literatur
Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert; Koalitionsver-
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Literaturnachweis
45
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stand, Projektgruppe Jugend der SPD, Vorsitzende: Dr. Christine Bergmann, Broschüre,
Berlin, 2001
Literaturnachweis
46
Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam. Klaus Faber ist Geschäftsführender Vorsitzender des Wissen-
schaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpom-
mern e.V.. Er war von 1994 bis 1999 Staatssekretär des Kultusministeriums von Sachsen-
Anhalt und von 1990 bis 1994 als Abteilungsleiter des zuständigen Landesministeriums
in Brandenburg für Wissenschaft und Forschung verantwortlich.
47
Die Frage, warum die Grünen im
Osten nicht gewählt werden, ist schon
als solche interessant. Es geht um die
aus der Fusion ‚Bündnis 90’ und der Par-
tei ‚Die Grünen’ hervorgegangene Partei
‚Bündnis 90/Die Grünen’. Auch wenn
außer dem Namen nichts oder fast
nichts vom Bündnis 90 übrig geblieben
ist, die Verkürzung auf den Namen
Grüne ist signifikant und – wie es mir
scheint – auch richtig. Die inhaltliche
Positionierung der heutigen Grünen
fußt auf der Entwicklung der 1980 im
Westen aus einem Zusammenschluss
außerparlamentarischer Oppositions-
gruppen gegründeten Partei. Die Verei-
nigung der Westpartei Die Grünen und
der Ostpartei Bündnis 90 zu einer Partei
erfolgte erst im Mai 1993. Zu diesem
Zeitpunkt hatten sich alle anderen rele-
vanten Parteien aus Ost und West längst
zusammengeschlossen. Das gesell-
schaftliche Umfeld, das zur Gründung
der einzelnen Gruppen des Bündnis 90
von ‚Demokratie Jetzt’ bis zur ‚Initiative
Frieden und Menschenrechte’ oder dem
‚Neuen Forum’ reicht, gab es nicht mehr.
Der Aufruf zum Neuen Forum stellte im
September 1989 einen Aufruf zu einer
offenen und ehrlichen Diskussion über
all die gesellschaftlichen Probleme in
der DDR dar, nicht mehr, aber auch nicht
weniger. Das erste Missverständnis war,
die Unterschrift unter diesen Aufruf als
Beitritt zu einer Organisation zu werten,
wie es im Folgenden oft geschah.
Eigentlich ging es mit dem Aufruf doch
darum, den Deutungs- und Wahrheits-
anspruch des SED-Staates zu durchbre-
chen.
Die folgenden einschneidenden und
umwälzenden Entwicklungen ab
1989/1990 und der folgende Zusam-
menbruch der Wirtschaft in Ostdeutsch-
land sind bekannt und sollen hier nicht
Thema sein.
Für das Bündnis 90 zeigte sich schon
bei den Wahlen zur frei gewählten Volks-
kammer 1990, dass sich die Wähler am
Parteiensystem Westdeutschlands ori-
entierten und nicht die kleinen, aber für
die Beendigung des SED-Staates so
wichtigen Parteien und Gruppierungen
wählten. Die übergroße Mehrheit wollte
nicht noch einmal einen wie auch
immer gearteten gesellschaftlichen
‚Feldversuch’ in einem kleineren deut-
schen Teilstaat. Zum Zeitpunkt der Verei-
Die Grünen und der deutsche Ostenvon Eugen Meckel
Eugen Meckel
nigung der beiden Parteien Grüne und
Bündnis 90 1993 (verstand sich Bündnis
90 als eine Partei?) hatten die anderen
Parteien bereits die Erfahrung gemacht,
dass die Ostverbände wie Regionalable-
ger der Parteien ohne oder mit sehr
geringem Einfluss auf die Gesamtpar-
teien waren und blieben. Die Grünen
(West) hatten bei den ersten gesamt-
deutschen Bundestagswahlen im
Dezember 1990 die 5-%-Hürde verfehlt
und die Wahlliste Bündnis 90/Die Grü-
nen wurde durch Vertreter des Bündnis
90, also ostdeutschen Abgeordneten,
vertreten, die nur durch Sonderregelun-
gen in den Bundestag gekommen
waren. In diese Phase fällt die Vereini-
gung beider Parteien.
Im Folgenden konnte schon an den
Personen, die für das Bündnis 90 in den
Landesparlamenten und im Bundestag
saßen, die eigentlich logische, aber im
Konkreten überraschende Entwicklung
des Auseinanderdividierens beobachtet
werden. Alle Gruppen waren sich zu
DDR-Zeiten einig in dem, wogegen sie
waren. Jetzt war die Situation eine gänz-
lich andere. Die nach dem 3. Oktober
1990 importierte Gesellschaftsordnung
war eine in den Grundzügen durch die
Alliierten und die ‚Väter des Grundgeset-
zes’ begründete und in 40 Jahren durch
viele Entwicklungen und Auseinander-
setzungen geformte, sehr differenzierte
Gesellschaft. Alles schien geregelt, und
von westlicher Seite erwartete man nur,
dass jeder seinen Platz in dieser Gesell-
schaft findet und einnimmt. Alle Versu-
che, im Zuge der Vereinigung oder
danach die gesamtdeutsche Gesell-
schaft mitzubestimmen, schlugen fehl.
Warum sollten die über 60 Millionen
Westdeutschen ihr Grundgesetz
ändern, mit dem sie 40 Jahre gute Erfah-
rungen gemacht hatten? Die Ostdeut-
schen hatten die Freiheit aus der Beton-
gesellschaft des SED-Staates selbst
erkämpft, hatten aber nicht die Chance,
diese Freiheit selbst auszugestalten.
Durch die Vereinigung wurde eine sehr
entwickelte demokratische Gesellschaft
übernommen, die aber nicht die eigene
war. Wer im Westen geboren wurde, hat
– wenn er älter war – die Entwicklungen
und Auseinandersetzungen selbst mit-
erlebt, im besten Falle selbst mitbe-
stimmt, oder er ist hineingeboren wor-
den und war dort zu Hause. Für Ost-
deutsche war erst einmal alles fremd.
Bündnis 90 war Name und Pro-
gramm. Das Bündnis bezog sich auf das
Jahr 1990 und war da wichtig und sinn-
voll. Später in der neuen Gesellschaft
konnte sich nur das Profil der Grünen
gesamtdeutsch behaupten. Die vielen
verschiedenen Ideen innerhalb des
Bündnis 90, aber auch die vielen ver-
schiedenen Personen waren nicht mehr
48
Die Grünen und der deutsche Osten
zusammenzuhalten. Man ging ge-
trennte Wege. Der brandenburgische
Landesverband von Bündnis 90 stimmte
im April 1993 über das Zusammengehen
mit den Grünen ab. Von damals 693
Stimmberechtigten (heute hat Bündnis
90/Die Grünen noch 504 Mitglieder,
Stand 31.12.2001) stimmten nicht einmal
die Hälfte ab, und nur 171 waren für eine
Fusion (146 dagegen). Zu diesem Zeit-
punkt war die Partei aber Koalitionspart-
ner der Ampelkoalition in Brandenburg
und stellte zwei Minister. Dies erforderte
einen Klärungsprozess in der Fraktion,
um die Regierungsfähigkeit zu erhalten.
Nur Bildungsministerin Marianne Birth-
ler will von den drei Köpfen der Landes-
partei die Parteifusion. Umweltminister
Matthias Platzeck wird nicht Mitglied
der neu fusionierten Partei und auch
Günter Nooke, der Fraktionsvorsitzende
und dezidierte Gegner der Fusion, macht
als Parteiloser weiter. Die Fraktion Bünd-
nis 90 benennt sich um in Fraktion
Bündnis und arbeitet abgekoppelt von
der Partei als frei schwebendes Raum-
schiff frei gewählter Abgeordneter wei-
ter. Am 3. Mai 1993 vereinbart die Frak-
tion:„Die Fraktion versteht sich als Inter-
essenvertretung ihrer Wählerinnen und
Wähler, nicht einer Partei oder politi-
schen Organisation. Die Fraktion ist –
mehr als zu Zeiten ihrer Gründung im
Oktober 1990 – ein Zweckbündnis unab-
hängiger Bürgerinnen und Bürger auf
Zeit. Die Fraktion arbeitet insofern auch
unabhängig vom Neuen Forum, dem
einzigen Rechtsträger aus der Zeit der
Listenaufstellung, der neuen Partei
Bündnis 90/Die Grünen und sich neu
gründender Bürgerbündnisse.” Ohne
Rückkopplung mit der Partei und mit
zwei Spitzenpolitikern, die nicht für die
neue Partei standen, ging die Wahl 1994
für die Bündnis/Grünen verloren. Mari-
anne Birthler hatte schon vorher die
Landesregierung verlassen. Es wurden
nur noch 2,89 % erreicht. Im Folgenden
führt der politische Lebensweg Günter
Nooke für die CDU in den Bundestag
und Matthias Platzeck ist heute Partei-
vorsitzender des SPD-Landesverbandes
in Brandenburg. Nach 1994 gibt es nur
noch in Sachsen-Anhalt eine ostdeut-
sche Landtagsfraktion der Bündnis/Grü-
nen für eine Legislaturperiode. Die dor-
tige rot-grüne Minderheitsregierung
wurde von der PDS gestützt. Hier spielt
noch einmal Hans-Jochen Tschiche als
Vermittler zwischen den beiden Regie-
rungsfraktionen und der PDS-Fraktion
eine wichtige Rolle. Er hat aus Alters-
gründen 1998 nicht noch einmal für den
Landtag kandidiert. Ab Mitte der 90-er
Jahre hatten die ostdeutschen Vertreter
von Bündnis 90/Die Grünen alle ihre
auch in der Öffentlichkeit bekannten
Spitzen verloren. Heute sitzt nur noch
49
Eugen Meckel
Werner Schulz als Wirtschaftspolitischer
Sprecher für die Grünen im Bundestag.
Alle anderen sind entweder nicht wie-
dergewählt worden oder haben sich
politisch und beruflich anders und neu
orientiert. Wenn es also stimmt, dass
Politik zu wesentlichen Teilen über Per-
sonen transportiert wird, gibt es nie-
manden, der diese Funktion erfüllen
könnte. Und wenn Werner Schulz auf
der Bundesdelegiertenkonferenz der
Grünen in Rostock fordert, die Grünen
müssten gegen kollektive Migräne und
Selbstmitleid in Ostdeutschland strei-
ten, aus Problemen müssten Projekte
werden, klingt das in Problemregionen
genau so wie Äußerungen anderer Poli-
tiker, die von außen auf ein Jammertal
schauen.
Im Osten werden die Grünen als
Westpartei wahrgenommen. Der Bun-
desvorsitzende Fritz Kuhn stellte eben-
falls in Rostock für die Grünen drei Anlie-
gen in den Vordergrund: die Partei soll
sich profilieren als Partei der ökologi-
schen Modernisierung, als Partei der
sozialen Gerechtigkeit und als Partei der
Bürgerrechte. Vor allem die ökologische
Modernisierung ist als Botschaft im
Osten angekommen. Für eine Partei der
sozialen Gerechtigkeit stehen glaub-
würdigere und größere Alternativen zur
Verfügung. Viele halten im Osten eine
Partei für Bürgerrechte kaum noch für
nötig. Das Problem ist nicht mehr die
fehlende Freiheit, dieses Problem ist
(siehe oben) erledigt, sondern manch-
mal zuviel Freiheit. Es herrscht vielmehr
eine große Unsicherheit zum Beispiel
über den als lax empfundenen Umgang
mit Kriminalität.„Kaum festgenommen,
sind die doch schon wieder draußen.”
Das größte Problem ist nach wie vor
aber die fehlende Sicherheit in fast allen
Bereichen, vor allem aber die Sicherheit
des Arbeitsplatzes. Kompetent in
Sachen Ökologie – dafür stehen die Grü-
nen. Via Fernsehen schon in den 80-er
Jahren sind die Atomkraftkämpfe
genauso bekannt wie der Kampf gegen
die Nachrüstung aus der Anfangszeit
der Grünen, die Aktivitäten für eine bio-
logische Landwirtschaft und der Kampf
um saubere Energielösungen. Diese Pro-
blemfelder werden ja auch heute noch
bearbeitet, aber wie kommt das an?
Wenn die deutschen Verpflichtungen
beim Umweltgipfel in Rio, den CO2-Aus-
stoß entscheidend zu senken, nur erfüllt
werden, weil ostdeutsche Großbetriebe
reihenweise ihre Arbeit einstellen, ist
das kaum ein positives Signal. In Ost-
deutschland verlieren die Menschen die
Arbeit, damit die Umwelt in ganz
Deutschland entlastet wird. Dieses
Geschäft macht wohl kaum irgendwo
ein Arbeitnehmer freiwillig. Südlich von
Leipzig konnte man zu DDR-Zeiten als
50
Die Grünen und der deutsche Osten
51
Zugreisender die Fenster kaum noch öff-
nen (jedenfalls ging es mir so), weil
sonst der beißende Gestank nach faulen
Eiern eindrang. Eine ganze Stadt aus
Chemieanlagen war aus dem Fenster zu
sehen. Kilometerweit stank es entsetz-
lich, aber dort wohnten Menschen, hing
Wäsche auf der Leine, spielten Kinder,
ging man arbeiten. Die Chemiestadt bei
Böhlen ist weg, es stinkt nicht mehr,
aber immer noch wohnen dort
Men schen, hängt Wäsche auf der Leine
und spielen die Kinder. Aber in ein Che-
miewerk geht keiner oder kaum noch
einer arbeiten. Der Riesenschritt von der
„Umweltpolitik der DDR”, als schon das
Erfassen von Umweltdaten in Luft und
Wasser ein Straftatbestand war, wir es
nicht registrierten, wie es auf den
Straßen nach Zweitaktbenzin stank, zu
den Verhältnissen heute ist riesig. Weit
verbreitet ist die Auffassung: weitere
Verbesserungen muss man sich leisten
können. Die sozialen und wirtschaftli-
chen Probleme sind wesentlich dringen-
der.
Bleibt noch die Tradition der Grünen
als Oppositions- und Protestpartei,
zumindest bis 1998. Für grundsätzliche
Opposition gegen die heutige Gesell-
schaft taugen die Grünen im Osten
auch nicht. Dafür waren und sind sie
schon zu sehr Teil des aus dem Westen
geerbten Gefüges. Die nach der Vereini-
gung zwangsläufig eintretenden ein-
schneidenden Veränderungen wurden
von vielen als Kolonialisierung empfun-
den, zumal sich dazu mitunter eine
gehörige Portion Arroganz und Gedan-
kenlosigkeit bei einer ganzen Reihe aus
dem Westen kommender Entschei-
dungsträger gesellte. Aus dem Fokus der
deutschen Vereinigung, Berlin, das als
Bundesland aus Ost und West besteht,
fallen mir sofort zwei eigentlich fast
unpolitische Beispiele ein, die dies ver-
deutlichen. Aus nicht nachvollziehbaren
Gründen wird in Berlin das Schauspiel-
haus von Karl Friedrich Schinkel umbe-
nannt und bekommt den sperrigen Titel
„Konzerthaus am Gendarmenmarkt”,
weil es für den Entscheidungsträger
nicht in die Westberliner Denke passt.
Der Berliner Kulturtempel von gleich-
wertiger Bedeutung wie die Berliner
Staatsoper verliert mal eben so seinen
Namen. In Leipzig sollte man mal versu-
chen, das Gewandhaus umzubenennen,
weil dort nicht mehr die Tuchmacher-
zunft residiert. Die U-Bahn-Station
Frankfurter Tor, ein markanter Bau in der
Karl-Marx-Allee, wird umbenannt in Rat-
haus Friedrichshain. Das Rathaus ist ein
öder Plattenbau und noch nicht einmal
direkt an der U-Bahn. Der Protest gegen
dieses Konglomerat aus den absolut
notwendigen Veränderungen und den
aus Eigeninteresse oder Gedankenlosig-
Eugen Meckel
52
keit und/oder Arroganz herbeigeführten
Umgestaltungen kommt ausschließlich
der PDS zugute. Sie versucht mit nicht
geringem Erfolg, sich als die ostdeut-
sche Interessenvertretung zu profilieren
und dabei gleichzeitig grundsätzlich
Opposition zu sein.
Nach dem Regierungseintritt 1998
haben die Grünen auch ihren Ruf als Anti-
kriegspartei verloren. Für ihre Anhänger,
auch wenn es im Osten wenige sind, ist
der Spagat zwischen der pazifistischen
Tradition und den Bundeswehreinsätzen
im ehemaligen Jugoslawien und in Afgha-
nistan kaum vermittelbar.
So bleibt festzustellen: die Grünen
haben im Osten keine Personen, die inte-
grierend nach innen und anziehend nach
außen in der Öffentlichkeit stehen, und sie
haben kein Thema, das in der Lage wäre,
nennenswerte Wählergrößen an die Par-
tei zu binden.
Eugen Meckelist Leiter des Landesbüros Brandenburg der Friedrich-Ebert-Stiftung
Kontakt: [email protected]
Die Beschäftigung hat im Vergleich zu
1998 um 1,38 Mio. Beschäftigte zuge-
nommen. Gleichzeitig ist die Arbeitslo-
sigkeit von 4,28 Mio auf 3,8 Mio. Erwerbs-
lose gesunken.
Lohn- und Sozialdumping werden
durch das Arbeitnehmerentsendegesetz
bekämpft.
Es gibt jetzt verbindliche Mindest-
löhne in zwei Qualifikationsebenen. Das
Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort“ gilt auf Dauer.
Illegale Beschäftigung wird mehr und
strenger kontrolliert. Erste Erfolge sind
bereits sichtbar. Die Zahl der eingeleite-
ten Straf- und Ermittlungsverfahren ist
stark angestiegen. Geldbußen in Höhe
von 119 Mio. € wurden bisher verhängt.
Zudem wird mehr Personal für Kontrol-
len bereitgestellt.
Dem Missbrauch geringfügiger
Beschäftigungsverhältnisse, den frühe-
ren sog. 630-DM-Jobs ist ein Riegel vor-
geschoben worden.
53
Gerhard Schröder ist 1998 mit einer
„Garantie-Karte”in den Wahlkampf gezo-
gen. Auf dieser wurden den Wählerinnen
und Wählern unter dem Stichwort „Inno-
vation und Gerechtigkeit” 10 Versprechen
gegeben. Der Politik-Wechsel war aber
wesentlich tiefgreifender. Nicht immer
sind diese Schritte so spektakulär und
medienwirksam wie die Änderung des
Staatsangehörigkeitsrechts oder der
Atomausstieg. Nichtsdestotrotz haben
viele Änderungen nachhaltig Wirkung
auf die Zukunft unsere Landes und die in
ihm lebenden Menschen. Aus diesem
Grunde dokumentieren wir an dieser
Stelle wichtige Änderungen, die den Poli-
tik- und Mentalitätswechsel seit 1998
unterstreichen.
Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten
von Lars Krumrey
Arbeitsmarkt-Politik
Lars Krumrey
54
Die rechtlichen Rahmenbedingungen
für Teilzeitarbeit sind verbessert.
Die Mittel für aktive Arbeitsmarktpoli-
tik sind um über 2,5 Mrd.€ gestiegen.Der
Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik
an den arbeitsmarktpolitischen Ausga-
ben ist von 29,1 % 1998 über 33,4 % im
Jahr 2000 auf 35,6 %im Jahr 2001
gesteigert worden. Im Haushalt 2002
sind 22,5 Mrd. € vorgesehen.
Mit dem Job-AQTIV-Gesetz wird die
Arbeitsförderung grundlegend refor-
miert, die Arbeitsvermittlung moderni-
siert und die Qualifizierung gefördert.
Das sog. Mainzer Kombilohnmodell
wird bundesweit ausgedehnt. Damit
soll Sozialhilfeempfängern ein Anreiz
gegeben werden, auch geringer ent-
lohnte Tätigkeiten anzunehmen.
Hinzu kommt eine grundlegende
Organisationsreform der Bundesan-
stalt für Arbeit zu einem modernen
Dienstleister. Erste Schritte sind einge-
leitet. Der neue Vorstand arbeitet nach
privatwirtschaftlichen Methoden.
Der Kündigungsschutz gilt auch wie-
der in kleinen Betrieben. Davon profi-
tieren mehr als 2 Mio. Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer.
Die volle Lohnfortzahlung im Krank-
heitsfall ist wiederhergestellt. Alle
Arbeitnehmer erhalten im Krankheitsfall
und bei notwendigen Kuren wieder 100
% ihres Arbeitsentgelts. Gleichzeitig ent-
fällt die bisher mögliche alternative
Anrechnung von Krankheitstagen auf
den Urlaub.
Schlechtwettergeld für Bauarbeiter
gibt es wieder. Bauarbeiter werden bei
kalter Witterung nicht mehr arbeitslos.
Die Neuregelung ist am 1. November
1999 in Kraft getreten.
Die Reform des Betriebsverfassungs-
gesetzes stellt eine zeitgemäße Antwort
auf die Veränderungen in der Arbeits-
welt dar. Sie wirkt dem langsamen Aus-
bluten der Betriebsverfassung entgegen
und verbessert die Arbeitsmöglichkeiten
der Betriebsräte. Auch in kleineren und in
ausgelagerten Betrieben können wieder
mehr Betriebsräte gewählt werden.
Das Gesetz zur Regelung der Tarif-
treue, das die tariflich korrekte Bezah-
lung der Arbeitnehmer bei der Vergabe
von öffentlichen Aufträgen regelt, ist
vom Bundestag verabschiedet.
Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten
55
Das „Sofortprogramm zum Abbau
der Jugendarbeitslosigkeit“ hat bisher
über 400.000 Jugendlichen eine neue
Chance verschafft und ihnen eine
berufliche und damit auch eine neue
Lebensperspektive eröffnet. Das Pro-
gramm, das seit dem 1. Januar 1999
läuft, wird bis Ende 2003 fortgesetzt
und ist mit rd.1 Mrd. € jährlich ausge-
stattet.
Vom 1. Januar 1999 bis 31. Januar
2002 wurden rd. 406.000 junge Men-
schen unter 25 Jahren gefördert. Das
Programm greift und wird angenom-
men. Gut 159.000 Jugendliche traten
im letzten Jahr in eine Maßnahme ein,
das waren knapp 38 % mehr als noch
im Jahr 2000.
Mehr als 80 % der Teilnehmer waren
vor dem Beginn der Maßnahmen
arbeitslos, jeder Dritte länger als 6
Monate.
Der Frauenanteil liegt bei 40 %.
Die Ausbildungsbilanz ist seit zwei
Jahren positiv. Zum ersten Mal seit 1995
war schon im Jahr 2000 die Zahl der
offenen Stellen höher als die Zahl der
Bewerber für eine Ausbildungsstelle.
Ende September 2000 gab es 2.048
mehr offene Ausbildungsstellen im
dualen System als Bewerber. Im Jahr
2001 ist die Zahl auf 4.073 gestiegen.
Ausbildung und Beschäftigung
Aufbau Ost
Der Aufbau Ost und die Verwirklichung
der inneren Einheit Deutschlands gehören
zu den wichtigsten Zielen der Koalition.
Trotz strikter Haushaltsdisziplin und
erheblicher Einsparungen in allen Bun-
desressorts wurden die Ausgaben für den
Aufbau Ost auf hohem Niveau fortgeführt
und in für den Aufbau Ost entscheidenden
Bereichen erhöht und durch neue Pro-
gramme ergänzt: Hilfen für Bildung und
Forschung, Ausbau der wirtschaftsnahen
Infrastruktur, Förderung von Investitionen
und Innovationen.
Mit neuen Maßnahmen wurde für
Arbeitslose die Brücke zum ersten Arbeits-
markt verstärkt und ausgebaut, durch
eine aktive Arbeitsmarktpolitik werden
auch in Zukunft soziale Verwerfungen ver-
mieden.
Das von 1999 bis zum Jahr 2002 lau-
fende Investitionsprogramm umfasst für
die Verkehrsprojekte in den neuen Län-
dern bei den Bundesfernstraßen ein Volu-
men von knapp 10 Mrd. € und bei den
Schienen-Investitionen ein Volumen von
6,5 Mrd. € . Damit fließt hier mehr als die
Lars Krumrey
56
Die Regierungskoalition von SPD und
Bündnis 90/ Die Grünen hat begonnen,
die Staatsfinanzen zu konsolidieren: Das
Zukunftsprogramm 2000 war ein tiefer
Einschnitt mit einem Einsparvolumen
von 30 Mrd. DM schon im ersten Jahr.
Damit wurde die Trendwende bei der Ver-
schuldung geschafft.
Der Haushalt 2000 enthielt wichtige
Konsolidierungsschritte, setzte aber auch
die nötigen Schwerpunkte bei Investitio-
nen in Bildung, aktiver Arbeitsmarktpoli-
tik, Familienpolitik und Kindergeld, dem
Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslo-
sigkeit und beim Aufbau Ost.
Die Haushalte 2001 und 2002 setzen
den Konsolidierungskurs fort. Gleichzeitig
werden Mittel für Verbesserungen beim
Wohngeld, Erziehungsgeld, BAföG und
der inneren Sicherheit bereitgestellt.
Mit dem Bundeshaushalt 2002 haben
die Koalitionsfraktionen zum vierten Mal
in Folge ein Budget beschlossen, dessen
Neuverschuldung geringer ist als im Vor-
jahr. Ziel bleibt es, im Jahr 2006 einen aus-
geglichenen Haushalt ohne einen einzi-
gen Euro Kreditaufnahme zu präsentie-
ren.
Damit ist ein wichtiger Schritt hin zu
einer zukunftsfähigen und nachhaltigen
Haushaltspolitik gegangen worden. Die
nachfolgenden Generationen werden
nicht mehr die Schulden der Vergangen-
heit begleichen müssen.
Hälfte der bundesweiten Investitionen in
die neuen Länder.
Bund und Länder haben sich Ende Juni
2001 auf eine Neuordnung des Länderfi-
nanzausgleichs und den Solidarpakt II
geeinigt. Damit haben die neuen Länder
und ihre Kommunen frühzeitig Klarheit
und vor allem Planungssicherheit. Im
Anschluss an den Solidarpakt I erhalten
sie für den Zeitraum von 2005 bis Ende
2019 aus der Bundeskasse insgesamt
156,5 Mrd. €. Zusätzlich hat die Bundesre-
gierung ein neues Programm „Stadtum-
bauprogramm Ost – für lebenswerte
Städte und attraktives Wohnen“
beschlossen. Das Programm umfasst
Finanzhilfen für Wohnungswirtschaft
und Städtebau im Umfang von jährlich
153 Mio. € bzw. über 450 Mio. € im Zeit-
raum 2002 bis 2004.
Im Bundeshaushalt 2001 betrugen die
Gesamtmittel des Bundes für den Auf-
bau Ost 16,12 Mrd.€ . Darauf entfielen auf
den Bereich Bildung und Forschung 667
Mio. €, den Bereich Wirtschaftsförderung
3,38 Mrd. €, die Infrastrukturförderung
2,73 Mrd. € und die Bundesergänzungs-
zuweisungen 7,596 Mrd. €.
Haushaltskonsolidierung
Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten
57
Die Erhöhung des steuerlichen Grund-
freibetrages und die Absenkung des Ein-
gangssteuersatzes haben die Arbeitneh-
mer deutlich entlastet. Durch die drei
Stufen 2001, 2003 und 2005 der Steuer-
reform 2000 haben die privaten Haus-
halte rund 16,7 Mrd. € mehr zur Verfü-
gung.
Alle Steuerrechtsänderungen zusam-
men führen bis zum Jahr 2005 im Privatbe-
reich zu Entlastungen von rd. 41,1 Mrd. €.
1998 betrugen der Eingangs- und der
Spitzensteuersatz 25,9 % bzw. 53 %. Im
Jahr 2005 werden sie nur noch 15 % bzw.
42 % betragen. Gleichzeitig wurde der
Grundfreibetrag von 6.322 € auf 7.235 €
in diesem Jahr angehoben. Zum 1. Januar
2005 steigt er auf 7.664 € . Eine Familie
mit zwei Kindern und einem Jahresein-
kommen von 30.000 Euro hat 2002 rd.
1.900 € mehr zur Verfügung (einschließ-
lich Kindergeld) als 1998.
Die ökologische Steuerreform ist ein
wichtiges Projekt der sozialen und öko-
logischen Modernisierung. Der Faktor
Arbeit wird von Kosten entlastet und
der Faktor Energieverbrauch wird bela-
stet. Die Einnahmen werden an Arbeit-
nehmer und Unternehmen durch die
Senkung der Rentenversicherungs-
beiträge zurückgegeben.
Am 1. April 1999 ist die erste Stufe der
Ökosteuer in Kraft getreten, durch die
der Rentenversicherungsbeitrag um
0,8 Prozentpunkte auf 19,5 % gesenkt
werden konnte.
Am 1. Januar 2000 folgte die zweite
Stufe und am 1.Januar 2001 die dritte
Stufe. Der Rentenversicherungsbeitrag
beträgt seitdem 19,1 %. Die vierte Stufe
vom 1. Januar 2002 hat dazu beigetra-
gen, den Beitragssatz weiter zu stabili-
sieren. Der Rentenversicherungsbeitrag
ist damit in diesem Jahr um 1,5 Prozent-
punkte geringer, als er ohne die Einnah-
men aus der Ökosteuer wäre. Die Anhe-
bung von Steuern auf umweltbelasten-
den Energieverbrauch ist moderat und
kalkulierbar.
Durch die Einnahmen aus der Öko-
steuer werden zudem die Nutzung
regenerativer Energiequellen und der
rationelle Energieeinsatz in diesem
Jahr mit 200 Mio. € gefördert.
Ökologische Steuerreform und Senkung der Lohnnebenkosten
Steuerliche Entlastung
Damit wird die berufliche Bildung
mit der Hochschulbildung gleich
behandelt.
Das Wohngeld ist von der alten
Regierung 10 Jahre lang nicht an stei-
gende Mieten und Preise angepasst
worden. Rot-Grün hat ein Wahlverspre-
chen eingelöst und im Zuge der Bera-
tung des Zukunftsprogramms eine
Erhöhung des Wohngeldes beschlos-
sen. Die Wohngeldnovelle bringt seit
dem 1. Januar 2001 Leistungsverbesse-
rungen in Höhe von 700 Mio. € pro
Jahr. Insbesondere Familien mit Kin-
dern kommt die Erhöhung zugute.
Etwa 420.000 Haushalte kommen
zusätzlich zur Erhöhung in den Genuss
von Wohngeld. Das durchschnittliche in
den alten Ländern gezahlte Wohngeld
wird sich von 283 DM pro Monat auf
368 DM (188 € )erhöhen. Die Wohn-
geldleistungen von Bund und Ländern
werden sich in diesem Jahr auf 4,1 Mrd.
€ belaufen.
Lars Krumrey
58
Seit dem 1. April 2001 greift die BAföG-
Reform, die die Bedarfssätze durchgängig
heraufsetzt und den Höchstsatz auf 1.140
DM (582,88 € )steigen lässt. Das Kinder-
geld wird zukünftig nicht mehr bei der
BAföG-Berechnung angerechnet und die
Freibetragsgrenzen werden erheblich
erhöht, so dass zwei Kinder in der Ausbil-
dungsförderung die Vollförderung erhal-
ten,wenn die Eltern bis 3.900 DM (1.994 €)
brutto verdienen (bisherige Grenze: 2.900
DM). Die Förderbeträge zwischen Ost und
West wurden vollständig vereinheitlicht
und die Gesamtdarlehensbelastung für
Studierende auf 10.000 € reduziert.
Durch diese Reform des BAföG wer-
den in diesem Jahr rd. 500 Mio. € mehr
für die Förderung bereitgestellt. Ca.
81.000 junge Menschen erhalten
zusätzlich BAföG. Dies bedeutet eine
deutliche Trendwende bei der Förde-
rung von Studierenden.
1998 wurden unter der alten CDU-
Regierung lediglich noch 341.000
Schüler und Studenten mit BAföG
gefördert, bis 2002 werden es wieder
445.000 sein. Das reformierte Auf-
stiegsförderungsgesetz, das soge-
nannte Meister-BAföG, ist am 1. Januar
2002 in Kraft getreten.
BAföG-Reform
Das Wohngeld steigt
Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten
59
Der Bundestag hat Ende Juni 2001 eine
nochmalige Erhöhung des Kindergeldes
für das erste und zweite Kind zum 1.
Januar 2002 beschlossen.Es beträgt seit 1.
Januar 2002 154 € (301,20 DM)pro Kind
und Monat. Damit ist das Kindergeld
jetzt rd. 42 € pro Monat höher als 1998.
Es ist insgesamt dreimal in dieser Legis-
laturperiode erhöht worden.
Die Kinderfreibeträge sind neu gestal-
tet. Das Gesetz lässt erstmalig im deut-
schen Steuerrecht den Abzug von Kinder-
betreuungskosten zu, die wegen Erwerb-
stätigkeit der Eltern entstehen. Es wurde
ein neuer Freibetrag für den Betreuungs-
und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf
eingeführt. Insgesamt sind die steuerli-
chen Freibeträge für jedes Kind auf 5.808
€ angestiegen. Die Familienleistungen
sind in dieser Wahlperiode im Vergleich
zur vorangegangenen von 148,1 Mrd. €
auf 196,7 Mrd. € gestiegen.
Die Rahmenbedingungen für die Ver-
einbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kin-
dererziehung sind neben der steuerlichen
Absetzbarkeit erwerbsbedingter Betreu-
ungskosten auch durch die Novellierung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes deut-
lich verbessert worden. Neben der Anhe-
bung der Einkommensgrenzen wurde die
Wahlfreiheit für Mütter und Väter bei der
Ausgestaltung und Aufteilung der Eltern-
zeit (früher: Erziehungsurlaub)erheblich
ausgebaut. Alternativ zum monatlichen
Erziehungsgeld von 307 € (600 DM)über
einen Zeitraum von 24 Monaten erhalten
Eltern, die sich für eine verkürzte Bezugs-
dauer von 12 Monaten entscheiden,
monatlich bis zu 460 € (900 DM).
Die Wohngeldreform, die seit dem 1.
Januar 2001 in Kraft ist,stellt insbesondere
für Familien mit Kindern eine Verbesse-
rung dar. Die Anhebung der Tabellenwerte
und die Erhöhung der Abzugsbeträge für
Unterhaltsleistungen bei der Einkommen-
sermittlung sind hierbei die wichtigsten
Änderungen.
Durch eine Änderung des Bürgerlichen
Gesetzbuches ist die gewaltfreie Erzie-
hung zum Leitbild erhoben.
Familien- und Kinderpolitik
Lars Krumrey
60
Das Bundeskabinett hat das Aktions-
programm „Frau und Beruf“, das wesent-
liche Schritte zur Verwirklichung der
Gleichstellung von Frau und Mann ent-
hält,am 23. Juni 1999 beschlossen.Es wird
Schritt für Schritt umgesetzt.
Der Bundestag hat auf Initiative der
Koalition das Gleichstellungsdurchset-
zungsgesetz beschlossen, das Frauen und
Männer in der Bundesverwaltung und
den Gerichten des Bundes gleichstellt.
Bundesregierung und Vertreter der Spit-
zenverbände der deutschen Wirtschaft
haben eine Vereinbarung zur Förderung
der Chancengleichheit von Frauen und
Männern in den Unternehmen erarbeitet
und unterzeichnet, in der sich die Wirt-
schaft verpflichtet, eine aktive Gleichstel-
lungspolitik in den Unternehmen voran-
zubringen.
Das Teilzeitgesetz trägt mit dazu bei,
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
zu verbessern und Chancengleichheit von
Frauen und Männern zu ermöglichen.
Mit dem Job-AQTIV-Gesetz kommt die
Gleichstellung im Arbeitsförderungsge-
setz einen großen Schritt voran. Frauen
werden nicht nur entsprechend ihrem
Anteil an den Arbeitslosen gefördert, son-
dern auch entsprechend ihrer Arbeitslo-
senquote.
Die Rentenreform hat die Situation von
Frauen und Müttern verbessert, weil Kin-
dererziehungszeiten stärker als bisher
berücksichtigt werden.
Durch die Änderung des Arzneimittel-
gesetzes wird der kontrollierte Schwan-
gerschaftsabbruch auch per Arzneimittel
in Deutschland möglich.
Mit dem Aktionsplan der Bundesregie-
rung zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen ist ein umfassendes Gesamtkon-
zept vorgelegt worden. Das Gewalt-
schutzgesetz ermöglicht, dass der
gewalttätige Partner zumindest zeit-
weise die Wohnung verlassen muss.
Frauen und Kinder haben mehr Schutz.
Das Gesetz zur Regelung der Rechtsver-
hältnisse von Prostituierten soll Diskrimi-
nierung beseitigen und den Zugang zu
den Sozialversicherungssystemen er-
möglichen.
Politik für die Frauen
Die rot-grüne Regierungsbilanz in Stichworten
61
Das Gesetz, das das Institut der „einge-
tragenen Lebenspartnerschaft“ einführt.
ist am 1. August 2001 in Kraft getreten.
Das Gesetz schafft Regeln für gleichge-
schlechtliche Partnerschaften, die dauer-
haft füreinander einstehen und Verant-
wortung übernehmen möchten. Es gibt
rechtliche Anerkennung und Rechtssi-
cherheit, ohne dass die Partnerschaft mit
der Ehe gleichgestellt wird. Dies ist eine
Anerkennung und Akzeptanz des Wan-
dels in der Gesellschaft.
Wichtige Passagen dieses Beitragessind der Broschüre Zwischenbilanz derrot-grünen Koalition, Mai 2002, her-ausgegeben von der SPD-Bundestags-fraktion, entnommen.
Lebenspartnerschaften erhalten mehr Rechte
Lars Krumreyist Diplom-Politologe und beschäftigt sich mit
der Transformation des ostdeutschen Parteisystems
62
63
1 Der vorliegende Beitrag ist die leicht überarbeitete und aktualisierte Fassung eines Aufsatzes, der unter dem Titel„Muslime im säkularen Rechtsstaat. Vom Muslime zur Mitgestaltung der Gesellschaft“ als Heft 2 der Reihe „Der Inter-kulturelle Dialog“, herausgegeben von der Ausländerbeauftragten des Landes Bremen (Bremen 1999), erschienen ist.
2 Vgl. Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg i.Br./München: Alber, 1965).
Der säkulare Rechtsstaat bildet die
politisch-institutionelle Rahmenord-
nung, in der Muslime in der Bundesrepu-
blik Deutschland und anderen westeu-
ropäischen Gesellschaften leben und
ihren Glauben praktizieren. Diese Situa-
tion wirft Fragen auf: Wie stehen Mus-
lime zum säkularen Rechtsstaat? Stellt er
für gläubige Muslime nur ein „Übel“ dar,
das sie aufgrund der zahlenmäßig massi-
ven Überlegenheit der Nicht-Muslime
nolens volens hinnehmen müssen? Oder
bietet die Säkularität der politisch-rechtli-
chen Ordnung Chancen für die Erpro-
bung neuer Formen islamischer Selbstor-
ganisation – womöglich mit Auswirkun-
gen über die „Diaspora“ hinaus auf die
islamischen Herkunftsländer? Fragen
stellen sich aber auch in umgekehrter
Richtung: Ist es überhaupt legitim, Mus-
lime auf die Säkularität des Rechtsstaats
verpflichten zu wollen? Wäre es nicht ein
Gebot interreligiöser und multikultureller
Toleranz, Muslimen die Option offenzu-
halten, ihre gemeinschaftlichen Angele-
genheiten nach islamischem Recht statt
nach säkularem Recht zu ordnen? Stellt
die Säkularität nicht ihrerseits eine Art
von religiösem oder postreligiösem
„Glauben“ dar, der für diejenigen ver-
bindlich sein sollte, die sich zu diesem
Glauben freiwillig bekennen?
Eine Antwort auf diese und ähnliche
Fragen hängt davon ab, was genau man
unter Säkularität versteht. Mehr noch als
andere politisch-rechtliche Leitbegriffe
ruft der Begriff der Säkularität unter-
schiedliche, ja gegensätzliche Assoziatio-
nen hervor.2 Er wird als antireligiöse oder
postreligiöse Ideologie, als spezifisch
westlich-christliche Organisationsform
des Verhältnisses von Staat und Religion,
als Versuch staatlicher Kontrolle der Reli-
gionsgemeinschaften oder als Ausdruck
des Respektes vor der religiösen Freiheit
der Menschen verstanden. Hinzu kommt,
dass sich schon innerhalb der westeu-
ropäischen Verfassungsstaaten – zwi-
Muslimische Minderheiten im säkularenRechtsstaat1
von Heiner Bielefeld
I. Säkularität – ein schwieriger Begriff
Heiner Bielefeld
64
schen Frankreich, England, Holland,
Deutschland und Italien – sehr verschie-
dene Traditionen des politisch-rechtli-
chen Umgangs mit der Religion heraus-
gebildet haben, in deren Kontext auch die
Säkularität je anders akzentuiert wird.3
Und vollends unübersichtlich droht die
Debatte zu werden, wenn auch noch
unterschiedliche wissenschaftliche Diszi-
plinen – Rechtswissenschaft, Soziologie,
Theologie, Philosophie – mit ihren Deu-
tungen der Säkularität aufeinandertref-
fen.4
Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes
besteht nicht nur darin, den Begriff der
Säkularität angesichts einer verwirren-
den Vielzahl von Interpretationen theore-
tisch zu klären. Vielmehr verfolge ich
damit zugleich und vorrangig ein prak-
tisch-politisches Anliegen: Es geht mir
darum, die Säkularität des Rechtsstaates
als unerlässliche Voraussetzung für eine
an den Menschenrechten orientierte
politische Gestaltung des religiösen und
weltanschaulichen Pluralismus zu vertei-
digen. Eine solche Verteidigung kann
allerdings nur dann überzeugen, wenn
sie die kritischen Anfragen an das Kon-
zept der Säkularität ernst nimmt und
aufgreift.
Mein besonderes Interesse gilt der
Möglichkeit, den säkularen Rechtsstaat
auch von muslimischer Seite zu würdi-
gen. Um einem möglichen Missverständ-
nis vorzubeugen, sei klargestellt, dass ich
selbst kein Muslim bin, wohl aber seit
mehreren Jahren regelmäßig im Dialog
mit Muslimen stehe. Vielen von ihnen
fühle ich mich politisch und teilweise
auch persönlich verbunden; andere
betrachte ich eher als politische Gegner.
Der vorliegende Aufsatz enthält Einschät-
zungen und Einsichten, die ich auch aus
Gesprächen mit Muslimen gewonnen
habe. Diese Gespräche sind für mich zum
Anstoß geworden, über den Sinn der
rechtsstaatlichen Säkularität grundsätz-
lich nachzudenken.
3 Vgl. Richard Potz, Die Religionsfreiheit in Staaten mit westlich-christlicher Tradition, in: Johannes Schwartländer(Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte (Mainz: Grünewald,1933), S. 119-134.
4 Vgl. GerhardDilcher/Ilse Staff (Hg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung(Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984)
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
65
Die rechtsstaatliche Säkularität, so der
Ausgangspunkt der folgenden Überle-
gungen, resultiert aus der Religionsfrei-
heit. DieSäkularität ist notwendiges
Strukturprinzip einer Rechtsordnung, die
unter dem Anspruch steht, die Religions-
freiheit als Menschenrecht systematisch
zu verwirklichen. Um es zuzuspitzen: Es
gibt keine volle Verwirklichung der Religi-
onsfreiheit außerhalb einer säkularen
rechtsstaatlichen Ordnung. Diese These
wird vielleicht auf Anhieb einleuchten.
Lässt sich die Religionsfreiheit nicht auch
im Rahmen einer religiös begründeten
Rechtsordnung realisieren? Kann nicht
auch ein christlicher oder islamischer
Staat die religiöse Freiheit respektieren?
Gibt es nicht geschichtliche Beispiele für
eine friedliche Koexistenz unterschiedli-
cher Religionsgemeinschaften zum Bei-
spiel unter der Herrschaft muslimischer
Sultane?
Zugegeben: Religiöse Toleranz ist auch
unter den Vorzeichen einer religiösen
Rechtsordnung denkbar, und sie hat
gerade im islamischen Kontext Tradition.5
Religionsfreiheit als Menschenrecht
meint aber etwas anderes als Toleranz
und sollte auch nicht mit ihr gleichge-
setzt oder verwechselt werden. Wie alle
Menschenrechte verlangt die Religions-
freiheit Gleichberechtigung, während
Toleranz durchaus mit Ungleichheit ein-
hergehen kann. Der Anspruch des Men-
schenrechts auf Religionsfreiheit wäre
deshalb mit einer staatlichen Toleranzpo-
litik gegenüber religiösen Minderheiten
noch lange nicht eingelöst.
Weiter: Als Anspruch auf Gleichberech-
tigung bleibt die Religionsfreiheit – wie
andere Menschenrechte auch – keines-
wegs auf einen Katalog „vorstaatlicher“
und „vorpolitischer“ Grundrechte
beschränkt. Vielmehr soll sie die politsch-
rechtliche Ordnung im ganzen durchwir-
ken.6 Menschenrechte markieren nicht
nur eine Schranke der Staatsgewalt, son-
dern fungieren nach den Worten des
Grundgesetzes darüber hinaus „als
Grundlage jeder menschlichen Gemein-
schaft“ (Art. 1 Abs. 2 GG). Sie bilden nicht
allein die unüberschreitbare Grenze legi-
II. Zur Bestimmung der rechtsstaatlichen Säkularität
1. Die rechtsstaatliche Säkularität als Konsequenz für Religionsfreiheit
5 Vgl. Adel Theodor Khoury, Toleranz im Islam (Mainz: Grünewald/München: Kaiser, 1980); Christian W. Troll, Der Blickdes Koran auf die anderen Religionen, in: Walter Kerber (Hg.), Wie tolerant ist der Islam? (München: Kindt, 1991), S.47-69.
6 Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos (Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998) S. 87ff.
Heiner Bielefeld
timer Staatsgewalt,sondern zugleich den
tragenden Grund der Legitimität der
staatlichen Rechtsform überhaupt. Das
menschenrechtliche Prinzip gleicher Frei-
heit kann aber nur dann als „Grundlage“
der staatlichen Rechtsordnung zum Zuge
kommen, wenn der politisch-rechtliche
Status der Menschen von ihrer Religions-
zugehörigkeit unabhängig ist. Daher
rührt die fundamentale Bedeutung der
Religionsfreiheit für die Verwirklichung
einer menschenrechtlichen und demo-
kratischen Ordnung überhaupt. Sie ver-
langt, dass niemand wegen seines reli-
giösen oder weltanschaulichen Bekennt-
nisses bevorzugt oder benachteiligt wird
und dass die Mitwirkung an der politisch-
rechtlichen Ordnung Menschen unter-
schiedlicher religiöser und weltanschau-
licher Orientierung möglich ist, und zwar
in voller Gleichberechtigung.
Um der Gleichberechtigung aller Men-
schen willen und aus Respekt vor ihren
unterschiedlichen Bekenntnissen ist es
dem Rechtsstaat verwehrt, sich mit einer
bestimmten Religion oder Weltanschau-
ung zu identifizieren oder diese gar zur
normativen Basis seiner eigenen Ordnung
zu erheben. Der auf die Religionsfreiheit
verpflichtete demokratische Rechtsstaat
muss folglich religiös und weltanschaulich
„neutral“ sein. Um dem verbreiteten Mis-
sverständnis entgegenzutreten, diese reli-
giöse bzw. weltanschauliche Neutralität
sei ein Ausdruck von Gleichgültigkeit, ethi-
scher Indifferenz oder „Wertneutralität“,
ziehe ich allerdings dem Begriff der „Nicht-
Identifikation“ vor. Weil diese Nicht-Identi-
fikation ihren ethischen Grund im gebote-
nen Respekt vor der religiösen und weltan-
schaulichen Freiheit der Menschen hat,
möchte ich genauer von dem Prinzip der
respektvollen Nicht-Identifikation spre-
chen. Dieses Prinzip macht den normati-
ven Kerngehalt der rechtsstaatlichen Säku-
larität aus.
Um ein Beispiel zu geben: Das Grundge-
setz bekennt sich zur unantastbaren
Würde jedes Menschen, die zu achten und
zu schützen Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Ob die Idee der
Menschenwürde aus dem biblischen
Motiv der Gottesebenbildlichkeit des Men-
schen gedeutet wird, ob man sie im Lichte
des Korans als Berufung des Menschen
zum Statthalter (khalifa) Gottes auf Erden
versteht, oder ob man sie aus humanisti-
schen Traditionen interpretiert werden
soll, bleibt jedoch offen. Dies kann, ja darf
der Staat nicht autoritativ entscheiden.
Wenn er solche religiösen und weltan-
schaulichen Fragen offen lässt, so
geschieht dies nicht aus Gleichgültigkeit,
Skepsis oder Indifferenz, sondern aus Ach-
tung vor der Freiheit der Menschen, die
den Staat unbeschadet ihrer unterschiedli-
chen Bekenntnisse als ihr politisches
Gemeinwesen verstehen können sollen.
66
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
67
Wenn der säkulare Rechtsstaat „welt-
anschaulich neutral“ sein will, so folgt
daraus, dass die Säkularität nicht zu einer
quasireligiösen oder postreligiösen
Staatsideologie stilisiert werden darf. Die
politische Loyalität, die der Rechtsstaat
von seine Bürgerinnen und Bürgern ein-
fordert, zielt nicht auf umfassende Gesin-
nungstreue. Und auch das Bekenntnis
zur Säkularität, um das der Staat werben
(das er letztlich nicht erzwingen) kann,
bleibt als politisches Bekenntnis von
einem umfassenden religiösen oder
weltanschaulichen Glaubensbekenntnis
weit entfernt.
Kein Zweifel: Die Säkularität kann ideo-
logisch zu einem weltanschaulichen Kon-
zept aufgebauscht werden. Ein klassi-
sches Beispiel bietet das positivistische
Glaubensbekenntnis Auguste Comtes,
eines der Gründungsväter der Soziologie.
Comte formuliert seine Lehre als eine
neue Form atheistischer Religion, die er
„Religion der Menschheit“ (religion de
l’humanité) nennt.7 Auf der Grundlage
moderner Wissenschaft sollen die Sozio-
logen nach Comte gleichsam einen säku-
laristischen Klerus mit weltweitem Auto-
ritätsanspruch bilden. Ihre Aufgabe
besteht darin, als moderne „Priester der
Menschheit“ die Gesellschaft ideologisch
zu formieren und zu diesem Zweck die
fortschrittliche Kräfte von Wirtschaft und
Industriearbeiterschaft einzuspannen.
Unter dem Banner von „Ordnung, Liebe
und Fortschritt“ sollen nach Comte Staat
und Weltanschauung, die in den Krisen
der Moderne auseinander getreten
waren, somit zu einer neuen „soziokrati-
schen“ Synthese finden, die nicht weni-
ger geschlossen ist als die alte theokrati-
sche Einheit von Staat und Religion. Wie
in der christlichen Theokratie des Mittel-
alters andere Religionen bekämpft oder
allenfalls am Rande der Gesellschaft
geduldet wurden, so gilt analog auch für
die Comtesche Soziokratie, dass sie ihren
ideologischen Wahrheitsanspruch gegen
alle Konkurrenten mit politischen Mitteln
durchzusetzen sucht.
Eine solche säkularistische Fortschritt-
sideologie hat mit der rechtsstaatlichen
Säkularität nichts, aber auch gar nichts
gemein. Wenn der weltanschauliche
Säkularismus sich mit der Staatsmacht
verbindet, führt er in letzter Konsequenz
sogar zur Zerstörung der auf die Religi-
onsfreiheit gegründeten rechtsstaatli-
chen Säkularität. Unter dem Anspruch
der Religionsfreiheit muss der säkulare
2. Keine „postreligiöse“ laizistische Staatsideologie
7 Man könnte dies auch übersetzten als „Religion der Menschlichkeit „. Zum folgenden vgl. Auguste Comte, Systémede Politique Positive ou Traité de Sociologie, Institutant la Religion de l‘ Humantité. Drei Bände (Nachdruck der Aus-gabe von 1851, Osnabrück: Otto Zeller, 1967)
Heiner Bielefeld
68
Rechtsstaat deshalb darauf achten, dass
er sich nicht für die Zwecke eines weltan-
schaulichen Säkularismus oder Laizismus
einspannen lässt. Diese Gefahr besteht –
trotz der Krise der modernen Fortschritt-
sideologien – auch heute noch. Dazu
einige Beispiele: Etatistische Ordnungs-
politiker, die sich auf die Komplexität der
multireligiösen Gesellschaft inhaltlich
nicht einlassen wollen, mögen versucht
sein, die vielfältigen Forderungen der
Religionsgemeinschaften – vom schuli-
schen Religionsunterricht über den Bau
von Gebetsstätten bis hin zum rituellen
Schlachten – mit modernistischer
Attitüde als Dunkelmännertum abzutun.
Kopftuch tragende muslimische Frauen
und Mädchen sehen sich nicht nur im lai-
zistischen Frankreich, sondern auch in
Deutschland dem Vorwurf ausgesetzt,
rückständig zu sein und sich der Moderne
zu verweigern. Zeitungsberichten zufolge
hat der ehemalige Präsident des Bundes-
amtes für Verfassungsschutz, Peter
Frisch, türkische Eltern dazu aufgerufen,
ihre Töchter ohne Kopftuch zur Schule zu
schicken, weil das islamische Kopftuch
ein Zeichen mangelnder Integrationsbe-
reitschaft in die säkulare Verfassungsord-
nung sei.8 Auch das „Projekt der
Moderne“ kann, wenn es zum fortschritt-
sideologischen Zivilisationsmodell ver-
dinglicht und „vormodernen Kulturen“
(gemeint ist damit meist der Islam)
dichotomisch entgegengesetzt wird,
zum Bestandteil politischer Ausgren-
zungsrhetorik werden.9
Gegen die Verwechslung oder Ver-
quickung mit einem fortschrittsideologi-
schen Säkularismus oder Laizismus gilt
es, den Sinn der rechtsstaatlichen Säkula-
rität kritisch zu klären: Die Säkularität des
Rechtsstaats zielt nicht etwa darauf ab,
die Religionsgemeinschaften an den
Rand der Gesellschaft abzudrängen, son-
dern gewährleistet ihnen vielmehr Mög-
lichkeiten freiheitlicher Entfaltung. Es
geht darum, den Pluralismus der religiö-
sen und weltanschaulichen Überzeugun-
gen in der modernen Gesellschaft poli-
tisch-rechtlich so zu gestalten, dass Frei-
heit und Gleichberechtigung aller ermög-
licht werden. Die im Menschenrecht auf
Religionsfreiheit begründete Säkularität
ist deshalb das genaue Gegenteil jeder
vormundschaftlichen Staatsideologie,
das Gegenteil auch eines ideologischen
Laizismus.10
8 Vgl. z.B. Süddeutsche Zeitung vom 14. April 19979 Ein typisches Beispiel für solche Ausgrenzungsrhetorik biete Bassam Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die
Menschenrechte ( München/Zürich 1994), S. 48: „Angesichts der Dominanz vormoderner Werte und Normen in derpolitischen Kultur des Islam ergibt sich der Gegensatz zwischen dem Islam und dem modernen Konzept der Men-schenrechte und damit ein Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation“.
10 Vgl. Martin Heckel, Das Säkularisierungsproblem in der Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts, in: Dil-cher/Staff (Hg.), a.a.O., S. 35-95, hier S. 73.
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
69
Dass im säkularen Rechtsstaat Religion
und Politik getrennt sein müssten, ist ein
selten hinterfragter verfassungspoliti-
scher Gemeinplatz. Die Formel der „Tren-
nung von Religion und Politik“ erweist
sich bei näherem Hinsehen jedoch als
unpräzise und irreführend. Nimmt man
sie wörtlich, dann geht der freiheitliche
Sinn der Religionsfreiheit – und damit
das normative Fundament der rechts-
staatlichen Säkularität – sogar verloren.
Die Religionsfreiheit beschränkt sich
nicht darauf, jedem einzelnen die Freiheit
seines persönliche Glaubens und seines
persönliches Bekenntnisses zu garantie-
ren. Sie umfasst über diese unverzicht-
bare individualrechtliche Komponente
hinaus auch das Recht der religiösen
Gemeinschaften, sich frei von staatlicher
Bevormundung selbst zu organisieren.
Und sie eröffnet den Religionsgemein-
schaften schließlich auch die Betätigung
in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Dass die Religionsgemeinschaften sich zu
politischen Fragen in der Öffentlichkeit
äußern können, ist mit der rechtsstaatli-
chen Säkularität nicht nur vereinbar, son-
dern erweist sich als Konsequenz jener
anspruchsvollen Auffassung von Religi-
onsfreiheit, die dem Rechtsstaat selbst
zugrunde liegt.
Religion ist nicht nur Privatangelegen-
heit, sondern hat ihren Ort auch in der
Öffentlichkeit. Und da die Öffentlichkeit
den Raum bildet, in dem Politik auch in
der Demokratie vollzieht, können Religi-
onsgemeinschaften auch an der Politik
teilhaben. Nicht um die Trennung von
Religion und Politik geht es demnach,
sondern um die institutionelle Trennung
von Religionsgemeinschaften und Staat.
Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn
wer im Namen der Säkularität die Tren-
nung von Religion und Politik fordert, plä-
diert womöglich für die Abdrängung aus
der Öffentlichkeit und redet damit einer
autoritär-laizistischen Kontrollpolitik das
Wort, die mit der Religionsfreiheit als
Menschenrecht unvereinbar ist.11
Die institutionelle Trennung von Religi-
onsgemeinschaften und Staat soll die
Religionsgemeinschaften vor staatlichen
Eingriffen in ihre inneren Angelegenhei-
ten schützen und gleichzeitig die Rechts-
stellung der Bürgerinnen und Bürger im
demokratischen Rechtsstaat von der Ver-
3. Keine Trennung von Religion und Politik
11 Vgl. Gerhard Luf, Die religiöse Freiheit und der Rechtscharakter der Menschenrechte, in: Schwartländer (Hg.), a.a.O.,S. 72-92, S. 90: „Sofern es Aufgabe des Grundrechts der Religionsfreiheit ist, nicht bloß formale Grenzen zu ziehen,sondern Realbedingungen des religiösen Freiheitshandelns zu gewährleisten, würde die, Privatisierung des Religiö-sen in einen Neutralismus münden, der eine spezifische Form der Diskriminierung religiöser Lebensformen dar-stellte „.
Heiner Bielefeld
70
Säkulare Verfassungsordnungen wur-
den historisch zunächst in Nordamerika
und Westeuropa durchgesetzt. Dies lässt
sich als Faktum schwerlich bestreiten. Es
stellt sich allerdings die Frage, wie man
dieses historische Faktum interpretiert.
Folgt daraus, dass die rechtsstaatliche
Säkularität ein exklusives Erbe des
Abendlandes darstellt? Ist die Säkularität
das gleichsam organische Resultat einer
spezifisch westlichen kulturellen Ent-
wicklung, vorbereitet bereits im mittelal-
quickung mit religiöser Mitgliedschaft
freihalten. Durch diese Trennung gewin-
nen daher beide an Freiheit: sowohl die
Religionsgemeinschaften als auch der
Staat.12
Auf der Grundlage wechselseitiger
Unabhängigkeit können Religionsge-
meinschaften und Staat durchaus mit-
einander kooperieren. Ihre institutionelle
Trennung meint keine völlige Bezie-
hungslosigkeit. Konkrete Kooperations-
verhältnisse zwischen beiden Seiten sind
mit der Religionsfreiheit allerdings nur
unter der Voraussetzung vereinbar, dass
die Zusammenarbeit nicht zur Privilegie-
rung bzw. Diskriminierung bestimmter
religiöser Gruppen führt. Das Prinzip der
religiös-weltanschaulichen Neutralität
des Staates muss also gewahrt bleiben. In
der Bundesrepublik Deutschland haben
sich Kooperationsverhältnisse zwischen
Staat und Kirchen in vielen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens entwickelt –
angefangen von der staatlichen Subven-
tionierung kirchlicher Krankenhäuser
über theologische Lehrstühle an staatli-
chen Universitäten bis hin zur Anerken-
nung der Kirchen (aber auch einiger
anderer Religionsgemeinschaften) als
Körperschaften öffentlichen Rechts.Diese
Kooperation hat sich in vieler Hinsicht
bewährt. Angesichts der neuen multireli-
giösen Realität in Deutschland bedürfen
die gewachsenen Strukturen des Zusam-
menwirkens von Staat und Kirchen
sicherlich kritischer Überprüfung, weil sie
sonst auf eine staatliche Privilegierung
der christlichen gegenüber nicht-christli-
chen Religionsgemeinschaften hinaus-
laufen können. Die notwendige Überprü-
fung sollte allerdings nicht der Anlass für
einen „Kahlschlag“ sein,sondern zu Über-
legungen führen, wie staatliche Förde-
rung in gerechter Weise auch nicht-
christlichen Religionsgemeinschaften
zugute kommen kann.
12 Vgl. José Casanova, Chancen und Gefahren öffentlicher Religion. Ost- und Westeuropa im Vergleich, in: Otto Kall-scheuer (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus (Frank-furt a.M.: Fischer, 1996), S. 181-210, hier S. 189.
4. Kein exklusiv abendländisches Zivilisationsmodell
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
71
terlichen Investiturstreit zwischen Impe-
rium und Sacerdotium, wenn nicht gar
schon im Jesuswort „Gebt dem Kaiser,
was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes
ist“? Der derzeit prominenteste Vertreter
einer solchen „kulturalistischen“ Verein-
nahmung der Säkularität heißt Samuel
Huntington, bekannt geworden durch
seine umstrittenen These vom drohen-
den Zusammenstoß der Zivilisationen
(„clash of civilisations“). In seiner weltpo-
litischen Landkarte bildet die Trennung
von Staat und Religionsgemeinschaften
ein exklusives Merkmal der westlichen
Zivilisation, durch das diese sich von allen
anderen Zivilisationen, namentlich der
Islam, dem Wesen nach unterscheidet.13
Wer wie Huntington die institutionelle
Trennung von Staat und Religionsge-
meinschaften zum Bestandteil des „kul-
turellen Codes“ der westlichen Zivilisa-
tion – und nur des Westens – stilisiert,
begeht allerdings zwei fundamentale
Fehler. Zunächst blendet er die geschicht-
lichen Kämpfe aus, die auch im Westen
nötig waren, um den säkularen Rechts-
staat durchzusetzen. Die katholische Kir-
che hat die Religionsfreiheit nach langem
internem Ringen erst auf dem Zweiten
Vatikanischen Konzil (1962-1965) offiziell
anerkannt.14 Das Jesuswort „Gebt dem
Kaiser, was des Kaisers ist“, das Vertreter
der christlichen Kirchen heute für eine
theologische Würdigung des säkularen
Rechtsstaates fruchtbar machen, bildet
nicht etwa die religiös-kulturelle „Wur-
zel“, aus der im Laufe von fast zweitau-
send Jahren der säkulare Staat mehr oder
minder organisch herausgewachsen ist.
Vielmehr verhält es sich umgekehrt, dass
erst auf dem Boden der Moderne rück-
blickend jene religiösen und kulturellen
Motive ausgemacht werden können, die
es erlauben, durch alle historischen
Umbrüche hindurch auch Elemente der
Kontinuität zu rekonstruieren.15
Die Vereinnahmung der Säkularität
zum ausschließlichen Erbe des christli-
chen Abendlandes bedeutet außerdem –
dies ist das zweite Problem –, dass man
dadurch Menschen nicht-westlicher Her-
kunft und nicht-christlicher Orientierung
(insbesondere Muslimen) von vornherein
die Möglichkeit abspricht, die Säkularität
auch im Blick auf ihre eigenen religiösen
und kulturellen Traditionen zu verstehen
und zu würdigen. Die Forderung, Mus-
lime müssten dem säkularen Rechtsstaat
anerkenne, wird somit unter der Hand
zur Zumutung einer zumindest kulturel-
len Konversion zum Abendland und sei-
nen „christlichen Werten“. Wenn Mus-
13 Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York: Simon & Schuster,1996), S. 42ff. u.ö.
14 Vgl. Konrad Hilpert, Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität (Düsseldorf: Patmos, 1991), S. 147.15 Vgl. Bielefeldt, a.a.O., S. 124ff., 194.
Heiner Bielefeld
72
Es hat lange gedauert, bis die christli-
chen Kirchen gelernt haben, den säkula-
ren Rechtsstaat als politisch-rechtliche
Voraussetzung für die freiheitliche Ent-
faltung der Religionsgemeinschaften in
der modernen Gesellschaft anzuerken-
nen und zu würdigen. Bis ins 20. Jahr-
hundert hinein herrschte in kirchlichen
Kreisen die Tendenz vor, Säkularität, reli-
giöse Gleichgültigkeit und Atheismus
eng miteinander zu assoziieren, wenn
nicht gar zu identifizieren. Mittlerweile
verstehen sich die christlichen Kirchen
als attraktive Anwälte der Religionsfrei-
heit und des säkularen Rechtsstaats. Dies
ist zweifellos einer erfreuliche Entwick-
lung. Problematisch ist es allerdings,
wenn die theologische Würdigung der
rechtsstaatlichen Säkularität in ihre Ver-
einnahmung zu „christlichen Werten“
umschlägt, wie dies gelegentlich
geschieht.
Vieles deutet darauf hin, dass unter
Muslimen Vorbehalte gegen den Begriff
der Säkularität nach wie vor stark verbrei-
tet sind. Sie treten gelegentlich selbst bei
ausgesprochen liberalen Reformern
zutage. Mohamed Talbi beispielsweise,
seit Jahrzehnten einer der entschieden-
sten muslimischen Vorkämpfer der Religi-
lime sich gegen eine solche Zumutung
verwahren, kann dies nicht verwundern.
Um der gleichen Freiheit und gleichbe-
rechtigten Partizipation aller in der multi-
kulturellen und multireligiösen Gesell-
schaft willen muss der Rechtsstaat darauf
verzichten, die tragenden Verfassungs-
prinzipien in der Manier Huntingtons als
exklusives Erbe der westlich-christlichen
Zivilisation zu propagieren. Die Tatsache,
dass der säkulare Rechtsstaat in Norda-
merika und Westeuropa historisch erst-
mals wirksam geworden ist, bleibt unbe-
stritten. Deshalb aber die Geltung des
säkularen Verfassungsmodells auf die
westliche Zivilisation oder Kultur zu
beschränken, wäre politisch verhängnis-
voll und rechtssystematisch ein Kurz-
schluss. Denn durch eine solche exklusive
Identifizierung der rechtsstaatlichen
Säkularität mit einer bestimmten religiö-
sen oder kulturellen Tradition müsste
gerade jenes Prinzip der respektvollen
Nicht-Identifikationn, das dem säkularen
Rechtsstaat normativ zugrunde liegt, aus
dem Blick geraten.
III. Muslimische Kritik der Säkularität
1. Säkularität als Ausdruck des Unglaubens
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
73
onsfreiheit, äußert sein Unbehagen
gegenüber säkularen Rechtsvorstellun-
gen, in denen, wie er meint,„unterschwel-
lig eine Vergötzung des Menschen“
anklingt.16 Ähnlich ambivalent reagiert
die islamische feministische Theologin
Riffat Hassan. Sie glaubt, die Allgemeine
Menschenrechtserklärung der Vereinten
Nationen nur dadurch retten zu können,
dass sie sie zu einem quasireligiösen
Dokument ummünzt. Obwohl der Termi-
nologie nach „säkular“, sei die Menschen-
rechtserklärung „ihrem Wesen nach ‚reli-
giöser‘ als zahlreiche ‚Fatwas‘, die von vie-
len muslimischen oder anderen religiösen
Autoritäten und Institutionen ausgestellt
wurden“.17 Auch der liberale islamische
Rechtstheoretiker Abdullahi An-Na’im,
sowohl wissenschaftlich wie politisch seit
langem für die Menschenrechte aktiv, ver-
steht sein Plädoyer für eine Reform des
islamischen Rechts als bewusste Alterna-
tive zum westlichen säkularen Reht.18
Selbst im liberal-islamischen Diskurs wird
der Begriff der Säkularität also offenbar
weithin als Ausdruck einer antireligiösen
Ideologie wahrgenommen, gegen die
Muslime geistigen Widerstand leisten
sollten.
Von ganz anderer Qualität sind die Vor-
behalte gegen die Säkularität bei islami-
schen Politikern und Intellektuellen, die
das „islamische System“ (dessen Kontu-
ren allerdings zumeist sehr vage bleiben)
als überlegene Alternative gegen den
säkularen Rechtsstaat ausspielen. So plä-
diert der einflussreiche pakistanische
Schriftsteller Abul A’la Mawdudi, zwanzig
Jahre nach seinem Tod mittlerweile
schon ein Klassiker des Islamismus, für
eine islamische „Theo-Demokratie“, in
der die Gemeinschaft der Gläubigen
gleichsam als kollektiver Statthalter
Gottes auf Erden die Weisungen der
Scharia politisch zur Geltung bringen
soll.19 Mawdudis Entwurf der Theo-
Demokratie versteht sich ausdrücklich als
Alternative zu den säkularen Demokra-
tien des Westens. Zwar soll auch die
Theo-Demokratie eine demokratische
Komponente haben. Sie bleibt jedoch
eine Demokratie primär der Muslime.
Zumindest die politischen Schlüsselfunk-
tionen des Staates müssen nach Maw-
dudi den Muslimen vorbehalten bleiben,
weil nur sie die religiös-normativen
Grundlagen der Verfassung verstehen
und konsequent verwirklichen können.20
16 Mohamed Talbi, Religionsfreiheit – Recht des Menschen oder Berufung des Menschen?, in: Schwartländer (Hg.), Frei-heit der Religion, a.a.O., S. 242-260, hier S. 259.
17 Riffat Hassan, On Human Rights and the Qur’anic Perspective, in: Arlene Swidler (Hg.), Human Rights in ReligiousTraditions (New York: The Pilgrim Press, 1892), S. 51-65, hier S. 53.
18 Vgl. Abdullahi Ahmed An-Na’im,Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law(New York: Syracuse Univerisity Press, 1990), S. 10: „The aim of this book is to contributeto the process of changingMuslim perceptions, attitudes, and policies on Islamic and not secular grounds. „
19 Abdul A’la Mawdudi, The Islamic Law and Constitution (Lahore: Islamic Publications, 3. Aufl. 1967), S. 147f.20 Vgl. Mawdudi, a.a.O. , S. 295ff.
Heiner Bielefeld
74
21 Yvonne Y. Haddad, Sayyid Qutb: Ideologue of the Islamic Revival, in: Joseph L. Esposito (Hg.), Voices of ResurgentIslam ( Oxford University Press, 1983), S. 67-98
22 Vgl. Dursun Tan, Aleviten in Deutschland. Zwischen Selbstethnisierung und Emanzipation, in: Gerdin Jonker (Hg.), Kernund Rand. Religiöse Minderheiten aus der Türkei in Deutschland (Berlin: Verlag Das Arabische Buch, 1999), S. 65-88
23 Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche inDeutschland (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997), S. 103f.
24 Vgl. Heitmeyer u.a., a.a.O., S. 123.
Polemischer noch als Mawdudi ist Sayyid
Qutb, der 1966 hingerichtete Märtyrer
der ägyptischen Muslimbruderschaft.
Sein politischer Kampf gilt der „jahiliyya“,
d.h. jener heidnischen „Unwissenheit“,
die im traditionellen Islam als Bezeich-
nung der vor-islamischen Zeit diente und
die sich nach Qutb in allen nicht-islami-
stischen Vorstellungen manifestiert.21
Auch der säkulare Rechtsstaat, der nicht
göttliches, sondern weltliches Recht zur
Grundlage hat, ist nach Qutb Ausdruck
der gottlosen jahiliyya, die die Muslime
mit aller Entschiedenheit überwinden
sollen. Die Schriften von Mawdudi und
Sayyid Qutb sind in zahlreiche Sprachen
übersetzt worden und liegen mittler-
weile auf den Büchertischen islamischer
Gruppen in aller Welt aus; sie sind auch
unter den in Deutschland lebenden Mus-
limen verbreitet. Solche islamistischen
Schriften tragen sicherlich dazu bei, Skep-
sis und Vorbehalte gegenüber der rechts-
staatlichen Säkularität zu verfestigen.
Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber
dem säkularen Staat ist in Deutschland
jedoch offenbar Sache einer radikalen
Minderheit unter Muslimen. Die Mehr-
heit hingegen scheint sich mit den beste-
henden Verhältnissen mehr oder weniger
arrangiert zu haben (was Unsicherheiten
und Ambivalenzen im Verständnis der
Säkularität natürlich nicht ausschließt).
Besonders deutlich fällt die Bejahung des
säkularen Rechtsstaates auch bei den
Aleviten aus, einer innerislamischen Min-
derheit, die aufgrund einer langen Diskri-
minierungsgeschichte weiß, was die
institutionelle Differenz zwischen Staat
und Religionsgemeinschaften wert ist.22
Bemerkenswert sind in diesem Zusam-
menhang einige Ergebnisse der Bielefel-
der „Fundamentalismus-Studie“ von
1997: Drei Viertel der befragten türkisch-
stämmigen muslimischen Jugendlichen
gaben an, dass sie mit den Möglichkei-
ten, in Deutschland ein religiöses Leben
zu führen, zufrieden oder sogar voll
zufrieden sind;23 zwei Drittel lehnten die
Auffassung ab, dass die Religion die Poli-
tik einseitig dominieren solle, während
zugleich eine Mehrheit von ca. 60 Pro-
zent die öffentliche Wirksamkeit des
Islams – vergleichbar dem Wirken ande-
rer öffentlicher Institutionen – befürwor-
tete.24
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
75
Islamische Vorbehalte gegen die Säkula-
rität von Staat und Recht werden häufig
auch mit dem Hinweis begründet, dass es
sich dabei um eine spezifisch christliche
Antwort auf ein spezifisch christliches Pro-
blem handle. Im Gegensatz zum Christen-
tum habe der Islam (jedenfalls der sunniti-
sche Islam) einen institutionalisierten Kle-
rus niemals gekannt.25 Der Prozess der
Befreiung des Staates vom Klammergriff
einer klerikalen Hierarchie, der in Europa in
der Neuzeit zur Säkularisierung des Staa-
tes und des staatlichen Rechts geführt
habe, sei deshalb für den Islam niemals
nötig gewesen. Da der Islam das christli-
che Problem der Priesterherrschaft nicht
kenne, müsse er auch die christliche
Lösung dieses Problems nicht überneh-
men.
Das Argument, dass der Islam eine kle-
rusfreie Religion sei, mündet gelegentlich
auch in den Anspruch, dass die Säkularität
des Staates im Islam im Grunde immer
schon anerkannt sei. Die pauschale Nega-
tion der Säkularität als eines vermeintlich
exklusiv westlich-christlichen Modells
kann so umschlagen in eine pauschale
Anerkennung der Säkularität, die aller-
dings vordergründig bleibt, wenn sie die
inhaltliche Auseinandersetzung mit dem
freiheitlichen „Sinn“ des säkularen Rechts-
staates ausspart, ja geradezu unterläuft.
Denn wenn der Begriff der Säkularität von
vornherein ausschließlich auf spezifisch
westlich-christliche Formen des politi-
schen Klerikalismus bezogen ist, dann blei-
ben islamische Erfahrungen mit einem
autoritären, oft auch politisch manipulier-
ten Gottesrecht gänzlich aus dem Blick.
Diese Sorge jedenfalls äußert Fuad Zaka-
riya, der kritisch zu bedenken gibt:„Gewiss
ist der Islam ohne Äquivalent zum Papst-
tum, aber es hat immer starke religiöse
Machtorgane gegeben, deren Autorität
gelegentlich weiter reichte als die des
Staates“.26 Die innerislamische Auseinan-
dersetzung mit religiöser und politischer
Unfreiheit, die aus der Verquickung von
Staatsgewalt und religiöser Autorität
resultiert, steht für Zakariya weiterhin
noch aus. Es wäre ein Fehler, wenn Mus-
lime sich diese kritische und selbstkritische
Auseinandersetzung mit dem lapidaren
Hinweis ersparen würden, dass es einen
Klerus im sunnitischen Islam nie gegeben
habe.
2. Die Säkularität des Staates – eine spezifisch christliche Lösung?
25 Auch Mawdudi (a.a.O., S. 147) besteht darauf, dass die von ihm propagierte „Theo-Demokratie „ nicht mit der politi-schen Herrschaft eines Klerus verwechselt werden dürfte, wie sie für das christliche Mittelalter typisch gewesen sei.Vielmehr sei die islamische Theokratie vom Klerikalismus westlicher Prägung völlig verschieden: „…Islamic theo-cracy of which Europe has had bitter experience wherein a priestly class, sharply marked off from the rest of thepopulation, exercises unchecked domination and enforces laws of ist own making in the name of God…“
26 Fuad Zakariya, Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit, in: Michael Lüders (Hg.), Der Islam im Aufbruch?Perspektiven der arabischen Welt (München/Zürich: Piper, 1992), S. 228-245, insbes. S. 236.
Heiner Bielefeld
76
Die ernsthafte innerislamische Ausein-
andersetzung um den säkularen Rechts-
staat, wie Fuad Zakariya sie anmahnt, ist
auch im islamischen Kontext nichts völlig
Neues. Schon im Jahre 1925 erschien ein
Werk, in dem die Säkularität des Staates
ausdrücklich gefordert wird, und zwar
interessanterweise mit genuin islami-
schen Argumenten. Das Buch trägt den
Titel „Der Islam und die Grundlagen der
Macht“; sein Verfasser, damals Professor
an der Kairoer Al-Azhar-Universität, heißt
Ali Abdarraziq.27 Konkreter Anlass des
Buches war die Abschaffung des Kalifats
durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahre
1924. Obwohl die Absetzung des letzten
Kalifen ein machtpolitischer Akt und
gewiss keine religiöse Reformmaßnahme
war, sieht Abdarraziq in der Überwin-
dung des Kalifats eine Chance für den
Islam. Denn der Anspruch der Kalifen, ein
göttlich begründetes Herrschaftsamt
auszuüben oder gar als unmittelbare
„Schatten Gottes auf Erden „ zu fungie-
ren, bedeute nichts anderes als abergläu-
bischen Bilderkult.28 Dieser aber sei
unvereinbar mit dem strengen Mono-
theismus, wie ihn der Koran verkündet.29
Außerdem verweist Abdarraziq darauf,
dass der Koran so gut wie keine detaillier-
ten Anweisungen zur Staatsführung ent-
hält.30 Die koranische Offenbarung als
staatspolitisch maßgebendes Gesetz-
buch zu lesen, sei daher nicht nur sinnlos,
sondern stehe im Widerspruch zu Geist
und Buchstaben des Korans, ja laufe
zuletzt sogar auf die Leugnung des kora-
nischen Anspruchs auf die Endgültigkeit
und Abgeschlossenheit der Offenbarung
hinaus.31
In der Tradition Abdarraziqs stehen
heute beispielsweise seine ägyptischen
Landsmänner Muhammad Said al-
Ashmawy, Nasr Hamid Abu Zaid und Fuad
Zakariya, die mit unterschiedlichen Akzen-
ten die Säkularität von Recht und Staat aus
islamischer Sicht vertreten. So wendet sich
al-Ashmawy gegen jedwede Sakralisie-
rung staatlicher Politik, die sowohl für die
Politik als auch für die Religion verhee-
rende Konsequenzen haben müsse.32
Denn, wie die Erfahrung lehrt, mündet die
durch Sakralisierung gegen kritische Infra-
gestellung immunisierte politische Herr-
IV. Das Erbe Ali Abdarraziqs
27 Ich beziehe mich im folgenden auf die französische Übersetzung : Ali Abdarrazig, L’islam et les bases du pouvoir, inzwei Teilen erschienen in: Revué des Études Islamiques, Bd. VII (1933), S. 353-391 und Bd. VIII (1934), S. 163-222.
28 So Abdarrazig, a.a.O., Teil 1, S. 391.29 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 220f.30 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 198.31 Vgl. Abdarrazig, a.a.O., Teil 2, S. 206f32 Vgl. Muhammad Said al-Ashmawy, l’islamisme contre l’islam (Paris: La Découverte, 1989), S. 11, 34, 85 u.ö.
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
77
schaft nicht selten in Despotie. Gleichzei-
tig verkommt die Religion zum Instrument
machtpolitischer Strategien und Intrigen.
Über solche Miss-brauchserfahrungen
hinaus widerstreitet nach al-Ashmawy
theokratische Herrschaft bereits ihrem
Anspruch nach der Zentralbotschaft des
Korans, nämlich dem strengen Monotheis-
mus, in dessen Licht Theokratie als eine
Form der Gotteslästerung erscheinen
muss, weil dadurch der Name Gottes auf
die Ebene des politischen Machtkampfes
herabgewürdigt wird.
Abu Zaid weist in seiner Kritik des herr-
schenden religiösen Diskurses auf eine
strategisch motivierte Vermischung
zweier unterschiedlicher Ebenen hin: Die
in der modernen Säkularität angelegte
institutionelle Trennung von Staat und
Kirch bzw. Religionsgemeinschaften werde
von Konservativen und Islamisten fälsch-
lich mit einer Abtrennung des Glaubens
vom Leben und von der Gesellschaft
gleichgesetzt.33 In der vom herrschenden
religiösen Diskurs beeinflussten öffentli-
chen Meinung erscheine die Säkularität
schließlich gar als Äquivalent für Atheis-
mus.34 Dagegen stellt Abu Zaid ein Ver-
ständnis von Säkularität, das „nicht gegen
die Religion, sondern gegen die Herrschaft
der Religion über alle Bereiche „35 gerichtet
ist und konkret die politische Macht der
Theologen beschränken soll. Mit der Forde-
rung nach Säkularisierung des staatlichen
Rechts will Abu Zaid die Religion nicht aus
der Öffentlichkeit verdrängen, sondern
den religiösen Diskurs aus dem Klammer-
griff politischer Institutionen und Ideolo-
gien befreien und damit überhaupt erst
als einen freien Diskurs etablieren.
Ein ähnliches Verständnis von Säkula-
rität vertritt auch Fuad Zakariya. Er entlarvt
die von manchen Islamisten beschworene
Antithetisch von göttlichem und mensch-
lichem Recht als eine ideologische Schein-
alternative. Denn auch diejenigen, die
göttliches Recht für sich und ihre Position
in Anspruch nehmen, bleiben fehlbare
Menschen, die sich allerdings weigern, ihre
Fehlbarkeit offen einzugestehen und ihre
politischen Vorschläge demokratischer Kri-
tik zu unterwerfen. Dagegen versteht
Zakariya die moderne Säkularität als politi-
sches Ordnungsprinzip, das der Fehlbarkeit
des Menschen gerecht wird und das Attri-
but der Unfehlbarkeit allein Gott über-
lässt:„Die Säkularisierung weigert sich,aus
dem Menschen einen Gott zu machen
oder ein unfehlbares Wesen. Gleichzeitig
erkennt sie die Grenzen menschlicher Ver-
nunft und weiß um die Unzulänglichkeit
politischer und sozialer Systeme.“36
33 Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Dikurses (Frankfurt a.M.: dipa-Verlag, 1996), S. 26f.34 Vgl. Abu Zaid, a.a.O., S. 45.35 Abu Zaid, Die Befreiung des Korans (Interview-Gespräch mit Navid Kermani), in: Abu Zaid, a.a.O., hier S. 243.36 Zakariya, a.a.O., S. 243.
Heiner Bielefeld
78
Die Säkularität des Rechtsstaates ist
ein hohes, aber auch ein hochgradig
gefährliches Gut. Sie kann nur dann als
freiheitliches Prinzip der demokratischen
Verfassung zur Geltung kommen, wenn
man sie als politische Herausforderung
ernst nimmt. Zunächst gilt es den frei-
heitlichen Anspruch des säkularen
Rechtsstaats gegen ideologische und kul-
turalistische Verkürzungen kritisch zu
klären. Es muss klargestellt werden, dass
die Säkularität des Rechtsstaats weder
Ausdruck einer laizistischen Fortschrittsi-
deologie noch Bestandteil etatistischer
Kontrollpolitik ist, noch auch ein exklusiv
westlich-christliches Modell der Rege-
lung des Verhältnisses von Staat und
Religionsgemeinschaften darstellt. Viel-
mehr hat der säkulare Rechtsstaat seinen
Sinn im Menschenrecht auf Religionsfrei-
heit. Auf der Grundlage einer solchen
prinzipiellen Klarstellung kann ein pro-
duktives Gespräch mit Muslimen statt-
finden, darunter auch mit Angehörigen
islamistischer Gruppen. Die autoritären
Implikationen islamistischer Ideologien
nach Art Mawdudis oder Sayyid Qutbs
müssen dabei offen und kritisch ange-
sprochen werden.
Die beste Verteidigung des säkularen
Rechtsstaat besteht darin, die Religions-
freiheit als Auftrag ernst zu nehmen und
möglichst konsequent zur Geltung zu
bringen. Wie alle Menschenrechte zielt
auch die Religionsfreiheit auf Gleichbe-
rechtigung. Es ist jedoch bekannt, dass
für die muslimischen Minderheiten in
Deutschland die rechtliche Gleichstel-
lung mit den christlichen Kirchen noch
aussteht. Hier hat die Mehrheitsgesell-
schaft gegenüber den Muslimen eine
Bringschuld abzutragen. Gewiss: Die
Obwohl die genannten Autoren von
Abu Zaid bis Zakariya im islamischen Kon-
text sehr umstritten sind (welcher profi-
lierte Denker wäre dies nicht!), zeigen sie,
dass eine islamische Würdigung der
rechtsstaatlichen Säkularität sinnvoll ist.
Dadurch wird die Säkularität selbst nicht
zum islamischen Prinzip stilisiert.Sowenig
eine christliche Anerkennung der Säkula-
rität dazu führen sollte, letztere in einen
Kanon „christlicher Werte“ zu vereinnah-
men (wie dies oft genug geschieht), sowe-
nig darf die islamische Würdigung der
Säkularität in ihre einseitige „Islamisie-
rung“ münden. Vielmehr bleibt die Säku-
larität des Rechtsstaats eine Konsequenz
der Religionsfreiheit, die als allgemeines
Menschenrecht für eine Würdigung von
unterschiedlichen religiösen und weltan-
schaulichen Perspektiven offen steht.
V. Konsequenzen
Muslimische Minderheiten im säkularen Rechtsstaat
79
konkreten Probleme – von der Anerken-
nung islamischer Verbände als Körper-
schaften öffentlichen Rechts über die
Organisation eines islamischen Religi-
onsunterrichts bis hin zur Ausbildung
islamischer Theologen und Religionsleh-
rer(innen) an staatlichen Universitäten –
lassen sich nicht leicht lösen. Immer noch
bleibt unklar, welcher Verband in
Deutschland welche Teile der muslimi-
schen Bevölkerung repräsentiert. Es fehlt
an Transparenz der innerislamischen
Strukturen. Auch die Artikulationsfähig-
keit der islamischen Verbände in der
demokratischen Zivilgesellschaft kann
sicherlich noch verbessert werden. Gele-
gentlich wird auf muslimischer Seite
allerdings der Verdacht laut, dass Reprä-
sentanten der deutschen Politik und Ver-
waltung die unbestreitbaren Defizite und
Probleme zum willkommenen Vorwand
dafür nehmen, muslimische Forderun-
gen auf unbestimmte Zeit zu verschie-
ben. Wenn selbst die Befürworter eines
islamischen Religionsunterrichts gern
mit der Notwendigkeit argumentieren,
auf diese Weise den nichtsstaatlichen
Koranschulen das Wasser abgraben zu
können, so ist dies eines freiheitlichen,
auf die Religionsfreiheit gegründeten
Rechtsstaates eigentlich unwürdig.
Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen.
Bei allen unleugbaren Schwierigkeiten
und trotz vieler ungeklärter Fragen gibt
es prinzipiell keine Alternative dazu, Mul-
simen die Chance zur Mitgestaltung an
dieser Gesellschaft zu geben, und zwar
nach Maßgabe gleicher Freiheit. Wer
darin eine Gefahr für die säkulare Rechts-
ordnung sieht, hat nicht verstanden,
worin der Sinn der rechtsstaatlichen
Säkularität besteht.
Dr. HD. Heiner Bielefeld unterrichtet an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld.
Notizen
80
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Bislang erschienen:1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*2. Sozialer Rechtsstaat*3. Informationsgesellschaft*4. Verwaltungsreform*5. Arbeit und Wirtschaft*6. Rechtsextremismus*7. Brandenburg – die neue Mitte Europas*8. Was ist soziale Gerechtigkeit?9. Bildungs- und Wissensoffensive10. Zukunftsregion Brandenburg11. Wirtschaft und Umwelt12. Frauenbilder13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem14. Brandenburgische Identitäten15. Der Islam und der Westen