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POLITIK FÜR FAMILIEN UND KINDER MATTHIAS PLATZECK : Finnland ist mehr als Pisa TORALF STAUD : Nicht aus 40, sondern aus 14 Jahren! GÜNTER BAASKE : Brandenburg – ein Land für Familien BERT RÜRUP UND SANDRA GRUESCU : Familienpolitik ist Wachstumspolitik LUDWIG GEORG BRAUN : Familie? Ja bitte! SEBASTIAN SASS : Kinder im Mittelpunkt HEIKE LIPINSKI : Familie beginnt vor Ort ANNE-KATHRIN OELTZEN : „Uns ist etwas anderes versprochen worden!“ WILMA SIMON : Ideologie und Wirklichkeit Kinder? Kinder! BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 23 JULI 2004 www.perspektive21.de

perspektive21 - Heft 23

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Kinder? Kinder!

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POLITIK FÜR FAMILIEN UND KINDER

MATTHIAS PLATZECK : Finnland ist mehr als Pisa

TORALF STAUD : Nicht aus 40, sondern aus 14 Jahren!

GÜNTER BAASKE : Brandenburg – ein Land für Familien

BERT RÜRUP UND SANDRA GRUESCU : Familienpolitik ist Wachstumspolitik

LUDWIG GEORG BRAUN : Familie? Ja bitte!

SEBASTIAN SASS : Kinder im Mittelpunkt

HEIKE LIPINSKI : Familie beginnt vor Ort

ANNE-KATHRIN OELTZEN : „Uns ist etwas anderes versprochen worden!“

WILMA SIMON : Ideologie und Wirklichkeit

Kinder? Kinder!

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 23 JULI 2004 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de alspdf-Datei herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnengerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches ParteiensystemHeft 14 Brandenburgische IdentitätenHeft 15 Der Islam und der WestenHeft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes ReformprojektHeft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? H

EFT

23

JULI

200

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SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

Kin

der?

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der!

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Das neue DeutschlandDie Zukunft als ChanceHerausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr336 Seiten. Broschur. s 15,90 (D)ISBN 3-351-02553-X

Kr ise im Westen, Umbruch im Osten – wie wir gemeinsamChancen beg rei fen und Refor men durchsetzen. Mit Bei trägenvon: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, UweRada, Landol f Scherzer, Alexander Thumfar t und vie len anderen

W W W. A U F B A U -V E R L A G . D E

aufbauV E R L A G

Das neueDeutschland

Das Debattenmagazin

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR im Zeitschriftenhandel erhältlich oder im Abonnement zu beziehen:

als Jahresabo zum Preis von 30,- EURals Studentenjahresabo zum Preis von 25,- EUR

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Kinder? Kinder!D er Aufbau Ost hat Halbzeit – eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und

neue Ziele abzustecken. Dass dabei der Blick auf andere Länder lohnt, hatdie Reise von Matthias Platzeck nach Finnland gezeigt – ein Land, in dem sicheine hoch produktive Wirtschaft, ein gutes Bildungssystem und einfunktionierender Sozialstaat wechselseitig bedingen. In diesem Heft ziehtMatthias Platzeck eine Bilanz seiner Reise und zieht Schlüsse für Brandenburg.

Im Heft 21/ 22 der Perspektive 21 haben wir den Schwerpunkt auf die ökono-mischen Perspektiven der neuen Bundesländer gelegt. Doch Wirtschaft und Auf-schwung haben Voraussetzungen: Die Menschen müssen sich im Land wohlfühlen, sie wollen Geborgenheit, und – nach allem, was wir wissen – wünschensie sich eine Zukunft für ihre Familie, am liebsten vor Ort. In diesem Heft lenkenwir deshalb den Blick auf Familien- und Kinderfreundlichkeit. Dass wir mehrKinder im Land brauchen, ist nicht nur eine demografische und ökonomischeNotwendigkeit – wie Bert Rürup und Sandra Gruescu erläutern. Georg LudwigBraun geht noch einen Schritt weiter: Er weist nach, dass sich Familienfreund-lichkeit für Unternehmen sogar rechnet.

Wie muss ein Land aussehen, in dem Kinder und Familien im Mittelpunktstehen? Welches Klima sollte im Land herrschen, damit Frauen Beruf und Kinderunter einen Hut bringen können? Der Osten hat dem Westen einiges voraus –und zwar nicht nur ein sehr gutes Kinderbetreuungssystem. Hier wird mit Selbst-verständlichkeit ein Familienbild gelebt, das sich viele Frauen im Westen wün-schen würden – und das einige Konservative kaum ertragen können. Doch auchdiese Errungenschaft muss immer wieder neu gelernt und verteidigt werden.

Kontinuität und Wandel betreffen alle Lebenslagen – auch in der Perspektive 21.Wir haben dem neuen Heft ein kleines face lifting verpasst. Wir wollten das Heftlesbarer und moderner machen, ohne das gewohnte Gesamtbild verschwinden zulassen. Wir hoffen, dass uns dies gelungen ist.

KLAUS NESS

[ editorial ]

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[ impressum ]

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HERAUSGEBER

SPD-Landesverband Brandenburg

Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in

Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vor-

pommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (ViSdP), Ingo Decker, Tobias

Dürr, Benjamin Ehlers, Klaus Faber, Tina

Fischer, Klara Geywitz, Thomas Kralinski,

Raimund Kropp, Lars Krumrey, Christian

Maaß, Till Meyer, Manja Orlowski

ANSCHRIFT – SPD-LANDESVERBAND

Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

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Kinder? Kinder!POLITIK FÜR FAMILIEN UND KINDER

MAGAZIN—

MATTHIAS PLATZECK : Finnland ist mehr als Pisaoder: Das finnische Regine-Hildebrandt-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

TORALF STAUD : Nicht aus 40, sondern aus 14 Jahren!Was der Westen vom Osten lernen kann – und was nicht . . . . . . . . . . . . . . . 13

THEMA—GÜNTER BAASKE : Brandenburg – ein Land für Familien . . . . . . . . . . . . . . . . 17

BERT RÜRUP UND SANDRA GRUESCU : Familienpolitik ist Wachstumspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

LUDWIG GEORG BRAUN : Familie? Ja bitte!Warum sich Familienpolitik für die Wirtschaft lohnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

SEBASTIAN SASS : Kinder im MittelpunktNeuvola als Modell des aktivierenden Sozialstaates in Finnland . . . . . . . . . . . 45

HEIKE LIPINSKI : Familie beginnt vor OrtFamilienfreundlicher Umbau von KommunenNotwendigkeit – Nutzen – Patentrezepte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

ANNE-KATHRIN OELTZEN : „Uns ist etwas anderes versprochen worden!“Was jungen Frauen heute die Familiengründung erschwert . . . . . . . . . . . . . . 65

WILMA SIMON : Ideologie und WirklichkeitFrauen- und Familienpolitik nach Schönbohms Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

[ inhalt ]

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ODER: DAS FINNISCHE REGINE-HILDEBRANDT-PRINZIPVON MATTHIAS PLATZECK

Finnland ist mehr als Pisa

D ie Seen liegen ruhig, Hügel durchziehen die Landschaft, Alleen und Bäumemachen das Land zu einem grünen Meer. Große Städte gibt es in der kargen

Landschaft kaum, ebenso wenig wie Bodenschätze. Die Bevölkerungsdichte istgering, kleine Siedlungen säumen die Landstraßen. Der Menschenschlag, der hierlebt, ist eher ruhig und gelassen. Viel mussten sie mitmachen, zu Beginn der1990er Jahre. Die Arbeitslosigkeit explodierte innerhalb von zwei Jahren von fastNull auf 20 Prozent. Die Wirtschaft ist eingebrochen, vor allem weil die Märkteim Osten – zusammen mit der Sowjetunion – über Nacht verschwunden waren.Und viele Menschen zogen und ziehen vom Land in die Städte.

Alles erinnert ein wenig an Brandenburg, doch wir sind in Mittelfinnland,genauer gesagt in Jyväskylä. Was macht Finnland, was macht eine Region wieJyväskylä so interessant für Brandenburg? Gemeinsam haben beide die Erfahrung,dass nach jahrelanger relativer wirtschaftlicher Stabilität alles anders kommenkann. Dass die Wirtschaft in unverstellbarer Härte und Geschwindigkeit einbre-chen kann und vormals richtig Geglaubtes falsch ist.

Das Beispiel Finnland lehrt aber auch, das wirtschaftlicher Aufbruch und Er-folg möglich sind. Die Arbeitslosigkeit ist heute nur noch halb so hoch wie Mitteder 1990er Jahre, Finnland gehört zu den wachstumsstärksten Ländern Europas,pro Kopf ist das Bruttosozialprodukt mittlerweile höher als in Deutschland. SeitMitte der 1990er Jahre wächst Finnland schneller als der EU-Durchschnitt. Inder Wettbewerbsfähigkeit hat sich das Land laut Weltwirtschaftsforum von Platz25 auf Platz 1 vorgearbeitet. Nokia ist der Inbegriff des finnischen Wunders undheute an jedermanns Ohr. Wer kannte vor zehn, zwanzig Jahren schon irgendeinfinnisches Produkt?

Jyväskylä – seit 20 Jahren Potsdams Partnerstadt – gehört heute zu den drei,vier finnischen Boomregionen. Was haben die Finnen anders gemacht? Was lässt

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[ matthias platzeck ]

sich vom finnischen Beispiel lernen? Und vor allem: Was können Regionen tun,um in der globalen Wirtschaft mitzuhalten? Wie können sie Entwicklungenbeeinflussen, die vermeintlich nicht oder kaum zu steuern sind? Manch einer hatvon Finnland schon durch die Pisa-Studie gehört. Doch Finnland ist mehr alsPisa. Faszinierend ist, wie es dort gelingt, günstige Wechselwirkungen zwischenguter Bildung und Ausbildung, sozialer Sicherheit und hoher Familienorientie-rung einerseits sowie wirtschaftlicher und technologischer Innovation andererseitszu organisieren.

Mit Engagement und Elan für die Region

Kommt man heute nach Jyväskylä, fällt einem als erstes die positive Grundstim-mung auf. Die ganze Stadt ist in Bewegung. Jyväskylä ist für deutsche Verhält-nisse eine junge Stadt: 1837 wurde sie gegründet. Kurz danach kam die Univer-sität dazu, die 1994 um eine Fachhochschule ergänzt wurde. Und Jyväskyläwächst. Mittlerweile hat die Stadt über 80.000 Einwohner, davon etwa 20.000Studenten.

Ihr Bürgermeister ist ein engagierter Mann. Er ist für Schulen, für Kindergär-ten und die Gesundheitsversorgung verantwortlich. Und für regionale Wirt-schaftsförderung. Jyväskylä hat sehr früh erkannt: Allein mit Holz – und davongibt es wirklich reichlich – lässt sich die Zukunft nicht mehr gestalten. Die Stadthat in ihren Studenten einen „Scheck“ auf die Zukunft entdeckt. Die Universitätwurde ausgebaut – Nanotechnologie, Physik und Psychologie gehören heute zuden wichtigsten Standbeinen des Hochschulbetriebes in Jyväskylä und machendie Universität zu einer der größten und begehrtesten in Finnland.

Doch damit nicht genug. Die Hochschulen sind aus dem Elfenbeinturm derWissenschaft ausgezogen. Nichts repräsentiert dies so sehr wie Agora. Hinter demgriechischen Namen verbirgt sich ein modernes, lichtdurchflutetes Gebäude amUfer des Sees von Jyväskylä. Links von Agora hat sich Nokia niedergelassen, imRücken das alte Unigelände. Am anderen Ufer des Sees – durch eine Brücke ver-bunden – findet sich der neue Campus der Uni. Das Agora-Gebäude selbst be-steht aus drei Teilen. In einem Komplex hat sich die psychologische Fakultät nie-dergelassen, im Mittelteil wird geforscht, und im dritten Gebäudekomplex habensich die ersten Firmen niedergelassen. Die Chefin der Firma Mobile Mirror liebtdiese kurzen Wege. Sie gibt im Agora-Haus Vorlesungen, sie nimmt an For-schungsprojekten teil, und leitet ihr eigenes kleines Unternehmen. Sie profitiertvon der Nähe und der Zusammenarbeit – und sie sucht sich in ihren Vorlesungen

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[ finnland ist mehr als pisa ]

ihre Forschungsmitarbeiter und zukünftigen Angestellten heraus. Agora symboli-siert die Vision von Jyväskylä, die Human Technology City zu sein. Dahinter ver-steckt sich der Anspruch, menschliche Bedürfnisse mit moderner Informations-und Kommunikationstechnologie zu verknüpfen, Technik menschlich zu machen.Es geht darum, Autofahren sicherer zu machen, es geht um Lernen im jungenund fortgeschrittenen Alter. Auf den Anspruch der Human Technology City trifftman in Jyväskylä immer wieder.

Wie die Zukunft der Arbeit aussehen kann, lässt sich direkt neben Agorasehen. Nokia ist vor ein paar Jahren nach Jyväskylä gekommen. Fragt man denChef von Nokia Jyväskylä nach dem Grund für den Umzug in die mittelfinnischeStadt, sagt er unumwunden: „Uns war die Nähe zur Uni wichtig.“ 50 Kilometerzu Forschern, zu Experten, zu Hochschulen waren Nokia zu weit. VerschiedeneKomponenten, die rund um den Globus erforscht und entworfen werden, wer-den hier zu neuen Produkten entwickelt. Fotohandys vor allem. Die meisten Ar-beitsplätze der Nokia-Leute sehen unspektakulär aus: Bildschirm, Computer, Tas-tatur, Maus, Papier, Stifte. „Unser größtes Kapital ist, was unsere Leute im Kopfhaben“, sagt der Nokia-Chef. Der Druck, unter dem die Nokianer arbeiten, istgroß. Die Produktentwicklung dauert zwischen einem halben und anderthalbJahren, verkaufen lassen sich die neuen Produkte etwa ein Jahr lang. Dann ist al-les schon wieder veraltet. Produziert werden die neuen Geräte von Nokia übri-gens nicht in Finnland – sondern in Brasilien und China. Auch hier also Arbeits-teilung. Nokia ist sich sicher: „Die Entwicklung können wir am besten, deshalbmachen wir sie hier.“ Und diese Arbeitsplätze, da ist man sich in Jyväskylä sehrsicher, werden so schnell nicht nach China oder Indien wandern.

Selbstständigkeit und Kooperation

Ein paar Minuten den See hinunter kommt man zum Jyväskylä Science Park. DerScience Park ist eine Erfindung der Stadt und der umliegenden Gemeinden. Fürihr Projekt konnten sie sowohl Banken und Versicherungen, als auch einige großeUnternehmen der Region gewinnen. Das Ziel war ganz einfach: möglichst vieleder an den Hochschulen ausgebildeten Fachkräfte in der Region behalten und siefür die Wirtschaft der Region gewinnen. Diese Rechnung ist aufgegangen. Etwa40 Prozent der Hochschulabsolventen der Uni bleiben in Jyväskylä, bei der Fach-hochschule ist der Anteil sogar noch höher. Der Science Park hilft dabei. Er ist vorallem eine Anlaufstelle der guten Ideen. Ob Studenten, Absolventen, Doktoran-ten, Forscher oder Unternehmensmitarbeiter: Wer eine Geschäftsidee hat, kann

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[ matthias platzeck ]

sich an den Wissenschaftspark wenden. Gemeinsam wird untersucht, ob die Ideefür ein Unternehmen gut genug ist. Wenn ja, wird der Business Incubator in Ganggesetzt. Das bedeutet Hilfe beim Aufbau des Unternehmens, Hilfe bei der Finan-zierung und Hilfe bei Marketing und Management. Bis zu fünf Jahren dauert dieUnterstützung durch den Science Park für die neu gegründeten Unternehmen.Pro Jahr landen ein paar Hundert Ideen beim Science Park, etwa 80 bis 100 wer-den verwirklicht. Und ihre Erfolgsrate kann sich sehen lassen: vier von fünf schaf-fen es, dem rauen Wind der Marktwirtschaft zu widerstehen – das ist deutlichmehr als bei anderen Existenzgründern.

Ein wichtiges Credo des Science Park auch hier: Selbstständigkeit gepaart mitenger Kooperation, Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Wissenschaft,Hochschule und Forschungseinrichtungen. Das ist die Basis des Erfolgs.

Neues als Chance nutzen

Beeindruckend ist aber auch das hohe Maß an Leidenschaft und Engagement fürdie Sache und die Region. Die Leute vom Science Park können einen mitreißen,wenn sie über die vielen Projekte und kleinen Firmen reden, die mit ihrer Hilfeentstanden sind. Hier hat man verstanden: Kooperation, lückenlos und mit mög-lichst vielen Partnern, ist der Schlüssel zu immer neuen Produkten und Dienstlei-stungen. Von den jungen Projektmanagern stammt auch der Leitspruch: „If youcan dream it, you can do it“. Zweifel werden geprüft – sollen aber überwundenwerden. Der Satz „Wenn du zweifelst – lass es“, ist im Science Park in die Mot-tenkiste der siebziger Jahre verbannt worden.

Zur Unterstützung neuer, kleiner und mittlerer Unternehmen hat Jyväskyläzusammen mit ihren Umlandregionen eine öffentlich-private Partnerschaft insLeben gerufen: die Jykes Unternehmensförderungs GmbH. Die Leute von Jykes war-ten nicht auf ihre Kunden, sie gehen zu ihnen hin. Sie sprechen mit den kleinenund mittleren Unternehmen der Region – fragen nach Sorgen, bieten Hilfeleis-tung an. Dazu gehören Management- und Marketingerfahrung, aber eben auchUnterstützung bei der Erschließung neuer Märkte. Dazu hat Jykes sogar eine ei-gene Repräsentanz in St. Petersburg gegründet – in einer Stadt also, die so vieleEinwohner wie ganz Finnland hat. Vertreter gibt es auch schon in Polen und Un-garn. Und eine Zusammenarbeit mit Brandenburg, die sich für unsere und diefinnischen Unternehmen auszahlen wird, ist anvisiert.

Hinter dem Engagement steht auch hier die Überzeugung, dass, was denUnternehmen hilft, auch der Region und ihren Bewohnern nutzt. So versucht

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man frühzeitig neue Märkte und neue Partner zu entdecken. Denn auch das wis-sen die Finnen: Allein auf Märkte lassen sich andere Länder nicht reduzieren,vielmehr gilt es, sie als Partner zu gewinnen. Ricardos Theorem der komparativenKostenvorteile mag eine alte Theorie sein, falsch ist sie noch lange nicht. Selbst fürneue Entwicklungen, wie Sport und Gesundheit mit moderner Kommunikations-technologie zusammenzubringen, suchen die Finnen gleich zu Beginn Märkteund Partner. Dabei fällt auf: Die Finnen vertrauen auf ihre eigenen Stärken undentwickeln daraus auch Kraft, mutige Schritte zu gehen. Der neuste Zweig desScience Park, eben Kombination aus Gesundheit und Kommunikation, ist geradeerst aus der Taufe gehoben worden und schon auf den ersten Messen in Chinaunterwegs.

Überhaupt: China. Daran lässt sich der Unterschied der finnischen Denkweiseam besten illustrieren. Heute kommt jedes Gespräch über wirtschaftliche Frage-stellungen spätestens nach 20 Minuten auf China – das ist in Deutschland so,aber auch in Finnland. Während die Deutschen vor allem die niedrigen Löhneund abwandernde Unternehmen sehen, fangen bei den Finnen die Augen an zuglitzern. Sie sehen China, aber auch andere Länder – selbst Deutschland – alsAbsatzmärkte. Aber eben auch als Partner – für Ausgliederungen, für Produktion,für zukünftige Entwicklungen. Kooperation und Fairness stehen im Mittelpunkt.

Ein Leitspruch wie Connecting people (Nokia) konnte nur in Finnland entste-hen. Dieses Motiv zieht sich durch große Teile der finnischen Gesellschaft. DieFinnen haben bereits vor vielen Jahren erkannt, wo die Zukunft liegt. Und was esdafür braucht. Denn eine brummende Wirtschaft funktioniert auf die Dauernicht ohne eine ausgeglichene Gesellschaft, ohne stabile Familien, gute Bildung –und das Vertrauen in die eigene Stärke. Alle Elemente bedingen einander – undein aktiver und aktivierender Staat baut die Brücken zwischen ihnen.

Niemand darf zurück gelassen werden

Schon vor vielen Jahren begann Finnland sein Bildungssystem umzugestalten: DieMehrgliedrigkeit wurde durch eine 9-jährige Gesamtschule ersetzt. Die Früchtekann das Land heute ernten. Die Gesamtschulen verfügen über große Eigenstän-digkeit, die Leitlinien für die gymnasiale Oberstufe passen in eine einfache Bro-schüre, eine staatliche Schulaufsicht gibt es nicht. Kinder mit Problemen werdenfrühzeitig betreut und gefördert – in Jyväskylä gibt es seit ein paar Jahren keineSonderschulen mehr. Das Land kann es sich nicht erlauben, irgendjemandenzurück zu lassen.

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Doch die Betreuung von Kindern – und Eltern – setzt schon Jahre vorher an.Neuvola heißt das System auf Finnisch. Werdende Mütter werden in Poliklinikenwährend der Schwangerschaft betreut, untersucht und beraten. Zur Geburt be-kommen die Eltern eine Grundausstattung mit Babysachen. Aber auch nach derGeburt sind die Neuvola-Tanten bei regelmäßigen Untersuchungen und Gesprä-chen für Kinder und Eltern da. Das Wohl des Kindes steht in Finnland im Mittel-punkt. Pflicht ist Neuvola nicht – doch nahezu alle finnischen Familien nehmendas Angebot an. Und der Erfolg schlägt sich unter anderem in einer höherenSchulfähigkeit der Kinder nieder. Die Beratung von Eltern und die Begleitung derKinder übernehmen nach der Schuleinführung Schulpsychologen und Schulkran-kenschwestern.

Sozialstaat + Informationsgesellschaft = Wachstum + Gerechtigkeit

All dies führt zu stabileren Familien, größerem Zusammenhalt – letztlich auch zugeringeren sozialen und gesellschaftlichen Kosten. Die Finnen sagen von sichselbst, dass das Land so klein ist, das sie sich gar nicht leisten können, jemandenzurück zu lassen. „Kinder, vergesst nicht, der eigentliche Sinn des Lebens liegt imMiteinander“, lautete das Lebensmotto Regine Hildebrandts. Es ist im Grundegenau das Prinzip, zeitgemäß erneuert für die dynamische Welt des 21. Jahrhun-derts, an dem sich die Finnen heute orientieren.

Finnland ist es in den vergangenen Jahren gelungen, aus einer schweren Wirt-schaftskrise heraus zu kommen und gleichzeitig die soziale Balance im Land zuwahren. Auch die finnische Regierung musste in den 1990er Jahren Einschnittein das soziale Netz vornehmen. Doch sie hat gleichzeitig neue Türen und Chan-cen eröffnet. Die langfristig angelegte Strategie – Bildung, Forschung und Kin-derbetreuung auszubauen – ist aufgegangen und hat zu einer beispiellosen Inno-vationsdynamik geführt. Finnland hat sich auf den Weg zur Bildungs- und Kom-munikationsgesellschaft gemacht. Während in Deutschland die Forschungs- undEntwicklungsausgaben seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts vonknapp 3 auf unter 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesunken sind, stiegdieser Anteil in Finnland von 1,5 auf über 3,5 Prozent. Das ist nach Schwedender zweithöchste Anteil weltweit. Heute gibt es mehr wissenschaftliche Überset-zungen aus dem Finnischen ins Deutsche als umgekehrt.

Diese Dynamik ist nicht zuletzt durch Vertrauen in die Kreativität vor Ortentstanden. Für deutsche Verhältnisse wirken die Freiheiten, die Kommunen,Schulen oder Universitäten haben, fast ein wenig anarchisch. Sowohl Schulen als

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[ finnland ist mehr als pisa ]

auch Unis suchen sich ihre Lehrkräfte und ihre Schüler oder Studenten selbst aus.Doch diese Freiheiten erziehen auch zur Verantwortung. So verbindet sich inFinnland auf wunderbare Weise Heimatverbundenheit mit Offenheit und Inter-nationalität.

Erneuerung aus eigener Kraft

In Finnland lässt sich ein Blick auf die Wirtschaft der Zukunft werfen. Die Ar-beitsplätze der Zukunft sehen unspektakulär aus – Aufsehen erregende Einwei-hungen und Präsentationen groß dimensionierter Anlagen werden wohl der Ver-gangenheit angehören. Das eigentlich Spannende ist nämlich weder zu sehennoch anzufassen. Es ist die Kooperation und die Zusammenarbeit zwischen vielenBeteiligten. Das ganze funktioniert nur mit modernen, flexiblen und unabhängi-gen Universitäten und Forschungslabors, die die Freiheit haben, sich die bestenLeute auszusuchen und unkompliziert mit Unternehmen und anderen Einrich-tungen zusammen arbeiten können. Das heißt auch, mehr Vertrauen in die Men-schen vor Ort zu legen.

Regionale Entwicklungsstrategien gelingen, wenn sie von den Menschen vorOrt selbst gestaltet und als Chance begriffen werden. In diesem Vertrauen in lo-kale Verantwortung macht uns Finnland viel vor. Gerade am Beispiel Finnlandslässt sich sehen, dass damit gerade nicht der komplette Rückzug des Staates ge-meint ist. An vielen Stellen bietet der Staat Hilfe an – deren Qualität so gut ist,dass die Menschen sie gerne annehmen. Finnland zeigt, dass soziale Balance imLand und eine erfolgreiche Ökonomie zusammen gehören. Hohe soziale Stan-dards, ein hoher Lebensstandard und hohe Löhne können zur selben Medaillegehören. Wenn wir unser Land Brandenburg in den kommenden Jahrzehnten zueiner Erfolgsgeschichte machen wollen, werden wir kluge Anregungen aufgreifenmüssen, wo immer wir sie finden. Das macht das finnische Beispiel für Branden-burg umso spannender. ■

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD Brandenburg.

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WAS DER WESTEN VOM OSTEN LERNEN KANN – UND WAS NICHTVON TORALF STAUD

Nicht aus 40, sondernaus 14 Jahren!

Potsdam, Hans-Otto-Theater, ein Abend im Mai. Das Forum Ostdeutschlandder SPD hat zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Thema: „Kann der

Westen vom Osten lernen?“ Der Saal ist rappelvoll, per Videoleinwand wird dieDebatte noch in einen Nebenraum übertragen – mit so viel Interesse hatten dieOrganisatoren nicht im Traum gerechnet. Als nach einer guten Stunde das Saal-mikrofon frei geschaltet wird, meldet sich als erstes ein stämmiger Herr mittlerenAlters. Er beantwortet die Frage des Abends mit einer weiteren Frage: „Was ma-chen denn die im Westen, wenn mal eine Schraube kaputt geht?“ Die wüssten jagar nicht mehr mit einem Gewindeschneider umzugehen, erklärt er triumphie-rend; er dagegen könne sich immer helfen. Applaus. Dann erzählt er noch, wie eraus einem alten Elektromotor einen Rasenmäher gebastelt hat. Das also soll derWesten vom Osten lernen? Improvisationstalent und Friemeleigeschick?

Der Mann verkörpert das, was der Soziologe Wolfgang Engler den Stolz einer„arbeiterlichen Gesellschaft“ genannt hat. Doch dessen Grundlage ist mit derDDR zusammengebrochen. Die Demütigung, die dem Proletariat nach 1989widerfuhr, hat Volker Braun in seiner Erzählung Die vier Werkzeugmacher be-schrieben, einem Lehrstück über vier Arbeiter, die in ihrem Betrieb in Berlin-Oberschöneweide unersetzbar waren, die „gestern noch gefragte Leute waren, vondenen es hieß, sie müssten gepflegt werden, Werkzeugmacher, und heute Wichte.War das je vorgekommen, dass die herrschende Klasse so entmachtet wurde undverwandelt in den letzten Dreck?“

Man muss diese Entthronung nachvollziehen, wenn man die Ostdeutschenverstehen will. Nur lässt sich daraus für die Zukunft kaum etwas ableiten. Wasder Westen vom Osten lernen kann, resultiert weniger aus der DDR als aus demUmgang mit ihrem Zusammenbruch. Nicht ihr Vor-Wende-Leben haben dieMenschen in den Neuen Bundesländern den Bürgern der alten Bundesrepublik

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[ toralf staud ]

voraus, sondern ihre Nach-Wende-Erfahrungen. Die wesentliche Zeit sind dievergangenen 14 Jahre – und nicht die 40 Jahre davor.

Natürlich ist es für ostdeutsche Politiker identitätspolitisch verlockend, immernoch und immer wieder auf die schönen Seiten der DDR zu verweisen. Warennicht die Menschen früher viel netter zueinander? Und die Kinder so folgsam?Waren nicht die Polikliniken eine feine Sache? Und in den Schulen bekamen dieSchüler damals doch noch wirklich etwas beigebracht. Für die Kleinen wurde inKinderkrippen gesorgt, für die Großen in Jugendclubs. Die Frauen waren gleich-berechtigt. Und die Brötchen leckerer.

Flexibilität statt Ostalgie-Shows

Die Kehrseiten geraten dabei leicht aus dem Blick: Die Menschen waren auchdeshalb nett zueinander, weil sie in der Notgemeinschaft viel stärker auf andereangewiesen waren. Das Kollektiv war ein effizientes Instrument der sozialen Kon-trolle. Das Erziehungssystem war gründlich durchideologisiert, Volksbildungsmi-nisterin Margot Honecker nicht von ungefähr eine allgemeine Hassfigur. DieFrauen in der DDR mussten oft ein doppeltes Arbeitspensum erfüllen, weil dervormoderne Ostmann eben nicht im Haushalt und bei der Kindererziehung mit-half. Und im Gesundheitswesen wurde häufig der Mangel verwaltet. In den Be-trieben ebenso.

Die meisten der DDR-Kompetenzen nützen heute nur noch wenig (was nichtheißt, dass man sie als Ostdeutscher nicht weiterhin hüten könnte oder dürfte).Sie sind harmlose Relikte einer vergangenen Zeit. In westdeutschen Augen wirkensie so putzig wie die Ostalgie-Shows, die im vergangenen Jahr auf allen Fernseh-sendern liefen. Interessanterweise handelten diese Shows immer nur von der seli-gen DDR – das Ostdeutschland des 21. Jahrhunderts hingegen kam in ihnennicht vor. Sich damit zu beschäftigen wäre für die eingefahrene bundesrepublika-nische Ordnung viel irritierender als FDJ-Blusen, Bambina-Schokolade und dieRockrentner von den Puhdys.

Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und Pragmatismus sind Disziplinen, indenen der Osten dem Westen voraus ist. In den Neuen Ländern ist nach 1990nichts geblieben, wie es einmal war. Klar, viele Ostler haben genörgelt und gejam-mert, aber akzeptiert haben sie es letztlich doch. Sie mussten ja. Ihnen braucht –anders als vielen Westdeutschen – niemand mehr beizubringen, dass Gewissheitenzerbröseln können, dass soziale Sicherungssysteme nicht bis in alle Ewigkeit halten.Sie erleben bereits heute, was dem Westen noch bevorsteht: Dass Städte und Dör-

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[ nicht aus 40, sondern aus 14 jahren ! ]

fer vergreisen und schrumpfen. In den Neuen Ländern „kann man den Umgangmit der Krise lernen“, hat Rüdiger Pohl vom Hallenser Institut für Wirtschafts-forschung den Konkurrenzvorsprung des Ostens einmal auf den Punkt gebracht.Matthias Platzeck bescheinigt seinen Landsleuten eine größere „Umbruchkompe-tenz“.

Wenn die deutsche Wirtschaft heute über zu viel Regulierung schimpft, meintsie damit die Errungenschaften des Rheinischen Kapitalismus. In den NeuenLändern wurden sie nicht erkämpft, dort sind sie nicht so fest verankert, dortwerden sie bereitwilliger und ohne ideologische Grabenkämpfe aufgegeben. Imwilden Osten halten sich nur wenige Unternehmen an Flächentarifverträge – undfast niemand hält das für einen Skandal. In der Metallbranche der Neuen Länderwird volle 100 Stunden pro Jahr länger gearbeitet als im Westen. Hier sind dieLeute auch eher bereit, sich auf unbequeme Arbeitszeiten einzulassen, was nichtnur mit wirtschaftlicher Not zu erklären ist: Arbeit hat für die Ostdeutschen einegrößere Bedeutung, der postmaterialistische Arbeitsbegriff ist dort noch nicht an-gekommen. Die Leute in Dresden, sagt ein Manager des amerikanischen Chip-konzerns AMD, seien noch „hungrig nach Arbeit“.

„Dem Westen etwas über den Kapitalismus beibringen“

Es sind beileibe nicht nur niedrigere Kosten, die die Neuen Länder konkurrenz-fähig machen. BMW baut seine neue Fabrik in Leipzig – und nicht im noch billigeren Tschechien. Entscheidend war letztlich die Verfügbarkeit qualifizierterFachkräfte in Ostdeutschland. Chemieunternehmen loben die hohe „Industrieak-zeptanz“ etwa in Bitterfeld. Investoren erfreuen sich generell an schnelleren Ge-nehmigungsverfahren und weniger Bürokratie. Porsche-Chef Wendelin Wiede-king, der ebenfalls in Leipzig ein neues Autowerk ansiedelte, lobt „die Effizienzund die Flexibilität, mit der die Behörden des Freistaates Sachsen und der Stadtarbeiten“. Vor zwei Jahren schon urteilte die Business Week: „Der Osten könntedem Westen ein oder zwei Dinge über den Kapitalismus beibringen.“

Dort nämlich tun sich noch immer viele Menschen schwer mit der Einsicht,dass sie um Reformen nicht herumkommen werden. War man nicht 1989 Siegerder Geschichte? Da mag man einfach keinen Abschied nehmen von dem, was inden vergangenen fünfzig Jahren funktionierte. Für Ostdeutsche wirkt es geradezukomisch, mit welcher Verbissenheit die Akteure der BRD (alt) um Besitzständekämpfen: Sie tun, als fußte das Wohl des Volkes auf der Beibehaltung des Berufs-beamtentums. Als wäre die Eigenheimzulage ein Grundrecht. Als bräche bei einer

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höheren Erbschaftssteuer die freiheitlich-demokratische Grundordnung zusam-men.

Wie Alkoholiker hängen Kohleunternehmen (und die nordrhein-westfälischeSPD) an ihren gewohnten Steinkohlesubventionen. Rund hundert Milliarden €Steuergelder sind in den letzten 20 Jahren in die westdeutsche Steinkohlebranchegeflossen. „Wofür?“, könnten die Neuen Länder selbstbewusst und in Anlehnungan eine Spiegel-Titelgeschichte zu den Kosten des „Aufbau Ost“ fragen. In Bran-denburg und Sachsen wurde die Braunkohleindustrie nach 1990 schlagartig ge-sundgeschrumpft, Zehntausende Kumpel wurden arbeitslos. Schade, dass es keinostdeutsches Nachrichtenmagazin gibt, das dies als grobe Ungerechtigkeit auf sei-nem Titelblatt anprangern könnte.

Was der Westen vom Osten lernen kann, ist also weniger das, was der Ostennoch hat, als das, was er noch nicht hat. Anders gesagt: Vorbild für den Westen istnicht, was von der DDR übrig blieb, sondern das, was von der BRD nicht über-nommen wurde. Wenn sich ein ostdeutscher Patriotismus auf diese Einsichtstützte, wäre er vorwärts gewandt. Er würde die DDR-Muffigkeit verlieren undsich abheben von der ressentimentgeladenen PDS-Rhetorik. Er wäre anschluss-fähig für die jungen und ganz jungen Ostdeutschen, denen Jana Hensels Zonen-kinder auf die Nerven geht. Und man hätte die „Wossis“ mit im Boot, Westdeut-sche, die seit 1990 in den Neuen Ländern heimisch geworden sind.

Noch einmal zurück ins Potsdamer Hans-Otto-Theater: Wenige Minuten nachdem ostdeutschen Arbeiter meldet sich dort ein etwa gleichaltriger Herr. Er istWestdeutscher, lebt seit langem im Osten. Betont verständnisvoll formuliert erseine Erwiderung – und erzählt eine kleine Anekdote: Nach der Wende habe er inseiner Firma beobachtet, wie ein aus dem Osten stammender Kollege mit viel Ge-schick einen Kippschalter reparierte. Das habe er prima hinbekommen – nur dau-erte es anderthalb Stunden. Im Baumarkt hätte es denselben Schalter für zwei €fünfzig gegeben.

Solange die Ostdeutschen immer nur und bis in alle Ewigkeit auf ihre DDR-Kompetenzen stolz sind, verkaufen sie sich weit unter Wert. ■

16 perspektive21

[ toralf staud ]

TORALF STAUD

ist Redakteur im Hauptstadtbüro der Wochenzeitung „Die Zeit“ und lebt in Berlin.

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VON GÜNTER BAASKE

Brandenburg – einLand für Familien

D as Land Brandenburg ist einLand für Familien – und muss es

noch viel stärker werden. Gesellschaftund Politik müssen sich, um selbstZukunft zu haben, für das Thema Fa-milie noch weiter öffnen. Viel zu langewurde es in die konservative Ecke ge-stellt und ideologisch verbrämt. Werdas tut, steht selbst abseits und hat dieZeichen der Zeit nicht verstanden.„Kinder bekommen die Leute sowie-so“ – diese auf Konrad Adenauer zu-rückgehende und in der Familienpoli-tik lange vorherrschende Annahmehat sich als fatal erwiesen: Deutsch-land hat zu wenig Kinder! Familie be-deutet in der Regel Glück, aber auchgroße Anstrengung und Verantwor-tung. Familie ist Voraussetzung fürden Fortbestand unserer Gesellschaft.Das ist nicht Ideologie, sondern ein-fach nur Tatsache.

Eine wesentliche Voraussetzung zurVerbesserung der Situation ist die Ge-währleistung der Vereinbarkeit von Fa-milie und Erwerbstätigkeit. Die weitüberdurchschnittliche Zahl an Kinder-

garten- und Hortplätzen ist dafür beiuns in Brandenburg sicherlich einewichtige Grundlage. Wir müssen aberdaran arbeiten, dass sich die Situationfür Familien weiter verbessert, insbe-sondere durch wohnortnahe Arbeits-plätze, flexible Arbeitszeiten, Ganz-tagsschulen, flexible Öffnungszeitender Kitas, betriebsnahe Kinderbetreu-ungsmöglichkeiten und den Ausbauder Tagespflege. In der Diskussionüber Familienpolitik sollte die Verbes-serung dieser Rahmenbedingungen inden Vordergrund gestellt werden,damit junge Menschen dabei unter-stützt werden, ihre zweifellos vorhan-denen Kinderwünsche zu realisieren.

Lust auf Kinder

Familienpolitik allein auf den Staat zudelegieren wäre falsch. Es ist ein ge-sellschaftliches Thema und muss des-halb von vielen getragen werden, dennwir brauchen ein gesellschaftlichesUmfeld, das Lust auf Familie und in-der macht. Deshalb beschloss die Lan-

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0

10.000

20.000

30.000

40.000

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1985

1980

18 perspektive21

[ günter baaske ]

desregierung im Juni 2004 die Einbe-rufung eines Familienbeirats.

Bewusst ist die Landesregierung imFamilienrat dabei durch das Ministe-rium für Arbeit, Soziales, Gesundheitund Frauen nur moderierend, nichtaber stimmberechtigt beteiligt. In demLandesbeirat sollen u.a. Wissenschaft,Wirtschaft, Gewerkschaften, Kommu-nen, Kirchen und Familienverbändevertreten sein. Der Beirat wird dieWelt nicht verändern, aber er wirddazu beitragen können, dass Familien-politik den Stellenwert gewinnt, derihr gebührt. Der Familienbeirat wirdImpulse geben und auf ihre Durchset-zung drängen können.

Der Schlüssel für erfolgreiche Famili-enpolitik liegt jedoch im wirtschaftli-chen Wachstum, dem Abbau vonArbeitslosigkeit, Zukunftssicherheitund einer kinder- und familienfreund-lichem Wohn- und Arbeitswelt.

Wirtschaft braucht Familien

Familienfreundliche Rahmenbedin-gungen werden künftig immer mehrzum Markenzeichen moderner Unter-nehmenskultur. Darauf sind die Un-ternehmen selbst angewiesen, dennder demografische Wandel führt zu ei-nem Rückgang der Erwerbspersonen.Unsere Wirtschaft kann daher nicht

Zahl der Geburten in Brandenburg 1980-2003

Quelle: LDS

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19perspektive21

[ brandenburg – ein land für familien ]

länger auf Frauen und Mütter verzich-ten, die wegen familiärer Pflichten kei-ner Erwerbstätigkeit nachgehen. DieVereinbarkeit von Familie und Er-werbstätigkeit ist eine politische undwirtschaftliche Querschnittsaufgabevon allerhöchster Priorität.

Es geht aber nicht nur um Wirtschaft.Diesen Punkt ausschließlich in den Vor-dergrund zu stellen, hieße einen zentra-len Inhalt gedanklich zu vernachlässigen:Denn es geht ganz wesentlich darum,Menschen dabei zu unterstützen, dieFreiheit zu haben, ihrem Wunsch nachFamilie und Beruf nachgehen zu kön-nen. Das ist eine Frage von Lebensqua-lität und Freiheit zur Lebensgestaltung.

Einfache Tatsachen …

Eine Voraussetzung für Familie ist aberauch, dass die Gesellschaft, das je-weilige Lebensumfeld kinderfreundlichist. Das ist eine zwingende Bedingungfür „mehr Familie“. Voraussetzung da-für ist auch Wohlwollen gegenüber je-nen und Solidarität mit jenen, die dasLeben lebenswert machen und ein gro-ßes Glück sind: Kinder.

Die einstige Bevölkerungspyramide istlängst im Begriff, unten schlank undoben breit zu werden. Damit fehlt ihrdie Standfestigkeit. Der Grund ist ein-fach: Es werden entschieden zu wenigKinder geboren. Die sozialen Siche-rungssysteme drohen deshalb zu kippen.Dazu genügt ein Blick auf die geringe

Geburtenrate. Sie lag im Jahr 2002 imLand Brandenburg bei 1,21 und imBundesdurchschnitt bei 1,34 Kindernpro Frau.

Im Jahr 2002 lebten in Brandenburgetwa 443.100 Familien mit Kindern,davon waren 115.500 allein Erziehendemit Kindern unter 18 Jahren. Bei derAnzahl der Kinder ist ein Trend zuimmer kleineren Familien, häufig Ein-Kind-Familien (2002: 267.300 Ein-Kind-Familien) festzustellen. Im Mai2003 verfügte ein Drittel der Familienmit Kindern über ein monatlichesFamiliennettoeinkommen von wenigerals 1.500 € ca. 47.000 Familien muss-ten mit einem monatlichen Einkom-men von unter 900 € auskommen.

… die zum Handeln zwingen

Die Zahl der Familien mit Kindernunter 18 Jahren, die 2002 von Sozial-hilfe lebten, hat sich im Vergleich zu1996 um über 60 Prozent erhöht. Sostieg die Zahl der Kinder, die in Bran-denburg von Sozialhilfe abhängig wa-ren, von 1994 bis 2002 in der Alters-gruppe der Minderjährigen von dreibis 18 Jahren um 31,5 Prozent. Fastein Drittel der Sozialhilfeempfänger istjünger als 18 Jahre. Die Zahl derAlleinerziehenden mit Kindern bis 18Jahren, die Sozialhilfe erhalten, stiegim Jahr 2002 gegenüber 1994 um 66Prozent. Auch der kontinuierlicheAnstieg der Fallzahlen in der Verbrau-

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cherinsolvenzberatung weist daraufhin, dass immer mehr Familien wirt-schaftlich schlecht gestellt sind.

Eine besondere familienpolitischeHerausforderung bleibt deshalb dieBeschäftigungs- und Arbeitsmarktpoli-tik: Die Arbeitslosenquote Branden-burgs war im Mai 2004 mit 18,6 Pro-zent (davon Frauen 19,3 Prozent,Männer 21,0 Prozent und Jugendlicheunter 25 Jahren 16 Prozent) nach wievor besorgniserregend hoch.

Alarmierend ist die Abwanderunggerade junger Frauen. Von 1997 bis2002 verließen 16.400 Frauen im Alterzwischen 20 und 25 Jahren das LandBrandenburg. Das hat zur Folge, dassin Zukunft ein großer Teil der potenzi-ellen Mütter fehlen wird. Die aktuellePrognose geht bis zum Jahre 2020 voneinem Rückgang der Frauen im Alterzwischen 20 und 30 Jahren um 56.400Personen, d.h. um 43 Prozent, aus.Das sind einfache Tatsachen, die zumHandeln zwingen.

Geburts-jahrgang West Ost

1950 14,9 % 8,0 %

1955 19,4 % 6,0 %

1960 23,3 % 10,6 %

1965 31,2 % 26,4 %

20 perspektive21

[ günter baaske ]

Die Zukunftsfähigkeit einer Gesell-schaft hängt von den Kompetenzen ihrerkommenden Generationen ab. Konse-quente Politik für Familien ist daher eineder wichtigsten Investitionen unseresLandes. Wir orientieren uns dabei aneinem Familienbegriff, der aufgrund derVielfalt der individuellen Gestaltungs-und Lebensstile alle Formen des Zusam-menlebens mit Kindern umfasst.

Grundsätze der Familienpolitik

Familie bedeutet darüber hinaus einenlebenslangen Generationenverbundvon Eltern, Kindern und Großeltern,der sich durch gegenseitiges Wahrneh-men von Verantwortung und Fürein-ander-Dasein auszeichnet. Die Siche-rung der Chancengleichheit für alleFamilienformen und ihre Mitgliederist wesentlicher Leitgedanke familien-politisch relevanter Maßnahmen undEntscheidungen.

Familienpolitik ist Querschnittsauf-gabe aller gesellschaftlichen Akteureund keine des Staates allein. Sie erfor-dert einen offenen Dialog der politischVerantwortlichen mit einem breitengesellschaftlichen Bündnis auf Bundes-,Landes- und kommunaler Ebene unterEinbeziehung der Sozialpartner, derVerbände, Wissenschaftler und Kirchensowie von Vertretern der Familien, Kin-der und Jugendlichen.

Die Verbesserung und Schaffungkinder- und familienfreundlicher Rah-

Frauen, die dauerhaft kinderlos bleiben

Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, BMFSFJ

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21perspektive21

[ brandenburg – ein land für familien ]

menbedingungen mit dem Ziel, an dieStelle der nach wie vor bestehendenstrukturellen Rücksichtslosigkeit gegen-über Familien eine gesellschaftsweitestrukturelle Ermutigung zu einem Le-ben mit Kindern zu setzen, gehört zuden unverzichtbaren Kernaufgabenpolitischen Handelns.

Im Mittelpunkt der Familienpolitikstehen damit ■ die bessere Vereinbarkeit von Fami-lie und Erwerbstätigkeit,■ die wirtschaftliche Stärkung derFamilien,■ die Sicherung einer kinder- undfamiliengerechten Infrastruktur sowie■ die Stärkung der Erziehungskraftder Eltern.

Neue Herausforderungen

Die Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt-und Wirtschaftspolitik steht vorbesonderen Herausforderungen. Diesvor dem Hintergrund einer nach wievor hohen Arbeitslosigkeit, des struk-turellen Mangels an Ausbildungsplät-zen und rentablen Arbeitsplätzen desersten Arbeitsmarktes, der wirtschaftli-chen Lage allein erziehender Männerund Frauen und der steigenden Ab-hängigkeit von Kindern und Jugend-lichen auf Sozialhilfe, sowie der gro-ßen Bereitschaft junger Menschen,insbesondere Frauen, zur ökonomischbedingten beruflichen Mobilität. Diewichtigste Strategie zur wirtschaft-

lichen Stärkung der Familien ist dieSicherung des Familieneinkommensdurch Ermöglichung von Erwerbs-arbeit.

Demografische Entwicklung

Vor dem Hintergrund des wachsendenAnteils der älteren Bevölkerung sind ver-schiedene Politikbereiche – insbesonderedie Sozial-, Gesundheits-, Wohnungs-bau-, Familien- und Wirtschaftspolitik –aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen,ein würdevolles und möglichst familien-nahes Leben im Alter zu ermöglichen.

Schon allein die demografische Ent-wicklung spricht auch für das Erfor-dernis, in der Bevölkerung die Bereit-schaft zu stärken, an der Verbesserungder Integration von Migrantenfamilienaktiv mitzuwirken. Die Sicherstellungdes künftigen Bedarfs an personenge-bundenen Diensten und Infrastruk-turangeboten – insbesondere für ältereMenschen und Familien in besonde-ren Lebenslagen – ist eine wesentlicheAufgabe der Familienpolitik.

Armut von Kindern verschärft dieBildungsmisere. Die PISA-Studie hatgezeigt, dass vor allem Kinder aus sozialschwachen Familien und aus Migran-tenfamilien besonderer Aufmerksamkeitbedürfen. Angesichts der unverzichtba-ren, die Lern- und Bildungsprozesseunterstützenden Funktion der Familieund des Phänomens der sozialen Verer-bung der Bildungsarmut sind sowohl

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22 perspektive21

[ günter baaske ]

Familienbildung als auch Kindertages-stätten und Schulen aufgefordert, her-kunftsbedingte Benachteiligungen zubeseitigen.

Familie und Erwerbstätigkeit

Gleiche Chancen bei der Vereinbarkeitvon Familie und Erwerbstätigkeit – aufdiesem Feld Fortschritte zu erreichen,gleicht oft einer Sisyphusarbeit. Es istein Balanceakt: Insbesondere jungeFrauen, aber auch Männer, sehen sichvor die Wahl Familie oder Erwerbstä-tigkeit gestellt. Viele sagen aus unter-schiedlichen und nachvollziehbarenGründen: Die Arbeit hat Vorrang. Des-halb stehen Kinderwunsch und Kinder-bekommen häufig nicht in Einklang.So sind 26,4 Prozent der ostdeutschenFrauen aus dem Jahrgang 1965 kinder-los. Beim Jahrgang 1960 sind es nur 10Prozent. Die Zahlen für Westdeutsch-land sind jedoch noch schlechter: 31,2Prozent der heute fast 40-jährigen ha-ben keine Kinder und 23,3 Prozent derheute fast 45-jährigen.

Neue Wege und Lösungen könnendazu beitragen, die familienpolitischeEntwicklung Brandenburgs voranzu-bringen und noch vorhandene Defiziteabzubauen. Es gibt gute Beispiele, diein unseren Regionen bereits wirken,nachahmenswert sind und Mut ma-chen. Sie entwickelten sich aus denIdeenwettbewerben „Chancen für Fa-milie und Erwerbstätigkeit“ des Mini-

steriums für Arbeit, Soziales, Gesund-heit und Frauen aus den Jahren 2001und 2002 . Aber auch über einige unse-rer INNOPUNKT-Kampagnen werdenbegleitende Maßnahmen zur Verbesse-rung der Vereinbarkeit entwickelt. Diesgilt zum Beispiel für die Entwicklungs-partnerschaft REchoke. Beides ist zumgrößten Teil über den Europäischen So-zialfonds (ESF) finanziert.

Um eine gesunde Balance zwischenFamilie und Erwerbsarbeit zu gewähr-leisten, ist eine Abkehr von der weitge-hend jugendzentrierten Single-Personal-politik hin zur Verankerung eines fami-lienfreundlichen Klimas in der Arbeits-welt erforderlich. Die Landesregierungsetzt sich deshalb dafür ein, familien-freundliche Arbeitsbedingungen zuschaffen. Aufgrund des steigenden An-teils der älteren Bevölkerung muss da-bei auch die besondere Situation er-werbstätiger pflegender Angehörigerberücksichtigt werden.

„Väteroffensive“

Mit dem in Brandenburg bestehen-den, im Bundesvergleich umfassendenAngebot der Kindertagesbetreuungsind bereits sehr gute Rahmenbedin-gungen für die Vereinbarkeit von Fa-milie und Erwerbstätigkeit vorhanden.Die fortschreitende Flexibilisierungder Arbeitsorganisations- und Arbeits-zeitmodelle erfordert es, das bestehen-de Kinderbetreuungssystem im Hin-

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Familienpolitische Vorschläge und Aktivitäten

■ Familienpolitik als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe (familienpolitischeOffensive)

■ Einberufung eines Landesbeirates für Familien■ „Familienpolitik“ künftig als Bezeichnung eines Ministeriums, um damit das Thema

zu stärken und dessen Stellenwert zu dokumentieren

■ Beförderung eines gesellschaftlichen Wertewandels zugunsten eines Lebens mit Kin-dern

■ nachhaltige Verbesserung der Rahmenbedingungen für Familien■ Sicherung bzw. Verbesserung der familienrelevanten Infrastruktur auf dem Land

(z.B. Schulen, ärztliche Versorgung, alten- und behindertengerechte Versorgung)

■ besondere Berücksichtigung benachteiligter Zielgruppen des Arbeitsmarktes – Berufs-rückkehrerinnen, allein Erziehende, ältere Frauen – in arbeitsmarktpolitischen Maß-nahmen

■ Flexibilisierung von Arbeitszeiten■ Verbesserung der Chancen für junge Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt im

Rahmen des Ausbildungsplatzprogramm Ost■ zielgenaue berufliche Qualifizierung junger Frauen und Alleinerziehender (INNO-

PUNKT)■ Integration von Sozialhilfeempfängerinnen mit Kindern in den Arbeitsmarkt durch

das Landesprogramm „Arbeit statt Sozialhilfe“

■ Erhöhung der zeitlichen Flexibilität der Kindertagesbetreuung■ Verbesserung der Tagespflege als familiennahe und flexible Betreuungsalternative,

z.B. auch für Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf (Behinderte)■ Einrichtung von betriebsnahen bedarfsgerechten Kinderbetreuungsangeboten

(z.B. Betriebskindergärten)■ Ausbau von Ganztagsschulen als „Lern- und Lebensorte“

■ Weiterentwicklung des Erziehungsgelds zu einem Elterngeld mit Lohnersatzfunktion■ Verteilung des familienpolitischen Budgets zugunsten von Dienstleistungen■ Weiterentwicklung eines gerechten Familienleistungsausgleichs unter Berücksichti-

gung direkter und indirekter Steuern, z.B. durch stärkere Berücksichtigung von Kindern bei der direkten Steuerlast

23perspektive21

[ brandenburg – ein land für familien ]

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24 perspektive21

[ günter baaske ]

blick auf flexiblere Betreuungszeiten,den Ausbau der Tagespflege und derSchaffung von Notfallbetreuungsange-boten gezielt weiterzuentwickeln.Auch der weitere Ausbau von Ganz-tagsschulen als Lern- und Lebensorteist ein wichtiges bildungs- und famili-enpolitisches Anliegen der Landesre-gierung.

Kinder brauchen Väter und Väterwünschen sich mehr Zeit mit ihrenKindern. Die Landesregierung setztsich auf allen politischen und gesell-schaftlichen Ebenen für die Förderungeiner aktiven und präsenten Vater-schaft ein, indem sie dazu beiträgt, eingesellschaftliches Bewusstsein für einneues Väter-Leitbild zu schaffen.Männer sollen ermuntert werden,Familienaufgaben gleichberechtigt mitihren Partnerinnen wahrzunehmen.

Familien als Standortfaktor

Dies dient dem Abbau der Mehrfach-belastungen der erwerbstätigen Mütterund wirkt sich durch eine stärkereBindung zwischen Vätern und ihrenKindern positiv auf deren sozial-emo-tionale Entwicklung aus. Ein wichtigerSchritt hierzu ist die tatsächliche Er-möglichung der Elternzeit für Väterdurch Weiterentwicklung des Erzie-hungsgeldes zu einem Elterngeld mitLohnersatzfunktion, denn bislang neh-men nur circa 3 Prozent der Väter inBrandenburg Elternzeit in Anspruch.

Die hohe Erwerbsorientierung dermeist gut ausgebildeten Frauen trifftin Brandenburg auf eine gute Infra-struktur, die es ermöglicht, Familieund Erwerbsleben gut zu verbinden.Das ist ein wichtiger Standortfaktorfür die Ansiedlung neuer Unterneh-men. Auch eine kinder- und familien-freundliche Infrastruktur trägt nach-haltig zur Verbesserung des weichenStandortfaktors Familienfreundlichkeitbei. Familienfreundliche Innenstädteund Wohngebiete mit Infrastrukturan-geboten, die insbesondere Kindernund älteren Menschen einen bedarfs-gerechten und sicheren Lebensraumeröffnen, bilden dabei weiterhin einvorrangiges Anliegen der Landesregie-rung. Sie will künftig offensiver mitden bereits vorhandenen familien-freundlichen Rahmenbedingungenwerben.

Gesundheitspolitik für Kinder

Die Landesregierung setzt sich für einengesellschaftlichen Wertewandel zugun-sten eines Lebens mit Kindern ein.Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit willsie Lust auf Kinder wecken und Zu-kunftsängste abbauen. Es sind Bedin-gungen zu schaffen, die es nicht längerwirtschaftlich vernünftiger erscheinenlassen, auf Kinder zu verzichten.

Eine moderne Familienpolitik mussdie Kinder unmittelbar erreichen, umihnen beste Entwicklungsmöglichkei-

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25perspektive21

[ brandenburg – ein land für familien ]

ten und Chancengleichheit zu ermögli-chen. Daher sind ein bedarfsgerechterAusbau und die qualitative Verbesse-rung der familienunterstützenden In-frastruktur sinnvoller als weitere mone-täre Transferleistungen an Familien.Wir setzen uns deshalb für die Vertei-lung des familienpolitischen Budgetszugunsten von Dienstleistungen ein.

Untersuchungen zum gesundheitli-chen Status der Kinder und Jugendli-chen in Brandenburg belegen den Zu-sammenhang zwischen wirtschaftlichenund gesundheitlichen Defiziten. Sie zei-gen teils erhebliche Gesundheitsrisikenauf, die sich aus sozial ungünstigen Fa-milienverhältnissen ergeben. Armutführt bei Kindern und Jugendlichen zuBeeinträchtigungen der psychosozialenGesundheit und zu ungünstigen Ge-sundheitsverhaltensmustern.

Vor diesem Hintergrund ist diebesondere Bedeutung der familiärenSituation für die Gesundheit hervor-zuheben: Ernährung, sportliche Betäti-gung, vor allem jedoch Zuwendungund emotionale Anerkennung sindgesundheitsrelevante Faktoren, diemaßgeblich von der Familie beein-flusst werden.

Mehr Erziehungskompetenz

Die öffentliche Kinderbetreuung undder öffentliche Gesundheitsdienst müs-sen dabei ihren Aufgaben einerseitsnachkommen, dürfen aber andererseits

nicht in ihren Möglichkeiten durchvermeintliche und kurzfristige Ressour-ceneinsparungen auf kommunalerEbene beschnitten werden. Durch Aus-bau und Weiterentwicklung der Netz-werke Gesunde Schulen und GesundeKita können Eltern in Brandenburg inihrer Kompetenz und Eigenverantwor-tung in gesundheitlichen Fragen ge-stärkt werden.

Gleiche Bildungschancen

Aufgabe der Politik ist es, Bedingun-gen zu schaffen, die es allen Elternermöglichen, in gemeinsamer Verant-wortung mit anderen gesellschaftli-chen Bildungs- und Sozialisationsin-stanzen ihrem Erziehungsauftrag ge-recht werden zu können. Familien be-nötigen hierzu vielfältige Kompeten-zen und Fähigkeiten, die jedoch nichtangeboren sind, sondern erlernt wer-den müssen.

Der Eltern- und Familienbildungkommt somit vor dem Hintergrundder bildungspolitischen Bedeutung derFamilie als präventive gesellschaftlicheAufgabe eine besondere Bedeutung zu.Sie muss die Frage beantworten, wieFamilien, insbesondere sozial schwä-chere und Familien in besonderen Be-lastungssituationen sowie solche mitMigrationshintergrund, dazu befähigtwerden können, ihren Kindern dieseso genannten Schlüsselkompetenzenzu vermitteln.

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26 perspektive21

[ günter baaske ]

GÜNTER BAASKE

ist Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg.

Die Familie als ein anspruchsvollesBeziehungsgeflecht, als vielschichtigeErziehungs- und Sozialisationsinstanzbedarf der Berücksichtigung in Schulenund anderen Bildungsinstitutio-nen,um Jugendliche auf Partnerschaft undElternsein vorzubereiten und Ängsteund Verunsicherungen abzubauen.

Erzieherberuf modernisieren

Bildung ist ein wichtiger Rohstoff unddamit Standortfaktor Brandenburgs.Das Bildungssystem ist das entschei-dende Instrument der Chancengleich-heit in einer Gesellschaft. Ein qualita-tiv hochwertiges Kinderbetreuungsan-gebot ist für die soziale Entwicklungder Kinder wichtig und leistet einenzarten Beitrag für den Ausgleich sozia-ler Benachteiligungen von Kindern.Die Landesregierung setzt sich für einBildungssystem ein, dass gleicheChancen für alle – unabhängig vonder sozialen Herkunft – gewährleistetund das gut Bildung, langfristig lan-desweit auf allen Bildungsstufen –Kita, Schule, Ausbildung und Hoch-schule – sicherstellt.

Dies schließt die Sicherung der Bil-dungschancen für Kinder mit körperli-chen und seelischen Behinderungenund Kinder aus Migrantenfamilien

ein. Angesichts der festzustellendenDiskrepanz zwischen Ausbildungsin-halten und praktischen Anforderungenan den Erzieherberuf ist die Erzieher-ausbildung langfristig an europäischeStandards anzupassen.

Generationensolidarität

Für ein gelingendes Miteinander und dieEntstehung neuer Formen sozialen undbürgerschaftlichen Engagements ist ge-genseitige Akzeptanz und Achtung zwi-schen den Generationen erforderlich, dieeinen offenen und lebendigen Dialogzwischen den Generationen und dieschrittweise Annäherung der Lebens-welten von Jung und Alt voraussetzt.

Familienpolitische Maßnahmenmüssen angesichts der demografischenEntwicklung die bestehenden familiä-ren sozialen Netze stützen. Gleichzeitigmüssen sie durch die gezielte Förde-rung intergenerationeller Projekte zumEntstehen neuer sozialer Netze beitra-gen, denen keine familiären Bindungenzugrunde liegen. Dies beinhaltet dieStärkung der Selbsthilfekräfte und desEhrenamtes von älteren Menschengleichermaßen wie die Stärkung desPotenzials von Familien und jungenMenschen zur Unterstützung und Ver-sorgung der älteren Generation. ■

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27perspektive21

VON BERT RÜRUP UND SANDRA GRUESCU

Familienpolitik istWachstumspolitik

A b 2010 wird der Anteil der er-werbsfähigen Bevölkerung im

Alter zwischen 15 und 65 Jahren an derGesamtbevölkerung merklich zu-rückgehen. Der Anteil der über 65-Jäh-rigen wird dagegen ansteigen. Dieserdemografische Wandel bewirkt einenRückgang des zukünftigen Arbeits-kräftepotenzials und eine Zunahme desAltenquotienten. Vor diesem Hinter-grund stellt sich die Frage, ob und wiesich diese Entwicklung auf das wirt-schaftliche Wachstum auswirken wird.

Lassen sich negative Effekte des Be-völkerungs-, bzw. Arbeitskräfterückgangsauf das wirtschaftliche Wachstum vor-hersagen, kann eine nachhaltige Famili-enpolitik versuchen, den zahlenmäßigenRückgang der Erwerbstätigen zu ent-schärfen. Nachhaltige Familienpolitikbedeutet dabei die Verfolgung zweierZiele: erstens die Steigerung der Gebur-tenrate, um der demografischen Ent-wicklung entgegenzuwirken und zwei-

tens die Erhöhung der Frauenerwerbs-tätigenquote, um den zukünftigen Ar-beits-, bzw. Fachkräftemangel zu vermei-den oder zumindest abzumildern. Fa-milienpolitik kann aber nur dann nach-haltig sein, wenn sie auf die sich verän-dernden demografischen und wirtschaft-lichen Rahmenbedingungen reagiert undvon der Bevölkerung akzeptiert wird.

Bevölkerungsstruktur und Sozial-produkt hängen zusammen

Die direkten Auswirkungen der Bevöl-kerungsalterung und -schrumpfung aufdie Entwicklung des Sozialprodukts, andessen Verlauf die wirtschaftliche Ent-wicklung gemessen wird, sind nicht ein-fach zu bestimmen. Theoretisch lässtsich zeigen, dass der Bevölkerungsrück-gang und der zeitgleich einher gehendeAnstieg des Altenquotienten jeweils fürsich genommen zu einer Beeinträchti-gung des Sozialprodukts führen.1

1 Für eine formale Darstellung des Modells siehe: Bert Rürup und Sandra Gruescu, Nachhaltige Familienpolitik im Interesseeiner aktiven Bevölkerungsentwicklung. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen undJugend, Berlin 2003, Seite 45.

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2 Siehe: OECD, The macroeconomic implications of ageing in a global context, Economics department working papers no. 193,Organisation for Economic Cooperation and Development, Paris 1998, Seite 47, Tabelle 3.

3 Siehe: ebenda, Seite 49, Tabelle 5.

28 perspektive21

[ bert rürup und sandra gruescu ]

Aufgrund der Bevölkerungsschrump-fung wird das Arbeitsangebot sinken,wobei das Ausmaß des Rückgangs aberauch von den Erwerbsquoten der Frau-en und älteren Beschäftigten beeinflusstwird. Eine Erhöhung der Erwerbsquo-ten kann den durch den demografi-schen Wandel induzierten Rückgangdes Arbeitskräfteangebots zumindestteilweise abmildern und daher einenpositiven Einfluss auf die Entwicklungdes Sozialprodukts haben.

Sinkendes Arbeitskräfteangebot …

Die Erhöhung des Altenquotienten –und damit auch die des Rentnerquoti-enten – bedeutet, dass die Erwerbs-tätigen eine immer größer werdendeZahl von Personen, die nicht mehr imErwerbsprozess stehen, unterstützen.Dabei sind die Konsequenzen für dieSysteme der sozialen Sicherung, insbe-sondere für das Rentensystem hinrei-chend bekannt und viel diskutiert.Zum Beispiel wird durch eine immerhöhere Belastung der Arbeitnehmerund Arbeitgeber durch Lohnnebenko-sten das Arbeitsangebot und die Ar-beitsnachfrage geschmälert werden,was sich ungünstig auf das wirtschaft-liche Wachstum auswirken wird.

Dabei sollte nicht vergessen wer-den, dass der Rentnerquotient nicht inerster Linie durch die demografischeEntwicklung bestimmt wird, sonderndurch das mehr oder weniger willkür-lich angesetzte Renteneintrittsalter von65 Jahren festgelegt ist.

Eine Studie der OECD geht davonaus, dass – vorausgesetzt, es werden kei-ne speziellen Politikmaßnahmen auf-grund der Alterungsproblematik ergrif-fen („business-as-usual“-Szenario) – inder Europäischen Union die durch-schnittliche jährliche Wachstumsrate desBruttoinlandsprodukts von etwa 2,3 Pro-zent im Jahre 2000 auf durchschnittlichrund 0,5 Prozent im Zeitraum der Jahre2025 bis 2050 sinkt.2 Die Hauptursa-chen dafür sind der bereits erwähnteRückgang der Personenzahl im erwerbs-fähigen Alter und die Verlangsamung destechnischen Fortschritts.

…gefährdet wirtschaftliche Entwicklung

Auch die durchschnittlichen jährlichenWachstumsraten des Pro-Kopf-Einkom-mens werden der Studie zufolge von 1,9Prozent zwischen den Jahren 2000 und2010 auf 1,1 Prozent in der Dekadezwischen 2040 und 2050 sinken.3 DerLebensstandard wird auch in einer al-

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29perspektive21

[ familienpolitik ist wachstumspolitik ]

ternden Gesellschaft weiter ansteigen.Eine langsamere Wachstumsrate desPro-Kopf-Einkommens bedeutet aber,dass z.B. eine Verdoppelung des heuti-gen Lebensstandards erst zu einem spä-teren Zeitpunkt erreicht wird, als diesohne Alterung der Fall wäre.

Humankapital ist Schlüsselfaktor

Diese langsamere Wachstumsrate wirdhauptsächlich mit der Beeinträchtigungdes technischen Fortschritts und derZunahme des Rentnerquotienten be-gründet. Der Rentnerquotient ist dabeieine noch relativ leicht zu beeinflussen-de Größe: mit einer Heraufsetzung desRenteneintrittsalters kann dieser verän-dert und auch das Rentensystem entla-stet werden.4

Geht man davon aus, dass Humanka-pital für den technischen Fortschritt unddamit auch für das wirtschaftlicheWachstum von großer Bedeutung ist,ergibt sich aufgrund der Schrumpfungdes Arbeitskräftepotenzials ein negativerEffekt für die Quantität des Humanka-pitals. So kommt der Qualität des Hu-mankapitals eine Schlüsselfunktion zu.Auch ohne die Annahme, dass die Krea-tivität mit zunehmendem Alter nachlässtund damit die Innovationskraft abneh-

men wird, kann man von einer teilweisesinkenden Qualität des Humankapitalsim Alter ausgehen, da ältere Arbeitneh-mer seltener an Weiterbildungsmaßnah-men teilnehmen als jüngere.

Zudem zeigt sich, dass mit zuneh-mendem Lebensalter die Risikoaver-sion zunimmt. Geht man davon aus,dass für die Entwicklung von neuenTechnologien und Produkten ein ge-wisses Maß an Risikobereitschaft vor-handen sein muss – zum Beispiel, weildiese Vorhaben mit der Aufnahme vonKapital oder mit Unternehmensgrün-dungen verbunden sind –, dann führtein zunehmendes Durchschnittsalterder Bevölkerung zu einer höheren Risi-koaversion und damit erlahmenden In-ventions- und Innovationstätigkeiten.

Anreize für neue Technologien schaffen

Man darf aber nicht übersehen, dass esauch positive Einflüsse der Alterungauf den technischen Fortschritt gibt.So könnte die demografisch bedingteKnappheit der Arbeitskräfte zusätzli-che Anreize bieten, neue Technologienzu entwickeln, die die Arbeitskräfteersetzen werden.

Da die gesamte Wirkungsrichtungdes Einflusses der Bevölkerungsentwick-

4 Allerdings wäre eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 77 Jahre bis zum Jahre 2050 notwendig um den Altenquotienten(des Jahres 1995) auch in den nächsten 50 Jahren konstant zu halten (Vereinte Nationen, Replacement Migration: Is it a solu-tion to declining and ageing populations? United Nations Population Division, Department of Economic and Social Affairs,2000, Seite 38).

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[ bert rürup und sandra gruescu ]

lung auf die Wachstumsdeterminante„Technischer Fortschritt“ eher unsicherist, da es sowohl negative als auch posi-tive Einflüsse gibt, bleibt als politisch zubeeinflussende Größe das Erwerbsperso-nenpotenzial, d.h. die Erhöhung derAnzahl der Erwerbstätigen (und ihresHumankapitals) in einer schrumpfen-den Bevölkerung. Kurzfristig kann diesdurch eine Erhöhung der Erwerbsbetei-ligung geschehen, mittel- bis langfristigkann dies mit einer Erhöhung derGeburtenrate kombiniert werden.

Migrationspolitik als Alternative?

Zuwanderung kann übrigens allenfallseine sehr begrenzte Lösung des Alte-rungsproblems bedeuten. Wie von denVereinten Nationen in der Studie „Re-placement Migration“ berechnet, wür-den die quantitativen Ausmaße dernotwendigen Zuwanderung um z.B.den Altenquotienten konstant zu hal-ten, das Fassungsvermögen mit jähr-lich durchschnittlich 3,4 MillionenZuwanderern bei weitem übersteigen.Ein weiteres Problem ist auch diedynamische Seite der Zuwanderung:auch Zuwanderer altern. Unterstelltman dann zusätzlich, dass die bei eini-gen Zuwanderergruppen höhere Ferti-lität sich im Zeitverlauf an die niedrige

Rate der Deutschen anpasst, ist dieAlterung auch weiterhin ein ungelöstesProblem.

Migrationspolitik kann allenfalls füreine der beiden Ziele von Familienpo-litik „einspringen“ und zwar für die Er-höhung der heute Erwerbstätigen. Mi-grationspolitik muss aus diesem Grunddie Zuwanderung von Arbeitskräftensteuern (können) und vor allem besserintegrieren, damit allenfalls geringe An-passungsschwierigkeiten bestehen. Be-züglich einer Erhöhung der zukünftigenErwerbstätigen bietet aber selbst eine er-folgreiche Migrationspolitik keine Alter-native zur nachhaltigen Familienpolitik.

Nachhaltige Familienpolitik als Ausweg

Zwei Dinge unterscheiden die „nachhal-tige Familienpolitik“ von einer Famili-enpolitik, wie sie traditionell in eherkonservativer Weise definiert wurde.Erstens wurde darin das Ziel der Erhö-hung der Geburtenrate im Zusammen-hang mit dem Ziel einer Reduktion derFrauenerwerbstätigkeit verbunden.Zweitens zielte man darauf ab die ge-samtwirtschaftliche Nachfrage zu er-höhen, da man davon ausging, dass kin-derreiche Familien mehr konsumieren.5

Nachhaltige Familienpolitik verbin-det dagegen die Erhöhung der Gebur-

5 Siehe: Klaus Zimmermann, Grenzen einer Bevölkerungspolitik durch Familienpolitik, in: Wirtschaftsdienst 1984/IV, Hamburg,Seite 181.

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[ familienpolitik ist wachstumspolitik ]

tenrate mit der Erhöhung der Erwerb-stätigkeit von Frauen. Eine Analyse derfamilienpolitischen Leistungen inDeutschland und anderen Ländern derEuropäischen Union führt zu dem Er-gebnis, dass Maßnahmen für eine ver-besserte zeitgleiche Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf die Geburtenrate ei-nes Landes positiv beeinflussen können.Die Erfahrung anderer Länder zeigt,dass eine hohe Erwerbsbeteiligung vonFrauen nicht mit einer geringen Gebur-tenrate einhergehen muss. Geburtenzahlund hohe Erwerbsquoten sind also kei-ne substituären Ziele, sondern könnenals Komplemente aufgefasst werden.

Kosten und Nutzen abschätzen

Zudem geht es bei der Argumentationfür eine nachhaltige Familienpolitik umdie Auswirkungen des demografischenWandels auf das Produktionspotenzial,d.h. die Angebotsseite einer Volkswirt-schaft. Dieser Unterschied zur traditio-nellen Familienpolitik – Nachfrage ver-sus Angebot bzw. Produktionspotenzial– ist sicherlich auch in der gerade vor-herrschenden Denkschule bezüglich deswirtschaftlichen Wachstums begründet.

Das im nächsten Abschnitt in Er-gänzung eines Ausbaus familienunter-stützender Infrastruktur und entspre-chender Dienstleistungsangebote vorge-

schlagene Elterngeld-Modell6 als Ins-trument einer nachhaltigen Familien-politik basiert auf dem Opportunitäts-kostenprinzip.

Opportunitätskosten, d.h. möglicheNutzen und Erträge einer Alternativak-tivität, die dem Individuum aufgrundeiner Aktivität oder Mittelverwendungentgehen, sind eine wichtige Determi-nante des Fertilitätsverhaltens. Im Falleder Familiengründung bedeutet dies,wer Kinder bekommt und aufzieht,kann andere Tätigkeiten und den da-mit verbundenen Nutzen nicht wahr-nehmen. Rationale Individuen wägenKosten und Erträge von Alternativsitu-ationen ab und wählen die Alternative,die den höchsten Nutzen bezogen aufdie eigenen Präferenzen bringt.

Kinder und Opportunitätskosten

Opportunitätskosten von Kindernsind (aufgrund einer Unterbrechungder Erwerbstätigkeit) das individuelleEinkommen und die damit verbunde-nen Rentenansprüche; die Geldsum-men, die man nicht anderweitig ver-wenden kann, da man Aufwendungenfür Kinder hat; das niedrigere Arbeits-losigkeitsrisiko von erwerbstätigenNicht-Eltern im Vergleich zu erwerbs-tätigen Eltern, da Kinderlose mehrFlexibilität aufweisen und der Nutzen

6 Bert Rürup und Sandra Gruescu, a.a.O.

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[ bert rürup und sandra gruescu ]

einer stetigen Beschäftigung bezüglichdes eigenen Humankapitals.

Nicht-monetäre Opportunitätsko-sten sind Formen der Diskriminierungvon Müttern insbesondere junger Kin-der am Arbeitsplatz („Rabenmutter“)und vor allem in qualifizierten Beru-fen etwa durch das Vorenthalten wich-tiger Projekte als Folge der erwartetenkinderabhängigen Zeitpräferenzen.

Je höher das aktuelle Einkommenist, desto höher wird auch das zukünf-tige Einkommen und damit die spä-tere Rente sein und desto höher sinddie gesamten Opportunitätskosteneiner Unterbrechung der Erwerbstä-tigkeit. Dies bedeutet, dass insbeson-dere für höher qualifizierte und gut-verdienende Frauen die Opportuni-tätskosten höher sind als für niedrig-verdienende Frauen.

Trend zur Kinderlosigkeit nimmt zu

In Deutschland ist die Kinderlosigkeitdas eigentliche demografische Pro-blem. Im europäischen Vergleich blei-ben hier die meisten Frauen dauerhaftkinderlos.7 Eine Frau, die ein Kindbekommt, bekommt sehr wahrschein-lich auch ein zweites, so dass ein Trendzur Ein-Kind-Familie nicht feststellbarist. Daher muss der Schwerpunkt

einer Familienpolitik dazu beitragen,die Gründe zu beseitigen, warum sichein Paar gegen die Umsetzung einesKinderwunsches entscheidet.

Elterngeld-Modell alsAlternative

Um die „Nachfrage nach Kindern“ unddamit die Fertilitätsrate zu erhöhen,müssen die Opportunitätskosten vonKindern verringert werden. Der Leitge-danke – mit Hinblick auf die beidenZiele einer nachhaltigen Familienpolitik– ist, den Einkommensverlust in der Fa-miliengründungsphase abzumildern. Andas Elternteil, das seine Erwerbstätigkeitunterbricht, um das Kind zu erziehen,wird daher ein Elterngeld ausgezahlt,das 67 Prozent des Nettolohns des/derAntragstellers/in vor der Geburt beträgt.Dabei liegt das Minimum bei 300 Euroim Monat während für die Höhe derMaximalleistungsbeträge die Regelun-gen zu den Maximalbeträgen beim Ar-beitslosengeld gelten (Bemessungsgren-zen). Das Erziehungsgeld entfällt.

Dieses relativ hohe Elterngeld istnotwendig, um die Opportunitätskos-ten, die durch eine Erwerbsunterbre-chung entstehen, gering zu halten. Fis-kalische Zwänge erlauben derzeit nicht,ein höheres Elterngeld zu zahlen. Fürdie vorgeschlagene Höhe von 67 Pro-

7 Nach Schätzungen sind 22 Prozent der westdeutschen Frauen des Geburtsjahrgangs 1955 kinderlos.

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[ familienpolitik ist wachstumspolitik ]

zent hat das Fraunhofer-Institut Kostenin Höhe von 4,3 Milliarden Euroerrechnet.8

Allerdings gilt auch, dass z.B. eineAuszahlung eines Elterngeldes inHöhe von 100 Prozent des Nettoloh-nes eine Absenkung der durch Er-werbsunterbrechung enstehendenOpportunitätskosten auf Null bedeu-ten würde. Dann würde man aber dieTatsache ausblenden, dass Kindereinen individuellen Nutzen für dieEltern stiften. Der „wahre“ Wert mussalso für jedes Individuum unter 100Prozent liegen.

Elternzeit und Berufseinstiegweiterentwickeln

Jedem Elternteil stehen jeweils bis zudrei Monate bezahlter Elternzeit zu,wobei diese Teile nicht übertragbarsind. Zusätzlich können weitere sechsbezahlte Monate Elternzeit zwischenMutter und Vater frei aufgeteilt wer-den. Für das zweite und dritte Lebens-jahr des Kindes kann eine unbezahlteElternzeit genommen werden, für diedie heutigen Regelungen der Elternzeitbezüglich des Teilzeitarbeitsanspruches

und der Wiederbeschäftigungsgarantiegelten.

Die Länge der Elternzeit stellt einenKompromiss aus den Überlegungenbezüglich der Opportunitätskosten,der möglichst frühzeitigen Wiederbe-schäftigung im Beruf und aus Aspek-ten bezüglich der Gesundheit des Kin-des und der Mutter dar. In diesemModell ist die Betreuung des Kleinst-kindes zu Hause durch einen Eltern-teil bis zur Vollendung des 14. Lebens-monates gesichert. In diesem Alter istder Besuch einer Kinderbetreuungs-einrichtung für viele Kinder in ande-ren Ländern bereits Normalität. Damedizinische Untersuchungen undGesundheitsorganisationen aufzeigen,dass es für das Kind das Beste ist, dieersten 6 Monate voll gestillt zu wer-den9, kann die Mutter genau dies tun.

Wiedereinstieg in den Beruf ermöglichen

Die gesamte Elternzeit wird im Ver-gleich zur heutigen Regelung nichtverkürzt. Es ist weiterhin möglich, biszum dritten Lebensjahr des Kindes dieErwerbstätigkeit zu unterbrechen.

8 Die Regelungen gelten für alle abhängig Beschäftigten und Selbstständigen. Das Elterngeld für Unbeschäftigte ist an die heutigenAnspruchsvoraussetzungen des Erziehungsgeldes angelehnt. Das Elterngeld für Unbeschäftigte beträgt 300 € monatlich. Die bezahlteElternzeit muss bis zur Vollendung des 14. Lebensmonats des Kindes genommen werden. Ist der Elternteil, der Elterngeld bezieht inTeilzeit beschäftigt wird das Elterngeld teilweise angerechnet. Allerdings darf die Anrechnung nicht zu hoch ausfallen, da der Anreizzur Arbeitsaufnahme nicht verringert werden soll. Der Vater kann die Elternzeit ab der Geburt des Kindes antreten, die Mutter nachAblauf des Mutterschutzes. Für die genauen Annahmen der Berechnung siehe Bert Rürup und Sandra Gruescu, a.a.O.

9 siehe z.B.: WHO Weltgesundheitsorganisation 2004, Nutrition – Infant and young child, im Internet: www.who.int/child-adolescent-health/NUTRITION/infant_exclusive.htm (Download 11.2.2004).

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Eine Verkürzung der (unbezahlten)Elternzeit auf z.B. den Zeitpunkt derVollendung des zweiten Lebensjahrsdes Kindes erscheint heute nicht ange-bracht, da die Kinderbetreuungsmög-lichkeiten (zumindest in den altenBundesländern) noch lange nicht aus-reichend sind, um der Mutter einenWiedereinstieg in den Beruf nach derVollendung des zweiten Lebensjahreszu ermöglichen.10

Längerfristig sollte es aber Ziel sein,die Erwerbsunterbrechung der Eltern,bzw. insbesondere der Mütter relativkurz zu halten, um der Entwertungdes Humankapitals und damit einerEntqualifizierung entgegenzuwirken.

Kinderbetreuung spielt tragende Rolle

Laut Unternehmensbefragungen be-vorzugt die Mehrheit der Unterneh-men im kaufmännischen/gewerblichenBereich eine Unterbrechung aufgrundder Familiengründung von höchstens1-2 Jahren. Denkbar ist, dass heute –in einer Zeit in der in einigen Arbeits-marktbereichen der Fachkräftemangelbereits offensichtlich ist – die Mehr-heit der Unternehmen eine noch kür-zere Zeitspanne präferieren würden.Dabei kann man annehmen, dass

Mütter vor dem dritten Lebensjahrdes Kindes in den Beruf zurückkeh-ren, wenn sie mit qualitativer Kinder-betreuung unterstützt werden.

Alle Maßnahmen einer nachhaltigenFamilienpolitik müssen mit eltern- undkindgerechter Infrastruktur unterstütztwerden. Dabei spielt eine gute und gutausgebaute Kinderbetreuung, die inDeutschland in ihren vielfältigen For-men wie Krippen, Betriebskindergärtenund Ganztagsschulen von vielen Elternvermisst wird, die tragende Rolle.

Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen

Eine nachhaltige Familienpolitik, d.h.eine Familienpolitik, die gleicherma-ßen eine Steigerung der Erwerbstätig-keit von Frauen wie auch bessere Vor-aussetzungen für mehr Kinder zumZiel hat, ist aus ökonomischer Sichterforderlich, da■ die Bevölkerungsschrumpfung unddamit die Verringerung des Erwerbs-tätigenpotenzials negative Effekte aufdas wirtschaftliche Wachstum hat,■ Kinder – als zukünftige Erwerbs-tätige – positive externe Effekte für dieGesellschaft haben,■ und Armut in Familien – insbeson-dere bei Alleinerziehenden hauptsäch-

10 Das hier vorgeschlagene Elterngeld-Modell muss mit weiteren Maßnahmen kombiniert werden. Ein wichtiger Bestandteil ist dabeieine Neuausrichtung in der Quantität und Qualität der Kinderbetreuung kombiniert mit flexibleren Öffnungszeiten der Kinderbe-treuungseinrichtungen und eine familienfreundliche Arbeitsorganisation und Personalpolitik in den Unternehmen.

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[ familienpolitik ist wachstumspolitik ]

lich hervorgerufen durch die Nicht-Erwerbstätigkeit von Müttern – diezukünftigen Chancen von Kindernvermindert und zu negativen externenEffekten führt.

Aufgrund der negativen Auswirkun-gen einer Bevölkerungsschrumpfungfür das wirtschaftliche Wachstumkann nachhaltige Familienpolitikgleichzeitig auch Wachstumspolitiksein. Wachstumspolitische und famili-enpolitische Zielsetzungen stehen alsonicht in einer Konkurrenzbeziehung,sondern ergänzen sich.

Alle Politikmaßnahmen, die zumZiel haben, die Konsequenzen der Be-völkerungsentwicklung abzufedern, set-zen letztlich voraus, dass Menschen ge-boren werden, die dann aufgezogen underzogen, ausgebildet und beschäftigtwerden. Daher führt kein Weg an einernachhaltigen Familienpolitik vorbei, diedurch eine Erhöhung der Geburtenratezu einer langfristig stabilen Bevölkerungführen kann und durch eine Erhöhungder Erwerbsbeteiligung von Frauen dasErwerbspersonenpotenzial auch kurzfri-stig erhöht bzw. stabilisiert. ■

BERT RÜRUP

ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Darmstadt und Mitglied imSachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

SANDRA GRUESCU

ist Volkswirtin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fürVolkswirtschaftslehre an der TU Darmstadt.

Der Beitrag erscheint gerade im Buch von Renate Schmidt und Liz Mohn (Hg.): Familie bringt Gewinn.

Innovation durch Balance von Familie und Arbeitswelt, Gütersloh 2004.

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WARUM SICH FAMILIENPOLITIK FÜR DIE WIRTSCHAFT LOHNTVON LUDWIG GEORG BRAUN

Familie? Ja bitte!

J a bitte! – so und nur so sollte ange-sichts der bevorstehenden demogra-

fischen Herausforderung in Deutsch-land die Antwort auf die Frage nachder Familie lauten. Deutschland hatheute weltweit eine der niedrigstenGeburtenrate: Während die Frauendes Geburtsjahrgangs 1940 im Schnittnoch 1,9 Kinder bekamen, sind esbeim Jahrgang 1965 voraussichtlichnur noch 1,4. Unter Männern ist derTrend der Kinderlosigkeit noch stär-ker: In allen Altersgruppen sind Män-ner häufiger kinderlos als bei Frauen.

Die Gründe für Deutschlands Kin-derlosigkeit sind vielfältig. Eine Erklä-rung mag sein, dass die langen Ausbil-dungszeiten in Deutschland nicht ge-rade familienfreundlich ist: Bei einerakademischen Ausbildung muss mandavon ausgehen, dass man bis zum 25oder 26. Lebensjahr in ökonomischerAbhängigkeit lebt. Danach sind wei-tere fünf Jahre der beruflichen Etablie-rung erforderlich. Ehe man sich ver-sieht, ist die junge Frau oder der jungeMann Mitte 30, bevor die Entschei-dung zur Gründung einer Familie an-steht. Dies ist ein Grund, warum die

Kinderlosigkeit insbesondere unterAkademikerinnen und Akademikernbesonders hoch ist: Über 40 Prozentaller Frauen mit Universitätsabschlussbleiben kinderlos.

Ein anderer wichtiger Faktor fürKinderlosigkeit sind die ökonomi-schen Zukunftsaussichten einer Fami-lie: In den neuen Bundesländern wirdungefähr 40 bis 50 Prozent des Haus-haltseinkommens von der Ehefrauoder Lebenspartnerin erwirtschaftet.Würde ein Elternteil die Erwerbstätig-keit zugunsten der Betreuung vonKindern aufgeben, würde das für eineVielzahl von Haushalten zu erhebli-chen Einbußen führen.

Familie mit Beruf vereinbaren

Beide Faktoren führen unmittelbar zuder Erkenntnis, dass Kinderlosigkeit inDeutschland nicht zuletzt auf man-gelnde Chancen zur Vereinbarkeit vonBeruf und Familie zurückzuführen ist.Selbst wenn es schwierig ist, demogra-fische Trends umzukehren, sollten wiralles dafür tun, dass Familien inDeutschland wieder eine Zukunft ha-

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[ ludwig georg braun ]

ben. Denn Kinder sind ein entschei-dender Zukunftsfaktor für unsere Ge-sellschaft und ebenso für unsere Wirt-schaft. Deswegen ist wichtig, dass je-der in der Gesellschaft seinen Teil zurFamilienfreundlichkeit beiträgt.

Conditio sine qua non

Im Vergleich zu anderen westeuropäi-schen Ländern hat Deutschland einenenormen Nachholbedarf, was die Kin-derbetreuung insbesondere der unter3-jährigen angeht. Die Versorgungs-quote für bis zu Dreijährige liegt inWestdeutschland in Tageseinrichtun-gen bei unter 3 Prozent. Das bedeutet,dass 97 von 100 Kindern entwedervon den Eltern und/oder Verwandtenoder von privatfinanzierten Tagesmüt-tern betreut werden. Ist die Oma oderder Opa nicht vor Ort verfügbar oderfehlt das Geld für die Finanzierung ei-ner Tagesmutter, bleibt zumindest ei-nem Elternteil nichts anderes übrig,als das Kind selbst zu betreuen. EineErwerbstätigkeit scheidet häufig sogarganz aus.

Ein anderes Problem entsteht, sobalddie Kinder in die Schule kommen. Ge-rade in den ersten Schuljahren fallenStunden nicht selten aus und das Kindsteht unerwartet vorzeitig vor der Tür –unbetreut! Darüber hinaus sind dieSchulferien weit länger als die Gesamt-heit der den meisten Arbeitnehmern zurVerfügung stehende Urlaubstage. Vor

diesem Hintergrund ist ein Ausbau derGanztagsschulen, der Horte und sonsti-ger Betreuungsangebote unumgänglich.

Die Bundesregierung versucht zurZeit, den Ausbau der Kinderbetreuunginsbesondere bei den unter 3-jährigenzu unterstützen. Aufgrund der aktu-ellen Finanzsituation bei Bund undKommunen ist indes unsicher, ob dasGeld hierfür zur Verfügung stehenwird. Dabei sollte angesichts der demo-grafischen Herausforderung, vor derDeutschland steht, das Thema Kinder-betreuung an einer oberen Stelle derPrioritätenliste kommunaler Haushaltestehen. Es muss daher – wo immermöglich – Geld von subventioniertenanderen Bereichen kommunaler Akti-vitäten umgelenkt werden.

Kita zahlt sich aus

Denn ein flexibles und ausreichendesKinderbetreuungsangebot zahlt sich fürKommunen und Städte aus: Nicht nurmit Blick auf die Attrahierung vonFachkräften aus dem In- und Ausland,sondern für die gesamte betrieblichePersonalpolitik spielen für die Unter-nehmen bei ihrer regionalen Standort-wahl auch zunehmend familienfreundli-che Rahmenbedingungen einer Regionund insbesondere das örtliche Kinder-betreuungsangebot eine wichtige Rolle,weil sie hierdurch ihre Arbeitskräfte andas Unternehmen und an die Regionbinden können. Kinderbetreuung ist

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[ familie? ja bitte ! ]

damit ein Faktor im regionalen Stand-ortwettbewerb.

Aber auch aus volkswirtschaftlicherPerspektive bringt der Ausbau der Kin-derbetreuung Gewinn: Nach einemGutachten des Deutschen Instituts fürWirtschaftsforschung (DIW) wünschensich rund 70 Prozent aller Mütter mitKindern bis zu 12 Jahren einen Einstiegbzw. Wiedereinstieg ins Berufsleben.

Neue Unternehmerverantwortung

Wenn alle Mütter ihren Erwerbswunschin die Tat umsetzen könnten, ergäbensich rechnerisch steuerliche Mehreinnah-men von bis zu 6 Milliarden € jährlich.Kommunen würden bei den Sozialhilfe-ausgaben um bis zu 1,5 Milliarden €entlastet. Zusätzlich erreicht man Eins-parungen in der Arbeitslosenversiche-rung bzw. erhält man zusätzliches Steuer-aufkommen, wenn im Bereich der Tages-pflege zusätzlich Beschäftigung entsteht.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitersind das wichtigste Vermögen eines Un-ternehmens und Grundlage für den be-triebswirtschaftlichen Erfolg. Dieses Hu-manvermögen der Mitarbeiter verändertsich jedoch permanent. Ist ein Mitarbei-ter zufrieden mit den Bedingungen anseinem Arbeitsplatz, hat er eine höhereMotivation, er ist weniger krank und erist stärker bereit, sich neues Wissen fürseine Arbeit anzueignen. Die Unterneh-mensführung kann einiges dazu beitra-gen, dass die Beschäftigten gerne im

Betrieb arbeiten und sich für die Unter-nehmensziele einsetzen. Keiner hat etwasdavon, wenn Mitarbeiter morgens dro-hendes Unheil erwartend zur Arbeitkommen. Eine bedarfsnahe und an denindividuellen Fähigkeiten orientierteQualifizierung der Mitarbeiter, flacheHierarchien und schnelle Kommunika-tionswege sind das eine; gegenseitigerRespekt und Toleranz für kulturelle, reli-giöse und familiäre Unterschiede sindaber nicht minder wichtig.

Das Verständnis für die Doppelanfor-derungen, die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter mit familiären Verpflichtun-gen tagtäglich zu erfüllen haben, ist da-bei ein wesentlicher Bestandteil einer fa-milienfreundlichen Unternehmenskul-tur, ohne die jede Maßnahme zur För-derung der Vereinbarkeit beider Berei-che in der Wirkung schwach bleibenmuss. Es ist also nicht zielführend, wennauf der einen Seite flexible Arbeitszeitenvereinbart werden, gleichzeitig aber Ab-teilungsleiter Besprechungen grundsätz-lich immer nachmittags terminieren.

Heute Trendsetter …

Immer mehr Unternehmen sind indesfamilienfreundlich – auch ohne gesetz-liche Zwangsmaßnahmen. Und ausUnternehmensperspektive wird einefamilienorientierte Personalpolitik inZukunft noch wichtiger: Die demo-grafische Entwicklung führt zu weni-ger Erwerbstätigen.

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Nach Schätzungen des StatistischenBundesamtes wird sich die Bevölkerungim Alter von 20 bis 59 von heute etwa55 Millionen Menschen auf etwa 47Millionen im Jahr 2050 verringern –und das selbst unter der Annahme ei-ner jährlichen Nettozuwanderung vonrund 200.000 Menschen. Nicht alle 55Millionen Menschen sind heute aucherwerbstätig. Die Erwerbsquote (Anteilder Erwerbstätigen bezogen auf die Be-völkerung im erwerbsfähigen Alter)liegt vielmehr zur Zeit in Deutschlandbei etwa 65 Prozent; Bei den Männernmit knapp 72 Prozent höher als bei denFrauen mit 59 Prozent.

… morgen Gewinner

Selbst wenn diese Erwerbsquotenerheblich anstiegen: Der Wettbewerbum qualifizierte Mitarbeiterinnen undMitarbeiter zwischen den Betriebenwird stärker werden. Unternehmen,die heute Trendsetter in familienorien-tierter Personalpolitik sind, werdenmorgen Gewinner im Wettstreit umqualifizierte Fachkräfte sein.

Welche Möglichkeiten hat einUnternehmen, um seinen Beschäftigtendie Vereinbarkeit von Familie undBeruf zu erleichtern? Hier gibt es nichtdie eine perfekte Lösung. Jedes Unter-nehmen ist in einer spezifischen Situa-tion, mit der es umzugehen gilt. Es gibtBranchenunterschiede, die Einfluss aufdie Art der Personalpolitik haben: Ein

Textilunternehmen mit einem relativhohen Frauenanteil wird auf andereWeise familienorientiert sein als einUnternehmen aus dem Baugewerbe.

Passgenaue Personalpolitik

Ebenso hat die Größe eines Unterneh-mens Auswirkungen auf die Ausgestal-tung einer familienorientierten Perso-nalpolitik. Das heißt nicht, dass kleineUnternehmen weniger familienfreund-lich sind als große Unternehmen. ImGegenteil: Eine überschaubare Betriebs-größe und damit Nähe zwischen Un-ternehmensleitung und Beschäftigtenermöglicht häufig eher kreative indivi-duell zugeschnittene Einzellösungen.

Häufig hört man die Forderung,Unternehmen sollten sich in der Kin-derbetreuung engagieren – gerade mitBlick auf das geringe Betreuungsange-bot in Westdeutschland für die unter3-jährigen und die über 6-jährigen.Ein Betriebskindergarten ist jedoch fürdie meisten kleinen und mittleren Un-ternehmen nicht zu schultern, sowohlfinanziell als auch aufgrund bürokrati-scher Hemmnisse wie z.B. Vorschrif-ten, in welcher Höhe die Waschbeckenin den Toiletten anzubringen sind. Da-rüber hinaus stellt sich die Frage, ob essinnvoll ist, dass Mitarbeiterkinder inder Hauptsache mit anderen Mitarbei-terkindern aufwachsen. Eine Fokussie-rung der Debatte auf Betriebskinder-gärten lenkt leicht von den vielfältigen

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[ familie? ja bitte ! ]

anderen Möglichkeiten einer familie-norientierten Personalpolitik ab.

So kann ein Unternehmen zum Bei-spiel Mitarbeitern einen Zuschuss zurKinderbetreuung gewähren. Ist auch dasaus finanziellen Gründen nicht möglich,so würde schon eine Unterstützung beider Suche nach einer Notfallbetreuungfür Mitarbeiter mit Familienaufgabeneine Entlastung bringen. Der Kontaktzu einem Familienservice oder einemTagesmutterverband kann schnell undunbürokratisch Probleme lösen.

Viele Wege führen zum Ziel

Eine andere Alternative kann die Un-terstützung von Elterninitiativen sein:Wenn die Betreuungssituation in dernäheren Umgebung des Unternehmensnicht der Nachfrage entspricht, schlie-ßen sich auch Eltern häufig zu einemVerein zusammen, um die Trägerschaftfür eine Betreuungseinrichtung zuübernehmen. Solches privates Engage-ment kann ein Unternehmen unter-stützen, indem es Geldmittel oderRäumlichkeiten zur Verfügung stellt.

Die Kosten gelten als Betriebsausga-ben und sind steuerlich absetzbar. DieVorteile liegen auf der Hand: Die El-tern können nach eigenen Vorstellun-gen pädagogische Konzepte umsetzenund fühlen sich dem Arbeitgeber mehrverbunden. Gleichzeitig setzt das Un-ternehmen öffentlichkeitswirksam einZeichen in der Verantwortung eines

„corporate citizen“. Grundsätzlich ist inSachen Kinderbetreuung jedes kleineoder mittlere Unternehmen gut bera-ten, sich mit anderen Unternehmen inder Region zu Netzwerken zusammen-zuschließen. Um mögliche Partner inder Region zu finden, sind Industrie-und Handelskammern geeignete An-sprechpartner.

Ein anderes Beispiel für eine einfa-che familienorientierte Initiative mitwenig Aufwand und guter Wirkung istdie Nutzung der Betriebskantine. FürMitarbeiterinnen und Mitarbeiterkann es zu Stress führen, täglich ihrenKindern ein nahrhaftes und abwechs-lungsreiches Mittagessen oder Abend-essen auf den Tisch zu stellen. Planen,einkaufen, nach Hause fahren, kochen– das kostet Zeit. Die Lösung ist ein-fach: Je nach Bedarf kann das Essenfür den Feierabend in der Betriebskan-tine bestellt und abgeholt werden.

Kinder in der Kantine

Oder die Kinder werden zum Essen indie Kantine mitgenommen. Die Kos-ten können entweder von den Elternallein getragen oder vom Unternehmenbezuschusst werden. Die Beschäftigtengehen entspannter in die Mittagspauseoder in den Feierabend und könnensich auch zum Ende ihrer Arbeitszeitkonzentriert ihren Aufgaben widmen.

Die Palette an Möglichkeiten istbunt. Insbesondere für kleine und mitt-

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[ ludwig georg braun ]

lere Unternehmen hat der DeutscheIndustrie- und Handelkammerstag(DIHK) gemeinsam mit dem Familien-ministerium ein Checkheft familien-orientierte Personalpolitik geschrieben.Hier werden zahlreiche Ansätze vorge-stellt, die einen geringen finanziellenund personellen Aufwand und dennochgroße Wirkung haben. Zudem findensich Ansprechpartner, Links im Inter-net, Literaturhinweise und beispielhaftekleine und mittlere Unternehmen.

Familienfreundlichkeit lohnt sich

Diese intuitive Erkenntnis ist inner-halb der Unternehmerschaft nichtneu. Doch wie hoch die Kosten undder betriebliche Nutzen konkret sind,darüber besteht häufig eine eher vageVermutung.

Zunächst einmal zu den Kosten. Ers-tes Beispiel Fluktuationskosten: Grund-sätzlich entstehen aus betriebswirtschaft-lich nüchterner Sicht dem Unterneh-men dadurch Kosten, dass Beschäftigtein eine Phase der Elternzeit gehen. Fürdiese Zeit muss neues Personal gesuchtund ausgewählt werden. Diese Suchebedeutet für das Unternehmen Auf-wand. Je höher und spezifischer qualifi-ziert die Mitarbeiter waren, desto längerkann die Suche nach einem Ersatz dau-ern. Die Stelle verliert für die Bewerberan Attraktivität, wenn sie befristet ist.Bleibt eine Stelle zeitweilig unbesetzt,verursacht sie meist eine Störung in den

Unternehmensabläufen. Ist mit der Stel-le sogar ein persönlicher Kontakt zu ei-nem Kundenstamm verbunden, kanneine längere Vakanz zu erheblichen Ein-bußen für das Unternehmen führen.Natürlich sind hier nur Schätzungenmöglich, zumal die Kosten der Sucheund Auswahl von Personal von der Ent-wicklung des Arbeitsmarktes und denzur Verfügung stehenden Bewerbern ab-hängig sind. Wird schließlich ein neuerMitarbeiter eingestellt und muss dieserwegen des neuen Arbeitsplatzes seinenWohnsitz an den neuen Arbeitsort ver-lagern, gibt es viele Unternehmen, dieden Umzug finanziell unterstützen. Esfolgt eine Qualifizierungsphase, in derder neue Mitarbeiter anfangs wenigerLeistung bringt und der Kollege, derihn einarbeitet, ebenfalls nur einge-schränkt seine anderen Tätigkeiten aus-üben kann.

Mütter schnell zurückgewinnen

Zweites Beispiel Wiedereinstiegskosten:Nimmt beispielsweise eine Mitarbeite-rin ihre Tätigkeit nach der Elternzeitim Unternehmen wieder auf, ist diesaus Sicht des Unternehmens sehr posi-tiv. Denn je nach Betriebszugehörig-keit sind hohe Erfahrungswerte überunternehmensinterne und -externeProzesse vorhanden. Dennoch: In ei-ner dynamischen Welt, verändern sichdie Anforderungen an das Wissen derBeschäftigten sehr schnell. In jedem

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[ familie? ja bitte ! ]

Fall muss deshalb am Anfang des Wie-dereinstiegs eine neuerliche Einarbei-tungsphase stehen.

Mehr Rücksichtnahme

Diese ist um so länger und intensiver,je länger die Elternzeit gedauert hat.Schätzungen gehen davon aus, dassder Wiedereinstieg nach einer 3-jähri-gen Elternzeit immerhin 75 Prozentder Kosten einer Neueinstellung verur-sacht. Im Vergleich: Nach 6 Monatensind es nur 15 Prozent. Die Unterneh-men haben also ein hohes Interessedaran, die Mitarbeiterin erstens über-haupt und zweitens sobald wie mög-lich zurückzugewinnen.

Drittes Beispiel: Kosten für Fehlzei-ten. Nach einer zweijährigen Elternzeitkehrt eine Mitarbeiterin wieder an ih-ren Arbeitsplatz zurück. Ihr Kind isttagsüber in einer Kindertagesstättebetreut. Wird es allerdings krank,muss die Mutter oder der Vater zuhau-se bleiben, wenn keine Notfallbetreu-ung zu organisieren ist. Und darüberhinaus: Wird die Doppelbelastung fürMitarbeiter mit Familienaufgaben zugroß, steigt erfahrungsgemäß auch dieeigene Krankheitsanfälligkeit. In je-dem Fall gilt: Je familienorientierterdie Personalpolitik, desto mehr lassensich auch diese Kosten senken.

All diese Kosten lassen sich zum Teilerheblich über familienfreundlicheMaßnahmen reduzieren. Eines der ef-

fektivsten Mittel, mit dem eine bessereVereinbarkeit von Beruf und Familie er-reicht werden kann, sind flexible Ar-beitszeitmodelle. Nach einer repräsenta-tiven Umfrage des Instituts der Deut-schen Wirtschaft bietet drei Viertel allerUnternehmen die unterschiedlichstenArbeitszeitmodelle an. Das Angebotreicht von der Möglichkeit kurzfristigerArbeitsunterbrechungen über diverseTeilzeitangebote, Urlaubsabsprachenunter Rücksichtnahme von Familienbe-langen bis hin zum Jobsharing.

Neue Arbeitszeitmodelle

Wichtig ist, dass alle Beschäftigten dieArbeitszeitmodelle mittragen können,unabhängig ob mit Familie oder ohne.Vollzeitkräfte ohne Familienanhangkönnten beispielsweise ihre Überstun-den ansparen und in Zeiten mit weni-ger Aufträgen etwas länger auf Reisengehen. Nur so funktionieren Spielre-geln in Verbindung mit gegenseitigerRücksichtnahme. Zum Beispiel wäh-rend der Sommerferien: Die eine Mit-arbeiterin möchte mit ihren Kindernverreisen, während eine andere beson-ders viel Zeit zum arbeiten hat, weilihr Kind für 3 Wochen zur Großmut-ter fährt.

Familienfreundlichkeit hat vieleDimensionen. Nicht nur im Unter-nehmen. Sie beginnt in der unmittel-baren Nachbarschaft, erstreckt sichüber die Regionen in unser Land. Das

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LUDWIG GEORG BRAUN

ist Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertagesund Vorstandsvorsitzender der B. Braun Melsungen AG.

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[ ludwig georg braun ]

bedeutet aber: Familienfreundlichkeitkann überall beginnen und jeder istaufgerufen, sich – im möglichen Rah-men – kreativ für die Familienfreund-

lichkeit einzusetzen und dabei auchmal über den Tellerrand des vertrauteneigenen Umfeldes hinauszusehen. ■

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NEUVOLA ALS MODELL DES AKTIVIERENDEN SOZIALSTAATES IN FINNLAND VON SEBASTIAN SASS

Kinder imMittelpunkt

Z u Beginn eines Artikels zumThema „Neuvola“ sollte man in

der Lage sein, dieses finnische Fremd-wort zu übersetzen. Da eine direkteÜbersetzung aber nicht möglich ist,wird man sich ans Wörterbuch haltenmüssen, das die Begriffe „Mütterbera-tungsstelle“ und „Kinderberatungs-stelle“ vorschlägt. Diese Terminologieist zwar einigermaßen zutreffend, ver-engt die Bedeutung aber etwas. DasNeuvola-System ist eine sehr umfas-sende, unentgeltliche staatliche Betreu-ungseinrichtung für werdende Mütterund Väter („Mütterberatungsstelle“)sowie junge Familien („Kinderbera-tungsstelle“).

Während der Schwangerschaft wer-den die werdenden Mütter von Ge-sundheitspflegerinnen der Mütterbera-tungsstelle regelmäßig untersucht undin allen Fragen der Schwangerschaftberaten. Im Lauf der Schwangerschaftsieht das Neuvola-System zusätzlich dreiärztliche Untersuchungen sowie eine

Ultraschalluntersuchung vor. Schwan-gerschaftsgymnastik und Geburtstrai-ning gehören ebenfalls dazu. Je nachAngebot der örtlichen Neuvolas werdenverschiedene Kurse für Mütter und/oder Väter, Seminare, Themenabende,Gruppenaktivitäten, Hausbesuche sowieTelefonberatung durchgeführt.

Schwangerschaftsberatung steht am Beginn

Das primäre Ziel ist natürlich, die Ge-sundheit von Mutter und Kind zu för-dern sowie eventuelle Komplikationenmöglichst früh festzustellen. Bei Bedarfwerden die Mütter zur weiteren Be-handlungen an Fachärzte überwiesen.

Werdende Mütter sind gehalten,sich möglichst bald in der Neuvola-Beratungsstelle ihres Wohnbezirks zurersten Untersuchung durch eine Ge-sundheitspflegerin einzufinden. Es seihier gestattet, ausschließlich von weib-lichen Gesundheitspflegerinnen zu

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[ sebastian sass ]

sprechen, da dieser Berufsstand imNeuvola tatsächlich so gut wie aussch-ließlich durch Frauen vertreten ist.

„Starter-Kit“ für Jungfamilien

Ein besonderer Anreiz zur frühzeitigenAnmeldung im Neuvola ist rein mate-rieller Art: Die Anmeldung vor Ablaufdes vierten Schwangerschaftsmonatsist Voraussetzung dafür, dass die wer-dende Mutter das so genannte Mutter-geld beziehen kann. Diese finanzielleZuwendung wird Schwangeren nachdem 154. Tag der Schwangerschaft ge-währt und richtet sich nach der Höhedes steuerpflichtigen Einkommens.

Bei rechtzeitiger Anmeldung be-kommt man vom Neuvola außerdemeine Art „Starter-Kit“ für werdende Müt-ter, eine weltweit fast einzigartige staatli-che Sachzuwendung: neben Kleidungund Babyzubehör erhalten Mütter ver-schiedene Informationsunterlagen zumThema Stillen, Babyernährung und Part-nerschaft – in einer speziellen Kiste, diefür die ersten Monate nach der Geburtdes Kindes als Babybett gedacht ist.

Die standardisierte Zusammenset-zung dieser so genannten „Mutterpa-ckung“ wird jährlich aktualisiert, wobeidie Wünsche von Eltern Berücksichti-gung finden. Inzwischen ist die Woll-decke durch eine Daunendecke ersetzt

worden, seit 2001 sind Babyfäustlingeenthalten und die Zahl verschiedenerBaby-Overalls ist auf vier bis fünf ge-steigert worden. Der Inhalt des neue-sten Modells, die Mutterpackung 2004,kann auf den Internetseiten der finni-schen Volksversicherungsanstalt onlineeingesehen werden1.

Die Mutterpackung ist eine Innova-tion aus dem Jahr 1937, die damalsnoch ermessensabhängig gewährt wur-de. Seit 1949 ist sie für alle werdendenMütter ab dem 154. Schwanger-schaftstag erhältlich.

„Noch nie so eine gute Gegenleistung“

Die verschiedenen Zuwendungen dienennatürlich nicht nur dazu, werdende El-tern materiell zu unterstützen. DieKopplung mit dem Gang zum Neuvolaist ein zusätzlicher Anreiz, die elterlicheVerantwortung ernst zu nehmen. Umdie unentgeltlichen Zuwendungen zuerhalten, muss man eben etwas dafür tun– regelmäßige Untersuchungen, Bera-tungsgespräche und so weiter. Kaumeine Jungfamilie lässt sich diesen Dealentgehen. Schwangere bestätigen immerwieder, dass sie noch nie das Gefühlgehabt hätten, eine so gute Gegenleis-tung für ihre Steuern erhalten zu haben.

Vielfach hört man allerdings, dassdie Betreuung im Neuvola „übersensi-

1 http://193.209.217.5/in/internet/suomi/suomi.nsf/WebPrintView/37096B9D36749070C2256BB50046C859.

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bel“ sei: alle möglichen intimen De-tails würden im Beratungsgesprächaufgegriffen, zu jeder Kleinigkeit gäbees einen guten Rat und viele werdendeMütter hätten das Gefühl, gegen ihrenWillen in Watte gepackt zu werden.Dennoch – auf die Teilnahme imNeuvola-System verzichtet kaum je-mand. Es ist ein freiwilliges Systemmit einer Teilnehmerquote von fast100 Prozent.

Vorbeugung durch Unterstützung und Aufklärung

Wie auch immer, der eigentliche Wertdes Systems zeigt sich spätestens dann,wenn Komplikationen frühzeitig fest-gestellt und behandelt werden können.Zugleich lässt sich davon ausgehen,dass eine regelmäßige Kontrolle dasVerantwortungsbewusstsein der Elternsteigert und die Entwicklung des Kin-des fördert: so lassen sich zum BeispielRauchen, Alkohol- oder Drogenmiss-brauch unter diesen Bedingungen nurschwer geheim halten.

Eine eigentliche Verhaltenskontrollefindet durch das Neuvola-System na-türlich nicht statt. Bei schädigendemVerhalten der vorgenannten Art wirdzuförderst nicht mit Konsequenzengedroht. Das System ist vielmehr aufVorbeugung durch Aufklärung undUnterstützung ausgerichtet, um derar-tige Probleme von vornherein zu ver-meiden – und zielt immer auf eine en-

ge Kooperation zwischen Eltern undBeratungsstelle. Der Erfolg scheintdieser Methode Recht zu geben.

Neuvola funktioniert auch als sogenannte Kinderberatungsstelle. Hierwerden Entwicklung und Gesundheitdes Kindes vom Babyalter bis zumSchuleintritt beobachtet sowie für dieEinhaltung des Impfprogramms ge-sorgt. Eltern werden in Erziehungsan-gelegenheiten individuell beraten, er-halten Unterstützung und Ermutigung.Die Gespräche und Untersuchungen inder Kinderberatungsstelle zwischenKinderpflegerin, Eltern und Kindernfinden in den ersten Monaten und Jah-ren in sehr kurzem Abstand stand, spä-ter dann ein bis zwei Mal im Jahr.Nach dem Schuleintritt des Kindeswerden die Daten von der Kinderpfle-gerin an den Schulpsychologen weiter-geleitet. Auf diese Weise ist eine fastlückenlose Betreuung und Beratungvon Eltern und Kindern gewährleistet.

Beratungsstelle für Eltern und Kinder

Bei Bedarf werden die Kinder zurfachärztlichen Behandlung überwie-sen. Psychologen, Sprachtherapeutenund Physiotherapeuten stehen eben-falls zur Verfügung. Die individuellenfamiliären Umstände des Kindes sollenjeweils Berücksichtigung finden.

Bei Schuleintritt übernehmen wie-derum Schulärzte, -gesundheitspfleger

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und -psychologen die weitere Beglei-tung des Kindes. Diese Betreuungs-kette bezweckt zu verhindern, dasseinzelne Kinder aus der gesamtgesell-schaftlichen Verantwortung herausfal-len und zurückgelassen werden.

Aktivierender Sozialstaatfordert und fördert

Es geht um mehr als um die Unter-stützung Einzelner. Eine der Grunder-kenntnisse, die dem finnischen Sozial-staat und Wohlfahrtssystem zugrundeliegen, ist der Umstand, dass es sich einso kleines Volk von gut 5 MillionenMenschen an der Peripherie der Euro-päischen Union einfach nicht leistenkann, Humankapital zu verschwenden.Die Gesellschaft muss bemüht sein, dasSchaffenspotenzial ihrer Bürger mög-lichst umfassend auszuschöpfen. Dafürmuss der Staat aber zunächst die ent-sprechende Grundlage schaffen – gera-de durch Schule, Ausbildung, Kinder-und Jugendbetreuung.

Das Neuvola-System ist eine derEinrichtungen, die Heranwachsendeneinen möglichst gelungenen Einstiegin die Gesellschaft ermöglichen sollen.Daran muss sich unbedingt eine guteSchulausbildung anschließen, damitdie früh geschaffene Grundlage opti-mal genutzt wird.

Ganztagsschulen mit Schulspeisungsind in Finnland die Regel. Das ermög-licht es beiden Elternteilen, ihrem Be-

ruf nachzugehen. Angesichts steigenderScheidungsraten und der Veränderungdes durchschnittlichen Familienbildskönnen staatliche Sozialleistungen nichtmehr ausschließlich auf einem Famili-enmodell aufbauen, das keineswegsmehr die gesellschaftliche Norm dar-stellt.

Wenn beide Elternteile arbeitenkönnen, steigt nicht nur das Einkom-men der Familie und das Steuerauf-kommen des Staates. Im Scheidungsfallsind Alleinerziehende finanziell am bes-ten durch einen eigenen Arbeitsplatzmit angemessenem Einkommen abgesi-chert. Damit Alleinerziehende aber fi-nanziell auf eigenen Beinen stehen kön-nen und nicht von staatlichen Finanz-transfers abhängig sind, muss die Ge-sellschaft entsprechende Betreuungsein-richtungen zur Verfügung stellen.

Ohne Neuvola kein Erfolg bei Pisa

Eben diese Förderung der Selbststän-digkeit durch aktivierende Leistungensoll die Zielrichtung des Sozialstaatssein. Gerade der Nachwuchs einer Ge-sellschaft ist eine Investition in die ei-gene Zukunft. Das Neuvola-System istein wesentlicher Teil auf diesem Weg.

Neuvola wirkt auch über die früh-kindliche Phase hinaus. Vielerorts wirddarauf hingewiesen, dass das Neuvola-System zu den wichtigsten Gründe fürdas gute Abschneiden Finnlands bei der

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PISA-Studie und anderen Schulleis-tungsvergleichen gehöre. Fest steht,dass die Einschulfähigkeiten der finni-schen Kinder im Vergleich zu anderenStaaten relativ hoch sind – Neuvolaträgt dazu zweifellos bei.

Mehr Chancen und Gerechtigkeit

Eigentlich erscheint es ja durchausüberzeugend, dass sich die frühe Inve-stition in den Nachwuchs und in seineEltern schon in der Schule auszahlt.Wissenschaftliche Erhebungen zu die-ser Verbindung liegen noch nicht vor.Unbestreitbar ist jedenfalls, dass dieumfassende, unentgeltliche undgleichberechtigte Betreuung den Kin-dern einen guten Start in unsere Weltermöglicht und ihren Eltern einigeSorgen abnimmt. Eine gelungene Inte-gration des Nachwuchses beugt Fehl-

entwicklungen vor, die der Gesell-schaft schon rein finanziell teuer zustehen kommen können.

In einer Welt, in der das persönli-che Vorankommen vor allem auf deneigenen Fähigkeiten und Leistungender Menschen aufbaut, muss die Ge-sellschaft alles dafür tun, dass sich dieMenschen die entsprechenden Fähig-keiten aneignen können. Diese Chan-cengleichheit darf eben nicht vom per-sönlichen Wohlstand abhängig sein,sondern muss gleichberechtigt zur Ver-fügung stehen. Alles andere wäre nichtnur sozial ungerecht, sondern aucheine volkswirtschaftlich nicht zu recht-fertigende Verschwen-dung von Hu-mankapital. So etwas können sichauch viel größere Staaten als Finnlandnicht erlauben. Das Neuvola-Systemist ein früher Baustein im Leben einesKindes, auf den noch viele folgenmüssen. ■

SEBASTIAN SASS

ist parlamentarischer Berater der Sozialdemokratischen Fraktion im Finnischen Parlament in Helsinki.

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FAMILIENFREUNDLICHER UMBAU VON KOMMUNEN: NOTWENDIGKEIT – NUTZEN – PATENTREZEPTE?VON HEIKE LIPINSKI

Familie beginnt vor Ort

E s gibt viele Themen, die Kommu-nen in Zeiten knapper Kassen, de-

mografischen Wandels und des Umbausvon Sozialsystemen beschäftigen. Wa-rum sollte gerade die Familienfreund-lichkeit mit an erster Stelle stehen?

Der folgende Artikel geht den Fra-gen nach, warum das Thema Famili-enfreundlichkeit für Kommunen zu-nehmend im Mittelpunkt steht, wel-chen Nutzen sie sich erwarten könnenund wie der Weg zu mehr Familien-freundlichkeit aussehen kann.

Warum familienfreundlich?

Familienfreundlichkeit ist immer wie-der ein Thema der Kommunalpolitik,oft ein weites Feld guter Absichten –insbesondere zu Wahlkampfzeiten.Aber durch den demografischen Wan-del hat sich die gute Absicht inschlichte Notwendigkeit gewandelt.Die Deutschen bekommen zu wenigKinder. Eine Kinderzahl von 1,37 Kin-

dern pro Frau ist nicht bestandserhal-tend, die Deutschen liegen mit diesemWert am Ende der europäischen Skala,die deutsche Bevölkerung schrumpft.Will man hier gegensteuern, jungePaare motivieren (mehr) Kinder zubekommen, müssen attraktive Optio-nen der Lebensgestaltung für Familiengeschaffen werden. Neben der Verein-barkeit von Familien und Berufstätig-keit sind gute Lebensbedingungen di-rekt vor der Haustür, dass heißt einefamilienfreundliche Stadt oderGemeinde, ein wichtiger Faktor.

Der demografische Wandel zeigterste Auswirkungen, die auch dieKommunen zu spüren bekommen.Ein Teil der Kommunen muss sich be-reits mit schrumpfenden Einwohner-zahlen und einer alternden Bevölke-rung auseinandersetzen. Eine Stadtwie Essen hat in den letzten zehn Jah-ren mehr als fünf Prozent ihrer Ein-wohner verloren. Auch wenn es nochKommunen gibt, die positive Zu-

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1 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Abschätzung der Brutto-Einnahmeneffekte öffentlicher Haus-halte und der Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2002

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[ heike l ipinski ]

wachsraten haben, werden sich dochwohl die allermeisten mit einer Ab-nahme ihrer Wohnbevölkerung arran-gieren müssen und überlegen, welcheStrategie des Umgangs mit dieser Tat-sache sie entwickeln können. Beson-ders familienfreundlich zu sein, ist ei-ne nachhaltige Entwicklungsstrategie,der Überalterung der Wohnbevölke-rung entgegenzuwirken. Sie trägt dazubei, junge Familien am Ort zu halten,bzw. sich potentiellen Neubürgern alsattraktives Lebensumfeld anzubieten.

Kosten und Nutzen

In Zeiten knapper Kassen müssenKommunen genau überlegen, wo sieinvestieren und wie es sich auszahlt. Diefamilienfreundliche Ausgestaltung einerKommune verursacht Kosten. Diesemüssen nicht immer hoch sein. Manch-mal reichen die Einnahme einer famili-enfreundlichen Perspektive oder kleineVeränderungen, wie die Anpassung vonÖffnungszeiten in der Verwaltung, umFamilien das Leben zu erleichtern. Auchbürgerschaftliches Engagement kannzur Umsetzung familienfreundlicherMaßnahmen motiviert werden. Trotz-dem bleiben in der Regel Kosten undjede Kommune muss sich fragen, ob siedieses Geld investieren möchte und obes sich für sie auszahlt.

Für Unternehmen ist anhand vonStudien und Modellrechnungen längstbelegt, dass sich Familienfreundlich-keit in vieler Hinsicht rechnet undsich auch monetär auszahlt. Solchekonkreten Berechnungen stehen fürKommunen noch aus. Lediglich fürden Ausbau von Kindertageseinrich-tungen hat das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung Brutto-Einnah-meeffekte öffentlicher Haushalte undSozialversicherungsträger abgeschätzt.1

Es kann davon ausgegangen werden,dass die Vorteile von Familienfreund-lichkeit die dafür notwendigen Investi-tionen überwiegen. Die folgenden Ar-gumente belegen dies.

Bevölkerungsstruktur beeinflusst

Junge Familien suchen sich häufig diefür sie attraktivste Stadt oder Gemeindezum Leben aus. Ein Kriterium ihrerAuswahl ist, wie sie die Möglichkeiteinschätzen, in ihrem unmittelbarenLebensumfeld die Bedürfnisse ihres Fa-milienlebens gut umsetzen zu können.Gibt es günstiges Bauland, um sich denTraum von Haus realisieren zu können,gibt es ein flexibles Kinderbetreuungs-angebot, das eine Vereinbarkeit vonFamilie und Berufstätigkeit ermöglicht,ist der ÖPNV so ausgelegt, dass manauch ohne Auto überall hinkommt?

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Sie schauen genau, welches Service-angebot für sie bereitsteht. Mit einerbreiten Palette familienfreundlicherMaßnahmen oder noch besser einemfamilienfreundlichen Gesamtkonzeptempfehlen sich Kommunen jungenFamilien, hier ihren Wohnort zu wäh-len bzw. beizubehalten. Familien-freundliche Kommunen haben eherdie Chance auf eine überdurchschnitt-lich junge Bevölkerungsstruktur.

Familienfreundlichkeit spart Geld

Ein Ziel von familienfreundlichenMaßnahmen ist es, die Stabilität vonFamilien zu fördern und Eltern zumehr Erziehungskompetenz zu verhel-fen. Damit wirkt Familienfreundlich-keit im Idealfall präventiv gegenübereiner Reihe von sozialen Problemati-ken. Prävention spart Geld gegenüberspäter notwendigen Interventionen.

Familienbildung und Sprachförde-rung im Kindergarten sind günstigerals Maßnahmen der Jugendhilfe, wennein Jugendlicher auffällig geworden ist.Aktive Jugendarbeit kostet weniger, alsimmer wieder Schäden durch Vandalis-mus beseitigen zu müssen. Eine Kom-mune, die in Familienfreundlichkeitinvestiert, kann mit Einsparungen beider Bekämpfung von Jugendkriminali-tät rechnen, Kommune und Landkreisbenötigen weniger Geld für Maßnah-men der Jugendhilfe und Hilfen zurErziehung. Mit weniger Ausgaben in

der Sozialhilfe ist ebenfalls zu rechnen,weil z.B. Alleinerziehende durch einfunktionierendes Kinderbetreuungs-system die Möglichkeit haben, einerBerufstätigkeit nachzugehen.

Eine den Bedürfnissen von Familienangepasste kommunale Kinderbetreu-ung ermöglicht es beiden Elternteileneiner Familie, erwerbstätig zu sein, ent-weder weil sie das möchten oder aus fi-nanziellen Gründen müssen. Diese Fa-milien erzielen ein höheres Einkom-men, das sie zu mehr Konsum befähigt.Ein Teil dieses Geldes wird wieder vorOrt ausgegeben, das heißt, örtliche Ge-schäftsleute, Dienstleister und Hand-werker profitieren. Ein zweites Einkom-men macht es für viele Familien aucherst möglich, sich ihren Traum vomeigenen Haus zu verwirklichen. Auchhier fließen wieder Gelder in die kom-munale Wirtschaft zurück.

Standortvorteile nutzen

Firmen haben erkannt, dass ihre Ar-beitnehmer und Arbeitnehmerinnenkonzentrierter und leistungsfähigersind, wenn sie nicht durch Schwierig-keiten im privaten Bereich abgelenktsind. Probleme im Familienleben,Schulschwierigkeiten des Kindes, eineungeklärte Kinderbetreuung beein-trächtigen die Arbeitsleistung. Famili-enfreundlichkeit in einer Kommunewird daher von Unternehmen zuneh-mend als ein bedeutender Standortfak-

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tor gesehen. Firmen siedeln zuneh-mend dort an, wo sie ein unterstützen-des Umfeld für ihre Mitarbeiter undMitarbeiterinnen als gegeben ansehen.

Netzwerke schaffen

Hier kommt noch ein zweiter Aspekthinzu. Unternehmen suchen jungeFachkräfte und wählen bevorzugtStandorte, die ihnen ein entsprechen-des Bevölkerungsprofil bieten können.Junge Fachkräfte werden zukünftigMangelware sein, am ehesten werdenUnternehmen sie in Kommunen miteiner überdurchschnittlich jungen Be-völkerung finden.

Familienfreundlichkeit hat sozialeBindekraft, trägt zur Kommunikationin einer Kommune bei und schafftNetzwerke. Familienfreundliche Maß-nahmen wie Mehrgenerationshäuser,Kinderbetreuung durch Seniorinnenund Senioren oder gemeinsame Lese-zeiten sorgen für Verbindungen zwi-schen Jung und Alt und führen dieGenerationen zusammen. Auch die In-tegration von Migrantenfamilien wirddurch Familienfreundlichkeit geför-dert. Patenschaften für Sprachkurseund Aktivitäten für Familien aller Na-tionalitäten in Familienzentren schaf-fen mehr Miteinander.

Innerfamiliale Netze werden durchfamilienfreundliche Maßnahmen ge-stärkt. Hilfe- und Transferleistungeninnerhalb der Familie entlasten die

Kommune, die dann entsprechendeAngebote nicht selbst vorhalten muss.

Familienfreundlichkeit mobilisiertauch in besonderem Maße bürger-schaftliches Engagement. Für Familiesetzen sich Menschen gerne ein undsind bereit, in diesem Bereich ihr Ge-meinwesen aktiv mit zu gestalten. Fa-milienfreundlichkeit bewegt Bürgerund Bürgerinnen, setzt Kreativität undInnovationen frei und trägt somit zurErneuerung der Kommune selbst bei.Familienfreundlichkeit bezieht nichtnur Familien ein, sondern schafft Le-bensqualität für weite Teile der Bevöl-kerung.

Welche Familienfreundlichkeit?

All diese Argumente zeigen, dass Fa-milienfreundlichkeit für Kommunengroßen Nutzen bringt und zwar so-wohl in der Stärkung eines gelingen-den Gemeinwesens wie auch finanzi-ell. Familienfreundlichkeit ist eine In-vestition, die sich für Städte und Ge-meinden auszahlt.

Ziel von Familienfreundlichkeit ist,Familien in ihrem Familienleben zu för-dern. Familienfreundliche Maßnahmensollen Familien das Leben erleichtern,Probleme aus dem Weg schaffen, not-wendige Unterstützung bieten. Die istinsbesondere da nötig, wo Familienstrukturellen Rücksichtslosigkeiten(zum Beispiel Anforderungen der Ar-beitswelt) oder problematische Rah-

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menbedingungen (beispielsweiseschlechte Wohnsituation) ausgesetztsind. Zunehmend wichtiger wird auchErsatz für fehlende Netze zum Beispielin der Kinderbetreuung, die früherdurch weitere vor Ort lebende Fami-lienangehörige gegeben waren. Famili-enfreundliche Maßnahmen sollen es Fa-milien ermöglichen, ein möglichst ge-lingendes und stabiles Familienleben zuführen und denjenigen, die (noch)keine Kinder haben, die Entscheidungfür ein Leben mit Kindern erleichtern.

Unterschiedliche Vorstellungen

Die Konkretion familienfreundlicherZiele ist in vielfältiger Weise denkbar.Das kann monetär sein, durch Vergüns-tigungen oder besonders preiswertenWohnraum, das kann Begleitung in Pro-blemlagen sein, durch Familienbildungoder Beratungsangebote, das kann einBeitrag zur Vereinbarkeit von Familieund Berufstätigkeit durch ein besondersflexibles Kinderbetreuungsangebot seinoder besonders gute Beteiligungsmög-lichkeiten für Familien am kommunal-politischen Geschehen. Man kann eineReihe von sinnvollen familienfreundli-chen Maßnahmen benennen, aber nichtdie verbindlichen familienfreundlichenRahmenbedingungen festlegen. Das liegtan den heterogenen Kontextbedingun-gen in den Kommunen, aber vor allemauch an unterschiedlichen Ansprüchender Familien selbst.

■ Familienmitglieder haben unter-schiedliche Interessen: Familienfreund-lichkeit sollte die Interessen aller Fa-milienmitglieder berücksichtigen. Sieist daher nicht mit Kinderfreundlich-keit gleichzusetzen. Was erwachsenen-freundlich ist, muss nicht gleichzeitigKindern entgegenkommen und umge-kehrt. Wichtig ist, dass Lösungen ge-funden werden, bei denen alle Famili-enmitglieder ihre Vorstellungen einstückweit umsetzen können.■ Familien mit unterschiedlichen Inter-essen: Die Bedürfnisse von Familiensind nicht statisch. Je nach Familien-phase ist ein unterschiedliches Ange-bot nötig. Während eine Familie mitkleinen Kindern viel Wert auf Kinder-betreuung legt, benötigt eine Familiemit Jugendlichen eher Unterstützungbei der Erziehung, bei wieder anderenFamilien steht ein pflegebedürftigerAngehöriger im Mittelpunkt.■ Pluralisierung von Familienformen:Familie und Kindheit sind inDeutschland pluraler geworden: Dieäußeren Formen von Familien habensich ausdifferenziert und die Lebens-weisen innerhalb von Familie sindvielfältiger geworden. Eltern habenunterschiedliche Vorstellungen, wasihren Kindern gut tut.

Das hat Auswirkungen auf die Ge-staltung von Familienfreundlichkeit.Bei der Gestaltung einer kinderfreund-lichen verkehrssicheren Straße herrschtnoch relative Einigkeit. Bei der Dis-

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kussion um die familienfreundlichsteBetreuungsform für ein zweijährigesKind ist das Meinungsbild schondeutlich heterogener. Die einen sindder Meinung, dass Kind sei bei derMutter am besten aufgehoben, anderefinden es wiederum richtig, das Kindin eine altersgemischte Kindergarten-gruppe zu geben, weil dadurch das Er-lernen sozialer Kompetenz gefördertwird und für die Dritten wäre eindeu-tig eine familiennahe Betreuung durcheine Tagesmutter der richtige Weg.

Optionen schaffen

Familienfreundliche Maßnahmen wer-den unterschiedlich bewertet. Verschie-dene Familien haben unterschiedlicheVorstellungen von Familienfreundlich-keit. Hier liegt auch die entscheidendeHerausforderung bei der Schaffung vonmehr Familienfreundlichkeit: Wir kön-nen nicht von der Familienfreundlich-keit schlechthin oder einem Weg zumehr Familienfreundlichkeit sprechen.Kommunen müssen die pluralen Le-bensentwürfe von Familie und ihreindividuellen Vorstellungen berücksich-tigen und ihnen die mit den unter-schiedlichen Lebensentwürfen korres-pondierenden Angebote unterbreiten.Es muss die Wahlfreiheit gewährleistetwerden, dass Familien die Optionen,die sie für sich und für ihre Kinder fürpassend und für förderlich halten, auchrealisieren können.

Auch wenn es nicht ohne sorgfältigePrüfung möglich ist festzulegen, wel-che Maßnahmen für eine Kommuneim Einzelfall zielführend sind, gibt esdoch einige wichtige Bausteine, die fürFamilienfreundlichkeit in Städten undGemeinden stehen.■ Kontakt- und Kommunikationsmög-lichkeiten für Familien: Kontakt- undKommunikationsmöglichkeiten fürFamilien sind ein wichtiges Kriteriumfür Familienfreundlichkeit auf kom-munaler Ebene. Sie bieten ein Netz-werk für Familien und tragen dazubei, dass Familienmitglieder dazu be-fähigt werden, ihren Alltag zu bewälti-gen und Probleme auch in schwierigenSituationen alleine zu lösen (empower-ment). Dadurch wird verhindert, dasseine bis dahin stabile Familiensitua-tion durch Stress in eine instabile Si-tuation umschlägt.

Wichtige Bausteine

Vor allem neu in eine Gemeinde oderStadt zugezogene Familien leiden oftmalsunter einem Mangel an Kontakten.Treffpunkte für Familien laden ein, Kon-takte zu knüpfen und sich über die Si-tuation mit Kindern auszutauschen. Darüber hinaus wirken sie in die ge-meindlichen Strukturen hinein und tra-gen zur Verbesserung nachbarschaftlicherBeziehung bei. Sie können beispielsweiseals Spielgruppen, Familiencafés oder Fa-milienzentren organisiert sein.

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Für die Unterstützung eines Treff-punktes für Familien mit kommunalenMitteln muss ein öffentliches Interessebestehen. Finanzielle Förderung und dieAnerkennung eines öffentlichen Interes-ses werden von den Kommunen meis-tens dann befürwortet, wenn eine Ein-richtung für alle Familien zugänglich istund insbesondere auch sozial benachtei-ligte Familien erreicht. Kommunen för-dern finanziell vielfach Angebote undProgramme von Familienselbsthilfeein-richtungen, die Aufgaben abdecken, dieals kommunale Aufgaben anerkanntsind und die anderenfalls von der Kom-mune übernommen werden müssten. ■ Familienfreundliche Kommunalver-waltung und -politik: Die Zusammen-arbeit zwischen ehrenamtlich Tätigen,Verwaltungsangehörigen und politi-schen Entscheidungsträgern ist in vie-len Fällen durch Missverständnisse ge-kennzeichnet. Engagierte Familien wer-den in kommunalen Verwaltungen undvon politischen Entscheidungsträgernnicht immer mit offenen Armen aufge-nommen. Häufig ist es ein langwierigerProzess, bis die Beteiligten konstruktivzusammenarbeiten. Dies liegt wenigeran der Sache, denn Familienpolitikwird von allen als wichtig und förde-rungswürdig erachtet, als vielmehr anunterschiedlichen Erwartungen undVorstellungen.

Familien erwarten, dass ihr Engage-ment begrüßt wird und ihre Vorschlägeunterstützt werden. Sie stellen unter

Umständen das vorhandene Angebotin Frage. Für ehrenamtlich Tätige sinddie Vorgänge in der Verwaltung unddie Entscheidungswege nicht transpa-rent. Sie kritisieren häufig, dass dieKommunen zwar gerne ihre Diensteund Kompetenzen in Anspruch neh-men, aber auf der anderen Seite nichtbereit sind, ihnen entgegenzukommen.

Geben und Nehmen

Verwaltungsangehörige befürchtendurch familienpolitische Initiativenzusätzliche Arbeit leisten zu müssen.Sie möchten Kompetenzrangeleieninnerhalb der Verwaltung vermeiden,die sich aufgrund des Querschnitts-charakters von familienpolitischen An-geboten und Einrichtungen ergeben(z.B. Zusammenarbeit des Jugend-amts, des Sportamts und des Tiefbau-amts bei der Errichtung eines Skater-parks).

Für Familien und in der Familien-politik engagierte Personen ist es wich-tig, dass die vielfältigen Zuständigkei-ten bei einem festen Ansprechpartnergebündelt werden z.B. in Form einesFamilienbüros oder eines Amts für Fa-milie.

Politische Entscheidungsträger be-stimmen über finanzielle Unterstützungvon ehrenamtlichen Initiativen undtreffen die Entscheidungen über kom-munale Angebote. Sie haben oftmalseigene Vorstellungen von Familien-

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freundlichkeit und Angeboten für Fa-milien. Sie können sich durch ehren-amtliches Engagement in ihrer Ent-scheidungskompetenz übergangenfühlen. Dies ist insbesondere bei selbstverwalteten Angeboten von Eltern pro-blematisch, bei denen die Kommunekein Mitspracherecht hat. Die politischVerantwortlichen müssen zudem auchandere Bedürfnisse und Interessen in-nerhalb der Kommune im Blick habenund über die Vergabe von knappenMitteln entscheiden.

Zuständigkeiten bündeln

Die Überzeugung und das Bewusstseinfür eine kinder- und familienfreund-liche Planung im Gemeinderat, in derVerwaltung und vor allem beim Bür-germeister sind wichtiger als ein for-maler Ratsbeschluss. Vor allem in klei-neren Städten und Gemeinden hängtder Erfolg einer familienfreundlichenEntwicklung entscheidend davon ab,ob sich der Bürgermeister dafür ein-setzt und der Verwaltung dieses Zielvorgibt. ■ Bedarfsgerechte Kinderbetreuung: DerBedarf an Kinderbetreuung sind in denjeweiligen Familien unterschiedlich, jenachdem welches Lebenskonzept siehaben. Für die einen ist die Kinderbe-treuung halbtags vormittags völlig ausrei-chend, weil ein Elternteil nicht erwerbs-tätig ist. Eine andere Familie benötigteine Ganztagesbetreuung schon für ein

Kind unter drei Jahren, weil beide El-ternteile einen Beruf ausüben. Es solltealso ein breites Spektrum der Kinderbe-treuung vorhanden sein, damit Familienverschiedene Vorstellungen der Verein-barkeit von Beruf und Familie lebenkönnen.

Flexible Kitas

Wichtig sind auch flexible Kinderbe-treuungsmöglichkeiten, bei denen dieSprösslinge kurzfristig ohne Anmel-dung abgegeben werden können odereine Kinderbetreuung auf Anruf insHaus kommt. Damit wird Eltern wie-der ein Stück der Flexibilität zurückge-geben, die in unserer Gesellschaft sohoch bewertet wird und Eltern nachder Geburt ihres Kindes so schnell ab-handen kommt.

Immer mehr Kommunen erkennenangesichts des demografischen Wan-dels, dass sie handeln müssen. Immermehr Kommunen entscheiden sichauch für Familienfreundlichkeit alsMöglichkeit, dem demografischenWandel zu begegnen. Ein allgemein-gültiges Rezept, wie der zielführendeWeg für eine Kommune zu mehr Fa-milienfreundlichkeit aussieht, gibt esnicht. Zu unterschiedlich sind dieKontextbedingungen, die Ausgangssi-tuation und die Bedarfe vor Ort.

Was für eine Kommune dringendnotwendig ist, ist für eine andere fehlam Platz. Entscheidend ist es, ein

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durchdachtes Gesamtkonzept zu erstel-len. Familienfreundlichkeit sollte sichnicht in Einzelmaßnahmen erschöpfen.Große Events wie Familienfeste oderFamilientage sind eine gute Sache. FürFamilien im Alltag sind aber dauerhaf-te Infrastrukturmaßnahmen die größe-re Hilfe. Ein Familientag, der einmaljährlich stattfindet, bietet zwar Spaßund Kontaktmöglichkeiten, eine dau-erhafte Förderung von Familien ist da-mit jedoch nicht erreicht. Erst ein ge-wisses Maß an Institutionalisierungund Kontinuität von Angeboten fürFamilien sichern eine verlässliche Un-terstützung. Kommen dann noch ein-malige Aktionen dazu, die das ThemaFamilie und Familienfreundlichkeit aufdie Tagesordnung heben, umso besser.

Gesamtkonzept für Kommunen

Ein gutes Gesamtkonzept, das von derAnalyse der Ist-Situation bis zur Über-prüfbarkeit von Erfolgen reicht, schontzudem Ressourcen, weil es Fehlplanun-gen vermeidet. Die Beschreibung einesGesamtkonzepts im Detail wird in denentsprechenden praxisbezogenen Leitfä-den beschrieben.2 An dieser Stelle seieneinige wichtige Prinzipien genannt, dieden Prozess hin zu mehr Familien-freundlichkeit begleiten sollten.

Es ist grundlegend, dass eine Kom-mune zunächst ihre Situation analy-siert und ihre Bedarfe feststellt, umden für sie richtigen Weg zum ZielFamilienfreundlichkeit festzulegen.

Zur Beurteilung der demografi-schen Situation müssen die entspre-chenden Kennzahlen analysiert wer-den. So bieten beispielsweise die statis-tischen Landesämter regionalisierteBevölkerungsprognosen, aus denen diezukünftige Bevölkerungsentwicklungabgelesen werden kann. Die Bertels-mannstiftung entwickelt mit dem Pro-jekt Kompass eine Systematik, anhandderer Kommunen beurteilen können,wie sich ihre Stadt oder Gemeindeentwickeln wird.3 Eine solche Situati-onsbeschreibung kann in die Erstel-lung eines Familienberichts münden.Die Bedarfsbestimmung erfolgt ambesten mit den Beteiligten selbst (sieheunten).

Beteiligung von Familien

Kinder- und Familienfreundlichkeit aufkommunaler Ebene bedeutet vor allemauch, dass Familien an der Gestaltungvon Familienpolitik beteiligt sind undEinfluss darauf haben, den Begriff Fa-milienfreundlichkeit für ihre Kommu-ne zu konkretisieren. Sie haben die um-

2 So z.B. Familienfreundliche Initiativen in hessischen Kommunen – Grundlagen, Praxisbeispiele, Perspektiven, Gemeinnützige Her-tie-Stiftung oder Michaela Hellmann, Andreas Borchers, Familien- und Kinderfreundlichkeit, Prüfverfahren, Beteiligung, Verwal-tungshandeln, Kohlhammer, Stuttgart 2002.

3 www.kompass-modellkommunen.de

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4 Eine Initiative, die diese Zusammenarbeit aller Akteure explizit initiiert und fördert ist die Aktion Lokale Bündnisse für Familiendes Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (www.lokale-buendnisse-fuer-familien.de).

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fassendste Erfahrung damit, wie sichdas Leben als Familie in ihrer Kommu-ne gestaltet. Kommunale Planungensollten sich nach ihren Bedürfnissenrichten. Eine familienfreundliche Ge-meinde oder Stadt zeichnet sich da-durch aus, dass ihren EntscheidungenInformationen über die Bedürfnissevon Familien und über die Situationvon Familien zugrunde liegen.

Aufgabe für alle Akteure

Familienfreundliche Kommunen las-sen sich u.a. daran messen, dass sie Fa-milien zu den familienbezogenen An-geboten befragen, beispielsweise dieEltern von (zukünftigen) Kindergar-tenkindern zu den Öffnungszeiten desKindergartens. Sie zeichnen sich da-durch aus, dass sie nicht nur den Be-darf erfragen, sondern das Angebot amBedarf ausrichten und den Familienbei der Realisierung ihrer Wünscheentgegenkommen. Sie beziehen Elternund Kinder bei der Gestaltung vonAngeboten wie beispielsweise Spiel-oder Schulplätzen ein. Vielfach gibt eseinen Arbeitskreis oder Runden Tisch,der sich mit der Situation von Fami-lien oder Kindern befasst, an demauch politische Entscheidungsträgerteilnehmen.

Familienfreundlichkeit ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Nur imZusammenspiel der verschiedenen poli-tischen Ebenen in Bund, Land undKommune, kann ein Umfeld geschaffenwerden, das gute Lebensbedingungenfür Familien garantiert. Dieses Zusam-menwirken aller Akteure gilt erst rechtauf kommunaler Ebene.4 Nur wennmöglichst viele örtliche Akteure beteiligtsind, kann Familienfreundlichkeit alsechtes Anliegen in einer Kommune ver-ankert werden. Verwaltung, Politik,Wirtschaft, Verbände und natürlich dieFamilien selbst sollten beim Prozess zurSchaffung von mehr Familienfreund-lichkeit zusammenwirken.

Querschnittsaufgabe

Familienfreundlichkeit ist nicht nurim Sozialressorts zu verorten, sonderneine Querschnittsaufgabe. Ein Ge-samtkonzept sollte alle Bereiche derKommunen im Blick haben und nichtnur die, die offensichtlich mit Familiezu tun haben.

Entscheidungen aller Politikberei-che haben auf das Leben von FamilienEinfluss und sollten daher auf ihre Fa-milienfreundlichkeit hin überprüftwerden. Entsprechende Checklistenfür Familienverträglichkeitsprüfungen

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[ familie beginnt vor ort ]

hat beispielsweise das IES in Hanno-ver veröffentlicht.5 Wichtig ist auch,dass sich nicht jeder Politikbereich inseinen Entscheidungen singulär über-prüft, sondern dass sich Politikberei-che vernetzen und gemeinsam undkoordiniert an der Zielsetzung Famili-enfreundlichkeit arbeiten.

Die wichtigsten Bereiche kommu-naler Familienpolitik, die in eineVernetzung miteinbezogen werdensollten, sind:■ Bauen und Wohnen (z.B. Bauland-vergabe, Mehr-Generationen-Wohnen,Bau- und Wohnungsplanung),■ Erziehung und Betreuung von Kin-dern (z.B. Kindergarten, Hort, Haus-aufgabenbetreuung, Schülermittags-tisch),■ Spielen und Freizeit (z.B. Spielplät-ze, Gestaltung von Plätzen, Ferienpro-gramm),■ Verkehrswesen (z.B. Schulwege-plan, Verkehrsberuhigung, Kinder-stadtplan, Spielstraßen),■ Familienberatung und Familienbil-dung (z.B. Informationsbroschüren,Volkshochschulen, Elternbriefe, Kurse,Seminare),■ Wirtschaftliche/finanzielle Ange-bote für Familien (z.B. Familienpass,Hilfe in Notfällen, familiengerechteStaffelung von Gebühren),

■ Verwaltung und Politik (z.B. Spiel-ecke im Rathaus, Familienförderplanfür Verwaltungsangehörige, Familien-bericht),■ Familienunterstützende Betreuungs-angebote für Seniorinnen und Senio-ren und pflegebedürftige Personenund ihre Angehörigen (z.B. betreutesWohnen, ambulante Dienste, Begeg-nungsstätten),■ Bildung und Kultur (z.B. Kinder-und Jugendbibliothek, Musikschule,Kinderkulturfest),■ Treffpunkte für Familien (z.B. Fa-milienzentrum, Familiencafé, Spiel-gruppe).

Messbarkeit und Nachhaltigkeit

Damit familienpolitische Ziele nichtAbsichtserklärungen bleiben, sollte einGesamtkonzept bei allen Maßnahmendie Überprüfung ihrer Umsetzung ein-planen. Nur wenn nach einem Zeit-raum Bilanz gezogen wird und ein stra-tegisches Berichtswesen aufgebaut wird,ist eine effektive Steuerung des Ent-wicklungsprozesses möglich.

Außerdem sollte es Ziel sein, ange-stoßene Maßnahmen zur Familien-freundlichkeit nachhaltig zu verankern.Idealerweise sollten familienfreundlicheMaßnahmen eine Institutionalisierung

5 Andreas Borchers, Dirk Heuwinkel, Familien- und Kinderfreundlichkeitsprüfungen in den Kommunen, Kohlhammer, Stuttgart2001.

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6 Die Ergebnisse stehen als Bericht im Internetangebot des Statistischen Landesamtes unter http://wwwext.stala.bwl.de/BevoelkGe-biet/Fafo/fafoFP.asp zur Verfügung.

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[ heike l ipinski ]

erfahren, z.B. die dauerhafte Wahrneh-mung von Familieninteressen durcheine/n Familienbeauftragte/n.

Bei einer Erhebung familienfreundli-cher Praxisbeispiele in Baden-Württem-bergs Kommunen6 hat sich gezeigt, dasses eine Reihe Beispiele für Familien-freundlichkeit gibt. Es hat sich aberauch gezeigt, dass diese Ideen wenigund wenn nur regional bekannt sind.Das führt dazu, dass Kommunen sichimmer wieder neu auf den Weg ma-chen, ähnliche Ideen zu entwickeln undauszuprobieren, was mit erheblichenRessourcen verbunden ist. Gerade inZeiten knapper Kassen gilt es aber Syn-ergieeffekte zu nutzen und Erfahrungs-wissen miteinander auszutauschen.

Das Rad nicht neu erfinden

Deshalb hat das SozialministeriumBaden-Württemberg bei der Familien-wissenschaftlichen Forschungsstelle desStatistischen Landesamtes Baden-Würt-temberg das Projekt „Familienfreundli-che Kommune“ in Auftrag gegeben.

Das Projekt verfolgt vier Ziele:■ Erfahrungsaustausch: Kommunentauschen sich gegenseitig über ihreIdeen und Erfahrungen mit familien-freundlichen Maßnahmen aus.■ Motivation: Durch neue Ideenbekommen Kommunen Anregungen,

selbst noch familienfreundlicher zuwerden.■ Information: Kommunen sollen ei-nen einfachen Zugang zu allen für siewichtigen familienpolitischen Infor-mationen und Ansprechpartnernhaben.■ Kosten-Nutzen-Darstellung: Kom-munen soll die Notwendigkeit vonFamilienfreundlichkeit und die damitverbundenen Vorteile verdeutlichtwerden.

Aus der Praxis lernen

Um dieses Ziele zu erreichen, hat dieFamilienwissenschaftliche Forschungs-stelle im Statistischen Landesamt Ba-den-Württemberg das Internetportalwww.familienfreundliche-kommune.dekonzipiert. Es bietet nach Themenfel-dern geordnet, familienfreundliche in-novative Praxisbeispiele, die von baden-württembergischen Kommunen ent-wickelt werden.

Gute Ideen zur Familienfreundlich-keit sollen größere Verbreitung finden,vor allem wenn sie innovativ und kos-tengünstig sind. Darüber hinaus bietetdas Portal eine thematisch geordneteInfobörse mit Literatur, Überblickstex-ten zu familienpolitischen Themen,Ansprechpartnern und Veranstaltung-stipps. Außerdem finden sich Verweise

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[ familie beginnt vor ort ]

zu weiteren dezentralen Informations-angeboten.

Begleitend informiert ein regelmä-ßiger Inforundbrief Städte und Ge-meinden. Für die Zukunft sind Fach-tagungen und Beratungsangebote fürKommunen geplant.

Das Internetportal ist im April2004 online gegangen. Die Resonanz

ist sehr gut. Bisher haben rund jedezweite Kommune in Baden-Württem-berg und über 100 Vereine und Initia-tiven ihre Beteiligung erklärt und in-novative familienfreundliche Praxisbei-spiele gemeldet. Ein deutlicher Belegfür die Wichtigkeit und Notwendig-keit des Themas. ■

HEIKE LIPINSKI

ist Diplomsoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Familienwissenschaftlichen Forschungsstelle

im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg.www.familienfreundliche-kommune.de

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WAS JUNGEN FRAUEN HEUTE DIE FAMILIENGRÜNDUNG ERSCHWERTVON ANNE-KATHRIN OELTZEN

„Uns ist etwas anderesversprochen worden!“

E rlebt unser Land einen „Kinder-streik”? In der derzeitigen Debatte

um Generationengerechtigkeit und denso genannten Generationenvertrag istauch von einer neuartigen „planmäßi-gen Kinderlosigkeit” die Rede. DieGründe dafür seien zum einen derEmanzipationswunsch der Frauen, zumanderen eine neue Bindungsunwillig-keit der Männer. Anders als derzeit viel-fach behauptet, seien es keineswegs dieAlten, die den Generationenvertrag in-nerlich gekündigt hätten. Ein für alle-mal ausgestiegen aus der intergeneratio-nellen Solidarität seien vielmehr dieheute 30- bis 45-Jährigen – eine Gene-ration, die angeblich gezielt auf eigeneKinder verzichtet. Und derartige gesell-schaftliche Individualisierungsprozesse,so heißt es, könnten nicht durch politi-sches Handeln aufgehalten werden.

Richtig ist: Wir brauchen mehrKinder in unserem Land. Im interna-

tionalen Vergleich der Geburtenzahlenist die Bundesrepublik mittlerweile aufden 170. Platz von 192 Staaten abge-rutscht.1 Für eine Gesellschaft bedeu-ten weniger Kinder weniger Zukunft,weniger Perspektiven, auch wenigerWohlstand und weniger Wachstum –und das im deutschen Fall keineswegserst in irgendeiner fernen Zukunft,sondern schon heute.

Andere Länder, andere Sitten

Aber handelt es sich bei der niedrigenGeburtenrate in der Bundesrepubliktatsächlich um ein „kulturelles” Phä-nomen, um die unausweichliche Folgeneuartiger Lebensstile in einer moder-nen Gesellschaft, bei denen Kinderkeine Rolle mehr spielen? Dann müs-sten alle westlichen Gesellschaften aufdieselbe Weise mit diesem Trend kon-frontiert sein. Und dann wäre in der

1 Vgl. United Nations, Population Division, Department of Economic and Social Affairs (Hrsg.), World Population Prospects: The2002 Revision, Februar 2003.

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[ anne-kathrin oeltzen ]

Tat durch gesellschaftspolitisches Han-deln nur wenig daran zu ändern, dennauf kulturelle Großtrends und mäch-tige Mentalitäten kann Politik nursehr begrenzt einwirken. Jedoch wer-den in europäischen Ländern wieFrankreich, Schweden oder Dänemark– mit Deutschland in sozialkulturellerHinsicht vergleichbar – deutlichhöhere Geburtenraten verzeichnet alsbei uns.

Wünsche ohne Wirklichkeit

Obendrein – und scheinbar paradoxer-weise – ist in diesen Ländern gleichzei-tig die Erwerbstätigkeit von Frauenhöher als bei uns. Wie ist das möglich?Offenbar hat eine gute Infrastrukturan Betreuungsangeboten für Kinder,wie sie die genannten Länder besitzen,Auswirkungen auf die Geburtenrate.Vorausschauendes politisches Handelnvermag also sehr wohl, Bedingungenzu verändern und auf diese Weise dieZukunftsfähigkeit von Gesellschaftenpositiv zu beeinflussen.

Alle einschlägigen Erhebungen be-legen: Auch bei uns wollen junge Men-schen Familien gründen, Kinder krie-gen und mit Kindern leben. Was siedavon abhält, ihre Wünsche zu ver-wirklichen, ist zum einen das in West-deutschland noch immer bestehendeDefizit an „Ermöglichungsstrukturen”:Der Halbtagskindergarten ist hier dieRegel, einen Kindergartenplatz mit

Öffnungszeiten nach 12:30 Uhr zuergattern, ist in den westdeutschenBundesländern noch immer ungeheuerschwierig – ganz zu schweigen von denquasi nicht existierenden Krippenplät-zen für Kinder unter 3 Jahren. Hier istallein das Organisationstalent der El-tern gefragt, sich privat eine Tagesmut-ter zu suchen.

Hingegen verwirklichen in Ost-deutschland junge Frauen ihre Kinder-wünsche nicht oder erst relativ spät,weil hier Unsicherheiten und Zukunfts-ängste die Entscheidung für die Fami-liengründung beeinflussen. Die hohenArbeitslosenzahlen und eingeschränkteoder fehlende Berufsperspektiven lassenden Kinderwunsch in der Lebenspla-nung in den Hintergrund treten. Undbesonders die hohen Abwanderungs-raten gerade der jungen Frauen führendazu, dass deren Kinder eben nicht inden ostdeutschen Bundesländern gebo-ren werden.

Vorbilder fehlen

Die heute 30- bis 45-jährigen ostdeut-schen Frauen sind die Generation, dienach 1989 zum Teil ganz auf Kinderverzichtete. Diese jungen Frauen ken-nen noch die Abgesichertheit der jun-gen Familien zur Zeit der DDR. Es istnicht zuletzt dieses Wissen, das vordem Schritt zum eigenen Kind eherabschreckt – schließlich fehlte undfehlt es an Vorbildern, wie die Famili-

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[ „uns ist etwas anderes versprochen worden!“ ]

engründung unter heutigen Bedin-gungen funktionieren kann.

Darüber hinaus führen die im euro-päischen Vergleich sehr langen Ausbil-dungszeiten in Deutschland dazu, dasssich der Zeitpunkt für die Geburt desersten Kindes immer weiter nach hin-ten verschiebt. Dies wirkt sich nichtnur auf den Lebenslauf von Akademi-kerinnen aus, die nach dem Ende ihresStudiums mit 28 bis 30 Jahren ins Be-rufsleben eintreten und erst einmal be-ruflich Tritt fassen wollen, bevor sie andas erste Kind denken.

Familie oder Karriere?

Es ist keine Ausnahme, dass eine Bank-angestellte im Alter von 25 Jahren dasAngebot erhält, die Bankakademie zubesuchen oder an einem firmeninter-nen Fortbildungs- oder Trainee-Pro-gramm teilzunehmen. Das Dilemmabesteht darin, dass die Phase der Fami-liengründung und Erziehung von Kin-dern zeitlich mit der Phase der berufli-chen Karrierefindung zusammenfällt –beides muss im Lebensalter von 25 bis40 Jahren geleistet werden.

Genau diese zeitliche Überschneidungvon Familien- und Karrierephase ist es,aus der die niedrigen Geburtenzahlenentspringen. Denn einen durch Indivi-dualisierung und neuartige, egoistischeLebensstile bedingten „Kinderstreik“ gibtes in Wirklichkeit in Deutschland nicht.Wohl aber gibt es ein Lebensgefühl, das

die jungen Frauen zwischen 25 und 40Jahren in Ost- und Westdeutschland eintund ganz entscheidend zu ihrer Zurück-haltung bei der Familiengründung bei-trägt: „Uns ist etwas anderes versprochenworden!“ In diesem einen Satz bündeltsich das Dilemma der am besten ausge-bildeten Frauengeneration, die es je inDeutschland gegeben hat. Diesen jungenFrauen wurde in ihren Familien, vor al-lem auch in Schule und Ausbildung ver-mittelt, dass ihnen alle Perspektiven inder Gesellschaft offen stünden, dass sieauch als Frauen alles auf der Welt wer-den könnten: Kranführerin oder Stewar-dess, Werksleiterin oder Managerin, Uni-Professorin, Ärztin oder Architektin.

In der DDR war die berufstätige Frauauch in „Männerberufen“ eine Selbstver-ständlichkeit, in der alten Bundesrepu-blik setzte sich diese Selbstverständlich-keit bis in die 1980er und 1990er Jahrehinein langsamer durch, wurde aber zeit-weilig beschleunigt durch die starkenAnstöße der Frauenbewegung in den1970er Jahren. Jungen Frauen stehe esnun offen, ihr Leben so zu gestalten, wiesie es wollten – ganz anders als bei denFrauengenerationen ihrer Großmütterund zum Teil auch noch ihrer Mütter –so lautete das große Versprechen.

Versprechen der Gleichheit

Doch es gibt einen Bereich, in demdie im übrigen weitgehend durchge-setzte Gleichheit der Geschlechter

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[ anne-kathrin oeltzen ]

nicht gilt, und das wissen oder ahnendie jungen Frauen ganz genau: Wennsie Mütter werden, zerrinnt das großeVersprechen der Gleichheit zwischenihren Fingern. Denn wenn sie Mütterwerden, wird es ganz schwierig mit derSelbstverständlichkeit der eigenen Be-rufstätigkeit.

Lebensplanung in der Arbeitswelt

Wollen sie Kinder haben, müssenFrauen die eigenen Perspektiven, Wün-sche und Lebensziele gerade im Berufs-leben zurückstellen. Nur: Es war ihneneben etwas ganz anderes versprochenworden! Und es ist die Enttäuschunghierüber, die viele Frauen den Kinder-wunsch in ihrer Lebensplanung immerweiter nach hinten verschieben lässt.Kinder zu haben ist in der Arbeitsweltheute – anders als zu DDR-Zeiten –ein unberechenbarer „Störfaktor“.

Es mangelt an einer Unternehmens-kultur, in der sowohl Arbeitgeber alsauch Kolleginnen und Kollegen Ver-ständnis zum Beispiel für die zeitlicheUnflexibilität von Eltern aufbringen.Es mangelt auch an Verständnis fürBerufsbiographien von Frauen, diedurch Kindererziehungszeiten unter-brochen oder vielmehr bereichert sindund entsprechend schwerer mit durch-gängigen Berufskarrieren verglichenwerden können. Aus diesen Gründenwird das Leben mit Kindern und dieeigene Berufstätigkeit für Frauen selbst

dann zu einem schwierigen Balance-akt, wenn der Partner und Vaterselbstverständlich einen Teil der Haus-und Familienarbeit mit erledigt.

Um richtig verstanden zu werden:Den jungen Frauen geht es heute ganzüberwiegend nicht um selbstsüchtigenKarrierismus, sondern um die gleich-berechtigte Teilhabe in der Gesell-schaft, um ein eigenes erfülltes Leben,das eben auch in der Berufstätigkeitvon Frauen wurzelt. Es ist auch nichtso, dass die jungen Frauen am liebstenkeine Zeit mit ihren Kindern verbrin-gen würden, sich nicht mehr selbst umdie Erziehung kümmern und ihre Kin-der zehn Stunden am Tag in einer Kin-derkrippe „parken“ wollten.

Neue Gleichberechtigung?

Vielmehr geht es ihnen um eine Selbst-verständlichkeit, die in Deutschlandim Vergleich zu anderen Ländern nochlängst nicht eingelöst wird: Um dieFreiheit, wählen zu können zwischeneiner Familienphase des Nur-Mutter-Seins und der eigenen Berufstätigkeit.Genau diese Wahl gibt es vor allem inWestdeutschland für Mütter mitKleinkindern oftmals nicht. JungeFrauen erwarten eine Berufs- und Ar-beitswelt, die Raum lässt für gemein-sam verbrachte Zeit in und mit derFamilie – übrigens nicht nur für Müt-ter, sondern auch für Väter. Sie wollennach einer kurzen oder längeren Phase

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[ „uns ist etwas anderes versprochen worden!“ ]

des Nur-Mutter-Seins die Chance ha-ben, in ihren Beruf zurückzukehren.Und sie erschrecken über eine gesell-schaftliche Kultur, die ihre Eigenstän-digkeit und Emanzipation noch immernicht für selbstverständlich hält undberufstätige Mütter mit Kleinkindernals „Rabenmütter“ brandmarkt.

Osten und Westen

Ist die Gleichheit der Geschlechter inDeutschland ein breit akzeptiertes ge-sellschaftspolitisches Ziel? Die Erfah-rungswelt von Frauen scheint dagegenzu sprechen. Junge Frauen beginnenheutzutage häufig erstmals daran zuzweifeln, wenn es um die Gründungeiner eigenen Familie geht. Und inOstdeutschland scheint in dieser Hin-sicht bereits ein Rückschritt eingesetztzu haben, denn auch hier müssen sichjunge Frauen zuweilen die Frage gefal-len lassen, warum sie denn selbst eineArbeit suchten, wo doch ihr Mannoder Lebensgefährte Arbeit habe! Au-ßer leeren Versprechen hat sich in Be-zug auf die Rolle der Mütter in derGesellschaft und der Arbeitswelt West-deutschlands zu wenig verändert – unddie kulturelle Starrheit des Westensscheint sich bereits auf Ostdeutschlandauszudehnen.

In den ostdeutschen Bundesländernbesteht eine gut ausgebaute Infrastruk-tur an öffentlicher Kinderbetreuung,von Krippenplätzen für die ganz Klei-

nen über Ganztagskindergärten undHortplätzen für Schulkinder. Aus ost-deutscher Perspektive erscheint es da-her verwunderlich, dass seit dem letz-ten Jahr in dieser Republik tatsächlicheine ideologische politische Debatteüber die Ausweitung der Angebote anKinderbetreuung tobt – und damitüber Weichenstellungen, die mittelbarauch positive oder negative Auswir-kungen auf die ostdeutschen Bundes-länder haben könnten.

Kaum Krippenplätze im Westen

In den westdeutschen Bundesländernjedoch versteht es sich keineswegs vonselbst, dass für unter 3-jährige KinderKrippenplätze angeboten werden. DasDIW hat 2001 erschreckende Zahlenermittelt. In Bayern „teilen“ sich 100Kleinkinder einen Krippenplatz, inHessen drei. Ganz anders das Bild inOstdeutschland: In Brandenburgkommen auf 100 unter 3-jährige 52Krippenplätze, in Sachsen immerhinnoch 24.

Angestoßen wurde die ideologischeDebatte über die Kinderbetreuungdurch das Vorhaben von Bundesfami-lienministerin Renate Schmidt, denAusbau der Kinderbetreuung mit 1,5Milliarden € zu fördern, um das Platz-angebot für unter 3-jährige Kinder imWesten zu erhöhen und zugleich dasgute Betreuungsangebot in Ost-deutschland zu erhalten. Die Ministe-

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2 „Betreuungsmacht“, Kommentar in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 03.04.2003.3 „Zum Glück haben wir keine Wahlen“, Interview in: Der Tagesspiegel vom 17.02.2000.

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[ anne-kathrin oeltzen ]

rin möchte das Geld direkt an dieKommunen geben, und dies, obwohlnicht der Bund für die Infrastrukturan Kinderbetreuung zuständig ist, son-dern die Bundesländer.

Wer nichts dazu gelernt hat

Umstritten ist dieses Vorhaben weni-ger aus finanzpolitischer Sicht (etwaweil die Kommunen das Geld lieberfür neue Verkehrskreisel ausgeben wol-len als für neue Krippenplätze), son-dern ausgerechnet aus ideologischenGründen. Denn es gibt sie – nicht nurin Westdeutschland – tatsächlichnoch, die Verfechter der Ansicht, dieMutter gehöre zu allererst und alleinzu ihrem Kind.

Im konservativen Familienbild giltdie berufstätige Frau nach wie vor ge-radezu als „Sünderin“, sie wird als Teildes Sittenverfalls in der modernenWelt angeprangert, die durch die not-wendige „Fremdbetreuung“ der Ent-wicklung ihres Kindes schade.

Wie folgende Beispiele belegen, istdas keine Übertreibung. Der Familien-ministerin wird bei ihrem Engagementfür die Kinderbetreuung von derFrankfurter Allgemeinen Zeitung unter-stellt, sie betreibe den Ausbau nur, umZug um Zug die Familien zu schwä-chen: „Aber die vermeintliche Lösung

des Problems, das an Planwirtschafterinnernde Vorhaben, binnen wenigerJahre die Krippenangebote für Kinderim Alter von weniger als drei Jahrendrastisch zu erhöhen, verkennt völlig,dass Familienwohl sich zuallererst vomKindeswohl her bestimmt. Wer jedochAnreize dafür schafft, dass Eltern ihrenKindern in den ersten drei Lebensjah-ren, der ,empfindlichsten‘ Phase ihrerkörperlichen und seelischen Reifung,den familiären Schutzraum entziehen,der legt die Wurzel an alles, was Fami-lie leisten kann und muss.“2

Roll-Back auch in Brandenburg?

Auch Jörg Schönbohm, der Spitzen-kandidat der CDU für die Branden-burger Landtagswahl, ist ein Verfechterdes konservativen Familienbildes.Schönbohm setzt auf ein „Erziehungs-geld“ für die Mütter statt auf die Be-rufstätigkeit von Frauen und die Kita-Betreuung von Kindern: „Die CDUhat immer die Auffassung vertreten,dass wir die Kita-Diskussion nicht aufdie Sparzwänge reduzieren dürfen, wiees geschieht. Es geht im Kern darum,ob jede Mutter ihr Kind nach der Ge-burt in die Kita geben sollte, selbstwenn sie nicht berufstätig ist. Das istnicht im Interesse der Kinder.”3 Undweiter meint Schönbohm: „Aber es

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[ „uns ist etwas anderes versprochen worden!“ ]

dürfen nicht diejenigen verunglimpftwerden, die ihren Platz als Hausfrauund Mutter zu Hause sehen und denFamilien auf diese Weise dienen. Wirsollten uns wieder ganz bewusst zur Fa-milie bekennen. Durch die Anerken-nung der Arbeit als Hausfrau und Mut-ter sollte dieser wichtigen Leistung einneuer Wert gegeben werden. Auch aufdie Gefahr hin, dass die Emanzipa-tionsbewegung laut aufschreit – Kinderlernen die Muttersprache – Mütter sindnicht zu ersetzen.”4

Pro und Kontra Kitas

Die Wochenzeitung Die Zeit charakte-risiert Schönbohms Frauen- und Fa-milienbild denn auch folgendermaßen:„Einen Konservativen kann man ihnwohl nennen. Nicht allein aus Geld-not hat er in Brandenburg den Rück-bau der besonders üppigen Krippen-platzversorgung durchgesetzt; es ent-spricht auch seinem Familien- undGesellschaftsbild, dass Eltern sich zu-nächst und im Prinzip selbst um ihreKinder kümmern sollten.”5

Unterstützung erhalten die Konser-vativen in der CDU auch von der Ta-geszeitung Die Welt, die die öffentlicheKinderbetreuung anprangert: „Die

zentrale Frage jedoch ist: Wer glaubtwirklich, dass die Kindertagesstätte fürsechs Monate oder zwei Jahre alte Kin-der tagsüber der optimale Aufenthalts-ort ist? Dies mag in jenen Regionengelten, wo Alternativen zu aufgelöstenFamilienstrukturen sinnvoll sind. Aberals Rezept für alle?“6 Und weiter kriti-siert Die Welt, dass sich die Politik die„kollektive Verwahrung“ zum Pro-gramm mache: „Die meisten Elternwissen besser als der Staat, was richtigist für ihre Kinder. Er sollte ihnen denfinanziellen Freiraum lassen, um eineEntscheidung treffen zu können.Wenn sich dann weiterhin eine Mehr-heit der Mütter dafür entscheidet,ganz für ihre Kinder da zu sein, hatder Staat das zu akzeptieren, denn ermuss dem Gemeinwohl dienen.“7

Politik muss Kinder ermöglichen

Es stimmt, dass Politik nicht alles kannund erst recht nicht alles soll. Vor allemsoll sie sich nicht in die privaten Ent-scheidungen der Bürgerinnen und Bür-ger einmischen. Aber wo sich die Men-schen in Wahrheit Kinder wünschen,wird heute gerade das Fehlen von er-möglichender Politik zur unzumutba-ren Einmischung ins private Leben.

4 Rede von Jörg Schönbohm „Freiheit wagen – Werte leben” anlässlich der Verleihung des Mittelstandspreises der Bundesvereinigungmittelständischer Unternehmer, Berlin 9.10.2003.

5 Jan Ross: „General in der Wärmestube“, in: Die Zeit, Nr. 13 vom 21.03.2002.6 Guido Heinen: „Geburten“, Kommentar in: Die Welt vom 15.11.2003.7 Ebenda.

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[ anne-kathrin oeltzen ]

Dass Menschen ihr Leben so lebenkönnen, wie sie es selbst leben wollen,daran muss sich eine den Grundwertender Freiheit und Gerechtigkeit ver-pflichtete Politik ausrichten. Darausergibt sich allerdings auch die Verpflich-tung, die Voraussetzungen zu schaffen,die die Menschen brauchen, um Fami-lien gründen und mit Kindern leben zukönnen. In diesem Sinne sind die Ver-besserung der Betreuungsangebote inWestdeutschland und der Erhalt der gu-ten Betreuungsinfrastruktur in Ost-deutschland wichtige Schritte hin zueiner ausgewogenen Balance zwischenFamilienleben und Arbeitswelt.

Darüber hinaus haben in modernenGesellschaften auch familienfreundli-che Unternehmenskulturen und Ar-beitszeiten Auswirkungen auf die Zahlder Kinder, die geboren werden. Dennob es einem gefällt oder nicht: DieMenschen – und eben auch die mei-sten Frauen – wollen heute zugleichberufstätig sein und Kinder haben.

Kinderlosigkeit ist nicht geplant

Bei der niedrigen Geburtenrate inDeutschland handelt es sich eben kei-neswegs um geplante Kinderlosigkeit,also um das Hinauszögern der Mutter-schaft in einer verwöhnten und egois-tischen Generation von individualisti-schen jungen Frauen. Vielmehr hatsich hier eine untergründige, durch dieherrschenden Kulturen bedingte Zu-

rückhaltung bei der Entscheidung zureigenen Mutterschaft entwickelt – weildie „Opportunitätskosten“ gerade fürdie gut ausgebildeten Frauen inDeutschland viel zu hoch sind.

Es gibt noch eine weitere interessan-te Differenz zwischen Ost und West:West-Mütter und erst Recht West-Omas sagen: „Arbeite erst mal, lebeDein Leben, bevor Du Kinder be-kommst. Wir waren damals zu dummund haben wegen der Kinder aus un-serem eigenen Leben nichts gemacht.Lass Dir Zeit!“

„Bleib selbstständig!“

Dagegen herrscht bei Ost-Mütternund vor allem Ost-Omas Unverständ-nis über ihre Töchter und Enkelinnenvor, wenn diese mit 28 Jahren nochnicht einmal ein einziges Kind bekom-men haben: „Bei uns ging’s dochauch!“ Aber übereinstimmend ist derRat aus Ost und West: „Bleib berufs-tätig, bleib selbstständig, mach was ausDeinem Leben!“ Wobei sich dieser Rataus jeweils anderen Erfahrungenspeist: im Osten aus dem Selbstbe-wusstsein der selbstverständlich beruf-stätigen Frau, im Westen aus den Er-fahrungen der Einverdiener-Ehe aufKosten der Berufstätigkeit und damitauch der eigenständigen sozialen Absi-cherung der Frau. Doch auf die Rück-frage der jungen Frauen, „Wie soll dasdenn bitteschön gehen?“, haben die

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[ „uns ist etwas anderes versprochen worden!“ ]

Mütter und Omas leider weder imWesten noch im Osten eine Antwort.

Entscheidend sind Startchancen

Eine entscheidende Voraussetzung da-für, dass es überhaupt gehen kann, istein gut ausgebautes und qualitativhochwertiges Angebot an Kinderbe-treuung. Und auch darüber hinaus ist,wie im Folgenden gezeigt werden soll,eine qualitativ hochwertige Infrastruk-tur an Betreuungsangeboten entschei-dend für die Zukunft unseres Landes– ganz anders als die Verfechter deskonservativen Frauen- und Familien-bildes meinen und wollen.

Regelmäßig bereits vor dem Schul-eintritt werden die Grundlagen für denspäteren Bildungsweg eines Kindes ge-legt, denn die kognitiven Fähigkeiteneines Menschen und seine Offenheit ge-genüber Bildungsanreizen werden in derfrühen Kindheit ausgebildet. In keineranderen Lebensphase lernen wir so vielund so leicht. Es sind die Startchancenin den ersten sechs Lebensjahren, die ingroßem Maße über den späteren Lebens-weg und die Lebenskarrieren von Men-schen entscheiden. Deshalb gehört diefrühkindliche Förderung ins Zentrumder Familienpolitik – auch und geradeim Hinblick auf gute Lebenschancen ineiner sich wandelnden Arbeitswelt.

Neben dem Lernen in der Familiemüssen die Möglichkeiten der Unter-stützung früher Bildungsprozesse besser

genutzt und ausgeweitet werden. GuteBetreuung bietet Kindern pädagogischeFörderung, die die Erziehung der El-tern ergänzt und Bildungsangeboteüber das Elternhaus hinaus eröffnet.Denn Förderung und Bildung beginntin der Familie, im ersten Lebensab-schnitt liegt es an den Eltern, ob dieInteressen ihrer Kinder befriedigt undsie gefördert werden.

Kinder müssen lernen können

In Deutschland ist es in hohem Maßedas soziale und kulturelle Kapital derEltern, das die spätere Schullaufbahneines Kindes bestimmt. Die Pisa-Studiehat gezeigt, dass in der Bundesrepublikdie Bildungschancen und auch die Lei-stungen der Kinder sehr stark – zustark – von der sozialen Herkunft undden finanziellen Möglichkeiten der El-tern abhängen.

Viele Kinder kommen zu spät inden Genuss systematischer Förderung,sie weisen Entwicklungsrückstände aufGrund ihrer sozialen Herkunft auf.Deshalb ist der Zugang möglichst allerKinder zu guten Betreuungsangebotenso entscheidend. So kann einer Veren-gung von frühkindlicher Förderungund Bildung auf bestimmte sozialeGruppe entgegen gewirkt und diefrühkindliche Förderung auf ein brei-teres Fundament gestellt werden.

Denn die Kita ist der Ort, an demSchlüsselqualifikationen gelernt werden

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[ anne-kathrin oeltzen ]

können. Bereits hier und nicht erst inder Schule wird Kindern der Zugang zuFörderung und Bildung ermöglicht.

Bildungsarmut pflanzt sich fort

Bei der Frage des Zugangs aller Kinderzu Bildungschancen geht es um Le-benschancen und soziale Gerechtig-keit. Es geht um die Chance auf Teil-habe aller Menschen in unserem Land,darum, auch in Zukunft für so vieleMenschen wie möglich ein gutes Le-ben zu eröffnen. Wir können nichthinnehmen, dass ganze Gruppen unse-rer Gesellschaft wie zum Beispiel Kin-der aus bildungsarmen Elternhäusernoder Einwandererfamilien von Bil-dungschancen ausgeschlossen bleibenund systematisch zu den gesellschaft-lichen Randgruppen der Zukunft wer-den. Unsere Gesellschaft kann ohnedie größere Gleichheit der Bildungs-chancen nicht funktionieren.

Wir befinden uns auf dem Weg voneiner Industrie- in eine Wissensökono-mie, von einer Produktions- in eineInformationsgesellschaft. In diesem Pro-zess verändern sich die Anforderungenan Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer weitreichend. In der neuen Ar-beitswelt des 21. Jahrhunderts werdenimmer stärker Kompetenzen wie Selbst-ständigkeit, Teamgeist und Kooperati-onsfähigkeit gefragt sein, aber auchKonfliktfähigkeit, Konzentrationsfähig-keit und eine hohe Frustrationstoleranz.

Die neue Arbeitswelt verlangt darüberhinaus immer mehr auch Sprachkompe-tenz, Einfühlungsvermögen, Überzeu-gungskraft und Kritikfähigkeit sowie dieFähigkeit auf einen Gesprächspartnereinzugehen oder die Perspektive wech-seln zu können. Um diese Qualifikatio-nen erlangen zu können, müssen Men-schen zunächst das Lernen selbst gelernthaben: Sie müssen über so genannteSchlüsselqualifikationen verfügen, umsich selbst im Lebensverlauf bei Bedarfweitere, vertiefte oder spezielle Kompe-tenzen erarbeiten und erschließen zukönnen. Diese in der Kindheit erworbe-nen Schlüsselqualifikationen bilden dieGrundlage für die Fähigkeit eines Men-schen zum lebenslangen Lernen.

Mehr Chancen im Leben

Zeitgleich vollzieht sich in unseremLand ein Wandel in der Struktur dersozialen Risiken – ein Wandel, der neuesoziale Gewinner und Verlierer hervor-bringt. Diejenigen Menschen, die weniggebildet und schlecht qualifiziert sind,die nur ungenügende kognitive Fähig-keiten sowie mäßige kulturelle und so-ziale Kompetenzen besitzen, sind imBerufsleben zunehmend mit dem Risi-ko schlechter Bezahlung konfrontiert.Ihre Erwerbsbiographien werden weiteher von prekären Arbeitsverhältnissen,finanzieller Unsicherheit und Arbeitslo-sigkeit geprägt sein. In der wissensinten-siven Wirtschaft hängen Berufstätigkeit

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und damit auch Lebenschancen in ei-nem umfassend verstandenen Sinn im-mer stärker von der Lernfähigkeit dereinzelnen Menschen ab.8

Wir brauchen alle Talente

Deshalb sind die Fähigkeiten, Fertig-keiten und Talente der Menschen ihrewichtigsten Ressourcen – und zugleichdie wichtigsten Ressourcen einermodernen Gesellschaft. Es ist wahr:Die Kategorie der „Humanressourcen”hat in Deutschland nicht durchwegeinen guten Klang. Wer sie verwendet,handelt sich schnell den Vorwurf deskalten Ökonomismus ein.

Doch es ist nicht ersichtlich, wiedie Menschen ihre Lebenswünsche inZukunft verwirklichen könnten, wenndie wirtschaftlichen Verhältnisse inunserem Land düster sind. Dass eineökonomisch dynamische Gesellschaftjedenfalls potenziell mehr Menschengrößere Lebenschancen bieten kannals eine stagnierende Gesellschaft,dürfte unbestreitbar sein. Schon des-halb müssen wir allen Kindern guteBildungschancen eröffnen.

Künftig müssen wir also die Hu-manressourcen unserer Gesellschaftweitreichend aktivieren und mobilisie-ren. Auch die demografische Entwick-

lung unserer Gesellschaft gebietet dies:In Zukunft werden ständig schrump-fende erwerbstätige Alterskohortenzahlenmäßig viel größere Kohortenvon Menschen ernähren müssen, dieaußerhalb des Erwerbslebens stehen.Auch deshalb werden wir es uns im-mer weniger leisten können, Talentevon Menschen brach liegen zu lassenoder vorhandene Talente nicht zu för-dern.9 Für die Talente von Frauen, dieaus unserer starren Arbeitswelt ausge-steuert werden, sobald sie Mütter wer-den, gilt dies bereits heute, und es gilterst Recht für die Betreuung und För-derung unserer Kinder.

Kinderbetreuung qualifizieren

Qualitativ hochwertige Kinderbetreu-ung ist also ein ganz entscheidenderSchlüssel, um Menschen gute Lebens-chancen zu eröffnen – zum einen fürdie heutige Kindergeneration, die vonfrühkindlicher Förderung und Bildungein Leben lang profitieren kann, zumanderen für die heutige Elterngenera-tion, die dadurch gestärkt wird. DennMütter und Väter wollen ihr Kind inguten Händen wissen, sie brauchendie Gewissheit, dass bei der Kinderbe-treuung für Qualität gesorgt ist, siewollen gute Bildungschancen für ihre

8 Vgl. Gøsta Esping-Andersen, Towards the Good Society, Once Again?, in: Ders: Why We Need a New Welfare State, Oxford u.a.2002, Seite 3.

9 Vgl. ebenda.

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ANNE-KATHRIN OELTZEN

ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete von 2002 bis 2004 für die Projektgruppe Zukunft Familie im

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

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[ anne-kathrin oeltzen ]

Kinder. Und gute Kinderbetreuung isteine Voraussetzung für die Erwerbs-tätigkeit von Frauen und Männern.Damit leistet gute Betreuung einenBeitrag zur Verbesserung der Balancezwischen Familienleben und Arbeits-welt und damit auch für die Verwirkli-chung der Lebensentwürfe jungerFrauen. Denn die traditionell west-deutsche Ein-Verdiener-Ehe ist zu-mindest für die jungen Frauen keinbreit akzeptiertes Modell für die Zu-kunft Gesamtdeutschlands mehr. Anden Geburtenzahlen ist abzulesen, dassFrauen heute nicht dazu bereit sind,unter den Bedingungen dieser Rollen-verteilung eine eigene Familie zu grün-den. Nicht die Emanzipation der

Frauen verhindert die Geburt vonKindern, sondern eine gesellschaftli-che Kultur, die die Zuständigkeit fürKinder allein den Frauen aufbürdet.

Kinderbetreuung zu fördern heißtalso, für Chancengerechtigkeit bei denBildungsangeboten für Kinder zu sor-gen und das den jungen Frauen gege-bene Versprechen der Geschlechter-gleichheit einzulösen – und damit eineEntscheidung für Familie und Berufzu ermöglichen. Schließlich geht esum beides: Um die jungen Frauen unddas ihnen gemachte große Versprechenfür ihre eigene Zukunft. Und um dieKinder, die wir brauchen für eine guteZukunft des Landes, in dem sie lebenwerden. ■

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FRAUEN- UND FAMILIENPOLITIK NACH SCHÖNBOHMS ARTVON WILMA SIMON

Ideologie undWirklichkeit

In Brandenburg sind knapp 80 Prozentaller erwerbsfähigen Frauen berufstä-

tig. Darunter sind viele Mütter: Fast 40Prozent haben Kinder unter 18 Jahren.Eine große Anzahl dieser Mütter istalleinerziehend, meist weil die Ehen oderBeziehungen gescheitert sind.

Zu DDR-Zeiten waren beinahe alleFrauen im erwerbsfähigen Alter berufstä-tig. Diese Erfahrung prägt auch jetztnoch die Wünsche und das Verhaltender ostdeutschen Frauen und Mütter: Esist für sie weiterhin völlig selbstverständ-lich, berufstätig sein zu wollen; und ge-nauso selbstverständlich erwarten sie einevernünftige Betreuung ihrer Kinder inKrippen und Kindertagesstätten. WieFranzösinnen und Schwedinnen empfin-den die Brandenburgerinnen keinen Wi-derspruch zwischen öffentlicher und Er-ziehung in der Familie. Diese ergänzeneinander: Tagsüber wollen die Fraueneine qualifizierte öffentliche Erziehung,morgens und abends zuhause eine liebe-volle und aufmerksame Betreuung durchVater und Mutter.

Diesen empirischen Befunden setztCDU-Schönbohm sein patriarchalischesWeltbild entgegen: „Die Erziehung derKinder darf nicht an den Staat delegiertwerden … Mit einem Erziehungsgeldkönnte (man) zum Beispiel den Elterndie individuelle Entscheidung ermögli-chen (zuhause zu bleiben oder erwerbstä-tig zu sein, d. Verf.). Keiner will dieFrauen-zurück-an-den-Herd‘. Wir soll-ten uns wieder ganz bewusst zur Familiebekennen. Durch die Anerkennung derArbeit als Hausfrau und Mutter solltedieser wichtigen Leistung ein neuer Wertgegeben werden“ (9.10.2003), lautet dasUrteil – oder Vorurteil? – des Branden-burger CDU-Chefs.

Schönbohms Bekenntnis zur Familiebesteht in der Reduktion der Frau undMutter auf die Hausfrauenrolle, „ver-süßt“ durch ein Erziehungsgeld, mitdem ihr der Wunsch nach Berufstätig-keit „abgekauft“ werden soll. Erziehungs-oder Familiengeld bringt Schönbohm ineinen Gegensatz zu den Kindergärten.Vollkommen unverständlich scheint ihm

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[ wi lma simon ]

zu sein, warum Ostdeutsche immernoch so stark an den Kitas festhalten.Das ist offenbar auch der Grund, warumder Ex-General gegen diese „unglaublichhohe Kitagläubigkeit“ wettert. Und wei-ter heißt es bei Schönbohm: „Eltern lie-ben ihre Kinder mehr als Erzieherinnen– warum sollen sie dann nicht die finan-zielle Freiheit erhalten, für ihre Kinderdie richtige Betreuungsform auszuwäh-len. Heutzutage ist mir vieles zu belie-big“ (14.8.2003).

„Die normale Familie“

Richtige Betreuung findet laut Schön-bohm nur durch die nicht erwerbstätigeHausfrau und Mutter statt. „Die Unionmuss auf konservative Werte und damitauf die normale Familie setzen,“ so lässtSchönbohm die Katze aus dem Sack.Alleinerziehende, Geschiedene, berufstä-tige Mütter gibt es zwar, aber die mag ernicht. Väter kommen bei ihm ausdrück-lich nicht vor. Herr Schönbohm träumtvon der „Normalfamilie“: Papa geht ar-beiten, Mama bleibt schön zuhause underzieht möglichst viele Kinderlein. Es istdies ein geschlossenes Bild einer Gesell-schaft, wie sie so schon lange nicht mehrexistiert. Gerade die Ostdeutschen lebenseit geraumer Zeit eine familiäre Wirk-lichkeit, die viel breiter ist, als JörgSchönbohm wahrhaben will und kann.

Schönbohm und seine CDU weigernsich in weiten Teilen, die Wirklichkeit inDeutschland zur Kenntnis zu nehmen:

Jede dritte Ehe wird geschieden, jedessiebte Kind lebt unter der Armutsgrenze;die Einkommenssituation der Familienhat sich aufgrund der Wachstumsproble-me und der hohen Arbeitslosigkeit imOsten so verschärft, dass jede Chancedes Geldverdienens genutzt werden mussund gerade junge, gut qualifizierte Frau-en viel zu häufig den Weg nach Westenantreten. Da hilft kein Gesundbeten der„heilen Normalfamilie“ oder die Aufwer-tung der „Hausfrauenrolle“. Die Erwerb-stätigkeit ermöglicht es Frauen, beispiels-weise im Falle von Scheidungen, auf eineigenes Einkommen und eigene Leistungzurückgreifen zu können.

Wunsch und Wirklichkeit

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitungvom 26. Mai 2004 konnte man unterder Überschrift „Morgens Managerin,abends Mutter“ folgendes lesen: „Immermehr Unternehmen bieten Frauen Teil-zeitarbeitsplätze an, um Geld zu sparenund die Vereinbarkeit von Karriere undBeruf zu ermöglichen“. In dem Artikelwird eine Studie des Instituts für Arbeits-markt- und Berufsforschung der Bundes-anstalt für Arbeit aus dem Jahr 2000 zi-tiert, nach der in 77 Prozent der (ge-samtdeutschen) Familien mit Kindernunter drei Jahren die Aufgabenverteilung„klassisch“ ist: Der eine Partner ist vollerwerbstätig, während der andere sichden ganzen Tag um Kind und Haushaltkümmert.

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[ ideologie und wirklichkeit ]

„Doch nur 14 Prozent finden diesesModell ideal. 63 Prozent hätten liebereine Kombination aus einer Vollzeit-und einer Teilzeitstelle, 16 Prozent wün-schen sich für beide Partner eine Teilzeit-beschäftigung.“ Deutlicher kann demCDU-Ideal der „Normalfamilie“ vonden geäußerten Wünschen her kaumwidersprochen werden.

Zurück in die Fünfziger Jahre

Die Gründe für das eklatante Auseinan-derklaffen von „Wunsch und Wirklich-keit“ ergeben sich aus einer Studie desMeinungsforschungsinstituts Emnid: 80Prozent der befragten Frauen gaben an,fehlende Teilzeitstellen hielten Müttervom Wiedereinstieg in den Beruf ab. 72Prozent sagten, der Mangel an verlässli-chen Möglichkeiten der Kinderbetreu-ung sei der Grund. Diese Daten signali-sieren ganz deutlich den elementarenWunsch gerade von Müttern, ihre Kin-der verlässlich betreut zu sehen und er-werbstätig sein zu können. Ausschließ-lich Hausfrau und Mutter nur der Notgehorchend.

Es geht den Frauen dabei nicht nurum das eigene Einkommen aus der Er-werbstätigkeit, sondern auch um die so-zialen Kontakte, das gesellschaftliche An-sehen im Berufsleben. Die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf ist für die Frauenin Ostdeutschland praktisch kein Pro-blem gewesen. Arbeitende Mütter sindnach wie vor gesellschaftlich voll aner-

kannt. Kita-Plätze waren zahlenmäßigausreichend vorhanden – und sind eszumindest in den sozialdemokratischregierten ostdeutschen Ländern auchjetzt noch immer.

Die Betreuungssituation der Kinderim Westen stellt sich hingegen völliganders dar: Die CDU-Regierungen derNachkriegszeit propagierten exakt diesesvermuffte familienpolitische Bild derFünfziger Jahre, von dem sich Schön-bohm heute immer noch nicht gelösthat: Die Frau soll das Haus hüten undMutter sein. Deshalb gab es im Westennie auch nur annähernd genug Kinder-garten- oder gar Ganztagesplätze. DieFrauen mussten sich oft schmerzhaftzwischen Karriere oder Kindern undFamilie entscheiden. Die Geburtenratesank mit der zunehmendenErwerbstätigkeit von Frauen erheblich.

Wann rebelliert die CDU-Basis?

Es ist dieses Bild, dass die CDU auchheute immer noch nicht abgelegt hat –trotz mancher Reformbestrebungen inden letzten Jahren. „Konservatives Tafel-silber“ werde verschleudert, prangerteJörg Schönbohm nach der verlorenenBundestagswahl 2002 an, sollte AngelaMerkel wirklich das Gesellschaftsbild derKonservativen modernisieren und dermodernen Gesellschaft anpassen wollen.Dass es sich dabei um Tafelsilber han-delt, dass viele Frauen und Männer –nicht nur im Osten – am liebsten in die

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[ wi lma simon ]

Abstellkammer schieben würden, über-sieht der Brandenburger CDU-Chef. Esist sicherlich nur noch eine Frage derZeit, bis auch er merken wird, dass diesmittlerweile auch die Mehrheit der kon-servativen Wähler und Parteimitgliederso sieht.

Erst mit der Deutschen Einheit pas-sten sich die ostdeutschen Frauen in ih-rem „Gebärverhalten“ dem des Westensan. In der ersten Hälfte der 90er Jahrekann man geradezu von einem „Gebär-streik“ sprechen, so dramatisch gingendie Geburten zurück. Dass diese Ent-wicklung nichts mit dem Angebot anKitaplätzen, sehr viel aber mit der wirt-schaftlichen Situation zu tun hat, istaugenfällig – nur nicht für Herrn Schön-bohm. Für ihn ist „die Frage (…) viel-mehr, ob nicht die Familie mehr im Mit-telpunkt der Politik stehen muss“ – unddas ist natürlich seine „Normalfamilie“mit der Frau als Haus-Mutter.

General a.D. Jörg Schönbohm ist einvielbeschäftigter Mann, verheiratet miteiner gewiss liebenswerten Frau, die of-fenbar aus innerer Überzeugung die tra-ditionelle Frauenrolle ausgefüllt hat undausfüllt. Diese persönliche Lebenssitua-tion, so geglückt sie auch sein mag, auf

die Frauen- und Familienpolitik einesganzen Landes zu übertragen, greift zukurz – vor allem angesichts der Vielfaltweiblicher Lebensentwürfe und –zusam-menhänge in einem aufgeklärten Landwie Brandenburg.

Brandenburger ticken anders

Brandenburgs Frauen und Mütter wol-len beides: Kinder und Familie, aberauch Arbeit, Einkommen, Berufstätig-keit. Daran orientiert sich die sozialde-mokratische Familienpolitik im Land.Trotz knapper Kassen werden bedarfsge-rechte Kitaplätze vorgehalten. Bildungs-,Beschäftigungs-, Wirtschafts- und Struk-turpolitik zielen auf die gleichberechtigteBeteiligung von Frauen und Müttern ander gesellschaftlichen Entwicklung desLandes.

Dagegen steht CDU-Schönbohmskonservatives Bild von der Hausfrau undMutter. Im Herbst 2004 entscheiden dieWähler auch darüber, welches Familien-bild und welches gesellschaftspolitischeZukunftsbild Brandenburg prägen soll –und welche Rolle Frauen in Zukunftspielen sollen. ■

WILMA SIMON

ist Politikwissenschaftlerin und war von 1995 bis 2000 Finanzministerin des Landes Brandenburg.

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MATTHIAS PLATZECK : Finnland ist mehr als Pisa

TORALF STAUD : Nicht aus 40, sondern aus 14 Jahren!

GÜNTER BAASKE : Brandenburg – ein Land für Familien

BERT RÜRUP UND SANDRA GRUESCU : Familienpolitik ist Wachstumspolitik

LUDWIG GEORG BRAUN : Familie? Ja bitte!

SEBASTIAN SASS : Kinder im Mittelpunkt

HEIKE LIPINSKI : Familie beginnt vor Ort

ANNE-KATHRIN OELTZEN : „Uns ist etwas anderes versprochen worden!“

WILMA SIMON : Ideologie und Wirklichkeit

Kinder? Kinder!

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 23 JULI 2004 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de alspdf-Datei herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnengerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches ParteiensystemHeft 14 Brandenburgische IdentitätenHeft 15 Der Islam und der WestenHeft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes ReformprojektHeft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn? H

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