100
T T r r a a m m p p o o l l i i n n o o d d e e r r H H ä ä n n g g e e m m a a t t t t e e ? ? D D i i e e M M o o d d e e r r n n i i s s i i e e r r u u n n g g d d e e s s S S o o z z i i a a l l s s t t a a a a t t e e s s perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik www.perspektive21.de Heft 19 • Juli 2003 Fotos: Andreas Altwein/ddp, Steffen Leiprecht/ddp, Montage: Weber Medien

perspektive21 - Heft 19

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Trampolin oder Hängematte?

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Page 1: perspektive21 - Heft 19

TTTTrrrr aaaa mmmm pppp oooo llll iiii nnnn oooo dddd eeee rrrr HHHH ääää nnnn gggg eeee mmmm aaaa tttt tttt eeee ????DDDD iiii eeee MMMM oooo dddd eeee rrrr nnnn iiii ssss iiii eeee rrrr uuuu nnnn gggg dddd eeee ssss SSSS oooo zzzz iiii aaaa llll ssss tttt aaaa aaaa tttt eeee ssss

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

www.perspektive21.de Heft 19 • Juli 2003

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Seit 1997 erscheint

„Perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

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Zur Zeit sind noch folgende Titel lieferbar:

Heft 11 Wirtschaft und Umwelt

Heft 13 Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem

Heft 14 Brandenburgische Identitäten

Heft 15 Der Islam und der Westen

Heft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik

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Page 2: perspektive21 - Heft 19

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Das neueDeutschland

Page 3: perspektive21 - Heft 19

Vorwort 3

Thema

Richard Stöss 5SPD und soziale Gerechtigkeit

Günter Baaske 21Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring 35Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

Franz Walter 57Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats

Magazin

Klaus Ness 65Eine Idee haben und Probleme lösen

Martin Gorholt 77Der Weg aus dem PISA-Loch

Klaus Faber 85Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen

Inhalt

Trampolin oder Hängematte?Die Modernisierung des Sozialstaates

Page 4: perspektive21 - Heft 19

Impressum

2

BezugBestellen Sie Ihr kostenloses

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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg

RedaktionKlaus Ness (ViSdP)

Benjamin Ehlers

Klaus Faber

Klara Geywitz

Lars Krumrey

Christian Maaß

Till Meyer

Manja Orlowski

Silke Pamme

AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61

14469 Potsdam

Telefon0331 - 200 93 – 0

Telefax0331 - 270 85 35

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Internethttp://www.perspektive21.de

Gesamtherstellung, VertriebWeber Medien GmbH

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14469 Potsdam

Page 5: perspektive21 - Heft 19

Fordern und Fördern. Der Sozialstaatals Trampolin oder als Hängematte? Im140. Jahr ihres Bestehens macht diedeutsche Sozialdemokratie Ernst mitder Modernisierung unserer Sozialsy-steme. In einer Regierungserklärung am 14. März 2003 kündigte Gerhard Schrö-der seine Agenda 2010 an – und stürztedamit die SPD in den nächsten Mona-ten in heftige Turbulenzen. Erst aufeinem Sonderparteitag am 1. Juni 2003in Berlin machte die Basis den Weg fürdie ersten Schritte des Umbaus des Sozi-alstaates frei. Doch die Debatte wirdweitergehen, weil weitere Schritte fol-gen müssen und werden.

Für die SPD ist die Kontroverse überdie Zukunft des Sozialstaates eine Frageihrer eigenen Identität. Richard Stösszeigt in seinem Beitrag auf, welchenlangen Entwicklungsweg die Sozialde-mokratie dabei beschritten hat. Inihrem Eisenacher Programm von 1869hieß es zum Thema sozialer Gerechtig-keit: „Die heutigen politischen undsozialen Zustände sind im höchstenGrade ungerecht und daher mit dergrößten Energie zu bekämpfen. DerKampf der Befreiung der arbeitendenKlassen ist nicht ein Kampf für Klassen-privilegien und Vorrechte, sondern fürgleiche Rechte und Pflichten und für dieAbschaffung aller Klassenherrschaft.“

Daran erinnert inhaltlich und vomsprachlichen Duktus in einem Papier derSPD-Grundsatzkommission aus demJahr 2001 rein gar nichts mehr:„Eine dif-ferenzierte Gerechtigkeitsnorm wäreeine solche, die gerechte Gleichheitenund ungerechte Ungleichheiten unter-scheidet. Gerechte Ungleichheiten sindanzuerkennen, wenn sie aus dem ver-schiedenartigen gebrauch der Freiheitder Einzelnen und aus ihren unter-schiedlichen Beiträgen zur Wohlfahrtder ganzen Gesellschaft folgen.“

Doch die Debatte über soziale Gerech-tigkeit ist beileibe kein rein akademisch-philosophisches Problem. Darauf machtBrandenburgs Arbeits- und Sozialmini-ster Günter Baaske in seinem Beitragaufmerksam. Armut ist immer noch einreales, ja sogar zunehmendes Problem,von dem in Ostdeutschland auch er-schreckend viele Kinder betroffen sind.Die bedrückenden Zahlen und Fakten ausBrandenburg unterstreichen die Not-wendigkeit der Reform des Sozialstaatesaus einer ganz anderen Perspektive.

Die notwendige Modernisierung desSozialstaates ist jedoch kein typischdeutsches Problem. Alle westeuropäi-schen Länder standen oder stehen seitBeginn der 90er Jahre vor der schwieri-gen Aufgabe, eine Umgestaltung ihrersozialstaatlichen Sicherung vorzuneh-

Vorwort

3

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“!

Page 6: perspektive21 - Heft 19

men. Die Heidelberger Politikwissen-schaftler Christoph Egle, Christian Hen-kes, Alexander Petring und Tobias Ost-heim geben in ihrem Beitrag eineninformativen Überblick über die Debat-ten und eingeleiteten Maßnahmensozialdemokratischer Regierungen un-serer westeuropäischen Nachbarn.

Besonders viel Widerspruch wirdFranz Walter mit seinem flammendenPlädoyer für eine Große Koalition zurModernisierung des Sozialstaates aus-lösen. Doch seine Argumente sind nichteinfach von der Hand zu weisen: „Sobleibt allein die Große Koalition. Sie istgewissermaßen die zumindest zeitwei-se erforderliche innere Konsequenz ausdem kooperationsdemokratisch ange-legten Institutionengefüge der bundes-deutschen Republik. So wie Deutsch-land verfasst ist, gelingt Politik nurdurch Kooperation, nur dadurch, dass

beide Parteien gleichermaßen am gou-vernementalen Erfolg interessiert sind.“

Im Magazin finden Sie dieses Mal u.a.unter der Überschrift „Eine Idee habenund Probleme lösen“ einen Vorabdruckzur Zukunft der Parteiendemokratie ausdem von Tobias Dürr und Tanja Busseherausgegebenen Buch „Das neueDeutschland. Die Zukunft als Chance“,das Ende September 2003 im Aufbau-Verlag erscheinen wird. Der Band ver-sammelt eine große Anzahl von Beiträ-gen zur aktuellen politischen Lage inDeutschland von zahlreichen Autorenaus Ost und West, darunter viele, die sichin den vergangenen Jahren auch in derPerspektive 21 zu Wort gemeldet haben.

Ich wünsche auch dieses Mal eineanregende und spannende Lektüre.

IhrKlaus Ness

4

perspektive 21 im InternetDie Hefte 1-18 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.

Page 7: perspektive21 - Heft 19

Das Leitmotiv der Agenda 2010 ist

richtig und wird wohl auch von nie-

mandem ernsthaft in Frage gestellt:

Um den Sozialstaat zu erhalten, muss

er reformiert werden. Der Streit dreht

sich um das „Wie“: Welche Maßnah-

men sind notwendig und geeignet, um

den Sozialstaat – wie Franz Walter es

nennt (ab S. 57) – zu sanieren? Um eine

Maßnahme zu beurteilen, bedarf es der

Bewertungskriterien. Ein Wertmaßstab

für die SPD sollte der Grundwert soziale

Gerechtigkeit sein. Soziale Gerechtig-

keit ist gewiss nicht die einzige – die

Kasse muss schließlich auch stimmen –,

aber doch eine für die Sozialdemokratie

besonders bedeutsame Messlatte. Die

vorgeschlagenen Reformschritte müs-

sen sich also daran messen lassen, ob

sie dem Kriterium der sozialen Gerech-

tigkeit entsprechen. Auch dies dürfte

Konsens sein und bedarf keiner weite-

ren Erörterung.

Was aber bedeutet soziale Gerech-

tigkeit? Der Begriff hat zunächst ein-

mal einen guten Klang. Er verheißt

hehre Absichten und streichelt die

geplagte Seele der Partei: Wir sind

immer noch eine große sozialdemo-

kratischen Wertegemeinschaft! Er stif-

tet also Identität. Außerdem besteht

Einigkeit darüber, dass der Gerechtig-

keitsbegriff der Gründerväter der SPD

aus dem frühkapitalistischen 19. Jahr-

hundert nicht der Gerechtigkeitsbe-

griff der SPD im wohlfahrtsstaatlichen

Kapitalismus des 21. Jahrhunderts sein

kann. Warum also noch tiefer bohren?

5

SPD und soziale Gerechtigkeitvon Richard Stöss

Gründer ohne Grundwerte

Tiefer bohren würde übrigens auch

nichts nutzen und schon gar nicht zu

hilfreichen Einsichten führen. Die

Gründergeneration der SPD kannte

den Grundwert soziale Gerechtigkeit

nicht, sie hatte überhaupt keine

Grundwerte. Ihr ging es um fun-

damentale Menschenrechte wie Frei-

heit und Gleichheit, um Demokratie,

um die Überwindung der Klassen-

gesellschaft und der Klassenherr-

schaft. In den frühen Dokumenten der

Arbeiterbewegung ist allenfalls davon

die Rede, dass die bestehenden Ver-

Page 8: perspektive21 - Heft 19

hältnisse ungerecht seien und daher

beseitigt werden müssten. Im Ei-

senacher Programm von 1869 hieß es

zum Beispiel:

„Die heutigen politischen und sozia-len Zustände sind im höchsten Gradeungerecht und daher mit der größtenEnergie zu bekämpfen. Der Kampf derBefreiung der arbeitenden Klassen istnicht ein Kampf für Klassenprivilegienund Vorrechte, sondern für gleicheRechte und Pflichten und für die Ab-schaffung aller Klassenherrschaft … Diepolitische Freiheit ist die unentbehrlicheVorbedingung zur ökonomischen Be-freiung der arbeitenden Klasse.“

Das Endziel war – für orthodoxe wie

für Revisionisten – die sozialistische

Gesellschaft, und das bedeutete vor

allem die Vergesellschaftung der Pro-

duktionsmittel. Strittig war lediglich,

ob sich der Sozialismus Schritt für

Schritt durch Reformen der besteh-

enden Gesellschaft oder nur durch

einen revolutionären Akt verwirklichen

lässt. Obwohl sich die SPD stets nach-

haltig für soziale Reformen zur Verbes-

serung der Lage der arbeitenden

Klasse einsetzte, sah sie die Lösung der

sozialen Frage nicht in derartigen

Reformen sondern in einer grundle-

genden Veränderung der Wirtschafts-

und Gesellschaftsordnung.

Dies änderte sich auch nach dem

Ersten Weltkrieg nicht. Weder im Gör-

litzer Programm von 1921 noch im Hei-

delberger Programm von 1925 war von

sozialer Gerechtigkeit die Rede. „Das

Ziel der Arbeiterklasse kann nur

erreicht werden durch die Verwand-

lung des kapitalistischen Privateigen-

tums an den Produktionsmitteln in

gesellschaftliches Eigentum“, hieß es

im Heidelberger Programm. Auch dort

fand sich ein umfassender Katalog von

konkreten wirtschafts- und sozialpoli-

tischen Forderungen („Wirtschaftsde-

mokratie“), von denen sich die prakti-

sche Politik leiten lassen sollte. Wie die

Herbeiführung einer sozialistischen

Gesellschaft bewerkstelligt werden

und – vor allem – welche konkrete

Gestalt sie annehmen sollte, blieb

auch in diesem, wie in allen früheren

Programmen offen. Unter den Bedin-

gungen der demokratischen Republik

entfernten sich Ziel und Weg, Pro-

gramm und Praxis der SPD zusehends.

Erst mit dem Godesberger Programm

von 1959 wurde diesbezüglich Klarheit

geschaffen.

Richard Stöss

6

Von der Verelendungstheorie zum demokratischen Sozialismus

Page 9: perspektive21 - Heft 19

Hatte sich die SPD im der Weimarer

Republik endgültig von der Verelen-

dungstheorie, von dem Ziel der revolu-

tionären Umgestaltung der Gesell-

schaft und von der Hoffnung losgesagt,

dass der Kapitalismus an seinen inne-

ren Widersprüchen zugrunde geht, so

verabschiedete sie sich nach dem Zwei-

ten Weltkrieg offiziell auch von der For-

derung nach Vergesellschaftung der

Produktionsmittel. Das sozialistische

Endziel war damit aufgegeben, die

Marktwirtschaft anerkannt. Der frei-

heitliche bzw. demokratische Sozialis-

mus wurde nun zur Leitidee nicht nur

der deutschen Sozialdemokratie, son-

dern aller Parteien der Sozialistischen

Internationale. Diese erblickte 1951 in

Frankfurt am Main das Licht der Welt

und erklärte nun soziale Gerechtigkeit

zu einem zentralen Anliegen des demo-

kratischen Sozialismus:

„Gleichviel, ob Sozialisten ihre Über-zeugung aus den Ergebnissen marxisti-scher oder anders begründeter sozialerAnalysen oder aus religiösen oderhumanitären Grundsätzen ableiten, alleerstreben ein gemeinsames Ziel: eineGesellschaftsordnung der sozialen Ge-rechtigkeit, der höheren Wohlfahrt, derFreiheit und des Weltfriedens.“ 1

Zu diesem gemeinsamen Ziel be-

kannte sich die SPD explizit in ihrem auf

dem Dortmunder Parteitag 1952

beschlossenen und auf dem Berliner

Parteitag 1954 konkretisierten Aktions-

programm. Und im Godesberger Pro-

gramm hieß es: „Freiheit, Gerechtigkeit

und Solidarität … sind die Grundwerte

des sozialistischen Wollens.“ Bedeutete

Sozialismus früher eine Weltanschau-

ung, die die grundlegende Umge-

staltung der wirtschaftlichen und sozia-

len Verhältnisse anstrebte, so bildete er

nun den Wertekanon für die Gestaltung

einer „menschenwürdigen Gesell-

schaft“ (Godesberger Programm).

Was verstanden die Nachkriegs-Sozi-

aldemokraten unter sozialer Gerech-

tigkeit? Der Begriff wurde nicht kon-

kret gefasst. Er blieb genauso vieldeu-

tig wie der Begriff Sozialismus. Im

Godesberger Programm fand sich nur

folgender Hinweis:

„Die Marktwirtschaft gewährleistetvon sich aus keine gerechte Einkom-

SPD und soziale Gerechtigkeit

7

1 Ziele und Aufgaben des demokratischen Sozialismus. Erklärung der Sozialistischen Internationale, beschlossen 1951 inFrankfurt a. M., abgedr. in: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover: J.H.W. Dietz Nachf. 1963, S. 103-113.

Gerechtigkeitsversprechen statt Kapitalismuskritik

Page 10: perspektive21 - Heft 19

mens- und Vermögensverteilung. Dazubedarf es einer zielbewussten Einkom-mens- und Vermögenspolitik.

Einkommen und Vermögen sind un-gerecht verteilt …

Die Sozialdemokratische Partei willLebensbedingungen schaffen, unterdenen alle Menschen in freier Entsch-ließung aus steigendem Einkommeneigenes Vermögen bilden können. Dassetzt eine stetige Erhöhung des Sozial-produkts bei gerechter Verteilung voraus.

Die Lohn- und Gehaltspolitik ist eingeeignetes und notwendiges Mittel, umEinkommen und Vermögen gerechterzu verteilen.“

Soziale Gerechtigkeit bezog sich also

nicht auf die Primärverteilung. Nicht

das vorhandene Vermögen sollte ge-

recht (um)verteilt werden, sondern der

Zuwachs. (Karl Schiller prägte dafür

später den Begriff „soziale Sym-

metrie“.) Die gerechte Verteilung des

Zuwachses setzt allerdings Wachstum

voraus. Die Frage, wie soziale Ge-

rechtigkeit ohne Wachstum realisier-

bar ist, stellte sich damals nicht. Das

galt entsprechend für die Vermögens-

bildung und die Gewährleistung von

sozialer Gerechtigkeit durch Lohn- und

Gehaltspolitik.

Weiterhin forderte das Godesberger

Programm, dass „ein angemessener Teil

des ständigen Zuwachses am Betriebs-

vermögen der Großwirtschaft“ für

„gemeinschaftliche Zwecke“ herangezo-

gen wird. Als derartige Gemeinschafts-

aufgaben nannte das Programm Wis-

senschaft, Forschung und Erziehung.

Soziale Gerechtigkeit bedeutete also

nicht nur eine (maßvolle) Korrektur der

Einkommens- und Vermögensvertei-

lung, sondern erstreckte sich auch auf

die gerechte Verteilung von Lebens-

chancen. Die Kommentare zum Dort-

munder bzw. Berliner Aktionsprogramm

und zum Godesberger Programm ließen

ein Spannungsverhältnis zwischen so-

zialer Gerechtigkeit und sozialer Gleich-

heit erkennen. Soziale Gerechtigkeit

sollte oft nur mehr, aber nicht absolute

Gleichheit bewirken. Ein gewisses Aus-

maß an Ungleichheit war unter Um-

ständen durchaus erwünscht. Denn

„Verteilungsvorteile“ wurden als not-

wendig angesehen, um zu wirtschaftli-

cher Leistung anzuspornen. „Höhere Lei-

stung soll durch höheres Einkommen

anerkannt werden.“2

Richard Stöss

82 Dieter Link, Vom Antikapitalismus zur sozialistischen Marktwirtschaft, Hannover: J.H.W. Dietz Nachf. 1965, S. 125.

Page 11: perspektive21 - Heft 19

SPD und soziale Gerechtigkeit

9

Dass der Grundwert soziale Gerech-

tigkeit nicht eindeutig definiert war,

wirkte sich zunächst nicht nachteilig

aus. Die ersten Nachkriegsjahrzehnte

der demokratischen Industriegesell-

schaften bildeten schließlich das „Gol-

dene Zeitalter“ des Kapitalismus. Hohe

Wachstumsraten und Vollbeschäfti-

gung ermöglichten eine enorme Stei-

gerung der Einkommen und des

Lebensstandards von Arbeitnehmern,

der Wohlfahrtsstaat stand in voller

Blüte, und die scheinbar anhaltende

Prosperität versprach zunehmende

Verteilungsgerechtigkeit. Es herrschte

ein breiter gesellschaftlicher Konsens

in sozialpolitischen Fragen. Dieser Kon-

sens ist überhaupt erst deshalb mög-

lich geworden, weil sich die SPD vom

antikapitalistischen Sozialismus losge-

sagt und der sozialen Gerechtigkeit

verschrieben hat. Der Begriff stammt

ursprünglich aus der Katholischen

Soziallehre. Als spiritus rector gilt der

sizilianische Priester Taparelli d'Azeg-

lio, der ihn 1840 erstmalig verwandt

haben soll3. In der Enzyklika „Rerum

novarum“ erklärte Papst Leo XIII. 1891,

dass die soziale Frage nicht allein

durch caritative Bemühungen bewäl-

tigt werden könne. Vielmehr sei der

Staat nicht nur berechtigt sondern

auch verpflichtet, zu Gunsten der

Armen und Schwachen zu intervenie-

ren. In der Enzyklika „Quadragesimo

anno“ (Pius XI. verkündete sie zum 40.

Jahrestag von Rerum novarum) wurde

die Reichweite des Sozialstaats durch

das Subsidiaritätsprinzip begrenzt und

schroff zwischen sozialer Gerechtigkeit

und Sozialismus unterschieden. Mit

dem Bekenntnis der SPD zum demo-

kratischen Sozialismus im Godesber-

ger Programm waren dann die Grund-

lagen für einen gemeinsamen Diskurs

von Sozialdemokratie und Politischem

Katholizismus gelegt. In Folge seiner

Vieldeutigkeit eignete sich der Begriff

soziale Gerechtigkeit also nicht nur

innerparteilich dazu, Flügel übergrei-

fenden Konsens zu stiften. Er taugte

auch als Zielvorstellung im politischen

Wettbewerb, weil er in seiner Unbe-

stimmtheit kaum polarisierte. Kein

Wechselwähler wurde durch seine Ver-

wendung abgeschreckt.

3 Ursula Nothelle-Wildfeuer, Zur Idee der sozialen Gerechtigkeit, in: Eichholz-Brief, 34. Jg. (1997), H. 4, S. 39-51, hier S. 40.

Gerechtigkeitsstreben als gesellschaftlicher Konsens

Page 12: perspektive21 - Heft 19

Mitte der siebziger Jahre löste ein

Grundsatzkonflikt den bis dahin be-

stehenden breiten gesellschaftlichen

Konsens in sozialpolitischen Fragen ab.

Damals setzte eine massive, anti-

etatistische und monetaristische Kritik

am sozialdemokratischen Reform-

ismus ein, der angesichts der damali-

gen Tendenzen zu Stagnation und

Inflation und angesichts der wachsen-

den Massenarbeitslosigkeit in heftige

Bedrängnis geraten war. Eine über-

triebene wohlfahrtsstaatliche Politik –

so die radikalen Kritiker – habe die

öffentlichen Haushalte überlastet, die

Selbststeuerungskräfte des Marktes

geschwächt, unternehmerische Initi-

ative behindert und damit der Wettbe-

werbsfähigkeit der Wirtschaft insge-

samt schwer geschadet. Um ihr zu

neuer Blüte zu verhelfen, müsse sie

von ihren bürokratischen Fesseln

befreit, staatliche Intervention auf das

unbedingt notwendige Mindestmaß

zurückgeschraubt und die Staats-

verschuldung konsequent abgebaut

werden. Für die Lösung der sozialen

Probleme seien in erster Linie die Bür-

ger selbst verantwortlich, staatliche

Leistungen sollten nur bei Härtefällen

gewährt werden. Mit der Bildung der

neoliberalen und neokonservativen

Regierungen unter Margaret Thatcher

in Großbritannien (1979) und Ronald

Reagan in den USA (1980), deren Pro-

gramm auf die Kurzformel „freie Wirt-

schaft plus starker Staat“ gebracht

wurde, gerieten die sozialdemo-

kratischen Parteien Europas unter star-

ken politischen Druck, zumal sich die

Wirtschafts- und Finanzkrisen in den

westlichen Industriegesellschaften

weiter vertieften. Die Sozialdemo-

kraten neigten zunächst zu zöger-

lichem Abwarten, dann zu partieller

Anpassung.

Auch die bundesdeutsche SPD

akzeptierte ab Mitte der achtziger

Jahre Grundzüge der neoliberalen Vor-

stellungen als unausweichlich. Vor der

Bundestagswahl 1987 versprach sie,

das soziale Netz durch den „Umbau

des Sozialstaats“ neu zu knüpfen. In

der „Ära Kohl“ schwankte die Partei

zwischen neoliberalen, sozialen und

ökologischen Zielsetzungen hin und

her. Dies schlug sich auch im Grund-

satzprogramm (Berliner Programm)

von 1989 nieder, welches das Godes-

berger Programm von 1959 ablöste.

Zwar wurde an den Grundwerten des

demokratischen Sozialismus – Freiheit,

Gerechtigkeit und Solidarität – fest-

gehalten, ihre politische Bedeutung als

maßgebliche gesellschaftsgestaltende

Zielvorgaben war in der Praxis freilich

Richard Stöss

10

Wirtschaftskrise und Sozialstaatskritik

Page 13: perspektive21 - Heft 19

gering. Die Begriffe demokratischer

Sozialismus und soziale Gerechtigkeit

schienen eher der Identitätsbildung

und Traditionspflege zu dienen als der

konkreten politischen Richtungs-

bestimmung.

Die Grundwerteexperten der SPD

hatten jedoch schon früh erkannt, dass

die gesellschaftlichen Veränderungen

seit der Verabschiedung des Godesber-

ger Programms eine Präzisierung des

Grundwerteverständnisses der Partei

erforderlich machen. Soziale Gerech-

tigkeit ließ sich nun nicht mehr durch

die gerechte Verteilung des Zuwachses

herstellen. Erste Ergebnisse der Arbeit

der Grundwertekommission fanden

ihren Niederschlag im „Orientierungs-

rahmen '85“ von 1975. Darauf basierten

die Formulierungen im Berliner Pro-

gramm, die wesentlich konkreter und

realistischer ausfielen als im Godes-

berger Programm:

„Gerechtigkeit gründet in der glei-chen Würde aller Menschen. Sie ver-langt gleiche Freiheit, Gleichheit vordem Gesetz, gleiche Chancen der poli-tischen und sozialen Teilhabe und dersozialen Sicherung. Sie verlangt diegesellschaftliche Gleichheit von Mannund Frau.

Gerechtigkeit erfordert mehr Gleichheitin der Verteilung von Einkommen, Eigen-

tum und Macht, aber auch im Zugang zuBildung, Ausbildung und Kultur.

Gleiche Lebenschancen bedeutennicht Gleichförmigkeit, sondern Entfal-tungsraum für individuelle Neigungenund Fähigkeiten aller.

Gerechtigkeit, das Recht auf gleicheLebenschancen, muss mit den Mittelnstaatlicher Macht angestrebt werden.“

Deutlicher als im Godesberger Pro-

gramm wurde nun dargelegt, dass sich

Gerechtigkeit nicht nur auf die Vertei-

lung von Einkommen und Vermögen

und auf soziale Sicherung bezieht, son-

dern auch auf den Zugang zu Bildung,

Ausbildung und Kultur und auf die Teil-

habe an politischen Prozessen. Und es

wurde deutlicher formuliert, wo Ge-

rechtigkeit auf Ergebnisgleichheit, wo

auf Chancengleichheit zielt.

Das im Dezember 1989, also kurz

nach dem Fall der Mauer verabschie-

dete Berliner Programm enthielt keine

Orientierung für die Gestaltung der

inneren Einheit Deutschlands, insbe-

sondere nicht für die ökonomische

Transformation der neuen Bundeslän-

SPD und soziale Gerechtigkeit

11

Gerechtigkeit ohne Wachstum

Page 14: perspektive21 - Heft 19

der. Das von Kohl vertretene Ziel einer

raschen Integration der DDR in die wirt-

schaftliche, politische und rechtliche

Ordnung BRD erfreute sich zunächst

massenhafter Zustimmung. Die über-

wältigende Einheitseuphorie der Bevöl-

kerung deckte sich mit dem naiven

Glauben der Bundesregierung, dass die

Wende gelingt, wenn konsequent pri-

vatisiert und die Infrastrukturvoraus-

setzungen sowie zusätzliche Anreize

für private Investitionen geschaffen

werden. Als der selbsttragende Auf-

schwung nach anfänglichen Hoff-

nungszeichen auf sich warten ließ,

schlugen die (überzogenen) Erwartun-

gen in tiefe Enttäuschung um.

Aber nicht nur in Ostdeutschland

wurde die Regierung Kohl Opfer ihres

blinden Vertrauens in die Marktwirt-

schaft und ihrer optimistischen Ver-

sprechungen. Die Modernisierung

schuf generell weniger Arbeitsplätze

als sie vernichtete, begünstigte mithin

nur einen Teil der Gesellschaft. Die

Schere zwischen Gewinnern und Verlie-

rern, zwischen Reich und Arm, öffnete

sich im Bundesgebiet weiter. Trotz ins

Millionenfache wachsender befristeter

oder geringfügiger Arbeit und Schein-

selbständigkeit erreichte die Zahl der

Arbeitslosen zwischenzeitlich fast die

Rekordmarke von fünf Millionen. Und

trotz massiver Leistungskürzungen im

Sozialbereich stieg die Staatsverschul-

dung ins Unermessliche. Anlässlich der

Bundestagswahl 1998 startete der DGB

daher die Kampagne „Deine Stimme

für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“,

und die SPD ging mit dem cleveren Slo-

gan „Innovation und Gerechtigkeit“ in

den Wahlkampf.

Das Versprechen, die Modernisie-

rung der Volkswirtschaft mit sozialer

Gerechtigkeit zu verbinden, richtete

sich – durchaus erfolgreich – zugleich

an Stammwähler und Wechselwähler,

erzeugte allerdings einen hohen

Erwartungsdruck, ohne dass es auf

eine konkrete politische Planung

gegründet war. Die rot-grüne Bundes-

regierung startete Ende 1998 hastig

mit einigen sozialpolitischen Refor-

men, besann sich jedoch bald darauf,

dass nur ein ausgeglichener Haushalt

ein sozial gerechter Haushalt sei.

Staatsschulden führten – so lautet die

Begründung – zu einer Umverteilung

von unten nach oben und verletzten

das Gebot der Generationengerechtig-

keit. Sparpolitik wurde zu einem Mittel

Richard Stöss

12

Generationengerechtigkeit als Sparkonzept

Page 15: perspektive21 - Heft 19

4 Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair, abgedr. auchin: Perspektive 21, 1999, H. 8, S. 12-26.

der „nachhaltigen“ Gewährleistung

von sozialer Gerechtigkeit erklärt und

bildete nun den Kern rot-grüner Inno-

vationspolitik. Auch die europäische

Wirtschafts- und Währungspolitik ist

im Zeichen der Einführung des Euro

auf radikale Liberalisierung und Priva-

tisierung ausgerichtet und schützt

daher vor allem die Besitzer von Geld-

vermögen. Die Wahlen des Jahres 1999

bedeuteten für Rot-Grün jedenfalls ein

Desaster, bei der Europawahl erreichte

die Union sogar fast die absolute

Mehrheit der Stimmen.

Angesichts dieser Talfahrt in der

öffentlichen Meinung brach in der SPD

die Diskussion über soziale Gerechtig-

keit offen aus. Im Juni des Jahres

wurde das so genannte „Schröder-

Blair-Papier“4

veröffentlicht, womit die

Debatte über den „Dritten Weg“ wie-

der aufflammte. Zur Erinnerung eine

kurze Inhaltsangabe:

Globalisierung wurde nicht als

Bedrohung sondern als Chance ange-

sehen, weil sie Modernisierung und

Wettbewerb fördere. Folglich wurden

staatliche Eingriffe in das Marktge-

schehen abgelehnt und die rigide Kon-

solidierung der Haushalte gefordert.

Eine Ausweitung der Sozialausgaben

komme nicht in Betracht,

– weil dadurch die soziale Ungleich-

heit nicht vermindert werde,

– weil die wohlfahrtsstaatlichen Lei-

stungen den tatsächlichen Risiken

und Bedürfnissen oft nicht gerecht

würden und nicht selten Gruppen

zugute kämen, die nicht schutzbe-

dürftig sind und

– weil durch umfassende Versorgung

keine Anreize für Flexibilität, Selbst-

hilfe und Qualifikation, für „eigene

Anstrengung und Verantwortung“,

bestünden.

Im Gegensatz zum Neoliberalismus

sei der „Dritte Weg“ auf soziale Gerech-

tigkeit verpflichtet. Allerdings wurden

das klassische Verständnis von sozialer

Gerechtigkeit als nachsorgender Ge-

rechtigkeit kritisiert und die Gerechtig-

keitsdefizite des Egalitätsprinzips mit

den Gerechtigkeitsgewinnen von sozia-

ler Differenzierung konfrontiert. Der

Primat liegt in dem Papier auf vorsor-

gender Gerechtigkeit: Der Entstehung

von Armut und sozialer Exklusion soll

durch die Gewährleistung von Chan-

SPD und soziale Gerechtigkeit

13

Der Dritte Weg

Page 16: perspektive21 - Heft 19

cengleichheit beim Zugang zu Bildung

und vor allem zu Erwerbsarbeit vorge-

beugt werden. Letzteres werde nicht

durch staatliche Beschäftigungspro-

gramme ermöglicht sondern durch die

Konditionierung der Menschen für den

Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt

(bedarfsgerechte Qualifikation, Fort-

und Weiterbildung etc.). In dem Aus-

maß, wie die Inklusion gelänge, könn-

ten Sozialleistungen auf die tatsächlich

Bedürftigen konzentriert und damit

insgesamt reduziert werden.

Der „Dritte Weg“ lege großen Wert auf

„persönliche Leistung und Erfolg, Unter-

nehmergeist, Eigenverantwortung und

Gemeinsinn“, auf „Initiative und Kreati-

vität“. „Der Staat soll nicht rudern son-

dern steuern“, er soll (beispielsweise

durch Deregulierung, Senkung von Steu-

ern und Lohnnebenkosten) angemes-

sene Rahmenbedingungen schaffen, „in

denen bestehende Unternehmen pros-

perieren und sich entwickeln und neue

Unternehmen entstehen und wachsen

können“. Die Notwendigkeit eines Nied-

riglohnsektors wurde explizit anerkannt:

„Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit

sind besser als gar keine Arbeit, denn sie

erleichtern den Übergang von Arbeitslo-

sigkeit in Beschäftigung“. (Alle Zitate:

Schröder-Blair-Papier.)

In dem Papier „Dritte Wege – Neue

Mitte“ der Grundwertekommission der

SPD wurden Stärken und Schwächen

dieses Konzepts herausgearbeitet.

Begrüßt wurden die Absage an Protek-

tionismus, an die Deregulierung der

Arbeitsmärkte, an die „Umorientierung

des strukturell dem Industriezeitalter

verpflichteten Wohlfahrtsstaates mit

seiner sozial ungerechten Bevorzugung

der Mittelschichten auf die wirklich

Bedürftigen“ und an die individuelle Ver-

antwortlichkeit für „Bildung, Ausbildung

und Lernen“. Kritisch wurden vor allem

folgende Punkte angemerkt:

• Ein politischer Gestaltungswille

gegenüber den „zyklisch instabilen

und demokratisch nicht legitimier-

ten Marktkräften“ sei nicht er-

kennbar.

• Es werde darauf verzichtet, das Steu-

ersystem auch zur Umverteilung zu

nutzen.

• Die Flexibilisierung des Arbeits-

markts benachteilige ältere Arbeit-

nehmer und schwäche die Verhand-

lungsposition der Gewerkschaften.

• Die Reduktion sozialstaatlicher Lei-

stungen auf wirklich Bedürftige lei-

ste Forderungen nach weiterem

Richard Stöss

14

Gerechtigkeit für die Bedürftigen

Page 17: perspektive21 - Heft 19

Sozialabbau Vorschub. Wenn näm-

lich die Mittelschichten nicht mehr

vom Sozialstaat profitierten, wür-

den sie auf weiten Abbau drängen,

weil dieser vor allem von ihren

Steuergeldern finanziert wird.

Dann fehle den politisch machtlo-

sen Armen ein wichtiger Bünd-

nispartner im Kampf um soziale

Gerechtigkeit.

Die Grundwertekommission be-

nannte vor allem folgende „erste

Schlussfolgerungen“ in Bezug auf

soziale Gerechtigkeit:

• „Sozial gerecht sind politische Maß-

nahmen, die gesellschaftliche In-

klusion fördern und soziale Exklu-

sion verhindern.“

• Soziale Ungleichheit sei nur hin-

nehmbar, wenn davon tendenziell

auch die unteren gesellschaftlichen

Schichten profitierten.

• Gerechtigkeit und Freiheit bilde-ten

keinen Gegensatz. Nur wer sozial

hinreichend abgesichert sei, könne

seine Freiheitschancen auch wirk-

lich nutzen.

• Soziale Gerechtigkeit bedeute glei-

che Freiheitschancen auch hinsicht-

lich der Mitwirkung an politischen

Entscheidungen und der Nutzung

kultureller Angebote. „Gerechtigkeit

verlangt die gleiche Würde aller

Menschen, unabhängig von ihren

Leistungen für die Gesellschaft.“

• Bestandteil der sozialen Gerech-

tigkeit sei auch eine gerechte Vertei-

lung der gesellschaftlich verfügba-

ren Arbeit.

• Soziale Ungleichheit sei gerecht-fer-

tigt, wenn dadurch Leistungen

gefördert würden, die allen zugute

kämen und daher auch „der freien

Zustimmung aller fähig sind“.

• Über die Verteilung der Lebens-

chancen dürften nicht in erster Linie

Märkte entscheiden, dies obliege

der Gesellschaft insgesamt.

• Der Sozialstaat sei nur dann legiti-

miert, wenn er prinzipiell von allen

Bürgern finanziert werde und seine

Leistungen potenziell allen Bürgern

zur Verfügung stünden.

• Die Reform des Sozialstaats ziele-

darauf ab, ihn „durch die stärkere

Betonung der Vorbeugung und die

Orientierung an echter Hilfe zur

Selbsthilfe effizienter zu machen

und damit seine Legitimations-

grundlagen neu zu festigen“.

Vergegenwärtigt man sich heute

noch einmal die Diskussionen von 1999,

dann herrscht der Eindruck vor, dass sie

zumeist auf hohem Niveau stattfanden.

Es gelang allerdings nicht, die Kontro-

verse als notwendigen, zukunftsorien-

tierten Selbstverständigungsprozess

der SPD in einer existenziellen Frage

deutscher Wirtschafts- und Sozialpolitik

zu kommunizieren. Das mag auch

SPD und soziale Gerechtigkeit

15

Page 18: perspektive21 - Heft 19

daran gelegen haben, dass einige

Akteure die Diskussion zur eigenen Pro-

filierung missbrauchten. Jedenfalls

skandalierten die Medien den Vorgang

als innerparteilichen Streit zwischen

„Traditionalisten“ und „Reformern“, die

SPD wurde als tief zerstritten, die Bun-

desregierung als handlungsunfähig

dargestellt. Der Berliner Parteitag

Anfang Dezember 1999 beendete das

„Sommertheater“ und damit gleichzei-

tig die (öffentliche) Diskussion über die

Grundwerte der Partei. Er erteilte den

Auftrag, das Grundsatzprogramm zu

überarbeiten und dabei die Grundwerte

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität

als „Maßstab und leitende Prinzipien

unserer Politik“ herauszustellen.

Inzwischen ist soziale Gerechtigkeit

fast schon ein Allerweltsbegriff gewor-

den, auf den sich alle politischen Rich-

tungen (auch der Rechtsextremismus)

beziehen. Wer sich auf soziale Gerech-

tigkeit beruft, wird feststellen, dass die

politische Konkurrenz es auch tut. Die

PDS bastelt an einem neuen sozialisti-

schen Grundsatzprogramm, in der CDU

kämpft die Christlich-Demokratische

Arbeitnehmerschaft gegen die Neo-

konservativen bzw. Neoliberalen für

mehr soziale Gerechtigkeit, und selbst

die FDP sorgt sich um die soziale Frage

in der Bundesrepublik. Welche Zielvor-

stellungen die Parteien mit sozialer

Gerechtigkeit verbinden – wenn sie

denn überhaupt welche damit verbin-

den –, erschließt sich der Öffentlichkeit

kaum. Die inflationäre Verwendung des

Begriffs trägt eher zu seiner Entwer-

tung bei. Der Eindruck verstärkt sich,

dass dies durchaus erwünscht ist.

Die Arbeit am neuen Grundsatzpro-

gramm der SPD zeitigte bislang kaum

sichtbare Erfolge. Die Grundwertekom-

mission leistete jedoch wichtige Vorar-

beiten. In ihrem Zwischenbericht an die

Grundsatzprogrammkommission vom

13. Juli 2001 vertrat sie die Auffassung,

dass der Grundwerteteil des Berliner

Programms „in seinen wesentlichen

Aussagen nicht revisionsbedürftig ist“.

Unter der Überschrift „Die neue

Gerechtigkeitsfrage“ setzte sie gleich-

wohl neue Akzente und knüpfte damit

an ihre Stellungnahme zum Schröder-

Blair-Papier an. Das Stichwort lautet

„begrenzte Ungleichheit“ oder auch

„gerechte Ungleichheit“:

„Eine differenzierte Gerechtigkeits-norm wäre eine solche, die gerechteGleichheiten und ungerechte Ungleich-

Richard Stöss

16

Gerechte Gleichheiten und ungerechte Ungleichheiten

Page 19: perspektive21 - Heft 19

5 Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, April 2001, Bundes-tagsdrucksache 14/5990, S. XV.

heiten unterscheidet. Gerechte Un-gleichheiten sind anzuerkennen, wennsie aus dem verschiedenartigen ge-brauch der Freiheit der Einzelnen undaus ihren unterschiedlichen Beiträgenzur Wohlfahrt der ganzen Gesellschaftfolgen. Die Gerechtigkeitsnorm musszugleich harte Grenzen für zulässigeUngleichheiten, beispielsweise für lei-stungslose Einkommen, Monopolge-winne oder Shareholder-value-Selbstbe-dienungsstrategien setzen.“ (Hv. i. O.)

Obwohl es an anderer Stelle in die-

sem Bericht heißt, „auch ein künftiger

Gerechtigkeitsbegriff darf Gerechtig-

keit nicht im Sinne einer Vergrößerung

der existierenden Ungleichheit von

Einkommen, Vermögen und Leben-

schancen interpretieren“, dürfte die

These von der gerechten Ungleichheit

so lange strittig sein, wie die „harten

Grenzen für zulässige Ungleichheiten“

nicht definiert sind. Denn die These

könnte dazu geeignet sein (und auch

dazu benutzt werden), eine weitere

Verschärfung der existierenden Un-

gleichheit zu rechtfertigen.

Und genau darin besteht das Pro-

blem. So richtig es ist, dass die SPD seit

ihrer Hinwendung zum demokratischen

bzw. freiheitlichen Sozialismus „Unter-

schiede in der Verteilung von Gütern

und Ressourcen … als legitim betrachtet,

so lange sie in einem spezifischen

Bedürfnis, Verdienst oder in Leistungs-

differenzen begründet und öffentlicher

Rechtfertigung fähig sind“, so trifft es

doch auch zu, dass „soziale Ausgren-

zung zugenommen und Verteilungsge-

rechtigkeit abgenommen hat“5, und

zwar auch in der Regierungszeit von

Rot-Grün. Soziale Ungleichheit wächst

kontinuierlich, und nichts spricht dafür,

dass es sich dabei um einen Vorgang

handelt, der „öffentlicher Rechtferti-

gung fähig“ ist, jedenfalls nicht bei den

Anhängern der SPD.

Die SPD befindet sich hier als linke

Volkspartei in einer schwierigen Lage.

Der Zwischenbericht der Grundwerte-

kommission charakterisiert das Di-

lemma so:

„Zu den politischen Voraussetzungenfür die Gewährleistung sozialer Sicher-heit gehört, dass der Sozialstaat auch derZustimmung großer Teile der Mittel-schichten bedarf. Weil die Vermeidungsozialer Exklusion die soziale und diepolitische Inklusion der Mittelklassen ver-langt, muss diese ein überzeugendesInteresse am Sozialstaat behalten.Bestimmte Milieus der sozialen Mitte –„Neues Bürgertum“ und das „NeueArbeitnehmer-Milieu“ – betonen aber

SPD und soziale Gerechtigkeit

17

Page 20: perspektive21 - Heft 19

eine differenzierende Leistungsorientie-rung als Forderung der Gerechtigkeit. Daspolitische Bündnis zur Sicherung desSozialstaats zwischen alten und neuenArbeitnehmern und den sozial orientier-ten Selbständigen sollte daher die Teil-perspektive einer bloß marktkritischenPolitik durch eine politisch gestaltendeGesamtperspektive ersetzen, in der sich

auch die neuen Mittelschichten mit ihrenökonomischen Interessen und Erfahrun-gen wieder erkennen können.“ (Hv. i. O.)

Zugespitzt formuliert: Bei der Defini-

tion von Gerechtigkeit, insbesondere bei

der Konkretisierung der zulässigen Un-

gleichheiten, sind auch die Bedürfnisse

der „neuen Mitte“ zu berücksichtigen.

Da – wie die Grundwertekommission

einräumt – die Gerechtigkeitsvorstel-

lungen der „neuen Mitte“ nicht iden-

tisch sind mit denen der „alten Arbeit-

nehmer“ (und auch nicht mit denen der

Armen!), bedarf es eines „Kontrakts“

zwischen den beteiligten Schichten, der

Interessen und Bedürfnisse gegenein-

ander abwägt. Ein derartiger Konsens

kann nur durch eine breite öffentliche

Diskussion über notwendige und

gerechte Zumutungen, Vergünstigun-

gen und Sicherheiten in langfristiger

Perspektive herbei geführt werden.

Damit sind wir wieder bei der

Agenda 2010 angelangt: Die Reform

des Sozialstaats krankt daran, dass

kein öffentlicher Diskurs über soziale

Gerechtigkeit stattgefunden hat und

folglich nicht einmal Umrisse eines

entsprechenden gesellschaftlichen

Konsenses erkennbar sind. Daher löst

die Agenda – mehr oder weniger

berechtigt – Unzufriedenheit und Pro-

test bei allen Beteiligten und Betroffe-

nen aus. Bislang lebte die politische

Klasse recht gut mit der Vieldeutigkeit

des Begriffs soziale Gerechtigkeit. Mit

der dramatischen Verschärfung der

Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise

und der Finanzierungskrise der öffent-

lichen Haushalte drängen die Bürger

auf Klarheit und Berechenbarkeit. Die

sozialdemokratische Wertegemein-

schaft befindet sich im Zustand der

Erosion und wird vor allem durch die

Autorität des Vorsitzenden und der

Angst vor einem Machtverlust zusam-

mengehalten. Inhaltlich fundierte

Identität ist Mangelware. Nicht nur die

Anhänger der SPD sondern alle Men-

schen wollen wissen, nach welchen

Kriterien die Politik entscheidet, wer in

welchem Umfang zur Sanierung des

Richard Stöss

18

Ein Gerechtigkeitsdiskurs ist notwendig

Page 21: perspektive21 - Heft 19

Sozialstaats herangezogen wird. Die

Politik muss ihre Entscheidungsgrund-

lagen darlegen, damit sich die Bürger

ein Urteil bilden, Vertrauen und Zuver-

sicht entwickeln und zustimmen kön-

nen. Die SPD kann ihre Kompetenz für

soziale Gerechtigkeit nur bewahren

(und erst recht nur verstärken), wenn

sie sich diesem Dialog stellt. Anderen-

falls brechen ihr die „alten Arbeitneh-

mer“ weg, und die „neue Mitte“ läuft

zur Union oder zu den Liberalen über.

SPD und soziale Gerechtigkeit

19

Richard Stöss,Dr. phil., Jahrgang 1944,

ist Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften

der Freien Universität Berlin.

Arbeitsschwerpunkte: Parteien-,Wahl- und Rechtsextremismusforschung.

Er ist Mitglied der Grundwertekommission des SPD-Landesverbands Brandenburg.

Page 22: perspektive21 - Heft 19
Page 23: perspektive21 - Heft 19

Es ist in der Bundesrepublik Deutsch-

land erst wenige Jahrzehnte her, da

konnte man hoffen, dass sich das

Thema „Armut“ im Rahmen der allge-

meinen Prosperitätsentwicklung quasi

von selbst erledigen würde: auch wenn

die Einkommens- und Vermögensver-

teilung schief war, so blieb für Wenig-

verdiener dennoch soviel übrig, dass

auch ihr Lebensstandard auf nie

gekannte Höhen stieg. Eine Gerechtig-

keitsdebatte fand daher allenfalls in

akademischen Zirkeln statt, für einen

breiten gesellschaftlichen Diskurs

fehlte das Problembewusstsein.

Das hat sich völlig verändert, auch

wenn diese Diskussion durch die Öf-

fentlichkeit einschließlich der Politik nur

zögernd aufgenommen wurde. Für den,

der sehen wollte, waren Warnsignale

bereits in den 80er Jahren erkennbar.

Das verspätete Handeln jetzt findet

daher unter mehrfach ungünstigen

Voraussetzungen statt. Die sich gegen-

seitig beeinflussenden Determinanten

lauten andauernde Konjunkturkrise –

hohe Arbeitslosigkeit – hoch defizitäre

öffentliche Haushalte – Globalisierung

– Zunahme der technologischen Ar-

beitslosigkeit – demographische Ent-

wicklung. Unter dem Druck dieser

Bedingungen müssen nun gleichzeitig

kurzfristige Reparaturen zum Zwecke

der Liquiditätssicherung in den sozia-

len Sicherungssystemen vorgenom-

men werden und langfristige Struk-

turreformen.

Dieses ehrgeizige Vorhaben krankt

zudem an der Tatsache, dass ein Koordi-

natenkreuz der Werte fehlt. Eine werte-

geleitete Diskussion ist mit einem auf

dem Sonderparteitag vom 1. Juni be-

schlossenen Leitantrag keineswegs er-

ledigt, sie wird von Sozialdemokraten

noch zu führen sein. Die Sozialdemo-

kratie ist in Gefahr, Wertebezug durch

technokratische Entscheidungen und

gekonnte PR zu ersetzen. Sie setzt

damit nicht nur Wählerstimmen, son-

dern auch politische Glaubwürdigkeit

auf´s Spiel. Eine Schwierigkeit wird

darin liegen, dass es nicht um eine phi-

losophische Begriffsdefinition gehen

kann – auf die man sich wohl relativ

einfach verständigen könnte, sondern

um einen alltagstauglichen Wertmaß-

stab. Wir müssen diese Debatte auch

deswegen führen, weil „soziale Gerech-

21

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländernvon Günter Baaske

Page 24: perspektive21 - Heft 19

tigkeit“ am ehesten den Sozialdemo-

kraten zugeordnet wird, wir ihn also

inhaltlich füllen müssen, damit er nicht

entwendet und verfremdet wird. Se-

mantik ist ja in der politischen Debatte

durchaus von Bedeutung. Und letztlich

müssen wir zeigen, dass sozialdemo-

kratische – d.h. an Verteilungsgerech-

tigkeit orientierte – Politik zukunfts-

fähig ist. Wenn Millionen gemäß den

Grundsätzen des Förderns und For-

derns von uns eine Integration in den

Arbeitsmarkt erwarten, dann ist dies

kein Thema, das durch bürgerschaftli-

ches Engagement und Charity beiseite

geschoben werden kann.

Evident ist jedenfalls der enge Zu-

sammenhang zwischen sozialer Ge-

rechtigkeit und Armut und evident ist

ebenfalls, dass „der Markt“ aus sich

heraus keine soziale Gerechtigkeit ver-

wirklicht. Dies kann, zumindest annä-

herungsweise, nur durch eine strikt am

Gemeinwohl orientierte sozialstaatli-

che Umverteilung geleistet werden.

Umverteilung ist jede staatliche Kor-

rektur der Primärverteilung, seien es

ausgleichende Unterstützungsleistun-

gen des Staates (Transfers), Subventio-

nen, Steuervergünstigungen, oder die

Gestaltung des Steuertarifs. Umver-

teilt worden ist in der Geschichte der

Bundesrepublik zweifellos viel, jedoch

nicht jede Umverteilung war und ist

am Gemeinwohl orientiert und nicht

immer sind die wirklich Bedürftigen

die Zielgruppe von Umverteilungen.

Vor allem aber ist zunehmend aus dem

Blick geraten, dass alles, was umver-

teilt wird, zuerst erwirtschaftet wer-

den muss und hohe sozialstaatliche

Leistungen ohne ausreichendes Wirt-

schaftswachstum an ihre Grenzen

stoßen.

Es stimmt immer noch: Nur mit viel

Energie ist der Aufholprozess der ost-

deutschen Länder gegenüber dem

durchschnittlichen Entwicklungsniveau

der westdeutschen Länder zu bewälti-

gen. Dabei muss uns klar sein: Politik

und Landesregierung können nur Rah-

menbedingungen herstellen und Hilfe

zur Selbsthilfe geben. Das Gelingen des

Prozesses hängt in hohem Maße davon

ab, ob es uns gelingt, den Menschen klar

zu machen, dass niemand ihnen eine

autonome Lebensplanung und die Ent-

scheidung über die Verwendung ihrer

knappen Lebenszeit abnehmen kann.

Materielle Armut, – verstärkt durch

soziale Ausgrenzung –, der Abstand zu

den Chancen derer, die sich alles leisten

können, ist in unserem reichen Land mit

seiner Tradition von Sozialstaat (West)

und Solidarität (Ost) schon schlimm

genug. Die schlimmste Form von Armut

jedoch, die mir allzu häufig begegnet,

ist die Armut an Mut, Kraft und Perspek-

tive. Als Sozial- und Arbeitsminister die-

ses Bundeslandes betrachte ich es als

Günter Baaske

22

Page 25: perspektive21 - Heft 19

eine meiner wichtigsten Aufgaben,

dagegen etwas zu tun.

Von innen betrachtet, relativiert sich

so manche Klage meiner Kabinettkol-

legen über den unerträglichen Konsoli-

dierungsdruck auf den Landeshaus-

halt. Ja, das Land Brandenburg ist arm.

Und deshalb gehöre ich zu denen, die

es für wichtig halten, jeden Landes-

euro dreimal umzudrehen und ihn

dann dort einzusetzen, wo er mutmaß-

lich für die Entwicklung dieses Ge-

meinwesens die größte Wirkung hat.

Den Konsens darüber müssen wir

innerhalb der Landesregierung stär-

ken. Viele unken, das könne doch nicht

funktionieren. Ich sage: Es muss; denn

sonst leidet die Landesregierung auf

Dauer und zunehmend an Armut hin-

sichtlich ihrer politischen Handlungs-

optionen.

Ich habe meine politische Lehre in

der Nachwendezeit in der Kommunal-

politik absolviert. Die Armut der Kom-

munalhaushalte – auch wenn sie nicht

alle Brandenburgischen Kommunen

gleichermaßen betrifft – bedrückt

mich. Enge Spielräume der Kommunen

bei der Ausgestaltung der Daseinsvor-

sorge: Das ist m.E. die relevante und

bedrückende Schnittstelle zwischen

öffentlicher und privater Armut. Wenn

Kommunen ihren Aufgaben wegen

Finanzknappheit nicht gerecht werden

können, dann können sie Prozesse

sozialer Ausgrenzung nicht aufhalten.

Lebens- und Standortqualität sinken,

weil die kommunalen Investitionen in

Erhalt und Ausbau der wirtschaftsna-

hen und sozialen Infrastruktur zurück-

gehen. Wer kann, zieht weg, dahin wo

es mehr und bessere Arbeitsplätze und

mehr Lebensqualität gibt. Pro Einwoh-

ner hatten Ostkommunen 2002 nur 43

% der Steuereinnahmen einer durch-

schnittlichen Westkommune. Die wirt-

schaftliche Lage in Brandenburg ist

unbefriedigend. Gefordert ist daher

nicht nur die Marktwirtschaft, sondern

auch eine aktive Wirtschaftspolitik.

Wie stellt sich die Situation der Men-

schen im Land Brandenburg dar, welche

Rolle spielt Armut? In einer reichen

Gesellschaft – und das ist Deutschland

nach wie vor – ist das Gesicht der Armut

natürlich ein völlig anderes, als in Län-

dern der 3. Welt. Gleichwohl würde

jeder Arme in Deutschland mit Recht

einen solchen Vergleich für nicht akzep-

tabel halten. Nach der Definition des

Rates der Europäischen Gemeinschaft

von 1984 gelten Personen, Familien und

Was heißt es, arm zu sein

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

23

Page 26: perspektive21 - Heft 19

Gruppen als arm, die über so geringe

materielle, kulturelle und soziale Mittel

verfügen, dass sie von der Lebensweise

ausgeschlossen sind, die in dem Staat,

in dem sie leben, als Minimum an-

nehmbar ist. Nach dieser Definition ist

die Verfügbarkeit von materiellen Res-

sourcen zwar ein zentraler Aspekt,

jedoch wird Armut zu Recht als Aus-

druck einer komplexen Lebenslage an-

gesehen. Armut ist ebenso wie Reich-

tum eine relative Größe, die an einem

Durchschnittswert des verfügbaren Ein-

kommens gemessen wird. Von relativer

Armut spricht man, wenn das Einkom-

men 60 % bzw. 50 % des Durchschnitts-

einkommens unterschreitet. Bei einem

verfügbaren Einkommen von weniger

als 40 % des Durchschnittseinkommens

beginnt die strenge Armut. Legt man

das durchschnittliche Nettoeinkommen

in den neuen Bundesländern als Maß-

stab an, dann gelten – je nach Berech-

nungsart – auf dem 60 % Niveau 7,9 %-

11,9 % als relativ arm, auf dem 50 %

Niveau 2,8 %-4,8 % (Daten 1998 –

1. Armuts- und Reichtumsbericht der

Bundesregierung 2001). In den alten

Bundesländern, gemessen am durch-

schnittlichen westdeutschen Nettoein-

kommen liegen die Armutsquoten

deutlich höher.

Das mittlere Nettoeinkommen in

Ostdeutschland betrug 1998 ca. 75 %

des westdeutschen – mit einer Tendenz

zur Vergrößerung des Abstands. Es soll

an dieser Stelle aber darauf hingewie-

sen werden, dass das Bruttoinlandspro-

dukt pro Einwohner im Land Branden-

burg im Jahr 2001 lediglich 65 % des

gesamtdeutschen Wertes betrug. Allein

daran wird deutlich, in welch starkem

Maße die Einkommen von Transfers von

West nach Ost abhängen. Hinsichtlich

des Nettovermögens ist der Abstand

der neuen Bundesländer noch unver-

gleichlich größer – das durchschnittli-

che Vermögen der Haushalte in den

neuen Bundesländern belief sich 1998

lediglich auf 35 % des Betrages in den

alten Bundesländern, und damit haben

viele Menschen deutlich weniger oder

keine Möglichkeiten, Einkommensaus-

fälle aus Vermögen zu kompensieren.

Aufgrund der anhaltend hohen

Arbeitslosigkeit in den neuen Bundes-

ländern und eines wachsenden Nied-

riglohnsektors sind die Unterschiede

beim Bruttoeinkommen von Arbeit-

nehmern und Selbständigen („Mark-

teinkommen)“ zwar deutlich größer

als in Westdeutschland, durch die ein-

fließenden Transferleistungen ist aber

das, was der Einzelne schließlich in der

Tasche hat, gleichmäßiger verteilt als

in den alten Bundesländern. Nach den

Brandenburgischen Sozialindikatoren

verfügten im Jahr 2000 3,9 % der

Haushalte über ein Nettoeinkommen

von unter 511 Euro, wobei der Anteil mit

Günter Baaske

24

Page 27: perspektive21 - Heft 19

4,2 % im äußeren Entwicklungsraum

deutlich höher lag als im engeren Ver-

flechtungsraum mit 3,4 %. Festzuhal-

ten ist, dass das Niveau relativer

Armut in den neuen Bundesländern

gegenüber dem Bundesdurchschnitt

seit 1993 gesunken ist, d.h. es hat ein

Aufholen stattgefunden. Allerdings ist

auch festzustellen, dass der ausglei-

chende Effekt des Umverteilungssy-

stems zugunsten des unteren Randes

der Gesellschaft schwächer wird – die

anhaltende Arbeitslosigkeit bei gleich-

zeitig sinkenden Maßnahmen der akti-

ven Arbeitsmarktförderung ist hierfür

sicher eine Ursache. Die Chancen von

ArbeitnehmerInnen und Selbständi-

gen, aus der untersten Primäreinkom-

mensklasse in die nächst höhere auf-

zusteigen, sind gut, wenn auch mit sin-

kender Tendenz – die Mobilität lag

1998 bei 88,3 % , 4 % niedriger als 1993.

Wenn man relative Armut am Bezug

von Hilfe zum Lebensunterhalt nach

BSHG festmacht, so ist die Zahl der

Empfänger von 1994 bis 2001 gestiegen

– mit Sprüngen jeweils 1996/1997 (wirt-

schaftlicher Einbruch in den neuen Bun-

desländern) und 2000/2001 (Herunter-

fahren der öffentlich geförderten

Beschäftigung). Im Jahr 2001 bezogen

2,5 % der BrandenburgerInnen Hilfe

zum Lebensunterhalt, Damit lag die

Quote in Brandenburg unter der der

neuen Bundesländer insgesamt (2,8 %)

als auch unter der Quote der alten Bun-

desländer (3,4 %). Die Entwicklungs-

trends laufen jedoch in die entgegen

gesetzte Richtung – während in den

alten Bundesländern die Sozialhilfe-

quote sinkt, steigt sie in den neuen

Bundesländern an, mit entsprechenden

Konsequenzen für die kommunalen

Haushalte und letztlich die Handlungs-

fähigkeit der Kommunen. Die Ausgaben

der örtlichen Träger der Sozialhilfe für

Hilfe zum Lebensunterhalt insgesamt

sind von 117,4 Mio. Euro in 1994 auf

456,9 Mio. Euro in 2001 angestiegen,

d.h. von 46 auf 176 Euro pro Kopf der

Bevölkerung. Allerdings weisen auch die

Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt

eine vergleichsweise hohe Mobilität auf

– ca. 50 % der Arbeitslosen, die ergän-

zend Sozialhilfe bezogen, benötigten

diese weniger als ein Jahr, weitere 35 %

bezogen Sozialhilfe zwischen einem

und drei Jahren. Die letztlich problema-

tische Gruppe sind die 15 %, die 3 Jahre

und länger in der Sozialhilfe verbleiben

und deren Chancen, wieder auf eigenen

Füßen zu stehen, damit drastisch sin-

ken. Das eigentlich alarmierende ist

jedoch, dass im Land Brandenburg in-

zwischen 5,2 % aller Kinder und Ju-

gendlichen unter 15 Jahren von Sozial-

hilfe abhängig sind. Ein Drittel aller

Sozialhilfeempfänger sind Kinder. 2001

betraf dies 21.120 Kinder und Jugendli-

che, knapp 6.000 mehr als 1994. in

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

25

Page 28: perspektive21 - Heft 19

besonders hohem Maße sind Alleiner-

ziehende Mütter von Sozialhilfe abhän-

gig. Ihre Zahl wuchs in Brandenburg im

gleichen Zeitraum von 5.553 auf 8.562

an. Demgegenüber beträgt die Sozial-

hilfequote bei den 15-65-Jährigen 2,0 %

und bei den über 65-Jährigen lediglich

0,46 % (zum Vergleich: 1,36 % in den

alten Bundesländern). Der eigentliche

gesellschaftliche Skandal der Sozialhilfe

sind somit die Kinder. Über einen länge-

ren Zeitraum oder dauerhaft von Sozial-

hilfe leben zu müssen, schafft einerseits

ein Gefühl des Ausgeschlossenseins

vom Leben der Allgemeinheit, bringt

andererseits auch den Zwang (und die

Versuchung) mit sich, sich darin einzu-

richten. Insbesondere in den größeren

Städten entstehen entsprechende „So-

zialhilfemilieus“. Im Hinblick auf er-

wachsene arbeitsfähige Sozialhilfeemp-

fänger und Langzeitarbeitslose hat sich

inzwischen die Erkenntnis durchge-

setzt, dass Sozialhilfeleistungen allein

zur Verbesserung ihrer Chancen, auf

eigenen Füßen zu stehen, wenig beitra-

gen – eben wegen der materielle Armut

oft begleitenden kulturellen und sozia-

len Armut. Fördern und rechtzeitig For-

dern ist unerlässlich, damit keine dauer-

hafte Abhängigkeit von Sozialleistun-

gen entsteht. Für Kinder und Jugendli-

che verhält sich dies ähnlich. Eine der

wichtigsten Aufgaben sozialdemokrati-

scher Politik sollte es sein, für diese Kin-

der mehr Chancengleichheit und damit

auch mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Nach der PISA-Studie ist von allen 32

Teilnehmerstaaten das deutsche Bil-

dungssystem am wenigsten geeignet,

für sozialen Ausgleich zu sorgen. Das ist

nicht nur ungerecht, sondern auch eine

Verschleuderung von potenziellem Hu-

mankapital, das wir uns angesichts un-

serer demographischen Entwicklung

weniger denn je leisten können. Wirt-

schaftliches Wachstum hängt ganz ent-

scheidend von der Qualifikation, der

Bereitschaft zur Fortbildung und dem

Leistungswillen der Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer ab. Dies muss recht-

zeitig gelernt werden. Insofern muss

bereits die Vorschulerziehung gerade

für die Kinder, bei denen im Elternhaus

nicht die Voraussetzungen dafür beste-

hen, den Grundstein für mehr Chancen-

gleichheit legen. Die materiellen Vor-

aussetzungen sind in den neuen Bun-

desländern, wo für faktisch jedes Kind

ein Kita-Platz bereitsteht, deutlich bes-

ser als in den alten. Wir müssen sie

jedoch dafür qualifizieren, sich zu akti-

ven Einrichtungen des sozialen Aus-

gleichs für Kinder zu entwickeln.

Eine gute Nachricht gibt es: Keine

Altersgruppe in den neuen Bundeslän-

dern hat eine so geringe Sozialhilfe-

dichte wie die der Seniorinnen und

Senioren (s.o.) In Brandenburg bezogen

Ende 2000 lediglich 1.846 über 65-

Günter Baaske

26

Page 29: perspektive21 - Heft 19

Jährige Hilfe zum Lebensunterhalt.

Diese geringe Zahl ist auf die vergleichs-

weise hohen Renteneinkommen auf

Grund durchgängiger Erwerbs-

biografien der Seniorinnen und Senio-

ren zurückzuführen. In den neuen Län-

dern verfügten im Jahr 1995 bei den

über 65-Jährigen die Ehepaare über ein

monatliches Nettoeinkommen von

durchschnittlich 3.097,– DM. Das der

allein stehenden Männer belief sich auf

1.992,– DM und der allein stehenden

Frauen auf 1.779,– DM. Die durchschnitt-

lich verfügbaren Versichertenrenten,

d.h. die tatsächlich ausbezahlten Ren-

ten, in den neuen Ländern lagen zum

1.Juli 2002 sowohl bei den Männern mit

rund 1.028 Euro als auch bei den Frauen

mit rund 642 Euro über den in den alten

Ländern mit rund 986 Euro für Männer

und rund 476 Euro für Frauen. Die Ein-

kommenssituation älterer Menschen in

den neuen Ländern wird wesentlich von

der Rentenzahlung aus der gesetzlichen

Rentenversicherung bestimmt, da diese

nahezu die einzige Einkommensquelle

ist, während in den alten Ländern

betriebliche Altersversorgung, längerfri-

stige Zusatzversorgung im öffentlichen

Dienst und Beamtenversorgung sowie

private Lebensversicherungen die Ren-

teneinkünfte noch ergänzen oder gar

ersetzen. Für die Menschen in den

neuen Ländern wird die Rente aus der

gesetzlichen Rentenversicherung auch

in den nächsten 25 Jahren nahezu die

einzige Einkommensquelle bleiben.

Für die Zukunft wird insbesondere in

den neuen Ländern durch Brüche in

den Erwerbsbiografien oder langfri-

stige Folgen der Arbeitslosigkeit mit

zunehmender Altersarmut gerechnet.

Allerdings zeigt eine vom Verband

Deutscher Rentenversicherungsträger

und dem damaligen Bundesministe-

rium für Arbeit und Sozialordnung in

Auftrag gegebene Untersuchung

„Altersvorsorge in Deutschland 1998 –

AVID ‘98“, dass es auch bei den heute

40-60-Jährigen nicht zu einer überpro-

portionalen Armut kommen wird.

Dies muss auch nicht geschehen,

wenn die Politik den Spielraum – den

sie noch hat – vernünftig nutzt und die

Alterssicherungssysteme auf die – vor

allem demografischen – Herausforde-

rungen der Zukunft ausrichtet. Der

Altersquotient – das Verhältnis der

Gruppe der über 60-Jährigen zur

Gruppe der 20 bis unter 60-Jährigen

und damit in etwa das Verhältnis von

Personen im Rentenalter zu Personen

im erwerbsfähigen Alter – wird in

Brandenburg im Jahr 2050 bei 97,5 lie-

gen und damit im Bundesvergleich am

ungünstigsten sein. Auf eine Person im

erwerbsfähigen Alter wird dann unge-

fähr eine Person ab 60 Jahren kommen

(prognostizierter Bundesdurchschnitt

des Altersquotienten: 68,0).

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

27

Page 30: perspektive21 - Heft 19

Ohne eine grundlegende Reform der

Alterssicherung könnte hier eine Zeit-

bombe ticken. Für die neuen Länder

sind bei den Überlegungen zur Neuju-

stierung der Altersvorsorge wegen die-

ser (bevölkerungs-)strukturellen Unter-

schiede folgende Aspekte wichtig:

Es ist richtig, an der umlagefinan-

zierten Rentenversicherung als we-

sentlicher Säule der Altersvorsorge

festzuhalten, da sie sich im Grundsatz

– und bei ihrer Überleitung auf die

neuen Länder gerade auch dort –

bewährt hat. Sie muss jedoch den

demografischen Veränderungen ange-

passt werden. Dazu muss gehören, das

tatsächliche Renteneintrittsalter her-

aufzusetzen. Es müssen dann jedoch

auf dem Arbeitsmarkt die Vorausset-

zungen geschaffen werden, ältere

Arbeitnehmer auch zu beschäftigen.

Das bedeutet eine Umkehr des derzei-

tigen Trends. Dazu wird weiter gehö-

ren, das Versicherungsprinzip den ge-

brochenen Erwerbsbiografien anzu-

passen. Erste Schritte wurden bereits

getan, geringfügige Beschäftigung

und arbeitnehmerähnliche Selbstän-

digkeit sind versicherungspflichtig ge-

worden. Im Zusammenhang mit den

aktuellen Überlegungen zur Zusam-

menlegung von Arbeitslosenhilfe und

Sozialhilfe wird diskutiert, inwieweit

aus den künftigen Leistungen auch

Beiträge zur Altersvorsorge entrichtet

werden, um Lücken in den Erwerbsbio-

grafien zu vermeiden. Gerade für die

neuen Länder ist dies ein wichtiger

Aspekt.

Die in den alten Bundesländern

neben der umlagefinanzierten gesetz-

lichen Rentenversicherung schon wei-

ter verbreiteten zusätzlichen Formen

der Altersvorsorge, wie betriebliche Al-

tersvorsorgesysteme und die private

Altersvorsorge, müssen in Umfang und

Bedeutung ausgebaut werden. Mit der

„Riesterrente“ wurde bereits ein erster

wichtiger Schritt in diese Richtung

getan. Die Kommission für die Nach-

haltigkeit in der Finanzierung der So-

zialen Sicherungssysteme hat zur Wei-

terentwicklung dieser Instrumente

diskussionswürdige Anstöße gegeben.

Aber auch hier es die wichtigste Auf-

gabe der Politik, die Rahmenbedingun-

gen für wirtschaftliches Wachstum zu

verbessern, für mehr Beschäftigung zu

sorgen und damit den Menschen zu

ermöglichen, ein Einkommen zu erzie-

len, aus dem sie ihren Vorsorgebeitrag

leisten können. Je mehr Menschen

erwerbstätig sind und daraus ein aus-

kömmliches Einkommen beziehen,

desto mehr Menschen werden auch

mit ihren Beiträgen – in umlagefinan-

zierten wie in kapitalbildenden Syste-

men – zur Altersvorsorge beitragen.

Hier liegt in den neuen Ländern mit

ihrer hohen Erwerbslosenquote ein

Günter Baaske

28

Page 31: perspektive21 - Heft 19

großes Stück Arbeit vor uns. Nur wenn

es gelingt, die Weichen richtig zu stel-

len und die Altersvorsorgesysteme so

umzustrukturieren, dass sie den Her-

ausforderungen der Zukunft gewach-

sen sind, dann wird den Menschen

auch künftig eine auskömmliche

Altersversorgung gewährleistet sein.

Altersarmut wird – wie heute – eine

Ausnahmeerscheinung bleiben und

die zusammen mit der Riesterrente

eingeführte soziale Grundsicherung

wird nicht zum Regelfall, sondern nur

in Ausnahmefällen zur wirtschaftli-

chen Sicherung des Lebensabends in

Anspruch genommen werden müssen.

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

29

Wesentliche Auswirkungen auf die

soziale Lage in den neuen Bundeslän-

dern hat neben der Massenarbeitslosig-

keit der wachsende Niedriglohnsektor.

Niedrige Löhne, das zeigt das in Bran-

denburg mit geringem Erfolg durch-

geführte soziale Experiment „Mainzer

Modell“, schaffen weder hier noch in

anderen Regionen der Republik zusätz-

liche Arbeitsplätze; zudem ist die Lohn-

spreizung nach unten ja bereits erheb-

lich. Hier fehlt nicht nur ar-

beitsmarktpolitische und ökonomische

Logik. Wenn man denn für mehr Akzep-

tanz von niedrigen Einstiegslöhnen sor-

gen wollte, dann müsste man den

Menschen auch aufzeigen können, wie

sie sich durch Kompetenz und Engage-

ment Stück für Stück hocharbeiten

können. Dafür fehlen uns – gerade den

auf Solidarität getrimmten Ossis – die

Tellerwäscher-Gene und der Politik die

Konzepte. Dass ein nicht unerheblicher

Teil der Gesellschaft zu geringen Ver-

diensten arbeitet, ist dann erträglich,

wenn die Chance des Durch- und Auf-

stiegs besteht. (Die Debatte um die

working poor in USA zeigt übrigens

deutlich, dass in der Heimat der Teller-

wäscher die Aufstiegschancen längst

ein Gründerväter-Mythos geworden

sind.) Die durchaus vorhandene, aber

noch nicht ausreichende Förderung

individueller Berufskarrieren stößt auf

ihre Grenzen da, wo statusbewusste

Chancenreiche ihre Position gegenüber

Newcomern verteidigen.

Der Niedriglohnsektor

Page 32: perspektive21 - Heft 19

Mit unserer qualifizierten Berufsaus-

bildung im dualen System vermitteln

wir nicht nur Kenntnisse und Fertigkei-

ten. Wir vermitteln auch die Identifika-

tion junger Menschen mit qualifizier-

ten Berufsbildern, ein berufsbezogenes

Selbstbewusstsein und Ansprüche an

den zukünftigen ausbildungsadäqua-

ten Arbeitseinsatz, die wir hier im Land

allzu oft enttäuschen müssen. Alterna-

tiven zur Abwanderung müssen wir

bieten. Wir erproben gegenwärtig in

Modellen, auf welche Weise dies mög-

lich ist.

Mit unserer wirtschaftsnah ausge-

richteten Arbeitsmarktpolitik sind wir

in Brandenburg nach wie vor auf dem

richtigen Weg. Wir investieren damit in

Köpfe, nicht Maschinen. Und es gelingt

zunehmend, Unternehmer davon zu

überzeugen, dass nicht eine Minimie-

rung des Personaleinsatzes und/oder

der Lohnsumme die längerfristige Exi-

stenz der Unternehmen sichert, son-

dern ein umsichtiges, flexibel auf

Markterfordernisse reagierendes und

strategisch planendes Management

und gut qualifizierte Belegschaften.

Das ist ein wichtiger und – wie ich von

Rückmeldungen von Unternehmern

weiß – funktionierender Beitrag zum

Wirtschaftswachstum in Brandenburg.

Klar, es tut weh, wenn nicht nur das

scheue Reh des Kapitals anderswo wei-

den geht, sondern auch unsere Fach-

kräfte ihre Chancen woanders realisie-

ren, gleichwohl ist eine leistungsfähige

Bildungs- und Ausbildungslandschaft

ein wirtschaftliches Pfund, mit dem

wir wuchern können, wenn denn der

Dialog zwischen den für Bildung und

Ausbildung zuständigen Institutionen

und Trägern mit den Qualifikationen

nachfragenden Unternehmen klappt.

Dies ist eins meiner wichtigen politi-

schen Handlungsfelder.

Für mehr Beschäftigung in Branden-

burg brauchen wir nicht nur eine erfolg-

reiche(re) Wirtschaftspolitik, sondern

auch funktionierende Arbeitsmärkte.

Dank „Hartz“ steht die Bundesanstalt

für Arbeit in dieser Hinsicht unter

einem erheblichen Erfolgsdruck. Schnel-

ler und passgenauer vermitteln, latente

Personalbedarfe aufspüren, durch redu-

zierte Einstellungsrisiken und im Regel-

fall möglichst ohne Lohnkostenzu-

schüsse die Einstellungsbereitschaft der

Arbeitgeber erhöhen: dass auf diesem

Gebiet zentrale Dienstleistungsaufga-

ben der Bundesanstalt für Arbeit liegen,

wurde zu lange ignoriert. Für die Neu-

ausrichtung der BA muss auch die Lan-

despolitik Akzeptanz schaffen. Gleich-

zeitig ist die Landesarbeitsmarktpolitik

– in Kooperation mit anderen Ressorts –

Günter Baaske

30

Qualifizierung und Arbeit

Page 33: perspektive21 - Heft 19

weiterhin Partner der Arbeitsämter in

der Ausrichtung aktiver Arbeitsförde-

rung und Qualifizierungspolitik auf Ziel-

gruppen, auf die Entwicklung und den

Erhalt sozialer und wirtschaftsnaher

Infrastruktur.

Es nicht zu übersehen: Der Arbeits-

markt hier im Osten – und nicht nur hier

– ist in Unordnung geraten. Viele Men-

schen erzielen Einkommen, indem sie

ihre Arbeitskraft schwarz vermarkten.

Sie handeln wie Unternehmer und

Unternehmerinnen, trauen sich aber

eine richtige Existenzgründung offenbar

nicht zu. Der vermutliche Umfang der

Schwarzarbeit birgt enormen wirt-

schaftlichen und sozialen Sprengstoff

und berührt natürlich auch die Lei-

stungsfähigkeit der sozialen Sicherungs-

systeme. Das Risiko erwischt zu werden

als Anbieter und als Kunde muss steigen

und wir müssen nicht nur die Hürden für

Gründerinnen und Gründer, die den

Marktzugang erschweren, absenken,

sondern Existenzgründungen aktiv för-

dern. Die „Ich-AG“ ist ein guter Ansatz.

Den grundsätzlich richtigen Prozess

der Zusammenlegung von Arbeitslosen-

hilfe und Sozialhilfe begleite ich nicht

ohne Sorge. Richtig ist, das System in

Richtung auf mehr Gerechtigkeit und

Effizienz zu reformieren. Problematisch

ist auch hier wieder, dass wir die Reform

unter hohem Einspardruck durchführen.

Wir reduzieren die – in der Summe

erheblichen, aber im Einzelfall geringen -

Transfereinkommen von erklärter-

maßen „Bedürftigen“ und realisieren

Kaufkraftverluste überproportional in

den wirtschaftlich schwachen ostdeut-

schen Ländern. Da muss die Frage zuläs-

sig sein, wie die Einsparung verwendet

wird. Damit mehr Beschäftigungsange-

bote für Langzeitarbeitslose entstehen,

brauchen wir Wirtschaftswachstum und

erweiterte finanzielle Handlungsspiel-

räume unserer Kommunen. Wenn die

Einsparungen an Sozialhilfe bei den

Kommunen verbleiben und hier eine

zusätzliche investive Nachfrage auslö-

sen, scheint es mir vertretbar.

Richtig an der Reform von Arbeitslo-

senhilfe und Sozialhilfe ist, dass wir

Ansprüche an die Allgemeinheit – an

die Solidargemeinschaft der Arbeitslo-

senversicherung ebenso wie an die Ge-

meinschaft der Steuerzahlenden – neu

orientieren. Bislang reichte für arbeits-

fähige Erwerbslose die abstrakte Ver-

fügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Zu-

künftig gibt es keine Leistung mehr

ohne eine angemessene Gegenleis-

tung. Es wird vielerlei Gelegenheiten

geben, dass Erwerbsfähige ihre Arbeits-

bereitschaft unter Beweis stellen. Wir

müssen ihnen – insbesondere durch

eine vernünftige kommunale Beschäf-

tigungsförderung – die Möglichkeit

geben, sinnvolle Beiträge zum Gemein-

wohl zu leisten.

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

31

Page 34: perspektive21 - Heft 19

Ich lehne es grundsätzlich ab, ökono-

mische Effizienz und soziale Gerechtig-

keit als zwei sich ausschließende Prin-

zipien zu betrachten. Allerdings fallen

sie auch nicht automatisch zusam-

men, es bedarf der Ausgestaltung. Die

laufende Steuerreform bietet ein an-

schauliches Beispiel dafür.

Da unsere Steuertarife progressiv

gestaltet sind, korrigieren sie natürlich

teilweise die primäre Einkommensver-

teilung: 54 % der gesamten Lohn- und

Einkommenssteuer werden von den

obersten 10 % der Einkommensemp-

fänger aufgebracht.

Die bisherigen Schritte der Steuerre-

form haben über 70 Ausnahmerege-

lungen und Vergünstigungen gestri-

chen oder eingeschränkt, die überwie-

gend Spitzeneinkommen begünstigt

hatten. Die unmittelbaren Entla-

stungseffekte für die Privaten wurden

allerdings teilweise kompensiert durch

Erhöhungen der Sozialabgaben. Auch

von daher sind Reformen der Sozialsy-

steme notwendig, damit weitere

Steuerentlastungen möglichst unein-

geschränkt durchschlagen.

Die nächsten Stufen der Steuerre-

form werden in erster Linie unter kon-

junkturpolitischen Aspekten disku-

tiert, nämlich als Ankurbelung der lah-

menden Binnennachfrage, die durch

das Gesamtvolumen von etwa 25 Milli-

arden € wohl in der Tat einen kräftigen

Schub bekommen wird. Erfreulicher

Weise fallen hier auch noch ökonomi-

sche Wirkung und soziale Gerechtig-

keit zusammen: sowohl die Senkung

des Eingangssteuersatzes von heute

19,9 % auf das historische Tief von 15 %,

als auch die Anhebung des Grundfrei-

betrages von 7235 auf 7664 € betreffen

niedrige Einkommen, die ihr gesamtes

Einkommen konsumieren müssen. Die

prozentuale Entlastung ist bei gerin-

gen Einkommen am größten.

Die ebenfalls vorgesehene Senkung

des Spitzensteuersatzes ist auch kon-

junkturpolitisch suboptimal, da hohe

Einkommen nicht nur für Konsum,

sondern auch für Ersparnis verwendet

werden, eine zusätzliche Steuerentla-

stung hier also wohl eher zu einer

Erhöhung der Sparquote führt.

Überdies ist eine zu starke Umvertei-

lung vom Staat zu den privaten Haus-

halten problematisch. Nur der Reiche

kann sich einen armen Staat leisten!

Günter Baaske

32

Steuerreform – Erhöhung der wirksamen Nachfrage

Page 35: perspektive21 - Heft 19

Armut ist kein gottgewolltes Schick-

sal, wir können und wollen etwas

dagegen tun. Aus meiner Sicht geht es

dabei hauptsächlich um 3 Punkte:

� Der beste Schutz vor Armut ist

Erwerbsarbeit. Dem brandenburgi-

schen Arbeitsminister muss nie-

mand erzählen, wie mühsam das ist.

Ich bleibe trotzdem dran.

� Wir müssen unsere sozialen Siche-

rungssysteme zukunfts- und

armutsfest machen. Da haben wir

m.E. die ersten Schritte auf einem

richtigen Weg getan, aber der

schwierigere Teil der Strecke liegt

noch vor uns.

� Wir werden unser Handeln auch künf-

tig unter den Leitstern „soziale

Gerechtigkeit“ stellen und wissen da-

bei, dass soziale Gerechtigkeit heute

vielfach differenziert ist: zwischen Rei-

chen und Armen, zwischen Arbeits-

platzbesitzern und Arbeitslosen, zwi-

schen Frauen und Männern, zwischen

Alten und Jungen; und das betrachtet

nur die nationale Dimension.

Die Frage, ob und wie wir diese Polezusammenbringen, entscheidet we-sentlich über unsere Zukunftsfähig-keit. Damit meine ich zwar zunächstdie neuen Bundesländer, aber daswirkt natürlich auch in Richtung alteBundesländer.

Zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern

33

Zusammenfassung

Günter Baaske,Minister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg.

Page 36: perspektive21 - Heft 19
Page 37: perspektive21 - Heft 19

Der vorliegende Beitrag geht der

Frage nach, ob und inwieweit die

sozialdemokratischen Parteien in

Dänemark, Deutschland, Frankreich,

Großbritannien, den Niederlanden

und Schweden ihre Programmatik

und Regierungspolitik in den 90er

Jahren neu zu bestimmen gesucht

haben. Im Fokus der Untersuchung

stehen die Politikfelder Fiskal-, Sozial-

und Arbeitsmarktpolitik, in denen

aufgrund der Herausforderungen der

Globalisierung und der Europäischen

Integration die traditionellen Ziele

der Sozialdemokratie wie Umvertei-

lung, kollektiv organisierter Sozial-

schutz und Vollbeschäftigung unter

Druck geraten. Findet länderübergrei-

fend ein Kurswechsel sozialdemokra-

tischer Politik statt, der darauf gerich-

tet ist, durch einen Abbau staatlicher

Leistungen und den Rückgang staat-

licher Interventionen die Marktkräfte

zu stärken? Haben die Sozialdemo-

kratien trotz unterschiedlicher Bedin-

gungen vergleichbare Antworten

gegeben? Lässt sich eine gemein-

same Politik der Markorientierung

mit ähnlichen Politikinstrumenten

erkennen? Untersucht werden zum

einen die Inhalte der jeweils umge-

setzten Politik, zum anderen die Stra-

tegie, mit der sozialdemokratische

Regierungen diese Politik durchzu-

setzen versuchten. Am Ende des Bei-

trages werden Konvergenz und Diver-

genz sozialdemokratischer Reform-

politik aufgezeigt und erklärt, warum

die sechs Länder auf dem Weg von

wirtschafts- und sozialpolitischen Re-

formen so unterschiedlich weit vor-

angekommen sind.

35

SozialdemokratischeReformpolitik in Europa1

von Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

1. Einleitung

1 Der Beitrag basiert auf bisherigen Ergebnissen des an der Universität Heidelberg durchgeführten DFG-Forschungs-projektes „Sozialdemokratische Antworten auf integrierte Märkte – Dritte Wege im westeuropäischen Vergleich“unter der Leitung von Prof. Wolfgang Merkel (http://www.dritte-wege.uni-hd.de).

Page 38: perspektive21 - Heft 19

2.1 Großbritannien (ab 1997)Vor der Regierungsübernahme hatte

Labour einen weiten programmati-

schen Reformweg zurückgelegt. Dieser

radikale Reformprozess hin zu einem

ideologiefreien Pragmatismus unter

den Parteiführern Kinnock, Smith und

schließlich Tony Blair fand 1995 seinen

symbolischen Endpunkt mit der Neu-

formulierung der Clause IV.2

Eines der Kernthemen im Wahlkampf

1997 war die Steuer- und Haushalts-politik. Die Haushaltskonsolidierung

spielte eine dominierende Rolle, ver-

bunden mit dem Versprechen, zu die-

sem Zweck nicht auf Steuererhö-

hungen zurückzugreifen. New Labour

hatte sich für die ersten beiden Jahre

an die Haushaltspläne der konservati-

ven Vorgängerregierung gebunden und

setzte die Konsolidierung konsequent

um.3

Steuerliche Entlastungen4

wur-

den durch die Abschaffung von Steuer-

vergünstigungen sowie die Erhöhung

indirekter Steuern gegenfinanziert

(u.a. durch die Erhöhung der Mineralöl-

steuer und die Einführung einer Ener-

giesteuer für Unternehmen). Für die

zweite Legislaturperiode wurde die

Fortführung dieser Haushaltspolitik

angekündigt. Darüber hinaus sollten

neue Steuergutschriften für Familien

mit Kindern eingeführt und die untere

Bemessungsgrenze der Einkommen-

steuer ausgeweitet werden, ohne den

mittleren und oberen Einkommensteu-

ertarif anzuheben.

In der Sozialpolitik von New Labour

wurde die Bedeutung „sozialer Gerech-

tigkeit“ mit der Inklusion in den

Arbeitsmarkt inhaltlich neu bestimmt.

Äußerungen zum Gesundheits- und

Rentensystem blieben im Wahlpro-

gramm 1997 hingegen relativ vage. Erst

1999 wurden aufgrund des Medien-

echos auf eine Grippeepidemie Teile

eines im Dezember 1997 veröffentlich-

ten Gesetzesentwurfes zum National

Health Service (NHS) umgesetzt. Von

den Tories eingeführte Wettbewerbs-

elemente wurden durch kooperative

Gremien ersetzt, privatwirtschaftliche

Managementstrukturen ausgebaut

und zusätzliche Mittel bereitgestellt,

die an die Erfüllung neuer nationaler

Qualitäts- und Effizienzstandards ge-

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

36

2. Programmatik und Politiksozialdemokratischer Parteien in sechs Ländern

2 In diesem Artikel des Parteiprogramms wurde bis dahin die Verstaatlichung der Produktionsmittel zum Ziel erklärt.3 Die Staatsverschuldung sank von 58,9% des BIP im Jahr 1997 um über 10 Prozentpunkte auf geschätzte 46,9% im

Jahr 2001 (OECD 2000).4 Entlastet wurden Geringverdiener, vor allem Familien mit niedrigen Einkommen und kleine und mittelständische

Unternehmen. U.a. wurde der Einstiegssatz der Einkommensteuer gesenkt und Einkommensbeihilfen in negativeSteuern umgewandelt.

Page 39: perspektive21 - Heft 19

bunden wurden.5

Finanziert wurde das

Maßnahmenpaket durch eine Er-

höhung der Sozialabgaben und durch

das Einfrieren geplanter Steuersenk-

ungen. Die staatliche Rentenversiche-

rung sollte als Grundversicherung bei-

behalten und die Bezieher niedriger

Renten besser gestellt werden. Ins-

gesamt wurden die Anreize, eine pri-

vate oder betriebliche Rentenversiche-

rung abzuschließen („Contracting out“)

weiter gestärkt. Die Entwicklungslinien

des britischen Rentenmarktes sind in

ihren Grundzügen von New Labour

fortgeführt worden, allerdings mit eini-

gen Verbesserungen für die Bezieher

der Niedrigstrente (Disney et al. 2001;

Ward 2002).

Die arbeitsmarktpolitischen Ankün-

digungen im Wahlprogramm 1997

waren umfangreich und detailliert.

Den Kern bildete das Welfare to Work-

Programm, das sich vor allem an

arbeitslose Jugendliche und Alleiner-

ziehende sowie an Langzeitarbeitslose

richtete.6

Weiterhin sprach sich die

Partei für die Einführung eines Min-

destlohnes aus und setzte eine Kom-

mission (LPC, Low Pay Commission)

ein, die den 1999 in Kraft getretenen

Vorschlag dazu erarbeitete. Die Ankün-

digung des Ausbaus der Arbeitneh-

merrechte erschöpfte sich im Employ-

ment Relations Act 19997, der auf die

EU-Sozialcharta zurückzuführen ist.

Die New Deals und weitere Pro-

gramme der aktiven Arbeitsmarktpoli-

tik wurden wie angekündigt in der

zweiten Legislaturperiode weiterge-

führt, ebenso wir die mittlerweile

durchgeführte Zusammenlegung der

Arbeits- und Sozialämter in soge-

nannte JobCenter Plus.Die britische Mehrheitsdemokratie

kennt neben der Regierung keine rele-

vanten institutionellen Vetospieler. Die

Regierung Blair hat keine Versuche

unternommen, den Einfluss bi- oder tri-

partistischer Gremien zu stärken. Die

rechtlichen Rahmenbedingungen der

Gewerkschaften wurden wie angekün-

digt im Wesentlichen beibehalten

(„fairness, not favours“). Die sensible

Frage der Anerkennung der Gewerk-

schaft als Verhandlungspartner in

Unternehmen wurde durch einen Kom-

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

37

5 Im Wahlprogramm 2001 findet sich ein 10-Jahres-Plan: Bis 2005 sollen 10.000 neue Ärzte und 20.000 zusätzlicheKrankenschwestern eingestellt werden, 7.000 zusätzliche Krankenhausplätze entstehen, dezentrale Entschei-dungsstrukturen gestärkt, nationale Qualitätsstandards und weitere Public Private Partnerships geschaffen sowiezusätzliche staatliche Investitionen in Höhe von sieben Milliarden Pfund bereitgestellt werden.

6 Die New Deals bestehen aus unterschiedlichen Angeboten der Aus- oder Weiterbildung, subventionierter Beschäf-tigung oder Arbeit bei einer kommunalen gemeinnützigen Einrichtung oder einer Umweltorganisation. Begleitetwerden die Programme von einer intensiven Beratung. Arbeitslosen, die keine der Optionen wahrnehmen, wird dieArbeitslosenunterstützung gekürzt. Finanziert wurden die New Deals durch die sogenannte Windfall Tax, eineSteuer auf Gewinne privatisierter Energieversorgungsunternehmen.

7 Beschränkung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden, Ausweitung des bezahlten Mutter-schaftsurlaubs, Rechtsanspruch auf den vorhergehenden Arbeitsplatz nach Erziehungsurlaub sowie höhere Ober-grenzen für Entschädigungszahlungen im Falle einer Kündigung.

Page 40: perspektive21 - Heft 19

promiss gelöst.8

In diesem Zusammen-

hang ist die Ausgangssituation im Ver-

gleich zu den anderen untersuchten

Ländern besonders wichtig. Auch wenn

viele Maßnahmen der Labour-Regie-

rung dekommodifizierenden Charakter

besitzen, hat sich der grundlegende

Charakter des britischen Systems unter

Tony Blair nicht verändert: Die Finanz-,

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von

New Labour besitzt die im europäi-

schen Vergleich liberalste Ausrichtung.

2.2 Niederlande (1994-2002)Die Koalition mit Rechts- und Linksli-

beralen unter Wim Kok konnte ab 1994

auf dem eingeschlagenen Reformpfad

der christdemokratisch geführten Ko-

alitionsregierungen der 80er Jahre und

der Großen Koalition von CDA und

PvdA von 1989 bis 1994 aufbauen (Vis-

ser und Hemerijck 1998). Programma-

tisch hat sich die PvdA aufgrund des

Widerstandes des gewerkschaftlichen

Flügels bis heute nicht neu positio-

niert, auch wenn die Programmde-

batte durch die Wahlniederlage 2002

erneut an Brisanz gewann.

Ausgehend von hohen Defiziten und

hoher Staatsverschuldung wurde in

der Haushaltspolitik seit 1994 ein kon-

sequenter Konsolidierungskurs über

die gesamten zwei Legislaturperioden

verfolgt.9

Durch die Einführung der

Ökosteuer konnten 1996 Senkungen

direkter Steuern durchgeführt werden,

vor allem der Niedriglohnbereich

wurde steuerlich entlastet. Von 1995

bis 1998 sank der Anteil der Steuern

am BIP um 2,7 Prozentpunkte, der

Anteil der Staatsausgaben am BIP sank

im gleichen Zeitraum um 5 Prozent-

punkte (OECD 1998: 49). Diese Politik

wurde auch in der Legislaturperiode

1998-2002 fortgesetzt. Die Steuerre-

form 2001 brachte eine Gesamtentla-

stung in Höhe von 2,3 Milliarden Euro

mit sich. Gesenkt wurden hauptsäch-

lich die Einkommensteuertarife und

die Lohnnebenkosten, im Gegenzug

wurden die Ökosteuer und die Mehr-

wertsteuer erhöht.10

In der Sozialpolitik hat es in den 90er

Jahren eine Reihe von Reformen gege-

ben. Zwischen 1994 und 1996 wurde die

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall pri-

vatisiert. Das Krankengeld wird seither

von den Arbeitgebern getragen, die

Lohnfortzahlung wurde von 75% auf

70% reduziert. Ähnliche Regelungen

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

38

8 Eine Gewerkschaft muss in den Fällen anerkannt werden, wenn im Unternehmen 50% Gewerkschaftsmitgliedersind oder 40% der Arbeitnehmer für die Anerkennung stimmen.

9 Betrug das durchschnittliche Haushaltsdefizit von 1990-1994 noch 4,2% des BIP, so sank es von 1995-2000 aufdurchschnittlich 1,5% des BIP.

10 Die Mehrwertsteuer wurde von 17,5% auf 19% erhöht. Die Einkommensteuerreform 2001 sieht eine Differenzierunghinsichtlich unterschiedlicher Einkommensarten vor (Arbeitseinkommen und Mieten werden progressiv besteuert,Einkommen aus Unternehmensbeteiligungen pauschal mit 25%, Zinseinkünfte mit 30%). Die Vermögenssteuerwurde abgeschafft. Neben Steuererleichterungen wurde vor allem eine Vereinfachung des alten Systems angestrebt.

Page 41: perspektive21 - Heft 19

traten 1997 und 1998 für die Erwerbsun-

fähigkeitsversicherung in Kraft. Die

angestrebte Internalisierung der Kosten

sollte den Missbrauch der Erwerbs-

unfähigkeitsrente eindämmen. 1995

wurden die Anspruchs- und Zumutbar-

keitskriterien im Arbeitslosenversiche-

rungsgesetz deutlich verschärft (Cox

1998; OECD 1998, 2000a). Ab 1996 sind

nur noch Alleinerziehende mit Kindern

unter fünf Jahren von der Pflicht zur

aktiven Beschäftigungssuche ausge-

nommen, für Sozialhilfeempfänger

werden Reintegrationspläne erstellt

und bei Ablehnung der Aus- oder Wei-

terbildungsmaßnahmen erfolgt die

Kürzung von Transferleistungen.

Diese Maßnahmen wurden von

wichtigen Strukturreformen begleitet.

Zwischen 1994 und 2000 wurden die

bipartistischen Aufsichtsgremien der

Sozialversicherungen durch unabhän-

gige Kontrollgremien ersetzt. Durch

die institutionellen Neuordnungen

wurde der Einfluss der Sozialpartner zu

Gunsten des direkten Regierungsein-

flusses zurückgedrängt.

Die Grundlage für die Arbeitsmarkt-politik der 90er Jahre bildeten hingegen

weiterhin Abkommen zwischen Ge-

werkschaften und Arbeitgebern

(„Nieuwe Koers“ 1993; „Flexibiliteit en

Zekerheid“ 1996). Im Rahmen von Tarif-

abschlüssen wurde durch Öffnungs-

klauseln die Lücke zum gesetzlichen

Mindestlohn verringert. Zusätzlich wur-

den gesetzliche Bestimmungen für Zeit-

arbeitsfirmen vereinfacht, Kriterien für

die Arbeitsinvalidität verschärft und

Modellversuche zur Verbesserung der

Effizienz von Arbeits- und Sozialämtern

gestartet. Die Arbeitsämter konzen-

trieren sich fast ausschließlich auf Pro-

blemgruppen, private (Zeitarbeits)

Agenturen vermitteln den größten Teil

der Arbeitslosen. Das neue Arbeitszeit-

gesetz von 1996 legte neue Höchstgren-

zen von Wochenarbeitszeit, Überstun-

den, Nacht- und Sonntagsarbeit fest,

ermöglichte gleichzeitig jedoch eine

kurzfristig sehr flexible Anwendung.

1995 und 1996 wurden mehrere Lohn-

subventionsprogramme aufgelegt, die

v.a. im öffentlichen Sektor Arbeitsplätze

für Langzeitarbeitslose bereitstellten

(„Melkert-Jobs“). 1999 trat das „Flexicu-

rity“-Gesetz zu Arbeitszeit und Kündi-

gungsschutz in Kraft. Die Neuregelung

des Kündigungsschutzes stellte eine

leichte Flexibilisierung für reguläre

Beschäftigungsverhältnisse dar, ande-

rerseits sind die Rechte von Beschäftig-

ten mit Zeitarbeitsverträgen und „sub-

angestellten“ Selbstständigen gestärkt

worden (Green-Pedersen et al. 2001c).

Das Arbeitszeitanpassungsgesetz von

2000 verpflichtete die Arbeitgeber

sogar, einem Wunsch auf Verlängerung

oder Verkürzung der Arbeitszeit des

Arbeitnehmers nachzukommen, sofern

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

39

Page 42: perspektive21 - Heft 19

nicht besondere betriebliche Gründe

dem entgegenstehen.

Die Sozialpartner spielten bei diesen

Reformen eine wichtige Rolle. Auf dem

Gebiet der Arbeitsmarktpolitik bestand

ein großer Teil der Gesetzgebung in der

Kodifizierung von bipartistischen Arran-

gements.11

Durch institutionelle Neu-

ordnungen hat sich in der Sozialpolitik

hingegen der „Schatten der Hierarchie“

deutlich verstärkt. Den zahlreichen

Reformen lag kein umfassender Plan

zugrunde, wie es die Rede vom „Polder-

modell“ vermuten lässt. Der Wandel

vollzog sich in vielen kleinen Schritten,

aber mit erstaunlicher Beständigkeit.

2.3 Schweden (ab 1994)Maßgeblichen Einfluss auf die pro-

grammatische Neuausrichtung der

schwedischen SAP hatte die Wirtschafts-

krise zu Beginn der 90er Jahre. Die Her-

stellung ausgeglichener Budgets ist seit-

dem auch programmatisch zu einem

wichtigen Zwischenziel zur Verwirk-

lichung des überragenden Zieles der

Vollbeschäftigung geworden (SAP 2001).

Die SAP hält weiter am universalisti-

schen Wohlfahrtstaat fest und sieht

seinen Kern in der Bereitstellung staat-

licher Dienstleistungen für Gesund-

heit, Pflege und Bildung; nur begrenzt

sollen in diesen Bereichen private

Angebote zugelassen werden. Sie sol-

len Anreize zur Effizienzsteigerung des

öffentlichen Dienstes setzen. Diese

staatlichen Dienstleistungen werden

als Ausdruck sozialer Gerechtigkeit als

Gleichheit der Lebenschancen verstan-

den.12

Das Ziel ist auch unter neuen

Herausforderungen die „faire Umver-

teilung von Wohlstand“ (Persson

2001). Nach 7 Jahren Regierung bün-

delte das neue Grundsatzprogramm

2001 die Erfahrungen.

Bei Übernahme der Regierungsverant-

wortung 1994 sah die SAP keine Alterna-

tive zur Haushaltskonsolidierung, die

mit Kürzungen von Transfer- und Dienst-

leistungen und Steuererhöhungen und

Ausgabenbegrenzungen einherging

(Lachman u.a. 1995: 21ff.), betonte aber

immer wieder den temporären Charak-

ter der Maßnahmen. 1994 wurde die

Körperschaftssteuer von 30 auf 28%

gesenkt, die Einkommenssteuer für

obere Einkommensgruppen 1995 von 20

auf 25% angehoben. Weiterhin wurden

ökologische Steuern eingeführt, haupt-

sächlich als Reaktion auf Mehrwertsteu-

ersenkungen im Zuge von EU-Anglei-

chungen. Der Arbeitnehmeranteil zur

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

40

11 Voraussetzung war die seit dem Wassenaar-Abkommen festzustellende Prioritätenverschiebung innerhalb der Gewerk-schaften von Lohnsteigerungen zu Beschäftigungswachstum (Visser/Hemerijck 1998; van der Veen/Trommel 1999).

12 In Abgrenzung zum Begriff der faktischen Chancengleichheit beinhaltet eine Gleichheit der Lebenschancen einenandauernden gleichen Zugang der Bürger zu sozialen Grundgütern, deren Bereitstellung durch den Staat zugewährleisten ist (Meyer 2002: 72ff.).

Page 43: perspektive21 - Heft 19

Sozialversicherung wurde um ca. 5 Pro-

zentpunkte erhöht. Insgesamt führten

diese und weitere kleinere Änderungen

zu einer Steigerung des Steuer- und

Abgabenaufkommens (OECD 1999: 168).

Gleichzeitig wurden Ausgabenober-

grenzen für alle Haushaltsposten einge-

führt und die Abgaben der Zentralregie-

rung an die unteren Körperschaften

begrenzt oder gekürzt, so dass es auf

dieser Ebene zu Friktionen bei den sozia-

len Dienstleistungen kam. Insgesamt

kann man auf diesem Feld einen kurzfri-

stigen Rückzug, jedoch keine Abkehr des

Staates von seinen Allokations- und Re-

distributionsmöglichkeiten feststellen.

In der Sozialpolitik wurden nach 1994

die Verschärfungen der konservativen

Regierung zuerst zurückgenommen,

dann wurden in den Jahren 1995-97

Transferleistungen auf breiter Front

gekürzt.13

Der temporäre Charakter

dieser Maßnahmen zur Haushaltkon-

solidierung wurde 1998 deutlich, als

die Transferleistungen bei Arbeitslosig-

keit und Krankheit wieder auf 80%

angehoben wurden, verbunden mit

der Ankündigung weiterer Erhöhun-

gen. Begründet wurde dies mit der

erfolgreichen Haushaltskonsolidie-

rung, zudem sollte die Kaufkraft der

Haushalte gestärkt werden (SAP 2002).

Auch die durch Konsolidierungs-

maßnahmen unter Druck geratenen

sozialen Dienstleistungen sollen mitt-

lerweile wieder verstärkt gefördert wer-

den. Die Unterstützung der Bevölkerung

der SAP hängt wesentlich von der Effizi-

enz und Güte der öffentlichen Dienstlei-

stungen ab. Zu diesem Zweck sollen

Marktinstrumente (z.B. interne Preis-

mechanismen) eingeführt werden,

ohne den Dienst völlig zu privatisieren.

Eine (vorsichtige) Marktöffnung wurde

auch mit der Einführung einer verpflich-

tenden fondsgestützten Altersversor-

gung vorgenommen.14

In der Arbeitsmarktpolitik wurde mit

dem 1996 verabschiedeten Beschäfti-

gungsgesetz das Prinzip des „Förderns

und Forderns“ gestärkt (OECD 1997:

113f.). Dadurch sollten die Ressourcen

auf Aus- und Weiterbildungsmaß-

nahmen konzentriert werden. Ein zu-

sätzlicher Marktanreiz wurde mit der

zeitlichen Begrenzung der Arbeitslosen-

unterstützung auf 3 Jahre geschaffen,

nur in Ausnahmefällen ist die Verlänge-

rung auf vier Jahre möglich. Seit 2000

müssen alle Personen, die Arbeitslosen-

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

41

13 Revidiert wurden die Senkung des Mutterschaftsgelds von 90% auf 80%; die Steigerung der Altersgrenze der Teil-zeitrente von 60 auf 61 Jahre, die Senkung der Teilzeitrente von 65% auf 55% der Bemessungsgrundlage, und derWegfall des Anspruchs auf Arbeitslosengeld bei Teilnahme an aktiven Arbeitsmarktprogrammen. 1995/97 wurdenu.a. die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit von 80% auf 75% des Lohnes gekürzt.

14 Das bisherige Rentensystem mit steuerfinanzierter Grundrente und beitragsfinanzierte Zusatzrenten wurde aufeine rein beitragsfinanzierte Sozialversicherung umgestellt, allerdings beinhaltet diese immer noch eine Garantie-rente. Der Beitragssatz liegt bei 18,5% der Bemessungsgrundlage, davon fließen 2,5% in frei wählbare, aber staatlichlizensierte Fonds.

Page 44: perspektive21 - Heft 19

unterstützung beziehen und weniger

als 27 Monate regulär in Beschäftigung

waren, an einem Arbeitsmarktpro-

gramm teilnehmen. Aufgrund des Par-

teienwettbewerbs mit der Linkspartei

und des Widerstands der Gewerkschaf-

ten wurde die Rigidität der Arbeits-

schutzgesetzgebung nur marginal

gelockert. Die Beschäftigungspolitik

wurde unter das Leitwort ‚Aktivierung’

gestellt, ohne an der zentralen Bedeu-

tung staatlicher Interventionen in den

Arbeitsmarkt zu rütteln.

Zusammengefasst hat eine Ver-

marktlichung nur an den Rändern des

Wohlfahrtsstaates stattgefunden. Eine

einheitliche Richtung war nicht zu

erkennen, nach vorübergehenden Kür-

zungen ist die Ausgangssituation wie-

der hergestellt. Dies liegt nicht zuletzt

am Machtpotenzial der Gewerkschaf-

ten. Auch wenn deren Einfluss auf die

SAP zurückgegangen ist (Arter 1994),

so muss sie doch das Konfliktpotential

dieser Gruppe berücksichtigen.15

Auch

wenn die SAP bestimmte Anpassun-

gen als Minderheitsregierung mit bür-

gerlichen Partnern durchsetzte, konnte

sie die Gewerkschaften soweit einbin-

den, dass die temporären Kürzungen

und die Aktivierung akzeptiert wur-

den. Diese Zustimmung erreichte sie

durch das Bekenntnis zum hohen

Niveau der Sicherungssysteme und der

öffentlichen Dienstleistungen.

2.4 Dänemark (1993-2001)In ihrem Grundsatzprogramm und

den Wahlprogrammen der 90er Jahre

hält die dänische Sozialdemokratie (SD)

an den Zielen der sozialen Inklusion und

Vollbeschäftigung fest. Erkennbar ist

jedoch eine Veränderung der Instru-

mente, die verstärkt auf den Einzelnen

gerichtet wurden. Der Staat soll nach

dem Prinzip der ‚Rechte und Pflichten’ in

die Lebensgestaltung seiner Bürger zur

Verbesserung der Beschäftigungsfähig-

keit eingreifen dürfen, sofern Leistun-

gen in Anspruch genommen werden.

Dieses Eingehen auf Funktionserforder-

nisse des Marktes soll kompensiert wer-

den durch die Bereitstellung großzügi-

ger Sozial- und Dienstleistungen. Der

weitgehend deregulierte Arbeitsmarkt

wird von der SD nicht in Frage gestellt.

Eckpunkte der kurzfristig expansiven

Haushaltspolitik (PLS Consult/ Jensen

1996) ab 1993 waren eine Senkung aller

Einkommenssteuersätze und eine kurz-

fristige Erhöhung der staatlichen Inve-

stitionen in Bildung und Infrastruktur.

Erst zeitlich verzögert wurde dies durch

eine Verbreiterung der Steuerbasis und

eine Einführung von Umweltsteuern

gegenfinanziert (OECD 2000: 109-143).

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

42

15 Die Gewerkschaften können aufgrund der Parteienkonkurrenz der SAP mit der Linkspartei glaubhaft damit drohen,sich mittelfristig andere Bündnispartner zu suchen.

Page 45: perspektive21 - Heft 19

Die dänische Sozialdemokratie stellte

die sofortige Haushaltskonsolidierung

zugunsten eines Wachstumsimpulses

zurück. Allerdings hatte man sich auf

die Konsolidierung des Haushaltes

über den Konjunkturzyklus hinweg pro-

grammatisch festgelegt. Begünstigt

durch das stabile Wirtschaftswachs-

tum war es der SD möglich, nach der

Einkommenssteuersenkung 1994 auch

in den folgenden Jahren die Steuer-

sätze zu senken (OECD 1999: 144).

Dadurch, verbunden mit der Steige-

rung der ökologischen Verbrauchssteu-

ern, stieg der Anteil der indirekten Steu-

ern (in % des BIP), während der Anteil

der direkten Steuern leicht sank.

In der Sozialpolitik blieb die Transfer-

höhe von Ersatzleistungen unverän-

dert und der öffentliche Dienst wurde

in seinem Umfang erhalten. Ein Teil der

Sozialpolitik wurde in den Dienst der

Beschäftigungspolitik gestellt: Zum

einem wurden 1993 die drei Pro-

gramme zum zeitweiligen Ausstieg

aus dem Erwerbsleben (Elternurlaub,

Bildungsurlaub, Sabbaturlaub) ausge-

baut, um subventionierte Beschäfti-

gung im Rahmen der aktivierenden

Arbeitsmarktpolitik zu fördern. Zum

anderen wurde das umfassende

System der Frühverrentung beibehal-

ten und blieb ein staatliches Instru-

ment zur künstlichen Verknappung

des Arbeitskräfteangebots. Bei den

Verhandlungen zur Arbeitsmarkt-reform III (1998) kam es zu einem Kom-

promiss mit den bürgerlichen Op-

positionsparteien über eine moderate

Kürzung des Frühverrentungspro-

gramms.16

Während bei den vorange-

gangenen Reformen die Rentenhöhe

unangetastet blieb, wagten sich die

Sozialdemokraten diesmal an diese

heikle Frage. Das führte zu massiven

Einbrüchen der Sozialdemokraten bei

Umfragen.

Die Reformen in der Arbeitsmarkt-politik wurden durch die begleitende

wissenschaftliche Diskussion dieses

Themas begünstigt.17

Schon die konser-

vative Vorgängerregierung hatte aktivie-

rende Maßnahmen einführen wollen

(Jobtraining, Ausbildung, Ausrichtung

auf Employability), verknüpft mit deut-

lichen Leistungskürzungen. Entspre-

chende Verhandlungen zwischen den

Parteien verliefen allerdings im Sande.

1993 griffen die Sozialdemokraten die

Vorschläge zur Aktivierung auf. Zwar

wurde die Leistungsdauer reduziert, die

Höhe blieb aber unangetastet. Zentrale

Elemente der dreistufigen Reform (1994,

1995, 1998) waren: (1) Die sukzessive Kür-

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

43

16 Einführung einer Abgabe als Leistungsvoraussetzung, Verlängerung der Teilnahmedauer zum Leistungserhalt,Reduzierung der Leistung, Senkung des allgemeinen Pensionsalters von 67 auf 65 Jahre.

17 Zuletzt in einer Serie von Papieren der Arbeitsmarktkommission (eingesetzt von der bürgerlichen Regierung, beste-hend aus den Sozialpartnern), das letzte Mal in einem Papier von 1992 (Zeuthen-Report).

Page 46: perspektive21 - Heft 19

zung der Leistungsdauer von 9 auf 4

Jahre und eine längere und früher

einsetzende Aktivierungsphase, (2) die

Ausdehnung der Personengruppe mit

verpflichtender Teilnahme, (3) eine Kon-

zentrierung der Aktivierungsmaßnah-

men auf Bildung und „Training on the

Job“ und (4) individuell abgestimmte

Aktionspläne. Dieser Aktivierungsplan

wird als Vertrag zwischen Arbeitslosen

und Arbeitsamt geschlossen, der die

Rechte und Pflichten des Arbeitslosen

festlegt. Daneben wurde das zentralis-

tische System der Arbeitsmarktverwal-

tung in 14 Regionen dezentralisiert.

Während die nationale Verwaltung fast

ausschließlich für die Evaluierung zu-

ständig ist, wurde die Implementierung

den regionalen Arbeitsverwaltungen

übergeben. Diese sind tripartistisch

besetzt (Gemeinden, regionale Arbeits-

geber und Gewerkschaften) und legen

konkrete lokale Maßnahmen fest.

Besonders die Gewerkschaften konnten

dadurch Einfluss zurückgewinnen, den

sie durch die Dezentralisierung der Tarif-

verhandlungen verloren hatten.

Die SD-Regierung nutze zur Umset-

zung ihres Programms geschickt die

Ressourcen aus, die durch die informelle

Konsenskultur in Dänemark bereit-

stehen. Die relevanten Interessenver-

bände wurden über Kommissionen

schon im Vorfeld des Gesetzgebungs-

prozesses eingebunden.18

Vor allem in

der Beschäftigungspolitik wurde die

Implementation weitgehend in die

Hände der Tarifpartner gelegt. Die SD

nutzte den direkten Zugriff (den „Schat-

ten der Hierarchie“) auf die sozialen

Sicherungssysteme dazu, die Tarifpar-

teien zur Mitarbeit zu bewegen.

2.5 Deutschland (ab 1998)Über ein eindeutiges programmati-

sches Profil verfügten die deutschen

Sozialdemokraten beim Regierungs-

wechsel 1998 nicht, dementsprechend

brach der im Wahlkampf stillgelegte

Konflikt zwischen den „Traditionalisten“

und „Modernisierern“ bereits ein halbes

Jahr nach Regierungsbeginn wieder auf

– angeheizt vor allem durch das wirt-

schaftsliberale Schröder-Blair-Papier.

Die Partei folgte diesem „von oben“ ver-

ordneten Modernisierungskurs nur sehr

zögerlich, und auch die daraufhin

begonnene Grundsatzprogrammde-

batte konnte bisher kaum etwas zur

Klärung des innerparteilichen Konflik-

tes zwischen den Verteidigern des so-

zialstaatlichen Status quo und den

Befürwortern von Deregulierungen und

Liberalisierungen beitragen. Die erste

Legislaturperiode der Regierung Schrö-

der kann jedoch als ein „Etappensieg“

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

44

18 1993 hatte die SD-geführte Koalition allerdings eine parlamentarische Mehrheit, um die erste Arbeitsmarktreformdurchzusetzen – im von Minderheitsregierungen und Konsenssuche geprägten politischen System Dänemarks einseltenes ‚Window of Opportunity’.

Page 47: perspektive21 - Heft 19

der Modernisierer interpretiert werden

(Egle/Henkes 2003). Die programmati-

sche Debatte kreist v.a. um den Grund-

wert der sozialen Gerechtigkeit und den

Bedeutungsinhalt der „Gleichheit“

(Ergebnis- vs. Chancengleichheit).

In der Steuer- und Haushaltspolitikfand innerhalb der Legislaturperiode

ein deutlicher Politikwechsel statt

(Zohlnhöfer 2003): Während die erste,

von Lafontaine verantwortete Steuer-

reform vor allem Arbeitnehmerhaus-

halten zugute kam und die Wirtschaft

belastete, wurden mit der zweiten

Steuerreform unter seinem Nachfolger

Eichel deutliche Steuerentlastungen

für Unternehmen durchgeführt. Zuvor

schwenkte man auf einen Konsolidie-

rungskurs ein. Die Steuersenkungen

gingen deutlich über die im Wahlpro-

gramm angekündigten Maßnahmen

hinaus.19

Mit der Ökosteuer wurden

indirekte Steuern erhöht, um den Ren-

tenversicherungsbeitrag zu senken.

Die angekündigte Blockade der opposi-

tionellen CDU im Bundesrat wurde

durch selektive Anreize für bestimmte

Länderregierungen umspielt (Merkel

2003). Nach der Wiederwahl im Herbst

2002 beschloss die rot-grüne Regie-

rung aufgrund der prekären Finanz-

lage des Staatshaushaltes und der

Sozialversicherungssysteme diverse

Maßnahmen zur Einnahmenerhö-

hung, außerdem sind inzwischen auch

Kürzungen im Sozialsystem geplant

(„Agenda 2010“).

Dagegen beschritt die Regierung in

der Sozialpolitik zunächst einen staatso-

rientierten Weg, da sie mit der Einbezie-

hung sog. „Scheinselbstständiger“ und

geringfügig Beschäftigter in die Sozial-

versicherung eine Politik der Mehrein-

nahmen (anstelle von Leistungskürzun-

gen) verfolgte, und mit der Reform der

sog. 630-DM-Jobs den Arbeitsmarkt

weiter regulierte. In der Gesundheitspo-

litik wurde einer zunehmenden Eigen-

vorsorge der Patienten eine klare Absage

erteilt und die wenigen Elemente der

Eigenbeteiligung sogar zurückgenom-

men. Statt dessen sollten die Kosten

durch staatliche Regulierungen ge-

dämpft werden. Nach heftigen Prote-

sten der Ärzte- und Pharmaverbände

wurden diese Maßnahmen zurückge-

nommen. Im Zuge der Rentenreform

2000 wurde das Leistungsniveau der

gesetzlichen Rente abgesenkt und mit

der Einführung einer freiwilligen kapital-

gedeckten Zusatzrente eine Teilprivati-

sierung vorgenommen, bei der der Staat

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

45

19 So wurde der Einkommensteuereingangssatz 25,9% auf 15 % gesenkt (wie im Wahlprogramm versprochen), derSpitzensteuersatz jedoch von 53% auf 42 %, obwohl nur 49 % angekündigt wurden. Während im Wahlprogrammeine Senkung des Körperschaftsteuersatzes nur vage „auf ein international vergleichbares Niveau“ angekündigtwurde, wurde er von 40% (für einbehaltene Gewinne) bzw. 30% (für ausgeschüttete) auf einheitliche 25 % gesenkt.Außerdem wurden Veräußerungsgewinne aus Beteiligungsverkäufen von inländischen Kapitalgesellschaften fürKapitalgesellschaften steuerfrei gestellt.

Page 48: perspektive21 - Heft 19

mit der Zertifizierung und Förderung

weiterhin tätig ist.

In der Arbeitsmarktpolitik fanden

keine Liberalisierungen statt, Lockerun-

gen der Vorgängerregierung beim Kün-

digungsschutz und der Lohnfortzahlung

im Krankheitsfall wurden zurückgenom-

men. Für arbeitslose Jugendliche wurde

ein staatlich finanziertes Qualifizie-

rungs- und Beschäftigungsprogramm

aufgelegt. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz

wurden erste Maßnahmen einer aktivie-

renden Arbeitsmarktpolitik durchge-

setzt (Blancke/Schmid 2003). Das strate-

gische „Schlüsselprojekt“ der Regierung,

das Bündnis für Arbeit, war der Versuch,

das hohe Blockadepotenzial der Gewerk-

schaften für marktöffnende Reformen in

der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu

verringern und eine beschäftigungsför-

dernde Lohnpolitik zu erreichen. Das

Bündnis scheiterte,da die Regierung den

dafür nötigen „Schatten der Hierarchie“

nicht spenden konnte (Hassel 2000)20

und sie ihre potenziellen Tauschgüter

bereits eingelöst hatte.21

Die Hartz-Kom-

mission kann als eine Fortsetzung des

Bündnis für Arbeit mit anderen Mitteln

interpretiert werden, da auch hier ver-

sucht wurde, die Gewerkschaften einzu-

binden.Während die drohende Blockade

des Bundesrates22

bei der Verabschie-

dung der Steuer- und Rentenreform

durch entsprechendes Bargaining zwei-

mal umgangen werden konnte, gelang

es der Regierung nicht, eine marktöff-

nende Politik im Bereich des Arbeits-

marktes gegen den linken Parteiflügel

der SPD und vor allem gegen die

Gewerkschaften durchzusetzen.

2.6 Frankreich (1997-2002)Programmatisch betrieb der 1997 mit

einem Linksbündnis an die Macht ge-

kommene Parti Socialiste eine Revitali-

sierung „republikanischer“ Werte (Bei-

lecke 1999), die einen Gegenentwurf

zum (neo-)liberalen Globalisierungsdis-

kurs darstellen. Mit dem Begriff des

„Voluntarismus“ wurde die Rehabilitie-

rung der Politik gegenüber ökonomi-

schen Sachzwängen gefordert. In der

europaweit geführten Debatte um den

„Dritten Weg“ vertrat der PS mit der Pro-

grammschrift „Vers un monde plus

juste“ eine eigenständige und kritische

Position. Eine Revision klassischer sozi-

aldemokratischer Ziele war nicht zu

beobachten – selbst das Instrument

keynesianischer Fiskal- und Geldpolitik

wurde vom PS weiterhin als erfolgver-

sprechend angesehen.

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

46

20 Die Gewerkschaften weigerten sich mit Verweis auf die institutionell verankerte Tarifautonomie, über Lohnpolitikzu verhandeln.

21 So z.B. die Korrekturen der Regierung Kohl (Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung), Scheinselbstständigkeit und gering-fügige Beschäftigung; das erst später verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz kann eventuell als eine Kompensa-tion für die Rentenreform interpretiert werden, der die Gewerkschaften erst nach langem Zögern zustimmten.

22 Die angekündigten Blockaden der Opposition waren allerdings in erster Linie dem Parteienwettbewerb geschuldetund weniger mit programmatischen Differenzen zu erklären (Merkel 2003).

Page 49: perspektive21 - Heft 19

In der Steuer- und Haushaltspolitikkonnte die Regierung durch selektive

Steuererhöhungen und -senkungen und

durch entsprechende Erhöhungen sozia-

ler Leistungen (s.u.) eine umverteilende

Wirkung und eine Kaufkraftsteigerung

hervorrufen. Neben der Entlastung der

Privathaushalte (vor allem mit geringen

Einkommen) wurden Unternehmen

durch eine temporäre Erhöhung der Kör-

perschaftssteuer zunächst belastet23

und Kapitaleinkommen höher besteu-

ert. Gesenkt wurden hingegen die Woh-

nungssteuer und die Mehrwertsteuer.

Durch die Erhöhung der Sozialsteuer

CSG bei gleichzeitiger Senkung der Kran-

kenversicherungsbeiträge der Arbeit-

nehmer sollte einerseits die Kaufkraft

gesteigert, andererseits die Finanzie-

rungsgrundlage der Krankenversorgung

verbreitert werden.24

Erst das Haus-

haltsjahr 2001 brachte überraschende,

im Wahlprogramm nicht angekündigte

Steuererleichterungen für Besserver-

dienende und Unternehmen, die

umfangreichsten in der Geschichte der

V. Republik.25

Im Widerspruch zum Wahl-

programm 1997 wurde die Privatisie-

rungspolitik der Vorgängerregierung

weitergeführt. Das Konzept der öffentli-

chen Daseinsvorsorge durch den „service

public“ blieb jedoch bestehen: Es gab

zwar eine zögerliche Marktöffnung,

allerdings bestand keine Absicht, hier die

Kontrolle des Staates abzugeben.

In der Sozialpolitik wurde mit der Ein-

führung der universellen Krankenversi-

cherung CMU eine Versorgungslücke im

Sozialsystem geschlossen, die vor allem

bei Geringverdienern auftrat. Die

Kosten für die obligatorische Zusatzver-

sicherung für Geringverdiener werden

vom Staat übernommen, die Versicher-

ten können ihre Zusatzversicherung

allerdings frei wählen. Bei der Rentenfi-

nanzierung hielten die Sozialisten am

reinen Umlageverfahren fest, da sie die

Einführung von Pensionsfonds (nach

dem gescheiterten Versuch der Vorgän-

gerregierung) ablehnte. Die konflikt-

fähigen Gewerkschaften des öffentli-

chen Dienstes standen einer solchen

Reform ebenfalls skeptisch gegenüber.

Die Regierung beschränkte sich darauf,

in Expertenkommissionen unter Einbin-

dung der Sozialpartner Vorschläge für

eine Rentenreform erarbeiten zu lassen.

Weitere Maßnahmen in der Sozialpoli-

tik waren Anhebungen von Soziallei-

stungen (u.a. Mindestlohn, Arbeitslo-

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

47

23 Die Körperschaftssteuer stieg für 1998 von 36,7% auf 41,6 % für Unternehmen mit über 50 Millionen FF Umsatz.Diese temporäre Erhöhung wurde bis 2000 sukzessiv zurückgenommen.

24 Die CSG wird im Gegensatz zu den Sozialversicherungsbeiträgen nicht nur auf die Lohneinkommen, sondern aufalle Einkommensarten (auch auf Kapitaleinkommen) erhoben.

25 Die wichtigsten Maßnahmen waren bei der persönlichen Einkommenssteuer die Senkung des Eingangssatzes von10,5% auf 7 % und des Spitzensteuersatzes von 54% auf 52,5 %, und bei der Unternehmensbesteuerung die Absen-kung der Körperschaftssteuer für KMU von 36,7% auf 15 % , für Großunternehmen von 36,7% auf 33,3% bis jeweils2003 (OECD 2001: 57 f).

Page 50: perspektive21 - Heft 19

senunterstützung und Sozialhilfe). Für

Besserverdienende wurden die Famili-

enbeihilfen aufgrund eingeführter Be-

dürftigkeitsprüfungen gekürzt.

In der Arbeitsmarktpolitik wurden

durch ein Beschäftigungsprogramm für

Jugendliche ca. 300.000 Arbeitsplätze

vorwiegend im öffentlichen Sektor

geschaffen.26

Um Substitutionseffekte

zu vermeiden, wurden für die neu

geschaffenen Stellen in Zusammenar-

beit von Regierung, Gebietskörperschaf-

ten und gemeinnützigen Vereinen

eigene Beschäftigungsprofile erstellt

(Uterwedde 2000). Bei der Einführung

der 35-Stunden-Woche versuchte die

Regierung mit der „Konferenz über

Beschäftigung, Löhne und Arbeitszeit“

vergeblich die Sozialpartner einzu-

binden. Gegen den hinhaltenden

Widerstand der Arbeitgeber legte sie

die Rahmenbedingungen der Arbeits-

zeitverkürzung fest, die konkrete Ausge-

staltung der Arbeitszeiten wurde

jedoch den Sozialpartnern überlassen.27

Dabei profitierten die Arbeitgeber von

der Einführung von Jahresarbeitszeit-

konten (d.h. Flexibilisierung der Arbeits-

zeiten), den großzügigen staatlichen

Lohnkostenzuschüssen (bzw. Senkung

ihrer Sozialversicherungsbeiträge) und

Anreizen bei Einstellungen im Nied-

riglohnbereich. Eine von den Sozial-

partnern übernommene Reform der

Arbeitslosenunterstützung brachte

zwar keine neuen Pflichten für Arbeits-

lose mit sich, aber durch die Einführung

von persönlichen Eingliederungsplänen

sollte der Druck auf Arbeitslose zur Auf-

nahme einer Beschäftigung erhöht

werden. Da im Zuge dieser Reform aber

auch die bisherige Degressivität des

Arbeitslosengeldes abgeschafft wurde,

wird der Aktivierungserfolg dieser Maß-

nahme unterschiedlich beurteilt (OECD

2001: 91; Tuchszirer 2001).

Aufgrund der in Frankreich schwach

ausgeprägten Sozialbeziehungen fiel

es der Regierung schwer, die So-

zialpartner erfolgreich einzubinden.

Dies wird an der gescheiterten tri-

partistischen Konferenz zur Ein-

führung der Arbeitszeitverkürzung

und der attentistischen Rentenpolitik

deutlich. Allerdings konnte im Zuge

der Implementierung der Arbeitszeit-

verkürzung und des Programms gegen

die Jugendarbeitslosigkeit eine leichte

Verbesserung der Beziehungen er-

reicht werden.

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

48

26 Stand Ende 2000, nach einer Studie des Arbeitsministeriums (<http://www.nsej.travail.gouv.fr>). Im Rahmen diesesProgramms neu geschaffene Arbeitsplätze gibt es zwar auch in privaten Unternehmen, hauptsächlich aber inöffentlichen Einrichtungen, Gebietskörperschaften, Vereinen und Stiftungen. Da die jeweiligen Beschäftigungsver-hältnisse vom (Zentral-)Staat darüber hinaus mit 80 % des Mindestlohnes (SMIC) bezuschusst werden, kann mandiese Maßnahmen als öffentliches Beschäftigungsprogramm charakterisieren. Qualifizierungsmaßnahmen imRahmen des Programms sind zwar möglich und erwünscht, allerdings nicht institutionalisiert.

27 Von 1997 bis Ende 2000 wurden durch die Arbeitszeitverkürzung nur ca. 240.000 Arbeitsplätze geschaffen, währendder gesamte Beschäftigungszuwachs in diesem Zeitraum 1,7 Mio. betrug.

Page 51: perspektive21 - Heft 19

Die Untersuchung der sechs sozialde-

mokratisch geführten Länder zeigt zwar

bedeutende Unterschiede in der Pro-

grammatik und Politik der jeweiligen

Parteien auf, trotzdem lässt sich fol-

gende gemeinsame „Richtung“ einer

sozialdemokratischen Reformpolitik

feststellen: In allen Ländern außer

Frankreich ist eine – wenn auch unter-

schiedlich stark ausgeprägte – Priorität

der Haushaltskonsolidierung zu erken-

nen. Daneben können, abgesehen von

temporären Steuererhöhungen in

Frankreich (Unternehmenssteuern) und

Schweden (Einkommens- und Ver-

mögenssteuern) in allen Ländern Steu-

ersenkungen beobachtet werden.

Zusätzliche Einnahmen generieren alle

Regierungen über eingeführte oder

erhöhte Ökosteuern. In der Arbeits-

marktpolitik ist der Trend zu einer ak-

tivierenden Arbeitsmarktpolitik zu nen-

nen – in allen Ländern wurde das Prinzip

des Forderns und Förderns institutiona-

lisiert. Diese Maßnahmen zur Steige-

rung der Beschäftigungsfähigkeit sind

jedoch mit unterschiedlich starken

Sanktionen (Leistungskürzungen) be-

gleitet, wenn Arbeitslose ihren Ver-

pflichtungen nicht nachkommen. Auch

verfolgen die meisten sozialdemokrati-

schen Parteien – wenigstens verbal –

eine Politik der Flexibilisierung des

Arbeitsmarktes, allerdings variieren die

nationalen Gesetzgebungen noch deut-

lich. In der Sozialpolitik ist jedoch keine

klare Tendenz festzustellen: Frankreich

und Großbritannien erhöhten Soziallei-

stungen, die Niederlande nahmen Kür-

zungen vor, in Dänemark und Schweden

wurde die Bezugsdauer reduziert,

während Deutschland weitgehend

beim Status quo verharrte. In der Ren-

tenpolitik führten immerhin vier Länder

(GB, D, NL, S) eine Teilprivatisierung ein

oder bauten sie aus – jedoch ausgehend

von sehr unterschiedlichen Niveaus.

Am weitesten fortgeschritten auf

dem Pfad der Marktanpassung ist die

Labour Party, die das wirtschaftspoli-

tisch liberalste Untersuchungsland

regiert und diesen Pfad kaum verließ.

Einen Ab- und Umbau des Wohlfahrts-

staates führte die PvdA durch, die aber

ebenfalls auf den Reformen der Vor-

gängerregierung (z.T. mit eigener Be-

teiligung) aufbauen konnte. Die SPD

und der PS, deren Regierungspolitik

viele Gemeinsamkeiten besitzen,

unterscheiden sich jedoch in program-

matischer Hinsicht: Während die SPD

vom ungelösten Konflikt zwischen

Modernisierern und Traditionalisten

geprägt ist, hat sich der PS bisher

bewusst gegen eine programmatische

Neuausrichtung entschieden. Die däni-

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

49

3. Konvergenz und Divergenz sozialdemokratischer Reformpolitik

Page 52: perspektive21 - Heft 19

schen und schwedischen Sozial-

demokraten haben sowohl program-

matisch wie auch hinsichtlich der ver-

folgten Politik einen weniger radikalen

Wandel als New Labour und die PvdA

vollzogen: Sie führten nur einen mode-

raten und zeitlich befristeten Umbau

des Wohlfahrtstaates durch.

Lässt sich jenseits dieser Divergenzen

eine gemeinsame Neuorientierung

sozialdemokratischer Ziele beobach-

ten? In der Sozial- und Arbeitsmarktpo-

litik werden die Ziele des kollektiven

Sozialschutzes und der Vollbe-

schäftigung weiterhin vertreten, wobei

auf der Ebene der Politikinstrumente

eine Revision festzustellen ist. Neu

justiert wurde das Verhältnis von staat-

licher Leistung und individueller Eigen-

verantwortlichkeit. In der Steuer- und

Haushaltspolitik bleibt der Politikwech-

sel nicht auf die Instrumente be-

schränkt, sondern wird durch einen

Wechsel bei den Politikzielen (vgl. zum

Konzept: Hall 1993) begleitet. In Konkur-

renz zum Ziel der Umverteilung tritt

das der Haushaltskonsolidierung, wel-

ches sogar Priorität genießt. Dieser

Revisionismus ist in den sozialdemo-

kratischen Parteien unterschiedlich

stark ausgeprägt, aber doch ein Zeichen

eines gemeinsamen Weges sozialde-

mokratischer Reformpolitik.

Allerdings sind die untersuchten

Länder auf diesem Weg unterschied-

lich weit fortgeschritten. Die Divergenz

kann mit den Opportunitätsstrukturen

des nationalen Handlungskontextes

erklärt werden. Als besonders er-

klärungskräftig dafür, ob sozialdemo-

kratischen Parteien nennenswerte

Anpassungsmaßnahmen durchführen

konnten oder nicht, haben sich fol-

gende Faktoren erwiesen:

a) Das vorgefundene Politikerbe:Die Bereitschaft zu unpopulären

Reformen des Sozialstaates steigt

(sowohl in der Bevölkerung als auch

bei den handelnden Akteuren der Sozi-

aldemokratie), je schlechter die ökono-

mischen outcome-Indikatoren sind

(Arbeitslosenquote, Haushaltsdefizit,

usw.). Erst wenn alle relevanten

Akteure glauben, dass eine Beibehal-

tung des sozialstaatlichen Status quo

weiter krisenverschärfend wirkt, ist der

Handlungsdruck für Reformen des

Sozialstaates groß genug. Wurden ent-

sprechende Reformen schon von der

Vorgängerregierung (GB) oder gemein-

sam mit der wichtigsten Konkurrenz-

partei (NL) durchgeführt, so kann die

Sozialdemokratie diesen Weg pro-

blemlos weiter beschreiten. Muss

jedoch die Sozialdemokratie mit sozia-

len Einschnitten beginnen, wird die

Reformreichweite begrenzt – dies gilt

insbesondere dann, wenn sie vor ihrer

Regierungsübernahme erfolgreich ge-

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

50

Page 53: perspektive21 - Heft 19

gen marktorientierte Maßnahmen der

Vorgängerregierung mobilisiert hatte

(F und D). Vergleichbare Reformen kön-

nen dann erst nach einer gewissen Zeit

von der Sozialdemokratie selbst in

Angriff genommen werden (wie ab

2003 in Deutschland).

b) Die Struktur des Sozialstaates:Ein hochregulierter Arbeitsmarkt

institutionalisiert eine konfliktfähige

Gruppe von Insidern, die (als Stamm-

klientel der Sozialdemokratie) über die

Wahlarena eine Flexibilisierung des

Arbeitsmarktes verhindern bzw. verzö-

gern kann. Ein beitragsfinanzierter und

segmentierter Wohlfahrtstaat hemmt

Reformen, da autonome Sozialversi-

cherungen mit ihren Selbstverwal-

tungsorganen zusätzliche Akteure her-

vorbringen, die ein Interesse an

Bestandswahrung haben. Leistungen

autonomer Sozialversicherungen sind

aufgrund des Äquivalenzprinzips und

der Tatsache, dass Versicherte durch

ihre Beiträge Rechtsansprüche auf Lei-

stungen erworben haben, nur er-

schwert in das Konzept der „Aktivie-

rung“ einzubinden.

c) Die Struktur und Organisation derGewerkschaften:Sektorale Gewerkschaften mit mäßi-

gem Organisationsgrad und schwa-

chen Spitzenverbänden vertreten

primär die Interessen ihrer entspre-

chenden Klientel (Insider-Orientie-

rung) und lassen sich kaum in umfas-

sende Tauschstrategien einbinden (D,

F). Dieser Effekt wird durch das Institut

der Tarifautonomie verstärkt (D).

Starke, umfassende Gewerkschaften

können jedoch in unpopuläre Refor-

men mit längerem Zeithorizont einge-

bunden werden, was den Handlungs-

spielraum einer sozialdemokratischen

Partei vergrößert (S, DK). Ähnliches

gelingt, wenn die Gewerkschaften

noch in korporatistische Institutionen

eingebunden sind (NL). Den größten

Reformspielraum hat eine Regierung

bei schwachen Gewerkschaften, die

kaum Konflikt- und kein Vetopotential

besitzen (GB).

d) Die Konfiguration desParteienwettbewerbes:Linkssozialistische und christdemo-

kratische Parteien können sich als

„Bewahrer des Sozialstaates“ profilie-

ren und marktorientierte Reformen

einer sozialdemokratischen Regierung

hemmen – besonders innerhalb einer

Regierungskoalition (F). In Systemen

mit relevanten linken Parteien bei sozi-

aldemokratischer Dominanz können

Wahlverluste aber kompensiert wer-

den, wenn das linke Lager in der

Summe stärker als das rechte Lager

bleibt und die Sozialdemokratie als

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

51

Page 54: perspektive21 - Heft 19

Minderheitsregierung weiterregieren

kann (DK, S). Der Handlungsspielraum

kann auch durch eine Große Koalition

vergrößert werden (NL), der die christ-

demokratische Konkurrenz absorbiert.

Die hohen Wahlniederlagen der sozial-

demokratischen Parteien in Schweden

(1998) und den Niederlanden (1994)

illustrieren das Risiko der Abwahl der

Sozialdemokratie bei den ersten natio-

nalen Parlamentswahlen nach Beginn

umgangreicher Sozialstaatsreformen,

das aus den genannten Gründen in

diesen Ländern aber vermindert wer-

den konnte und somit den Handlungs-

spielraum vergrößerte.

Somit war der Handlungsspielraum

für umfassende Reformen in Frankreich

und Deutschland deutlich enger als in

Großbritannien, aber auch geringer als

in den skandinavischen Ländern. In den

Niederlanden konnten zwei potentiell

hemmende Faktoren einer marktorien-

tierten Reformpolitik umgangen wer-

den: Die Christdemokraten waren

während der ersten Reformmaßnah-

men in eine Große Koalition eingebun-

den, und das Blockadepotential der

Gewerkschaften konnte innerhalb

bewährter korporatistischer Institutio-

nen in eine Ressource umgewandelt

werden. In den reformaversen Ländern

Frankreich und Deutschland wurde

bzw. wird eine Reformpolitik aufgrund

des schwierigen nationalen Kontextes

verzögert, nicht aber verhindert. Die im

Frühjahr 2003 in Angriff genommenen

Sozialstaatsreformen der SPD-Regie-

rung (Agenda 2010) illustrieren, dass

sowohl die ökonomischen als auch die

elektoralen Kosten umso höher ausfal-

len, je länger entsprechende Reformen

hinausgezögert werden – was die deut-

schen Sozialdemokraten augenblick-

lich leidvoll erfahren müssen.

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

52

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Zohlnhöfer, Reimut 2003: Rot-grüne

Finanzpolitik zwischen traditioneller

Sozialdemokratie und neuer Mitte, in:

Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/

Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.), a.a.O.,193-

214.

Alle vier Autoren sind wissenschaftli-

che Angestellte im DFG-Projekt „Sozi-

aldemokratische Antworten auf inte-

grierte Märkte – Dritte Wege im inter-

nationalen Vergleich“ unter der Lei-

tung von Prof. Dr. Wolfgang Merkel am

Institut für Politische Wissenschaft der

Universität Heidelberg.

Sozialdemokratische Reformpolitik in Europa

55

Biografische Notiz

Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.), 2003, Das

rot-grüne Projekt. Bilanz der Regierung

Schröder 1998 – 2002, Wiesbaden:

Westdeutscher Verlag.

Egle, Christoph/Henkes, Christian2003: Is the SPD social-democratic?

The policy of the Schröder government

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nism, in: Haseler, Stephen/Meyer, Hen-

ning (Hg.): New Labour and the SPD:

Contemporary Social Democracy in

Britain and Germany (i.V.).

Ostheim,Tobias/Zohlnhöfer, Reimut,2003: Europäisierung der Arbeits-

markt- und Beschäftigungspolitik?

Der Einfluss des Luxemburg-Prozesses

auf die deutsche Arbeitsmarktpolitik.

In: Roland Czada/Susanne Lütz (Hrsg.):

Transformation und Perspektiven des

Wohlfahrtsstaates, Opladen: Leske +

Budrich, 2003 (i.E.).

Veröffentlichungen zum Thema:

Page 58: perspektive21 - Heft 19

Christoph Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim und Alexander Petring

56

Christoph Egle M.A.,geboren 1.02.1974,

Studium der Politischen Wissenschaft, Philosophie und Soziologie

an der Universität Heidelberg und am Institut d'Etudes Politiques d'Aix-en-Provence,

Arbeitsschwerpunkte: Parteien- und Policy-Forschung

(insbesondere Sozialdemokratie und grüne Parteien);

Politische Theorie (insbesondere Demokratietheorie und politischer Liberalismus);

Christian Henkes M.A.,geboren 29.01.1972,

Studium der Politischen Wissenschaft, Pädagogik und Volkswirtschaftslehre

an der Universität Mainz,

Arbeitsschwerpunkte: vergleichende Politikwissenschaft (insbesondere

sozialdemokratische Parteien und Policy, und skandinavische politische Systeme);

Politische Theorie (insbesondere Theorie der Minderheitenrechte);

Tobias Ostheim M.A.,geboren 30.01.1970,

Studium der Politischen Wissenschaft

an der Universität Heidelberg,

seit 1999 Wiss. Ang. am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg;

Arbeitsschwerpunkte: Vergleichende Policy-Forschung

(insbes. Europäische Policies, Sozialdemokratische Regierungspolitik);

Methoden empirischer Sozialforschung; webbasierte Lernsysteme.

Alexander Petring M.A.,geboren 31.05.1976,

Studium der Politischen Wissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Philosophie

an der Universität Heidelberg,

Arbeitsschwerpunkte:Wirtschaftspolitik

(insbesondere Deutschland und Großbritannien);

Politische Theorie (insbesondere Staatstheorie, Liberalismus, Rational Choice);

Page 59: perspektive21 - Heft 19

Vielleicht war es wirklich nur ein Pyr-

rhussieg, damals am 22. September

2002. Viel Sinn jedenfalls machte eine

zweite Legislaturperiode „Rot-Grün“

nicht. Schon den rot-grünen Wahl-

kämpfern fiel auf den Marktplätzen in

den langen und oft deprimierenden

Frühjahrs- und Sommermonaten 2002

nicht sonderlich viel ein, wenn die rat-

suchenden Bürger sie nach den weite-

ren sozialökologischen Projekten frag-

ten. Im Grunde war ja das spezifisch

Rot-Grüne – von der Homoehe bis zur

Ökosteuer – abgearbeitet, erledigt,

erreicht. Und im Köcher befanden sich

keine weiteren Pfeile mehr. Auch in

den Regionalparlamenten war die Zahl

rot-grüner Allianzen in den vier Jahren

zuvor kräftig zusammengeschmolzen.

Allein zwei Regierungen dieses Typs

gab und gibt es noch in den 16 Bundes-

ländern der deutschen Republik. Rot-

Grün regiert somit gewissermaßen

ohne Fundament. Die Regierung kann

kühne Konzepte entwickeln und

schöne Agenden aufstellen, wie sie

mag und möchte. Ohne die Zu-

stimmung des Bundesrates, ohne die

bürgerliche Mehrheit dort, kann sie

nichts bewegen, nichts wirklich kraft-

voll durchsetzen. Machtpolitisch sind

die Grünen für die Sozialdemokraten

ohne Wert. Schröder braucht Merkel

und Koch, nicht Fischer und Trittin. Und

dadurch kommt eine neue Regie-

rungsvariante zyklisch in die Debatte

und in den medialen Verdacht: die

Große Koalition.

Man kann sich ganz sicher sein: auch

in den nächsten Monaten wird in schö-

ner Regelmäßigkeit über sie geredet,

geschrieben, gestritten. Und die Kri-

tiker eines solchen Regierungs-

bündnisse werden zweifelsohne be-

sonders schrill protestieren. Sie wer-

den uns in zahlreichen Kommentaren

mahnend darüber belehren, dass sich

im Falle einer Großen Koalition erst

recht der Mehltau der Stagnation über

die bundesdeutsche Gesellschaft legt.

Dass die Volksparteien sich in diesem

Fall noch weiter angleichen und

anpassen. Dass das Parlament noch

stärker entmachtet wird. Dass das

Land dann vollends in Lethargie und

Bräsigkeit versinkt. Natürlich auch:

Dass die politischen Extreme an Zulauf

gewinnen. So reden die 55 bis 60 Jahre

57

Plädoyer für eine Große Koalitionzur Sanierung des deutschen Sozialstaatsvon Franz Walter

Page 60: perspektive21 - Heft 19

alten Meinungseliten in den Lehrer-

zimmern, Universitäten und Chefre-

daktionen schließlich schon seit nun-

mehr gut 35 Jahren, seit sie sich als

junge Menschen in den Zeiten von

Jimmy Hendrix und Janis Joplin über

das Kabinett Kiesinger/Brandt außer-

parlamentarisch empörten.

Doch stimmten all die sinistren

Unheilserwartungen schon damals

nicht, bei der ersten und bislang einzi-

gen Große Koalition der Republik. Und

sie werden auch dann nicht Realität,

wenn im Herbst Wolfgang Clement

oder wer auch immer mit Angela Mer-

kel oder wen auch immer koalieren

sollte. Wenn, wie gesagt. Im Gegenteil:

Große Koalition haben in institutionell

hochfragmentierten Systemen wie der

Bundesrepublik als einzige politische

Formationen die Chance, wirklich weit-

reichende Weichenstellungen vorzu-

nehmen und harte Zumutungen auch

an die Mitte der Gesellschaft zu rich-

ten. Sie erhöhen außerdem – und ganz

entgegen eines verbreiteten Vorurteils

– die Souveränität und den Spielraum

der Parlamentsfraktionen. Und wenn

sie ihre Aufgabe erfüllt haben, nötigen

sie die Großparteien wieder zur schär-

feren Abgrenzung voneinander, för-

dern dadurch die Politisierung, schär-

fen die Differenz. Da sich überdies die

Geister an einer solchen Koalition

besonders leidenschaftlich und erregt

scheiden, geben sie den kritischen Köp-

fen Auftrieb, erhöhen die öffentliche

Wachsamkeit und steigern infolgedes-

sen das politische Gesamtinteresse. So

erlebten wir denn auch schon am Ende

der Großen Koalition von Kiesiger nicht

der Durchmarsch der politischen

Extreme, auch nicht die viel befürch-

tete autoritäre Deformation und erst

recht nicht die häufig beschworene

gesamtgesellschaftliche Apathie, son-

dern den Beginn des sozialliberalen

Aufbruchs und der neuen Ostpolitik,

die Entstehung allerlei partizipations-

freudiger Bürgerinitiativen und kun-

terbunter sozialer Bewegungen. Eine

Große Koalition, kurzum, hat die Funk-

tion, durch eine Allianz von Bürgertum

und Arbeitnehmern – statt der sonst

üblichen Binnenintegration nur des

einen Lagers – die großen und fälligen

Reformen wenn nötig auch mit verfas-

sungsändernden Mehrheiten zu reali-

sieren und im Anschluss daran die Vor-

aussetzungen für eine neue Politik und

Kultur diesseits ihrer selbst zu schaf-

fen. So alle dreißig bis fünfunddreißig

Jahre könnte das die deutsche Repu-

blik gut gebrauchen. Insofern wäre

eine solche Koalition auch jetzt wieder

mit guten Gründen fällig.

Denn viel geht, wie jedermann weiß,

seit Monaten nicht mehr zusammen in

der deutschen Innenpolitik. Und das

wird auch erst einmal so bleiben.

Franz Walter

58

Page 61: perspektive21 - Heft 19

Dabei sind die Probleme, die dieser

Republik zu schaffen machen, Legion.

Wir alle können sie inzwischen im

Schlaf herunterbeten: Deutschland lei-

det an einer beispiellosen Wachstums-

schwäche; die Investitionsquote ist

bedrückend gering und nähert sich

rezessiven Werten; die Kommunen ste-

hen vor der Pleite; die öffentlichen Ein-

richtungen sind abschreckend marode;

Schulen und Hochschulen schleppen

sich mühsam durch die Maläse einer

dramatischen Unterfinanzierung; die

Bundeswehr ist nur bedingt einsatz-

fähig; das Schienennetz der Bundes-

bahn braucht eine flächendeckende

Remedur; das Gesundheitswesen

droht zu kollabieren; und über den

gesellschaftlichen Zukunftszusam-

menhang tickt weiterhin die demogra-

phische Bombe. Von der dauerhaften

Massenarbeitslosigkeit gar nicht zu

reden. Keines der Probleme ist neu;

nichts davon hat primär die Regierung

Schröder zu verantworten; das alles

hat sich in den letzten dreißig Jahren

Zug um Zug aufgeschichtet. Weder

Brandt noch Schmidt noch Kohl noch

Schröder ist der große Befreiungs-

schlag gelungen, auf den die Wähler

gleichwohl irgendwie hoffen. Aber da

können sie wohl noch lange warten,

zunehmend verdrossen, zynisch oder

einfach nur – demoskopisch hinrei-

chend belegt – gleichgültig gegenüber

Politik und Parteien. Denn keine kleine

Koalition wird in Deutschland den gor-

dischen Knoten zerhauen können,

selbst wenn sie die tüchtigsten Prag-

matiker und klügsten Visionäre in

ihren Reihen hätte.

Denn es gibt kaum ein anderes demo-

kratisches Land der Welt, in dem der

politische Gestaltungsraum macht-

instrumentell so begrenzt ist wie in

Deutschland. Nirgendwo jedenfalls ist

das Vetodepot der Opposition so auf-

gefüllt wie hierzulande. In England

etwa ist die Opposition durch und durch

ohnmächtig; sie kann lärmen, polemi-

sieren und resolutionieren, es interes-

siert niemanden. In Deutschland aber

ist die Opposition machtpolitisch stets

mit von der Partie, über ihre Minister-

präsidenten, im Bundesrat, in den öf-

fentlich-rechtlichen Gremien, über ihre

Repräsentanten und Parteimitglieder in

den Tarifauseinandersetzungen, in den

üblichen korporatistischen Bündnissen.

Das hat natürlich viel mit den föderalen

Strukturen und Kompetenzen zu tun,

die ebenfalls ein Unikum in dieser Welt

sind. Eine Regierung in Deutschland

kann nicht einfach regieren, wie sie es

für gut und richtig hält und wofür sie

eigentlich auch gewählt wurde. Eine

Regierung in Deutschland braucht zum

Erfolg fast durchweg die große Opposi-

tionspartei. Aber diese Opposition ist

ihrerseits natürlich keineswegs am

Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats

59

Page 62: perspektive21 - Heft 19

Erfolg der Regierung interessiert. Und

so ereignet sich immerfort das, was

zunehmend mehr Menschen in dieser

Republik auf die Nerven geht: die zähen

Stellungskriege zwischen Regierung

und Opposition, das monatelange Ge-

feilsche und Gezerre um einen dann

denkbar unzureichenden Kompromiss,

oft genug auch einfach nur Blockade

und Paralyse. Wir werden all dies in den

nächsten Monaten ermüdend oft ein

weiteres Mal erleben. Nur wenn die

Opposition kopflos durch die Land-

schaft irrt, wie die CDU nach Abgang

von Kohl und Schäuble 1999/2000 oder

die SPD unter Klose und Scharping in

der ersten Hälfte der 1990er Jahre, ver-

mag ein taktisch gewiefter und kalt-

blütiger Regierungschef den Spielraum

vorübergehend zu erweitern. Aber

damit kann auch der große Spieler

Schröder nicht mehr ernsthaft rechnen,

da die Merkels, Kochs und Stoibers

dazugelernt haben, mittlerweile zu

lafontainistischen Obstruktionen und

schröderschen Raffinessen reif und

fähig sind.

So bleibt allein die Große Koalition.

Sie ist gewissermaßen die zumindest

zeitweise erforderliche innere Konse-

quenz aus dem kooperationsdemokra-

tisch angelegten Institutionengefüge

der bundesdeutschen Republik. So wie

Deutschland verfasst ist, gelingt Politik

nur durch Kooperation, nur dadurch,

dass beide Parteien gleichermaßen am

gouvernementalen Erfolg interessiert

sind. Entweder man verändert im Kern

die Verfassungsordnung – aber wer

will das schon diesseits einiger rhetori-

scher Provokationen – oder man lässt

sich von Fall zu Fall auf großkoali-

tionäre Zweckbündnisse ein, sonst, ja

sonst geht es mit der kumulativen Kri-

senentwicklung in Deutschland dra-

matisch weiter, gleichviel übrigens ob

die heißersehnte weltwirtschaftliche

Trendwende nun irgendwann kommt

oder auch nicht.

Einiges spricht im übrigen dafür, dass

die große Koalition noch zwei weitere

Fehlentwicklungen korrigiert, über die

wir uns in den letzten Jahren häufig

beklagen: den Souveränitätsverlust des

Parlaments und die Entpolitisierung

der Parteien. In der Tat haben die Parla-

mentsfraktionen der Regierungspar-

teien in den letzen Jahren an Einfluss

enorm eingebüßt. Viele der großen

gesellschaftlichen Debatten sind be-

kanntermaßen in Kommissionen, Räten

und Gremien verlagert worden. Und

sobald sich in den Bundestagsfrakti-

onen von SPD und Grünen Minderhei-

tenauffassungen auch nur vorsichtig

herauszukristallisieren beginnen, greift

sofort und rüde der Disziplinierungs-

druck der „eigenen Regierungsmehr-

heit“ zu. In der Tat: knappe Majoritäten

erzwingen Einordnung und Subalter-

Franz Walter

60

Page 63: perspektive21 - Heft 19

nität. Große Mehrheiten aber verschaf-

fen Raum, ermöglichen auch quere

Diskussionslinien, lassen gar inner-

koalitionäre Opposition zu. Exakt so sah

es aus in den Jahren 1966-1969. Man

kann das im übrigen sehr schön in den

Erinnerungen des damaligen sozialde-

mokratischen Fraktionschefs Helmut

Schmidt nachlesen, in denen er über-

aus einleuchtend resümiert, „dass in

der Geschichte der Bundesrepublik das

Parlament niemals eine derart eigen-

ständige Rolle und ein so entscheiden-

des Gewicht gegenüber der Regierung

gehabt hat wie in den drei Jahren“ der

Großen Koalition; „weder vorher noch

nachher hat es eine klarere Gegenüber-

stellung von Exekutive und Legislative

gegeben, niemals eine wirksamere

Kontrolle durch das Parlament.“ Von

der Einflussmehrung der Abgeordne-

ten hat die gesamte Innenpolitik und

Debattenkultur im Parlament noch in

den 70er Jahren erheblich profitiert.

Seither ist viel davon wieder verloren

gegangen. Die Politik ist in der Folge

langweiliger geworden, die Qualität

der politischen Eliten gesunken. Gerade

bei den Jungparlamentariern der bei-

den Regierungsparteien vermisst man

Kontur und Substanz, argumentative

Schärfe und konzeptionellen Weitblick,

Originalität und Eigensinn, Verwegen-

heit und Mut. Auch in dieser Hinsicht

also wäre eine großkoalitionär be-

dingte Aufwertung von Parlament und

Fraktionen, von Debatte und Diskurs

nur wünschenswert.

Schließlich wird die Große Koalition,

sobald sie einigermaßen die Großauf-

gaben gelöst hat und der zweiten

Legislaturhälfte zusteuert, wieder die

beiden Parteien politisieren. Auch das

hat man in den 1960er Jahren gut ver-

folgen können. Bis zum Eintritt in die

Große Koalition betrieben die Sozial-

demokraten als Oppositionspartei le-

diglich eifrig die Anpassung an die

regierende Union, wollten nur die

„beste CDU aller Zeiten“ sein, wie es

selbstironisch in der SPD hieß. Doch ab

1968 suchten die Sozialdemokraten in

der Koalition mit der CDU die Unter-

scheidbarkeit, das scharfe Eigenprofil.

Und sie fanden beides in der Außen-

und Wirtschaftspolitik. Deutlicher

waren die Unterschiede zwischen

Union und Sozialdemokraten in den

gesamten sechziger Jahren nicht als

damals, zum Ausgang der Großen

Koalition. Und das hat die Republik im

weiteren ungemein beflügelt, hat

neue Debatten und Bewegungen ent-

facht, neue Werte und Kulturen an-

gestoßen. Eine Wiederauflage der

Großen Koalition im Sommer oder

Herbst 2003 könnte durchaus ähnliche

Folgen haben. In den ersten beiden

Jahren haben die beiden Großparteien

gewiss zuvörderst die Krisenagenda

Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats

61

Page 64: perspektive21 - Heft 19

abzuarbeiten – gemeinsam, unideolo-

gisch, kompromissfähig, pragmatisch

eben. Dann aber werden sie – schon

aus Gründen des Wahlkampfes und

um die Oppositionsparteien nicht zu

stark wachsen zu lassen – Differenz

und Distinktion herausstellen, werden

die unterschiedliche Substanz ihrer

Werte und Leitideen hervorheben,

werden erstmals nach Jahren wieder

über Programmatisches nachdenken.

Beides braucht die deutsche Gesell-

schaft: eine mittlere Frist wirklich

handlungsfähigen und problemlösen-

den Pragmatismus, dazu aber und

danach auch langfristig ausgerichtete

Großdebatten über Leitplanken, Ziel-

perspektiven und normativen Grund-

lagen der Politik. Die Große Koalition

könnte für das eine und das andere

Impuls und Voraussetzung sein.

Natürlich: Mag schon sein, dass nicht

alles so schön kommen muss, wie es

hier gewiss recht optimistisch aus-

gemalt wurde. Aber die Gefahren für

Demokratie und Liberalität sollte man

erst recht nicht übertreiben. So furcht-

bar groß ist ein Große Koalition im Vier-

parteiensystem nun auch nicht mehr.

Im Parlament würden diesmal, im Un-

terschied zu 1966, zwei selbstbewusste

Oppositionsparteien lauern, die mäch-

tig Druck machen können und werden.

Und da sind überdies noch alle die vie-

len jungen und ehrgeizigen Haupt-

stadtredakteure des deutschen Jour-

nalismus, die oft bedauerlicherweise

nicht sonderlich viel von Politik verste-

hen, aber als Experten des hämischen

Kommentars den Großkoalitionären

tagtäglich tüchtig einheizen werden.

Uninteressanter – oder wie sagt man

gerne: bleierner – wird es daher in Ber-

lin nicht zugehen, sollte es tatsächlich

zu einer Großen Koalition kommen.

Aber man muss eine solche Koalition

natürlich wollen, muss sie zielstrebig

anstreben, frühzeitig lagerübergrei-

fend Kontakte herstellen, durchaus

ganz im Stillen Vertrauen aufbauen,

personelle Brücken schlagen. Herbert

Wehner hatte dies in der ersten Hälfte

der 1960er Jahren zäh, kalt und virtuos

betrieben. Nächtelang trank der Dia-

betiker mit den Granden der Union

Wein, schickte ihnen zu Weihnachten

selbstgebackene Christstollen – und

gewann sie auf solche Weise für sich.

So holte der sächsische Machtstratege

die Union in das Bündnis mit den

lange stigmatisierten Sozialdemokra-

ten (Und als ab 1969 alles vorbei war,

interessierte sich Wehner keine

Sekunde mehr für die über Jahre

gehätschelten und mit allerlei Liebens-

würdigkeiten umworbenen Christ-

demokraten). Wehner übrigens wäre

ganz gewiss nie ein Dogmatiker eines

„rot-grünen Regierungsprojekts“ ge-

wesen. Wehner hätte längst subkutan

Franz Walter

62

Page 65: perspektive21 - Heft 19

schon mit aller ihm eigenen Energie

und Skrupellosigkeit an neuen Optio-

nen und Allianzen gebastelt. Nun steht

Wehner der Sozialdemokratie und der

bundesdeutschen Politik seit über 20

Jahren bekanntermaßen nicht mehr

zur Verfügung. Und ein neuer, zeit-

gemäßer Herbert Wehner? So recht

mag man ihn nicht erkennen. Vielleicht

hocken die politischen Lager auch des-

halb so starr, unbeweglich und steril in

ihren Schützengräben.

Plädoyer für eine Große Koalition zur Sanierung des deutschen Sozialstaats

63

Prof. Dr. Franz Walter,Professor für Parteienforschung an der Universität Göttingen,

jüngste Buchveröffentlichung: Die SPD. Vom Proletariat zur neuen Mitte,

Berlin 2002.

Page 66: perspektive21 - Heft 19
Page 67: perspektive21 - Heft 19

Die Parteiendemokratie steckt in der

Krise. Immer weniger Menschen wer-

den Mitglieder der Parteien. Die Ursa-

chen wurden schon vielfach analysiert:

Die Auflösung sozialmoralischer

Milieus, die zunehmende Individuali-

sierung in Zeiten der globalisierten

Ökonomie, die Aversion gegen ver-

machtete und korrupte Parteienstruk-

turen. Dennoch wird die Parteiende-

mokratie immer noch als alternativlos

wahrgenommen. Und das mit Recht:

Die Transformation der untergehen-

den DDR in eine parlamentarische

Demokratie ist auch deshalb gelun-

gen, weil es die neu entstandenen oder

demokratisch gewendeten Parteien

gab. Doch die ostdeutsche Parteien-

landschaft, ihre Struktur, ihr Binnenle-

ben und ihre Repräsentanten – das

alles ist etwas anders als in West-

deutschland. Vielleicht auch moderner

und zukunftsfähiger?

I.Die SPD zum Beispiel. Peter Glotz

1981, Karl-Heinz Blessing 1991, Franz

Müntefering und Matthias Machnig

2001: Alle zehn Jahre versuchen sich

die Organisationschefs der Partei an

der Reform und Erneuerung der Sozial-

demokratie. Der wichtigste Beweg-

grund der kampagnenhaften Be-

mühungen der obersten Parteiarbeiter

war und blieb dabei stets die Bewah-

rung der SPD als Mitgliederpartei.

Peter Glotz mühte sich 1981 um die

Zukunft einer westdeutschen Partei,

die seinerzeit noch stolze 956.490 Mit-

glieder zählte. Karl-Heinz Blessing,

erster Bundesgeschäftsführer der SPD

nach der deutschen Vereinigung,

konnte sich 1991 immerhin über die

Mitgliedsbeiträge von 919.871 gesamt-

deutschen Genossen freuen, Franz

Müntefering und Matthias Machnig

fanden 2001 jedoch nur noch 717.513 re-

gistrierte Sozialdemokraten in der

unterdessen modernisierten Mit-

gliederdatenbank. Als die deutsche

Sozialdemokratie im Mai 2003 ihren

140. Geburtstag feierte, konnten sich

nur noch weniger als 700.000 Genos-

sinnen und Genossen selbst gratulie-

Magazin

65

Eine Idee haben und Probleme lösenIst die Parteiendemokratie in Ostdeutschland nur eine tapfere Illusion –oder hat sie vielleicht doch noch eine Chance?

von Klaus Ness

Page 68: perspektive21 - Heft 19

ren. Die SPD hat also in den vergange-

nen 20 Jahren mehr als eine Viertelmil-

lion Mitglieder verloren – trotz der

inzwischen stattgefundenen Vereini-

gung Deutschlands, trotz allen bisheri-

gen Reformbemühungen. Und der

Trend ist nicht gestoppt.

Haben die Parteimanager versagt?

Haben all die vielen Kommissionssit-

zungen, die dicken Diskussionspapiere,

die wissenschaftlichen Expertisen pro-

fessoraler Politologen und die schön

gebundenen Bücher zur Zukunft der

Volksparteien gar nichts gebracht?

Kann sich die SPD damit trösten, dass

sich auch der CDU-Mitgliederbestand

zwischen 1991 und 2001 von über

750.000 auf weniger als 600.000 Par-

teigänger reduzierte? Müssen sich

letztlich alle Volksparteien eingeste-

hen, dass das in ihren Reformkommis-

sionen mantrahaft vorgetragene

Bekenntnis, sie seien klassische Mit-

gliederpartei und wollten das – selbst-

verständlich – auch dauerhaft bleiben,

nicht mehr ist als hilfloses Pfeifen im

dunkelsten Wald?

Man hört sie schon „Ketzer“ und

„Weltuntergangsprophet“ schreien, all

die modernistischen Apologeten der

„internetbasierten Netzwerkpartei“,

die meinen, das neueste Ei des Kolum-

bus zur Rettung der Volksparteien ent-

deckt zu haben. Aber auch diese Art

der Abwehr von Selbstzweifeln gehört

seit langem zum Ritual. Denn die Hin-

weise darauf, dass die Zukunft der als

Massenorganisationen aus den sozial-

moralischen Milieus des Industriezeit-

alters stammenden Parteien endlich

sein könnte, sind ja beileibe nicht

besonders neu. Bereits 1993 nannte

Steffen Reiche, einer der Gründer der

ostdeutschen SPD, die von Karl-Heinz

Blessing betriebene Debatte „SPD

2000“ eine „tapfere Illusion“. Aus sei-

ner Erfahrung beim Aufbau des bei

Wahlen in Ostdeutschland erfolgreich-

sten Brandenburger Landesverbandes

kam Reiche zu dem Schluss, dass die

westdeutsche SPD „das Bild ihrer

Zukunft in der SPD-Ost vor sich“ hat.

Mit dieser Prophezeiung löste der

junge Landesvorsitzende in der SPD-

West bestenfalls mitleidiges Kopf-

schütteln aus. So gönnerhaft wie bes-

serwisserisch gab man ihm den Rat-

schlag, doch bitteschön aktivere Orts-

vereinsarbeit zu betreiben und sich auf

diese Weise einfach um mehr Mitglie-

der zu bemühen. Als Reiche seinen Kri-

tikern berichtete, dass sein damals

knapp 7.000 Mitglieder zählender

Brandenburger Landesverband 2.300

kommunale Mandate besetze und gar

nicht genügend Kandidaten für alle zu

besetzenden Mandate finden könne,

erntete er als Reaktion nur ungläu-

biges Schweigen. Tempi passati. Mitt-

lerweile häufen sich die Berichte, dass

Klaus Ness

66

Page 69: perspektive21 - Heft 19

die SPD in weiten Gebieten Bayerns

nicht mehr mit Ortsvereinen präsent

ist und auch in anderen ländlichen

Regionen Westdeutschlands kaum

genügend Kandidaten für Kommunal-

wahlen findet.

Heute machen sich die Reformer an

der Parteispitze keine Illusionen mehr

darüber, dass die SPD in Ostdeutsch-

land in absehbarer Zeit über ihre knapp

30.000 Mitglieder kaum hinaus kom-

men kann. Aber natürlich wird für den

Westen unbeirrt am alten Idealbild

festgehalten. Bei Matthias Machnig, bis

Anfang 2003 Bundesgeschäftsführer

der Partei, liest sich das so: „Hinzu

kommt, dass die Mitgliederdichte aller

Parteien… in den ostdeutschen Bundes-

ländern so dünn ist, dass der Begriff

Mitgliederpartei als eher westdeut-

sches Konzept betrachtet werden

muss.“ Es ist schon verblüffend: Die

Wirklichkeit hat sich auch im Westen

der Republik längst verändert. Genau

deshalb müsste man sich in den Partei-

zentralen dafür interessieren, wie die

Erfahrungen im Osten, wo auch mit

wenigen Mitgliedern die Aufgaben

einer Partei erfolgreich wahrgenom-

men werden, für den Westen nutzbar

gemacht werden könnten. Stattdessen

hält man stur am alten Mantra fest.

Auch heute noch gilt Christian Morgen-

sterns geflügeltes Wort, dass nicht sein

kann, was nicht sein darf.

II.Das gesellschaftliche Milieu, aus dem

sich die SPD in der Ära der Industriali-

sierung rekrutierte, benötigte die Partei

als Schutzraum und als Vehikel für den

eigenen sozialen Aufstieg. Die Partei

war eine Ruhezone im harten Alltag, sie

verschaffte Bildungserlebnisse,

erlaubte Zugänge zum Leben, die das

Bürgertum der aufstrebenden Indu-

striearbeiterschaft versagte. Die Sozial-

demokratie war das institutionalisierte

Versprechen, das „Noch-nicht-Sein“

(Ernst Bloch) zu verwirklichen. Ihr histo-

rischer Erfolg, dieses Versprechen in

vielen Bereichen Wirklichkeit werden

zu lassen, macht der SPD als Or-

ganisation heute das Leben schwer. Die

Partei als Schutzraum wird nicht mehr

gebraucht, Bildungszugänge sind dank

sozialdemokratischer Reformpolitik

heute deutlich weniger blockiert. Und

neue Informationstechnologien lassen

das Referat des Bundestagsabgeordne-

ten im Ortsverein über die aktuelle

Regierungspolitik älter erscheinen als

die Schlagzeile der Tageszeitung von

gestern.

Eine Partei ist zwar auch heute noch

ein Raum der Gesellung und Verge-

meinschaftung. Aber eben nur einer

von vielen, die inzwischen auch Fach-

arbeitern und Angestellten offen ste-

hen: Schützenvereine, Bürgerinitia-

tiven – aber auch der Tennisclub und

Eine Idee haben und Probleme lösen

67

Page 70: perspektive21 - Heft 19

das Fitnessstudio. Wie alle anderen

Parteien ist die SPD also zunehmend

darauf angewiesen, ihre unmittelba-

ren Aufgaben im demokratischen

Staat zu erfüllen und ihre Existenzbe-

rechtigung auf diese Weise nachzu-

weisen. Sie muss an der politischen

Meinungsbildung der Bevölkerung

mitwirken, Personal für politische

Ämter rekrutieren und qualifizieren.

Und vor allem muss sie alltagstaugli-

che Lösungen für politische Probleme

entwickeln, mehrheitsfähig machen

und durchsetzen. Tobias Dürr hat

Recht: „Wo keine Kollektivgesinnung

und kein Liedgut, kein Milieu und kein

Vorfeld die Menschen noch an die Par-

teien binden, da wird diesen auf die

Dauer alleine die Arbeit an der besse-

ren Lösung, der besseren Politik hel-

fen.“ Statt vergangenen großen Zeiten

hinterher zu trauern, wird die SPD sich

die Frage stellen müssen, ob sie dieser

Aufgabe wirklich hinreichend gerecht

wird.

Vielleicht ist die SPD in Ostdeutsch-

land wegen ihrer anderen Geschichte

und Bedingungen gezwungener-

maßen in der Lage gewesen, einige

Fähigkeiten und Kenntnisse zu ent-

wickeln, die dem angeschlagenen

westdeutschen Tanker SPD helfen kön-

nen, seine Lage zu erkennen und wie-

der mehr Wasser unter den Kiel zu

bekommen.

Die heutige Sozialdemokratie in Ost-

deutschland ist nicht von Arbeitern

gegründet worden. Ihre Keimzelle war

eine Gruppe von Intellektuellen im

Umfeld der Evangelischen Kirche. Die

noch illegale Gründung als SDP am 40.

Jahrestag der DDR in einem Gemeinde-

haus im brandenburgischen Schwante

war eine mutige Tat – aber sie war eben

auch die Kopfgeburt einiger weniger

Menschen, die Zeit sei reif, um mit die-

ser Parteigründung die herrschenden

Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Die Gründer wollten einen Beitrag dazu

leisten, den Alleinvertretungsanspruch

der SED zu brechen. Diese wichtigste

Aufgabe, die ihren Gründung legiti-

mierte, löste die SDP gemeinsam mit

anderen neu gegründeten Parteien,

Initiativen und Millionen Menschen auf

den Straßen der DDR. Und zwar schnel-

ler als sie selbst zu hoffen gewagt

hatte. Ihre Analyse hatte also

gestimmt, die Zeit war gekommen.

Ihre eigentliche „Gründung“ als dau-

erhafte Partei und damit die Be-

währungsprobe, ob sie auch die Zu-

kunft gestalten wolle und könne, stand

der ostdeutschen Sozialdemokratie

aber erst noch bevor.

Es ist unüblich, aber plausibel, den 6.

Mai 1990 als das entscheidende Grün-

dungsdatum der ostdeutschen SPD

anzusehen. Das war der Tag, an dem in

der vergehenden DDR die ersten freien

Klaus Ness

68

Page 71: perspektive21 - Heft 19

Kommunalwahlen stattfanden. Auf

einen Schlag gelangten mit dieser

Kommunalwahl Tausende von ost-

deutschen Sozialdemokraten, die zu

DDR-Zeiten nicht in politischer Verant-

wortung gewesen waren, in Kreistage,

Stadtverordnetenversammlungen und

Gemeindeparlamente. Hunderte wur-

den gleichsam aus dem Stand zu Land-

räten und Bürgermeistern, Beigeord-

neten, Jugendamtsleitern oder Käm-

merern.

In einer Zeit dramatischen Um-

bruchs, großer Ungewissheit und

rechtlicher Unsicherheit mussten sie

überall an den Graswurzeln einer auf-

gewühlten Gesellschaft zwischen Rü-

gen und dem Fichtelberg buchstäblich

das Ausbrechen des Chaos verhindern.

Sie mussten gleichzeitig Neues lernen

und Entscheidungen von großer Trag-

weite treffen, außerdem noch eine Par-

tei aufbauen und mit all ihrem Han-

deln das Vertrauen der Menschen in

die Sozialdemokratie rechtfertigen. Es

war eine ungeheuere Aufgabe, die

viele der 1990 verantwortlichen Sozial-

demokraten mit Bravour gemeistert

haben. Die harte Arbeit der Kommu-

nalpolitiker in der ersten Stunde des

demokratischen Neubeginns war das

wichtigste Unterpfand der Etablierung

nicht nur der Sozialdemokratie, son-

dern auch der Parteiendemokratie in

Ostdeutschland überhaupt.

Dabei stützte sich die ostdeutsche

SPD besonders auf eine soziologische

Gruppe unter ihren Neumitgliedern,

um die sich Peter Glotz als Bundesge-

schäftsführer der westdeutschen Sozi-

aldemokratie schon in der ersten

Hälfte der achtziger Jahre ohne nen-

nenswerten Erfolg bemüht hatte: Das

waren die Angehörigen der techni-

schen Intelligenz. Viele sozialdemokra-

tische Landräte und Bürgermeister der

Nachwendezeit waren hoch qualifi-

zierte, pragmatische, in der Lösung

praktischer Alltagsprobleme geübte

Diplomingenieure. Es waren Men-

schen, die das System der DDR ab-

lehnten, weil sie dessen ökonomische

Ineffizienz aus der Erfahrung ihres

Arbeitsalltags sehr genau kannten –

und weil sie sich zugleich daran

stießen, wie im Staat der SED vernünf-

tige und praktikable Lösungen aus

ideologischen Gründen verhindert

wurden. Die Angehörigen dieser

Gruppe begrüßten den Neuanfang, der

auch einen Bruch in ihrer Biografie

bedeutete, weil sie die alten Eliten

ablösen und schnell lebenspraktische

Veränderungen herbeiführen wollten.

Ihre Neugier, ihr Ehrgeiz, besonders

aber ihre praktische Vernunft waren

wichtige Voraussetzungen dafür, dass

der Transformationsprozess auf kom-

munaler Ebene gelingen konnte. Diese

tatkräftige Generation der 35 bis 45

Eine Idee haben und Probleme lösen

69

Page 72: perspektive21 - Heft 19

Jahre alten Ingenieure war nicht nur

für die SPD ein Glücksfall, sondern

auch für die Demokratie in Ost-

deutschland insgesamt. Sie waren und

sind unideologisch, verwurzelt in ihrer

Region, sozial verantwortlich und prag-

matisch ins Gelingen verliebt.

In der Kommunalpolitik sind Partei-

en über ihre Repräsentanten unmittel-

bar erlebbar. Hier wird ihre Kompetenz,

geeignetes Personal zu rekrutieren

und zu qualifizieren, von den Bürgern

ganz direkt wahrgenommen. Hier ent-

stehen Vertrauen und Bindung – und

hier werden Vertrauen und Bindung

zuweilen auch wieder verspielt. Die

SPD hat diese Erkenntnis in den ver-

gangenen Jahrzehnten vernachlässigt.

Dem Niedergang der SPD in Bundes-

ländern ging in der Regel ihr Nieder-

gang in den größeren Städten dieser

Länder voraus. Das klassische Beispiel

für diesen Mechanismus ist Frankfurt

am Main, aber auch die Stadtstaaten

Berlin und Hamburg haben ihn seit

den siebziger Jahren erlebt. Franz

Müntefering und Matthias Machnig

haben in ihren Vorschlägen zur Partei-

reform dieses Problem erkannt und

mit der Gründung einer „Kommunal-

akademie“ für kommunale Leitungs-

funktionen den Versuch gestartet, eine

Antwort zu entwickeln. Diese Initiative

ist beispielsweise in Brandenburg

durch eine Landes-Kommunalakade-

mie ergänzt worden, in der bereits im

ersten Jahr 120 jüngere Parteimitglie-

der in Rhetorik, kommunalem Haus-

halts- und Baurecht qualifiziert wur-

den, die sich bei den Kommunalwahlen

2003 erstmals um ein Mandat in kom-

munalen Vertretungen bewerben. Auf-

schlussreich ist in diesem Kontext,

dass die Brandenburger SPD-Kommu-

nalakademie zwar gegründet wurde,

um die örtlichen Parteigliederungen

zu motivieren, frühzeitig geeignete

Kandidaten für die Kommunalwahlen

zu gewinnen. Der unerwartet große

Ansturm auf das Angebot zeigt aber

auch, wie Parteien neue Aktivisten und

Mitglieder gewinnen können: Sie müs-

sen neue und vor allem exklusive

Angebote schaffen, die so nur bei

ihnen zu erhalten sind. Und diese

Angebote müssen so gut sein, dass sie

auch außerhalb der Partei verwertbar

sind. In Brandenburg ist das Angebot

aus der Not heraus entstanden. In der

Not wächst aber das Rettende auch –

vielleicht für die Parteien im Osten und

im Westen?

III.Im Jahr 1988 erschreckte Wolfgang

Michal, ein damals 32 Jahre alter ehe-

maliger Redakteur der sozialdemokra-

tischen Parteizeitung „Vorwärts“, seine

Parteispitze mit seinem Buch Die SPD –

staatstreu und jugendfrei. Akribisch

Klaus Ness

70

Page 73: perspektive21 - Heft 19

und kenntnisreich beschrieb er, wie es

seiner Partei gelungen war, innerhalb

eines guten Jahrzehnts von der

blühenden Hoffnungsträgerin der

Nach-Apo-Jugend zur fast jugend-

freien Zone zu verkümmern. In den

frühen siebziger Jahren war eine ganze

Generation von reformbegeisterten

jugendlichen „Willy-Wählern“ in die

SPD geströmt. Sie machte sich mit vie-

len Illusionen und noch mehr Enthusi-

asmus auf den Weg, mit der SPD eine

neue Welt zu schaffen. Innerhalb weni-

ger Jahre überschritt die SPD die

Schwelle von einer Million Mitgliedern,

von denen nun fast 350.000 jünger

waren als 35 Jahre. Aber schon wenige

Jahre später, am Ende der Ära Schmidt

war davon kaum noch etwas übrig. Die

SPD hatte es nicht verstanden, eine

Mehrheit der ihr hoffnungsvoll zuge-

strömten Menschen zu integrieren.

Noch schlimmer, sie hatte es weitge-

hend nicht einmal versucht. Das

zunächst aggressiv-feindliche Auf-

treten eines Teils der Partei gegen die

entstehenden neuen sozialen Bewe-

gungen der Frauen-, Friedens-, Ökolo-

gie- und Dritte-Welt-Gruppen beför-

derte letztlich sogar die Entstehung

der neuen Konkurrenz „Die Grünen“,

die sich zur Jugendpartei schlechthin

der achtziger Jahre entwickelten. In

diesem Prozess wurde ein Teil der jün-

geren SPD-Mitglieder, der mit den

neuen sozialen Bewegungen sym-

pathisierte, aus der Partei heraus

gedrängt. Dieser Aderlass endete erst

mit dem Wechsel auf die Oppositions-

bänke in den Jahren 1982/83.

Schlimmer und verhängnisvoller für

die weitere Entwicklung der Sozialde-

mokratie waren aber die Selbstüber-

schätzung und die Selbstgefälligkeit in

ihrer Jugendarbeit. In weiten Teilen der

Partei gilt selbst heute noch der Satz,

dass für die Jugendarbeit die Jusos

zuständig sind. Das war eine Situation,

mit der sich beide Seiten gut einrich-

ten konnten: Hier die Partei, die der

aufmüpfigen, schon bald aber nicht

mehr nennenswert störenden Jugend

einen Spielplatz eingerichtet hatte,

dort die Jusos, die sich in einer Parallel-

welt jenseits des wirklichen Lebens

tüchtig austoben konnten.

Anfang der achtziger Jahre kümmer-

ten sich Helmut Kohl und die anderen

Granden der Christdemokratie sorgfäl-

tig darum, dass Roland Koch, Christian

Wulff, Christoph Böhr und die anderen

Funktionäre der Jungen Union jener

Zeit fleißig Rhetorikseminare besuch-

ten und Stipendien der Konrad-Aden-

auer-Stiftung für ihre Jura- oder BWL-

Studien erhielten. Zur gleichen Zeit

registrierte die Presse sehr genau, dass

die sozialdemokratische Parteispitze

Juso-Bundeskongresse fast vollständig

ignorierte, ja sich dort nicht einmal

Eine Idee haben und Probleme lösen

71

Page 74: perspektive21 - Heft 19

mehr der Diskussion stellte. Im Ergeb-

nis sind Roland Koch und Christian

Wulff heute Ministerpräsidenten. Und

die Juso-Bundesvorsitzenden der acht-

ziger Jahre kennt kein Mensch mehr.

Das fast schon sträfliche Versagen der

SPD in ihrer Jugendarbeit in den siebzi-

ger und achtziger Jahren ist eine der

wesentlichen Ursachen ihrer heutigen

Krise. Das quantitative und qualitative

Loch, welches das Unvermögen der

Partei geschlagen hat, eine gezielte

Nachwuchsförderung zu betreiben,

gefährdet heute in den Ländern und in

den kommenden Jahren im Bund ihre

Regierungsfähigkeit.

Die ostdeutschen Landesverbände

sind seit 1989/90 in einer völlig ande-

ren Situation. Sie schleppen nicht die

Altlasten der westdeutschen Sozial-

demokratie mit sich herum. Die SPD in

Ostdeutschland wurde fast ausschließ-

lich von Angehörigen der jüngeren und

mittleren Generation gegründet. Fast

alle ihre Mitglieder gingen mit ver-

gleichbaren Startvoraussetzungen in

die Verantwortung von Ämtern, Man-

daten und Funktionen. Keiner hatte die

Zeit oder die Chance, eine anstren-

gende, vielleicht auch lehrreiche „Och-

sentour“ durch die Partei anzutreten.

Die engagierten Mitglieder waren zu

wenige, die Aufgaben groß – für man-

che zu groß. Voraussetzung für die

Übernahme von Verantwortung war

und ist die Bereitschaft zum Enga-

gement und zur Qualifikation: eine

große Chance für junge Menschen, die

gefordert und gefördert werden wol-

len. Ein gezieltes Fordern und Fördern

junger Parteimitglieder wird zwar über

die Zukunft aller Parteien nicht nur in

Ostdeutschland entscheiden. Für die

SPD wird es aber geradezu überlebens-

notwendig. Die Generation der 20- bis

30-Jährigen in der ostdeutschen SPD,

beispielsweise der junge Bundestags-

abgeordnete Carsten Schneider aus

Erfurt, die stellvertretende SPD-Lan-

desvorsitzende Katrin Molkentin in

Brandenburg und der Landtagsab-

geordnete Matthias Brodkorb in Meck-

lenburg-Vorpommern müssen genauso

das Bild ihrer Partei prägen wie Mat-

thias Platzeck, Harald Ringstorff und

Christoph Matschie.

IV.Seit Bill Clinton wissen wir in

Deutschland was ein spin doctor ist.

Auch wenn der SPD-Generalsekretär im

Frühsommer 2002 auf Parteikon-

ferenzen den sozialdemokratischen

„Mundfunk gegen den Rundfunk“

beschwor – bei der Vorbereitung der

heißen Wahlkampfphase setzte er doch

mehr auf die Beratung durch

Meinungsforschungsinstitute, auf die

mediengerechte Inszenierung der

Wahlkampfevents und die Bildsprache

Klaus Ness

72

Page 75: perspektive21 - Heft 19

von Werbetextern, die ihr Können sonst

an die großen Marken der Konsum-

industrie verkaufen. Koordiniert wurde

das alles von gut qualifizierten Par-

teimanagern, die sich ihren letzten

Schliff bei der Beobachtung der Wahl-

kämpfe der amerikanischen Demo-

kraten geholt hatten und es gerne

geschehen ließen, dass Medien sie zu

den neuen spin doctors stilisierten.

Nach dem Motto „Alle Macht den

Profis“ wurde die Parteimitgliedschaft

mit ihren roten Sonnenschirmen und

ihrem selbst gebackenen Kuchen zur

bloßen Staffage und Zuschauerkulisse

einer ausgefeilten Kampagne. Und als

diese endlich gut lief, waren es auch

alle zufrieden.

Der Trend, der mit der Wahlkampa-

gne 1998 in Deutschland erstmals rich-

tig wirkungsmächtig wurde, scheint

unaufhaltsam. Die Parteien richten

ihre „Kampa“ oder ihre „Arena“ ein, in

den war rooms der Zentralen werden

von wenigen hoch qualifizierten, moti-

vierten und gut gestylten Menschen

ständig Meinungsumfragen studiert,

Begriffe auf ihre Massenwirksamkeit

getestet sowie Anzeigen und Werbe-

spots entwickelt. Der Ortsvereins- und

Kreisvorsitzende, ja selbst der örtliche

Bundestagskandidat nimmt das Fer-

tigprodukt zur Kenntnis, darf sich über

Erfolge freuen oder über Misserfolge

ärgern. Am Ende der Kampagne hebt

das Raumschiff mit den Profis wieder

ab; womöglich wird es vier Jahre später

wieder an der gleichen Stelle landen. In

der Zwischenzeit aber dilettieren die

Parteiamateure weiter – an der Konso-

lidierung ihres Kommunalhaushaltes,

an einer neuen Rentenreform. Oder an

der Zukunft des Sozialstaates.

Dieser etwas zynisch anmutende

Blick verweist auf den blinden Fleck der

laufenden Debatte über die vermeint-

lich notwendige Professionalisierung

der Parteien: Wahlkampf ist die Aus-

nahme, die Lösung praktischer Pro-

bleme und die Entwicklung langfristi-

ger Lösungsstrategien sind der Alltag

politischer Parteien. Langfristig kann

keine noch so gut gemachte Kampagne

konzeptionelle Defizite und mangelnde

praktische Lösungskompetenz der han-

delnden Akteure überdecken – eine

Erfahrung, die gerade die rot-grüne

Koalition nach der Bundestagswahl

2002 atemberaubend schnell und hef-

tig machen musste.

Die Sozialdemokratie merkt derzeit,

dass eine Partei sich ihres Sinns entleert,

die sich zwar ihr Image virtuell ent-

wickeln lässt, den Meinungsstreit über

ihre politischen Inhalte aber nicht mehr

ernsthaft führt. Eine Partei, die sich

durch veränderte Realitäten ihres Sinns

und ihrer Ziele nicht mehr sicher ist,

kann zwar kurzfristig und ersatzweise

von Profis eine modisch-attraktive Sinn-

Eine Idee haben und Probleme lösen

73

Page 76: perspektive21 - Heft 19

wolke generieren lassen, dauerhaft aber

wird sie nicht lebensfähig sein. Und eine

Partei, die sich von spin doctors abhän-

gig gemacht hat, muss erst wieder ler-

nen, alleine zu gehen. Sie muss lernen,

vor allem sich selbst zu professionalisie-

ren – also ihre eigenen Mitglieder durch

ihre eigenen Mitglieder. Bildungsarbeit,

Qualifizierung, Meinungsstreit, ja auch

die ideenpolitische Kontroverse sind in

den Parteien aus der Mode geraten.

Aber gerade in Zeiten tiefgehenden

Wandels und großer Verunsicherung

sind sie bitter notwendig.

In Ostdeutschland ist heute mit Hän-

den zu greifen, dass die Menschen aus

der Starre der Transformationsphase

erwachen. Das Ende der Nachwende-

zeit weckt bei vielen das Bedürfnis, sich

ihrer selbst und der Verhältnisse zu ver-

gewissern, eine neue Haltung zu ent-

wickeln, an den Umbauprozessen im

neuen, sich insgesamt verändernden

Deutschland aktiv teilzunehmen. Das

kann zur großen Chance für Parteien

werden, die dafür offen stehen und das

Mitmachen zulassen. Um diese Men-

schen zu erreichen, sie für ein Engage-

ment zu gewinnen, müssen Parteien

intellektuell attraktiver werden. Sie

müssen aber auch handfeste Angebote

machen, die das Mitmachen lohnen,

weil sie individuelle Qualifikationen

verbessern und ein konkretes Abrech-

nen des eingebrachten Engagements

ermöglichen. Nicht nur im Osten gibt

es dafür das Bedürfnis. Die Frage ist, ob

Parteien diese Nachfrage befriedigen

können – und wollen.

V.In einer Dienstleistungsgesellschaft

sind auch Parteien Dienstleister. Mit

ihrem spezifischen Angebot bedienen

sie aber nicht nur Haltungen, sie über-

mitteln umgekehrt auch Haltungen

und Erwartungen an eine Gesellschaft

und geben ihnen eine Richtung. Ihr

Erfolg hängt nicht nur davon ab, ob sie

in der Lage sind, Konflikte in einer kom-

plexen Gesellschaft zu moderieren und

mehrheitsfähige Lösungsansätze quali-

fiziert in die Tat umzusetzen. Sie müs-

sen auch eine Idee davon haben,

warum und – vor allem – wie eine

Gesellschaft funktionieren soll. Die

Unterscheidbarkeit von Parteien macht

sich also nicht nur an ihrer Kompetenz

zur Lösung von Problemen fest, son-

dern auch an ihren damit je verbun-

denen Vorstellungen vom künftigen

Zusammenleben der Gesellschaft.

Erfolgreich werden also in Zukunft

diejenigen Parteien sein, denen es

gelingt, diese Einheit aus Idee und prak-

tischer Kompetenz zu verdeutlichen.

Und die geeignetes Personal haben, um

genau dies glaubwürdig zu kommuni-

zieren. Alle Befragungen zeigen, dass

die Menschen sich Politiker wünschen,

Klaus Ness

74

Page 77: perspektive21 - Heft 19

die Authentizität mit Kompetenz und

Engagement verbinden. Die große Ver-

ehrung, die etwa Regine Hildebrandt in

Ost und West auch noch nach ihrem

Tod entgegengebracht wird, belegt das

Bedürfnis, das danach bei den Men-

schen besteht. Womöglich ist gerade

dies die Chance einer neuen Genera-

tion von Politikern aus dem Osten, die

ihre politische Sozialisation nach der

Wendezeit erlebten. Sie sind die erste

Generation, die nicht verfangen ist in

die politischen Ränke- und Sandkasten-

spiele der alten Bonner Republik. Die

erste Generation, die Authentizität aus

der Lösung der Transformationspro-

bleme gewonnen und dabei einen kla-

ren Blick für den Reformbedarf des

neuen Deutschland entwickelt hat.

Sollte diese Generation der Platzecks

und Tiefensees einen gesamtdeut-

schen Anspruch entwickeln, könnte sie

vielleicht nicht nur die Parteiendemo-

kratie wiederbeleben. Sie könnte auch

den nötigen Reformschub für ganz

Deutschland auslösen.

Eine Idee haben und Probleme lösen

75

Klaus Ness,Landesgeschäftsführer der SPD Brandenburg.

Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem von Tanja Busse und Tobias Dürr

herausgegebenen Buch „Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance“,

das Ende September 2003 im Aufbau-Verlag erscheint.

Page 78: perspektive21 - Heft 19
Page 79: perspektive21 - Heft 19

1.Das Wissen um die Ergebnisse von

Bildungsprozessen vergrößert sich von

Jahr zu Jahr. Alle 3 Jahre findet der inter-

nationale PISA-Test (15-jährige) statt, im

Frühjahr diesen Jahres haben wir die

Ergebnisse des internationalen IGLU-

Tests (Grundschule Klasse 4) erhalten,

Ende des Jahres wird der nationale

IGLU-Vergleich veröffentlicht. Dem ent-

spricht nicht das gesicherte Wissen um

die Gründe der Ergebnisse und das Wis-

sen um die Möglichkeiten, die Ergeb-

nisse zu verbessern. Wissenschaftliche

Wirkungsanalysen über bestimmte

Maßnahmen oder auch von konkretem

Lehrerhandeln liegen kaum vor. Des-

halb sind wir bei der Fehleranalyse als

auch bei vorgeschlagenen Maßnah-

men auf Plausibilitätsannahmen ange-

wiesen, die sich auf Vergleiche mit

anderen Bundesländern oder interna-

tionale Vergleiche beziehen.

Bei diesen Vergleichen sollten wir uns

eher auf die internationale Spitze bezie-

hen als auf die deutsche Spitze, da die

deutsche Spitze international wie-

derum nur Durchschnitt ist. Dabei ist zu

beachten, ob bei Übernahme von ein-

zelnen Instrumenten die Passfähigkeit

zum Gesamtsystem gegeben ist, ob

bestimmte Maßnahmen in das andere

kulturelle und mentale Umfeld passen

und an das vorhandene Qualifikations-

niveau der Bildungsakteure anknüpfen.

Auch für die nach den IGLU-Ergebnis-

sen wieder neu aufgeflammte Struk-

turdiskussion gilt es, dies zu beachten.

Beim IGLU-Test ist der Abstand

Deutschlands zur Weltspitze deutlich

geringer als bei PISA, wenn auch der

deutsche Rangplatz im vorderen Mit-

telfeld zu relativieren ist, da viele Län-

der, die beim PISA-Test vor Deutschland

lagen, sich an IGLU nicht beteiligten.

Richtig ist, dass das dreigliedrige, mit

den allgemeinen Förderschulen sogar

viergliedrige deutsche Schulsystem vor

allem an den Schnittstellen Selektion

vor Förderung stellt, Schulzeit durch zu

häufiges Sitzenbleiben und Schulform-

wechsel verplempert und Bildungs-

lagen durch ein entsprechendes Ler-

numfeld zementiert. Es gibt jedoch in

Deutschland für grundlegende Struk-

turreformen in Richtung auf ein ein-

77

Der Weg aus dem PISA-LochErfolgreiche Schritte für die Brandenburger Schulen

von Martin Gorholt

Page 80: perspektive21 - Heft 19

heitliches Schulsystem auch nach der

Grundschule keinen politischen Kon-

sens, so dass eine solche Reform nicht

kontinuierlich und stabil machbar

wäre. Zum anderen gilt das oben

gesagte, die Lehrkräfte müssten zum

Beispiel lernen mit heterogenen Lern-

gruppen umzugehen und einen auf die

einzelnen Schüler und ihren Förderbe-

darf zugeschnittenen Unterricht zu

organisieren. In Deutschland realisti-

scher durchsetzbar ist ein zweigliedri-

ges Schulsystem, das nach der Wende

von der CDU in drei neuen Ländern ein-

geführt wurde. In Brandenburg wäre

eine solche Schulstruktur schon wegen

der zurückgehenden Schülerzahlen im

ländlichen Raum eine Notwendigkeit,

auf die sich die große Koalition leider

nicht verständigen konnte.

Neben vielen Einzelpunkten können

als plausible Hauptgründe für das

schlechte Brandenburger PISA-Ergebnis

das nichtvorhandene gemeinsame

Qualitätsverständnis von Schule und

Unterricht und die fehlende Evaluati-

onskultur in den 90er Jahren genannt

werden. Bei allen neu zu ergreifenden

Maßnahmen ist zu bedenken, dass

diese nur dann Schule wirklich verän-

dern, wenn die Implementation profes-

sionell erfolgt. Deshalb ist weniger oft

mehr, da nicht viele oberflächliche Ver-

änderungen sondern wenige durch-

greifende Veränderungen mehr be-

wirken. Dabei ist die Konzentration auf

die Veränderung jeder Einzelschule und

deren Ergebnisorientierung der einzig

mögliche und richtige Weg.

2.Es gibt keinen direkten Zusammen-

hang zwischen der eingesetzten

Menge an Geld und den erzielten Bil-

dungsergebnissen. Bremen und Bran-

denburg waren neben Sachsen-Anhalt

die Schlusslichter bei PISA, Branden-

burg allerdings mit einem Drittel

geringerer Stückkosten als Bremen

(Bernhard Muszynski). Ein leistungs-

fähiges Bildungssystem setzt jedoch

kontinuierlich angemessen hohe Aus-

gaben voraus. Für Brandenburg wird es

besondere Anstrengungen verlangen,

trotz der deutlich über den anderen

neuen Bundesländern liegenden jährli-

chen Haushaltsbelastungen durch

Zinszahlungen für die Anfang der 90er

Jahren höhere Neuverschuldung und

das aufgebaute Wohnungsbauvermö-

gen eine klare Prioritätensetzung auf

Bildung durchzusetzen und durchzu-

halten. Die Agenda 2010 könnte in der

Bundesrepublik eine neue grundle-

gende Prioritätensetzung einleiten. Im

Mittelpunkt des staatlichen Handelns

steht nicht mehr die Umverteilung von

Geld, sondern die Verteilung von Chan-

cen durch Bildung. Vorbild könnte das

„skandinavische Hochbildungs-Mo-

Martin Gorholt

78

Page 81: perspektive21 - Heft 19

dell“ (Matthias Horx) sein, das Bil-

dungsprozesse dem Strukturwandel

voraus organisiert, die Qualifikation

der Frauen durch Kinderbetreuung voll

nutzt und Bildung und Weiterbildung

als Kernelemente der Sozialpolitik

sieht. Eine solche Hochbildungsgesell-

schaft könnte als realistische Zu-

kunftsvision mobilisierungsfähig sein.

3.In der aktuelle Bildungsdebatte

besteht weitgehende Einigkeit über

das zu entwickelnde Steuerungsmo-

dell. Die Selbständigkeit der Schulen

ist zu erweitern bei gleichzeitig klarer

externer Standardsetzung und Kon-

trolle des Outputs, Kontrolle an Hand

der Ergebnisse, also der Leistungen der

Schülerinnen und Schüler. Selbständig-

keit von Schule bezieht sich auf die

schrittweise Erweiterung von Hand-

lungsspielräumen auf den Feldern

Budgetrecht, Personalhoheit, Fortbil-

dung und Unterrichtsorganisation. Die

selbständige Schule setzt sich ein

Schulprogramm, das insbesondere zur

Qualitätsentwicklung dient. Die ex-

terne Standardsetzung erfolgt über

die Rahmenlehrpläne und Qualitäts-

standards. Die externe Standardüber-

prüfung erfolgt durch zentrale Tests

und Prüfungen (in Brandenburg:

Klasse 2, Klasse 10, Zentralabitur, Ver-

gleichsarbeiten mit Beispielaufgaben

in 5 und 8) und die deutschlandweiten

bzw. internationalen Tests. Wichtig

dabei ist, dass die externen Informat-

ionen in internes Handeln umgesetzt

werden. Ab 2004 sollen bundesweit

über die Kultusministerkonferenz ver-

einbarte Standards vorliegen. Ob diese

Standards den Kriterien des vom Bun-

desbildungsministerium in Auftrag

gegebenen Gutachtens von Eckhard

Klieme u.a. entsprechen und Kom-

petenzen beschreiben, deren Erreichen

mithilfe eines nationalen Testverfah-

rens überprüft werden kann, ist aller-

dings noch offen bzw. eher zu bezwei-

feln. Die interne Evaluation erfolgt

durch regelmäßige Kontrolle über das

Erreichen der Ziele des Schul-

programms und durch ein regelmäßi-

ges Feedback von Lehrern, Schülern

und Eltern bezüglich der Unterrichts-

und Schulqualität.

4.Im Mittelpunkt der Veränderungen

steht die Veränderung von Unterricht.

Dabei geht es um stärkere Beachtung

des Literacy-Ansatzes, also um das

Umgehen mit Wissen, das Lösen von

Problemen und das Anwenden von Wis-

sen. Es geht um Leseförderung und Ent-

wicklung einer Lesekultur. Es geht um

regelmäßige Diagnose des Lernstandes

der Schülerinnen und Schüler und die

Entwicklung von individuellen Lernplä-

Der Weg aus dem PISA-Loch

79

Page 82: perspektive21 - Heft 19

nen für jeden einzelnen Schüler. Nicht

Selektion, sondern Förderung steht im

Mittelpunkt. Es geht um einen flexiblen

Unterricht, der nicht nur die Lernziele

fragend entwickelt, sondern sich

abwechselt mit Selbstlernen und von

einander Lernen der Schüler, selbstän-

digem Umgang mit Medien, so dass

Lehrkräfte auch entlastet werden und

stärker die Schülerinnen und Schüler

beobachten können. Es geht darum,

schulmüde Jugendliche zu erreichen,

durch stärkeren Praxisbezug und ex-

terne Praxisphasen. Da es zentral um die

Verbesserung von Unterricht geht, sind

die Verbreitung der Ergebnisse des

Sinus-Projekts (Veränderung des mathe-

matisch-naturwissenschaftlichen Un-

terrichts) oder Projekte wie Leseförde-

rung und Lernstandsdiagnostik oder

Phasen von jahrgangsübergreifendem

Unterricht mindestens ebenso wichtig

wie die „spektakuläreren Maßnahmen“

Prüfungen Ende der Klasse 10 oder das

Zentralabitur.

5.Ein Konsens in der Bildungsdebatte

ist die stärkere Betonung der Frühför-

derung. Auch in den Kindertagesstät-

ten geht es um Standardsetzungen,

aber auch um konkrete Praxishilfen bei

der Lernstandsdiagnostik, beim Inter-

esse wecken an Büchern, an der Natur

und an den Naturwissenschaften oder

bei der Entwicklung von sozialen Kom-

petenzen. Sprachstandsmessungen

sollten nicht wie in den meisten Bun-

desländern kurz vor der Einschulung

stattfinden, sondern kontinuierlich die

Kita-Zeit begleiten. In Brandenburg

kann eine solche Messung an die

„Grenzsteine der Entwicklung“ an-

knüpfen. Die Bedeutung der Frühför-

derung ergibt sich aus dem Vergleich

mit anderen Ländern wie Frankreich

oder den skandinavischen und aus den

neueren Erkenntnissen der Gehirnfor-

schung. Durch die deutsche Zuord-

nung der Kitas zur Jugendhilfe fehlt

zur Umsetzung von Bildungsstandards

fast vollständig ein System zur Imple-

mentation, Unterstützung und Evalua-

tion. Der Aufbau eines solchen

Systems mit Hilfe der Verbände der

freien Träger, der Ansätze von For-

schung und Praxisunterstützung und

der Schulsysteme müsste Priorität

besitzen. Das „Vorschuljahr“ könnte

beispielsweise gemeinsam gestaltet

werden durch ein Netzwerk von Kitas

und Grundschulen, die Standards de-

finieren und kooperativ Lernentwick-

lungen fördern.

6.Angesichts der Bedeutung dieser

Berufe müssten eigentlich die Besten

Lehrer und Erzieher werden wollen.

Dies ist der entscheidende Unterschied

Martin Gorholt

80

Page 83: perspektive21 - Heft 19

zu Ländern wie Finnland, wo das Leh-

rerstudium hoch begehrt und auf

jeden Studienplatz mehrere Bewerber

kommen. Die Professionalität von Leh-

rern ist eine Frage der Qualifikation

und der Motivation. Eine Reform der

Erzieher/innen- und Lehrer/innen-Aus-

bildung muss deshalb immer gleich-

zeitig die Erhöhung der Qualität der

Ausbildung und die Stärkung ihrer

Attraktivität im Blick haben. Denn

auch in Brandenburg ist im Lehrer- und

im Erzieherbereich absehbar, wann es

einen akuten Mangel an Bewerbern

geben wird.

Erzieherausbildung und Lehrerbil-

dung ist ein kontinuierlicher Prozess.

Die dritte Phase, also die berufsbeglei-

tende, laufende Fortbildung ist des-

halb deutlicher in den Blick zu nehmen

und auf Anreizsysteme hin zu überprü-

fen. In der ersten und zweiten Phase

der Ausbildung sind die Strukturen

weniger entscheidend (wobei Straf-

fung der ersten Phase immer richtig

ist) als die gesetzten und umgesetzten

Standards, in Bezug auf die zu erwer-

benden Kompetenzen in den Unter-

richtsfächern, in den Erziehungswis-

senschaften, in den Fachdidaktiken

und in den schulpraktischen Studien.

Weder das Qualifikationsspektrum

noch der Bedarf an Fachkräften spre-

chen dafür, für den Erzieherberuf das

Abitur vorauszusetzen. Vielmehr sollte

auch hier Flexibilität gelten und als

Aufbaustudium insbesondere für Lei-

tungsfunktionen ein Studium ent-

wickelt werden, wie es an der FH Pots-

dam mit dem bachelor of education

geplant ist.

Wichtig ist, dass die gesellschaftliche

Wertschätzung für den Erzieher- und

Lehrerberuf sich deutlich erhöht und

sich dies auch niederschlägt auf die

Institutionen, die für diese Ausbildung

zuständig sind, die Hochschulen und

Universitäten. Das gilt insbesondere

für die Bildung des Zentrums für die

Lehrerbildung an der Universität Pots-

dam, was zentral die Interessen der

Lehrerbildung an der Hochschule

wahrnimmt und in allen Instanzen die

Wertigkeit der Ausbildung erhöht.

7.Bildung ist nicht nur Pädagogik und

Didaktik, sondern fast in gleicher Weise

Management, Ökonomie und Organi-

sation. Das Gesamtsystem Bildung

muss professioneller, effizienter und

effektiver werden. Wir brauchen mehr

Professionalität auf allen Ebenen. Dies

beginnt bei einem Ministerium, dass

sich auf seine Kerngeschäfte konzen-

triert und deutlich Prioritäten setzt.

Dies endet bei der Unterrichtsorganisa-

tion eines jeden Lehrers bei der Vorbe-

reitung, der Durchführung und der

Auswertung. Wir brauchen eine neue

Der Weg aus dem PISA-Loch

81

Page 84: perspektive21 - Heft 19

Kultur der Zusammenarbeit in den Kol-

legien durch eine Rückmeldekultur, die

Arbeit der Fachkonferenzen und gegen-

seitige Unterrichtsbesuche. Wir brau-

chen auch eine neue Arbeitszeitrege-

lung für Lehrkräfte. Die Schulleitung

übernimmt Verantwortung für die

Ergebnisse und damit für die Schul-

und Unterrichtsentwicklung, aber auch

für Personalführung und -Entwicklung,

Weiterbildung, Rekrutierung und Qua-

lifizierung der Lehrkräfte. Zwischen

Ministerium und Schule liegen die

Schulaufsicht, das Unterstützungs- und

Beratungssystem, die Qualitätskon-

trolle, die Fortbildungseinrichtungen

und das sich in Brandenburg im Aufbau

befindliche Visitationssystem. Inwie-

weit dieses Gesamtsystem optimal

funktioniert, hat viel mit Organisation

und Effizienz, aber auch mit professio-

neller Personalentwicklung auf jeder

Ebene zu tun.

8.Der demographische Wandel wird

gravierende Auswirkungen auf das Bil-

dungssystem in Brandenburg und in

den anderen neuen Ländern haben. Auf

der einen Seite könnte die Ausnahme-

situation Marktwirtschaft im Bildungs-

bereich, dass sich nämlich nur die

besten Schulen durchsetzen und die

schlechten Schulen schließen, auch zu

mehr Qualität führen. Das setzt voraus,

dass sich die Schulwahl der Eltern

tatsächlich nach ihrer Qualität richtet,

was wiederum Markttransparenz und

freien Marktzugang (zumutbare Wege)

voraussetzt. Auf der anderen Seite ist

das System „Schulen und auch Lehrer

auf Abruf“ (Baumert) wenig qualitäts-

fördernd. Insbesondere das Manage-

ment der Lehrerzuweisung nach

Lehrerbedarf und Lehrernachfrage

führt zu Diskontinuitäten, Instabilitä-

ten und auch zu der Situation, dass

Schulleitungen sich nur begrenzt für

ihre Lehrer und ihr Lehrerkollegium ver-

antwortlich fühlen können.

Inwieweit sich die vielfältigen An-

strengungen zur Steigerung der Qua-

lität in Brandenburg positiv auswirken

oder die negativen Auswirkungen

durch die Konsequenzen des demogra-

phischen Wandels durchschlagen, wer-

den die nächsten Jahre zeigen. Auch die

Auswirkungen des demographischen

Wandels auf die Funktion der Einzelsy-

steme ist zu beachten. So wird sich z.B.

das Gymnasium auf einen größeren

Anteil der Schülerschaft und damit

auch auf eine größere Heterogenität

einstellen müssen, da politisch eine

höhere Abiturquote beim Blick auf den

internationalen Vergleich gewünscht

ist. Dabei wäre es gleichzeitig wün-

schenswert, dass die Flexibilität für die

einzelnen Schulformen größer würde.

Das beinhaltet z.B. die KMK-Festlegun-

Martin Gorholt

82

Page 85: perspektive21 - Heft 19

gen für Differenzierungsunterricht in

der Gesamtschule. Letztlich gilt, je frik-

tionsloser und im Bezug auf die Aus-

wirkungen planmäßiger der demogra-

phische Wandel bewältigt wird, desto

weniger wird die Qualität von Schule

darunter leiden bzw. werden die er-

griffenen Maßnahmen zur Qualitäts-

steigerung konterkariert. Der Beschluss

und die planmäßige Umsetzung des

Schulressourcenkonzepts sind für die

Qualität von Schulunterricht genau so

wichtig, wie die Maßnahmen zur Qua-

litätssteigerung.

9.Die Grundlage für eine neue Kultur

des Lernens und der Leistung bilden

neue Kooperationsformen zwischen

den Akteuren von Bildung, Betreuung

und Erziehung im Interesse der Kinder

und Jugendlichen. Im Mittelpunkt

steht das Dreiecksverhältnis von Leh-

rern, Schülern und Eltern, wobei zu

beachten ist, dass dort die staatliche

und die private Sphäre aufeinander

treffen. Eine neue Kultur von Respekt

und Vertrauen kann durch Verhaltens-

vereinbarungen, Erziehungsbündnisse

und Elternseminare erreicht werden.

Multiplikatorwirkungen von Fortbil-

dung und Erfahrung können sich nur

in einem Netzwerk entfalten. Zu den

Kooperationsfeldern gehören Kita und

Schule, Hort und Schule, Jugendhilfe

und Schule, Kulturarbeit und Schule.

Eine neue Kooperationskultur und

neue Netzwerke entstehen durch neue

Arbeitszeiten der Lehrkräfte und neue

Unterrichts- und Lernzeiten in der

Schule. Eine solche Kultur entsteht in

neuen kreativen Ganztagsangeboten,

die sich rund um die Schule ent-

wickeln, die Unterricht ergänzen und

ein anregungsreiches Klima und Um-

feld schaffen.

Der Weg aus dem PISA-Loch

83

Martin Gorholt,Leiter Ministerbüro und Pressesprecher im Bildungsministerium Brandenburg

Page 86: perspektive21 - Heft 19
Page 87: perspektive21 - Heft 19

Wir stehen am Anfang einer neuenverfassungspolitischen Debatte. Insbe-

sondere süddeutsche Verteidiger der

Landeszuständigkeiten, seit Ende März

dieses Jahres unter starkem Einfluß

ihrer Finanzminister ebenso die Regie-

rungschefs der Länder, fordern, die Kom-

petenzen des Bundes zurückzuschnei-

den sowie Grau- und Mischzonen im

Bund-Länder-Verhältnis abzuschaffen.

Auf diese Vorschläge hat die Bundes-

regierung inzwischen mit eigenen Vor-

stellungen zur Modernisierung der bun-

desstaatlichen Ordnung reagiert.

Anregungen zur „Föderalismusre-form“, so das von manchen Länderver-

tretern verwandte Debattenetikett, gibt

die gleichzeitig stattfindende Diskussion

über die Ergebnisse des EU-Konvents. In

der EU geht es, bei allen Unterschieden,

wie in Deutschland um die Abgrenzung

zwischen zwei Ebenen der Willensbil-

dung, nämlich zwischen den Verantwor-

tungsgebieten der EU-Staaten und der

EU-Instanzen. Die EU-Organe trifft seit

langem der Vorwurf, unaufhaltsam die

eigenen Befugnisse auszudehnen.

Weder Bildungs- noch Wissenschafts-

oder Kulturfragen sind frei von nicht

unerheblichen EU-Einwirkungen. Mit

Zustimmung der EU-Mitgliedsländer,

genauer: auf ihr Betreiben, wird auch die

klassische Außenpolitik von der EU-

Ebene in Anspruch genommen, in

wesentlichen Fragen allerdings manch-

mal mehr durch Formelkompromisse als

durch tragfähig abgestimmte Positio-

nen, wie zuletzt der Irak-Krieg gezeigt

hat. Das hindert aber viele EU-Länder,

darunter Deutschland, nicht daran, die

Einsetzung eines europäischen Außen-

ministers zu fordern. Vor allem wegen

der Unterschiede im Bündnisstatus der

EU-Mitgliedsländer und der Existenz der

NATO blieb der militärische Sektor – die

Spitze der traditionell definierten Staats-

macht – im EU-Aktionsspektrum bislang

weitgehend ausgenommen. Das soll

sich nach der Vorstellung Frankreichs,

Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs

allerdings ändern.

Eine Verbesserung der EU-Koordina-

tion sowie der demokratischen Legiti-

mation der EU-Exekutive, aber ebenso

85

Verfassungsreformund ostdeutsche Interessenvon Klaus Faber

Entflechtung im deutschen Föderalismus und auf EU-Ebene

Page 88: perspektive21 - Heft 19

die Eindämmung und klare Abgrenzung

der EU-Kompetenzen schreiben vor

diesem Hintergrund viele Länder als

Reformziel auf ihr Panier. Zu ihnen

gehört Deutschland, trotz der erwähn-

ten Positionen, die in ihrer Wirkung viel-

leicht in die entgegengesetzte Richtung

führen könnten; Deutschland bemüht

für die eigene Aufassung als Argumen-

tationsansatz u.a. sein Subsidaritätsver-

ständnis,das von den EU-Behörden aller-

dings überwiegend nicht geteilt wird.

„Entflechtung“ ist, wie die jüngsten

Länderinitiativen und die darauf fol-

gende Bundesreaktion zeigen, in

Deutschland auch ein Stichwort der in-

nerstaatlichen Verfassungsdiskussion.

Einige verbinden die Föderalismus-

reform mit der Idee, den Territorial-

bestand der sechzehn Länder zu durch-

forsten. Weniger Bundesländer mit, so

die Hoffnung, größerer Finanzkraft sol-

len danach Träger der Landesstaatlich-

keit sein. Auf der anderen Seite des

Debattenspektrums hat Bundeskanzler

Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002

Rahmenkompetenzen des Bundes für

die Bildung sowie eine stärkere Bundes-

beteiligung bei der Bildungsfinanzie-

rung vorgeschlagen. Die Bundesregie-

rung hat in ihrer Stellungnahme zu den

Länderpositionen einen derartigen

Gedanken nicht explizit aufgegriffen,

allerdings für die gemeinsame Bildungs-

planung von Bund und Ländern einen

„verpflichtenden Verfassungsauftrag“

gefordert, der insbesondere zu „bundes-

weit verbindlichen Standards“ in der Bil-

dung führen soll. Außerdem schlägt der

Bund als Ersatz für die auch nach seiner

Auffassung künftig wegfallende Bund-

Länder-Gemeinschaftsaufgabe Hoch-

schulbau eine modifizierte, flexible

Bundeshochschulförderung mit „inhalt-

lichen Gestaltungsrechten“ vor. Für

andere Gebiete sieht die Bundesposition

ausdrücklich die Stärkung von Bundes-

zuständigkeiten vor, etwa für den

Umwelt- und Verbraucherschutz oder

für den Schutz deutschen Kulturgutes

vor Abwanderung in das Ausland.

Gleichzeitig werden Verzichtsangebote

gemacht, z.B. für Regelungskompe-

tenzen des Bundes im Bereich der all-

gemeinen Rechtsverhältnisse der Presse

oder des Jagdwesens.

Verfassungsänderungen setzen in

Deutschland Zwei-Drittel-Mehrheitenim Bundestag und im Bundesrat voraus.

Verfassungsreformen mit durchgrei-

fenden Auswirkungen auf das Bund-

Länder-Verhältnis sind infolgedessen

Klaus Faber

86

Verfassungsreform und kooperativer Föderalismus

Page 89: perspektive21 - Heft 19

erst ein Mal, während der Großen

Koalition von 1966 bis 1969, auf den

Weg gebracht und umgesetzt worden.

Eine Neuauflage der Großen Koalition

ist in der nächsten Zeit nicht sehr

wahrscheinlich. Ähnliches gilt – mit

oder ohne Große Koalition – für wich-

tige Verfassungsänderungen. Selbst

wenn 2003 eine Große Koalition gebil-

det werden sollte, wäre der Zeitraum

für die – erforderliche – vorbereitende

Diskussion über derartige Änderungen

und für die danach bis 2006 zu tref-

fende Entscheidung wohl zu kurz. Ein

Konsens über die Grundzüge einer an

und für sich notwendigen Ver-

fassungsreform ist in Deutschland

nämlich noch nicht abzusehen. In-

soweit unterscheidet sich die Aus-

gangsposition 2003 von derjenigen vor

der Finanzverfassungsreform von

1969. Damals gab es eine weitgehende

Übereinstimmung über die Ziel-

setzung und die Instrumente. „Koope-rativer Föderalismus“ war in den sech-

ziger Jahren eine politische Beschrei-

bung der angestrebten Neuordnung,

wie sie vor allem in den 1969 ein-

geführten neuen Bund-Länder-Ge-meinschaftsaufgaben, etwa für den

Hochschulbau, die Forschungsförde-

rung, die Bildungsplanung, die regio-

nale Wirtschaftsförderung oder die

Agrarstruktur Ausdruck fand. Der Bund

hatte sich bereits längere Zeit vor der

69er Verfassungsreform, einem Be-

dürfnis der Staatspraxis folgend, u.a.

an der Förderung des Hochschulbaus,

der Forschung oder von Stipendien

beteiligt. Die Verfassungsreform von

1969 legalisierte in diesen und in ande-

ren Bereichen die damals von allen

Beteiligten anerkannte Bund-Länder-

Mischfinanzierung.

Die verfassungspolitische Debatte ist

inzwischen von dem früheren Konsens

zum kooperativen Föderalismus abge-

kommen. Politikverflechtung ist nach

Auffassung vieler Kommentatoren die

Folge des neuen Systems von Bund-

Länder-Gemeinschaftsaufgaben und

sonstiger, bereits vor 1969 vorhandener

und nicht im Verfassungsrecht fixierter

Formen der Länderzusammenarbeit,

etwa in der Kultusministerkonferenz,

oder der Bund-Länder-Kooperation. Die

Ausschaltung des Parteienwettbewerbsum Wählermehrheiten und die Nei-gung zu Allparteienkoalitionen in den

einstimmig beschließenden Koordi-

nationsgremien gehörten zu den prä-

genden Merkmalen der Politikverflech-

tung in Deutschland, so bereits 1978 ein

Bericht der Bundesregierung über die

strukturellen Probleme des föderativen

Bildungssystems (Bericht der Bundes-

regierung vom 22. 2. 1978, BT-Drs. 8/1551,

s. dazu auch Glotz/Faber: Grundgesetz

und Bildungswesen, in: Benda/Mai-

hofer/Vogel, Handbuch des Ver-

Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen

87

Page 90: perspektive21 - Heft 19

fassungsrechts der Bundesrepublik

Deutschland. Berlin, New York, 2. Aufl.

1994, S. 1415 ff.). Verstärkt werden die

Verflechtungstendenzen durch das im

deutschen Wahlbalancesystem im

Laufe einer Legislaturperiode fast

schon regelmäßig zu beobachtende

Phänomen, dass Bundestagsmehr-heiten durch Bundesratsmehrheitenkonterkariert werden – was nicht nur

auf die zustimmungsbedürftigen

Bundesgesetze Auswirkungen hat,

deren Bedeutung in der Gesetzge-

bungspraxis eher zu – als abnimmt.

Einen Lösungsansatz sehen daher die

meisten in der Entflechtung der

„grauen Zone“ in der Bund-Länder-Zusammenarbeit, in der Länder-Selbst-koordination oder im Bundestag/Bun-desrat-Verhältnis. Die Vorstellungen zur

Entflechtungsrichtung stimmen aller-

dings oft nicht überein. Die Finanz-

minister vor allem der finanzstarken

Länder und, ihnen folgend, jetzt ebenso

die Länderregierungschefs denken z.B.

daran, bei gleichzeitiger Übertragung

höherer Steueranteile auf die Länder

die Bundesfinanzierungsbeteiligung

im Rahmen der Bund-Länder-Gemein-

schaftsaufgaben einzuschränken. An-

dere, darunter, wie erwähnt, auch die

Bundesregierung, treten auf bestimm-

ten Gebieten für neue Bundesauf-

gaben ein; in Teilbereichen, z.B. bei der

bundesweiten Festlegung von Bil-

dungsstandards, soll damit die Länder-

Selbstkoordinierung (u.a. in der KMK)

ersetzt werden.

Bei der Überprüfung der Zustim-mungsbedürftigkeit von Bundesge-setzen lassen die Landesregierungen

Gesprächsbereitschaft mit ihrer Posi-

tion erkennen, zunächst auf Bundes-

vorschläge zu warten. Die Bundesre-

gierung regt auf diesem Gebiet u.a. an,

die Zustimmungspflicht des Bundes-

rats auf Bundesgesetze zu begrenzen,

die „Länderbelange unzweifelhaft tan-

gieren“. Ob diese Auffassung zu einer

Einigung führen kann, bleibt offen.

Weitere in der Öffentlichkeit disku-

tierte Punkte einer möglichen Verfas-

sungsreform, z.B. die Direktwahl des

Bundespräsidenten oder Volksbefragun-

gen auf der Bundesebene, spielen in der

Länderkonzeption und der Bundes-

antwort keine Rolle. Die Länderneu-

gliederung erwähnt der Bund in seiner

Stellungnahme mit einem Appell zur

Nutzung der vorhandenen Instrumente

in Art. 29 des Grundgesetzes. Die Länder

hatten diese Frage in ihrem vorausge-

Klaus Faber

88

Änderungsvorschläge der Länder und des Bundes

Page 91: perspektive21 - Heft 19

henden Positionspapier nicht ange-

sprochen. Vielleicht abgesehen vom

Sonderfall Berlin-Brandenburg besteht

zur Zeit wenig Bereitschaft für eine wei-

tergehende Länderneugliederung.

Stellt man auf die bislang zu erken-

nenden Tendenzen von Länderregie-

rungschefs und Bundesregierung ab, ist

zur Zeit eine Einigung nur auf einigenbegrenzten Gebieten vorstellbar. Das gilt

etwa für die Auffassung der Regierun-

gen, die Gemeinschaftsaufgabe Hoch-

schulbau in der bislang geltenden Form

aufzugeben (wozu allerdings Mecklen-

burg-Vorpommern einen Vorbehalt er-

klärt hat), für die im Grundsatz erklärte

Bereitschaft, die Regelungen für Bundes-

finanzhilfen zu reformieren und zu prä-

zisieren, oder für die Absicht, den Bereich

der Bundesrahmenkompetenzen neu zu

ordnen, ihn überwiegend oder ganz

zwischen Bund und Ländern aufzuteilen

und dabei auch flexible Neuregelungen

einzuführen. Derartige Neuregelungen

sollen Öffnungsklauseln zugunsten der

Länder nach dem Muster des „opting

out“ zulassen, wie es etwa das kana-

dische Föderalismussystem kennt.

Im Detail bestehen jedoch auch auf

diesen Gebieten regelmäßig Differen-zen, z.B. in der Frage, ob die Gemein-

schaftsaufgabe Hochschulbau einfach

gestrichen oder, so der bereits er-

wähnte Bundesvorschlag, durch eine

neue Förderzuständigkeit des Bundes

ersetzt werden soll. Ähnliches gilt für

die anderen Beispiele. Die konkreten

Änderungsvorhaben der Bundes- und

Landesseite zielen dort häufig in die

jeweils entgegengesetzte Richtung; die

Landesregierungen fordern nicht sel-

ten mehr Kompetenzen für die Länder,

der Bund mehr Bundeseinfluß – was

letztlich den Erwartungen entspricht

und die bekannten Interessenbindun-

gen der Gesprächspartner zeigt.

Im Bundestag ist Anfang Mai ein

Antrag der Fraktionen der SPD, vonBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDPeingebracht worden; er fordert, gegen

die insoweit ohne Ländervorbehalt

erklärte Position der Länderregie-

rungschefs, die gemeinsame Bildungs-planung beizubehalten und die Arbeit

der Bund-Länder-Kommission für

Bildungsplanung und Forschungs-

förderung (BLK) fortzusetzen. Der

Antrag macht auch im Verfahren auf

ein Problem aufmerksam. Ob und auf

welchem Weg die Debatte auch außer-

halb von Verhandlungsrunden der Re-

gierungen des Bundes und der Länder

Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen

89

Öffentliche Debatte, nicht nur Regierungsabstimmung

Page 92: perspektive21 - Heft 19

vor dem abschließenden Gesetzge-

bungsverfahren geführt werden soll,

ist noch nicht geklärt.

Man kann gegen eine Öffnung der

Diskussion über den Kreis der Regierun-

gen von Bund und Ländern hinaus nicht

einwenden, bei der Föderalismusreform

gehe es im wesentlichen um Bund-Län-

der – und im übrigen häufig um tech-

nisch komplizierte Fragen. Wer die Ent-

flechtung von Zuständigkeiten, eine

Stärkung des Wettbewerbs und die Ver-

besserung der Transparenz in der poli-

tischen Verantwortung des Bundes und

der Länder als Zielsetzung der Reform

deklariert, kann die Willensbildung für

eine derartige Verfassungsänderung

nicht so organisieren, das sie alle diese

Grundsätze zunächst einmal außer acht

läßt. Es darf deshalb nicht dazu kom-

men, das sich die Regierungen des Bun-

des und der Länder unter Ausschluß derÖffentlichkeit in einer Art Allparteienko-alition auf eine Reihe von Vorschlägen

für eine Verfassungsänderung einigen

und anschließend die an der Gesetzge-

bung beteiligten Körperschaften – Bun-

destag und Bundesrat – in eine Ratifizie-

rungslage geraten, wie wir sie als Folge

von Bund-Länder-Abkommen oder von

KMK-Beschlüssen kennen. Für Verfas-

sungsänderungen von einigem Ge-

wicht ist ein Vorbereitungsverfahren

notwendig, das von Anfang an die

Öffentlichkeit und die Parlamente stär-

ker einbezieht, als dies bei einem auf die

Exekutiven konzentrierten Abstim-

mungsprozeß möglich ist. Ob der EU-Konvent auf diesem Gebiet Anregungen

geben kann, bleibt zu prüfen.

Zur Zielsetzung der Änderungsansätzesind ebenso kritische Anmerkungenerforderlich. Dabei geht es nicht nur um

die – nur schwer zu begründende –

Begrenzung der Reform auf das Bund-

Länder-Verhältnis. Auch die Initiativen

zur Modernisierung der bundesstaat-

lichen Ordnung lassen nicht immer

überzeugende Schwerpunktsetzungen

erkennen. In den Ländervorschlägen

zeichnen sich gut bekannte Positionen

der Finanzseite ab. Viele Finanzminister

sahen und sehen z.B. in der Bindung von

Landesmitteln im Rahmen der vom

Bund und den Ländern gemeinsam fi-

nanzierten Gemeinschaftsaufgaben,

etwa für den Hochschulbau, die For-

schungsförderung oder die regionale

Wirtschaftsförderung, eine vor allem in

Zeiten knapper Kassen unerwünschte

Einschränkung ihrer finanzpolitischen

Operationsmöglichkeiten. Eine verfas-

Klaus Faber

90

Problematische Tendenzen in den Länder- und Bundespositionen

Page 93: perspektive21 - Heft 19

sungspolitische Neuordnung sollte sich

jedoch auch in diesem Zusammenhang

der Prüfung stellen, ob die mit einer der-

artigen Privilegierung verbundene Prio-

ritätensetzung für bestimmte Gemein-

schaftsaufgaben ohne ausreichende

Kompensation aufgegeben werden

kann. Durchschlagende Gründe etwa für

eine ersatzlose Streichung des gemein-

sam finanzierten Hochschulbaus sind,

um ein konkretes Beispiel zu nennen, vor

dem Hintergrund des deutschen Hoch-

schulrückstands wohl kaum geltend zu

machen. Das führt in diesem Fall zu der

nicht ohne weiteres positiv zu beant-

wortenden Folgefrage, ob der Bundes-

vorschlag für eine flexible Hochschul-

förderung nach seinem Volumen und

taktischem Wert in der Verfassungsde-

batte als adäquate Ersatzlösung für die

umfassende Mitfinanzierung des Hoch-

schulbaus angesehen werden kann.

Bei den Bundesvorschlägen fällt

zudem auf, das die Auffassungen der

einzelnen Fachressorts in der Bundesre-gierung offenbar eine entscheidende

Rolle bei der Formulierung bestimmter

Passagen gespielt haben. Das kann zu

problematischen Ergebnissen führen.

das ein gesamtstaatliches, eine Verfas-

sungsänderung tragendes Interesse

eine deutliche Verstärkung der Bun-

deskompetenzen für den Umwelt-

schutz und den Verbraucherschutz

rechtfertigen soll, nicht dagegen eine

entsprechende, mindestens gleich-

gewichtige Zuständigkeitserweiterung

auf den Gebieten Wissenschaft und Bil-

dung, ist eine These, die in der Prioritä-

tenabwägung kaum überzeugen kann.

Deutschlands Defizite in der Wissen-schaft und in der Bildung sind nicht erst

seit den PISA-Publikationen, die sich mit

Teilausschnitten des Schulbereichs be-

fassen, bekannt. Anerkannte und in der

Sache unumstrittene OECD-Vergleiche

belegen Deutschlands Rückstand bei

den Hochschulausgaben pro Kopf der

Bevölkerung. Die USA geben z.B. auf die-

sem Gebiet – pro Kopf der Bevölkerung

– mehr als doppelt so viel wie Deutsch-

land aus; in ungefähr gleicher Höhe

bewegen sich die Pro-Kopf-Leistungen

Finnlands oder Schwedens. Deutsch-

land hat bei den Hochschulzugangsbe-

rechtigten, den Studierenden oder den

Hochschulabsolventen deutlich kleinere

Anteile am jeweiligen Altersjahrgang

als andere wichtige Länder, mit denen

wir international im Wettbewerb ste-

Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen

91

Modernisierungsrückstand inWissenschaft/Bildung und Verfassungsreform

Page 94: perspektive21 - Heft 19

hen. Auf allen diesen Gebieten liegenostdeutsche Regionen gegenüber dem

westdeutschen Schnitt darüber hinaus

zurück – was u.a. Auswirkungen auf den

innerdeutschen Standortwettbewerb

hat. In Ostdeutschland ist noch über

einen langen Zeitraum eine besondereWissenschaftsförderung des Bundes er-

forderlich, um den vorhandenen Rück-

stand auszugleichen.

In anderen Sektoren des deutschen

Bildungssystems gibt es gleichfalls be-

achtliche Defizite. Sie sind aber zumeist

einem Kernbereich der Landeszustän-

digkeiten – dem Schulwesen – zuzuord-

nen oder liegen in dessen Nähe, etwa im

Vorschulbereich. Auf diesem Gebiet den

Bundeseinfluß durch Verfassungsände-

rungen oder auf anderem Wege wesent-

lich erweitern zu wollen, wäre kein

erfolgversprechendes Unternehmen –

und, mit Blick auf die Machtbalance in

der Zuständigkeitsverteilung, wohl nicht

zweckmäßig. Sinnvoll ist demgegen-

über, was eine mögliche Aufgabener-weiterung für den Bund anbelangt, eine

Schwerpunktsetzung im Wissenschafts-bereich (vor allem im Hochschulwesen),

in der beruflichen Bildung und bei

bestimmten Querschnittsaspekten (u.a.

Abschlüsse; auch die Sicherung von Bil-

dungsstandards könnte in diesem

Zusammenhang eine Rolle spielen).

Eine dabei angestrebte stärkereFinanzierungsbeteiligung des Bundes in

der Wissenschaft könnte, wiederum im

Sinne des Entflechtungsziels, die Län-

der entlasten und sie zu höheren

Anstrengungen in ihrem eigenen zen-

tralen Zuständigkeitsgebiet, der Schul-

politik, motivieren. Eine ausreichende

Bundesmitfinanzierung kann die zwi-

schen den Ländern, vor allem im Ost-West-Verhältnis, bestehenden Struktur-

unterschiede in gewissem Umfang

ausgleichen und das deutsche Hoch-

schulwesen insgesamt voranbringen.

Durch Verfassungsänderung einge-

führte neue Finanzierungsinstrumente

sollten flexibel sein, aber auch eine

Verstetigung der Finanzleistungen

sichern; starre Länderschlüssel ent-

sprechen nicht diesen Erfordernissen.

Diese Kriterien könnte z.B. eine Bundes-

gesetzgebungskompetenz erfüllen, die

zum Ziel hat, die Hochschulstruktur zu

fördern und zu verbessern. Eine derar-

tige neue Bundesgesetzgebung sollte

allgemein an die Zustimmung des Bun-

desrates gebunden werden – u.a. als

Kompensation für den Verlust von

Zustimmungsvorbehalten bei Bund-

Länder-Vereinbarungen oder im Rah-

men von Gemeinschaftsaufgaben.

Eine Entlastung der Länder durch den

Bund ist übrigens bereits vor einer Ver-fassungsänderung möglich, wie die

Hochschulsonderprogramme seit dem

Ende der 80er Jahre gezeigt haben.

Auch für andere Wege, wie für die

Klaus Faber

92

Page 95: perspektive21 - Heft 19

Errichtung einer nationalen Stiftung fürBildung und Wissenschaft nach dem Vor-

bild der Kulturstiftung oder für eine

Erhöhung des Bundesfinanzierungsan-

teils bei der Ausbildungsförderung, ist

keine Verfassungsänderung notwendig.

Für die Beibehaltung eines hohen

Finanzierungsengagements des Bun-

des im Wissenschaftsbereich und derGemeinschaftsaufgabe Hochschulbauhaben sich inzwischen – gegen die

deutliche Mehrheitsposition der Län-

derregierungschefs – auch Wissen-schaftsminister der Länder ausge-

sprochen. Dem Bundesvorschlag für

eine neue, flexible Bundesförderung

im Hochschulbereich wird dabei zum

Teil von Landesvertretern unterstellt,

der Bund wolle auf diese Weise „Rosi-

nenpickerei“ betreiben und sein Enga-

gement auf wenige Hochschulen be-

schränken. Die Gemeinschaftsaufgabe

Hochschulbau sei, so die Gegenargu-

mentation von Landesministern, wei-

terhin notwendig, vor allem um gleich-

wertige Lebensverhältnisse und die

internationale Wettbewerbsfähigkeit

zu sichern.

Aus vergleichbaren Gründen votieren

Landeswissenschaftsminister gegen

die Änderungsvorschläge des Bundes

zur Forschungsförderung, nach denen

bestimmte Forschungseinrichtungen,

z.B. die Max-Planck-Institute, ganz vom

Bund, andere, wie die Institute der Leib-

niz-Gemeinschaft (früher: Blaue-Liste-

Institute), allein von den Ländern

finanziert werden sollen. Viele sind

allerdings für die Auflösung der BLK,

aber gleichzeitig für eine Stärkung der

Länderselbstkoordination in der KMK.

„Entflechtung“ ist also im eigenen Zu-

ständigkeitsbereich nicht immer ein

überzeugendes Argument.

Verfassungsreform und ostdeutsche Interessen

93

Debatte in den Ländern

Zukunftsperspektiven, soziale Gerechtigkeit und ostdeutsche Interessen

Die innerhalb der Länder – vielleicht

etwas spät – kontrovers geführte

Debatte macht deutlich, das die

Föderalismusreform nicht im Schnell-

verfahren einer Regierungsabstim-

mung durchgezogen werden kann. Sie

zeigt zudem, das für eine Verfassungs-

revision dieser Größenordnung neben

dem Entflechtungs- und Modern-

isierungsziel auch eine Prioritäten-

Page 96: perspektive21 - Heft 19

entscheidung in der Sache erforderlich

ist. Der deutsche Investitionsrückstand

sowie die nach wie vor bestehenden

Ost-West-Unterschiede in Wissenschaftund Bildung sprechen, um es noch

eimal zu betonen, auch im Rahmen

einer Verfassungsreform für eine ge-

samtstaatliche Schwerpunktsetzung

vor allem in diesem Bereich. SozialeGerechtigkeit setzt mehr denn je den

chancengleichen Zugang zu allen

Bildungswegen voraus. Die Aus-

schöpfung der Begabungsreserven ist

für unsere Position im internationalen

Wettbewerb eine entscheidende

Größe, auch vor dem Hintergrund des

zunächst im Osten, dann in ganz

Deutschland zu erwartenden demo-

graphischen Rückgangs. Zukunfts-perspektiven durch Investitionen fürWissenschaft und Bildung zu eröffnen,

ist ein zentrales Anliegen sozialer

Gerechtigkeit im regionalen Ausgleichund im Generationenverhältnis – ein

Anliegen, das Verzichtleistungen und

Anstrengungen auf anderen Gebieten

rechtfertigt.

Trotz der anerkannten Änderungsbe-

dürfnisse, die sich, selbstverständlich,

nicht nur auf die Bereiche Bildung und

Wissenschaft beziehen, sind die Er-

folgsaussichten der eingeleiteten Ver-

fassungsrevision zurückhaltend zu

beurteilen. Die Debatte zur Födera-

lismusreform sollte aber in jedem Fall

im Verfahren und in der Argumentation

der Bedeutung des verfassungspoli-

tischen Vorhabens gerecht werden. Sie

muß die Chancen für eine Modern-

isierung der bundestaatlichen Ordnung

offen halten, für die es schon seit länge-

rer Zeit gute Gründe gibt. Die ostdeut-

schen Länder haben an einem Erfolg der

Reformansätze ein besonderes Inte-

resse. Für sie ist es entscheidend, das

eine Grundgesetzänderung die not-

wendigen Instrumente für gesamt-

staatliche Infrastrukturinvestitionen

nicht aufgibt, sondern verbessert. Auch

vor einer Verfassungsänderung sollten

die bereits jetzt vorhandenen Förder-

möglichkeiten vor allem dazu intensiver

genutzt werden, den Ausbaustand im

Hochschulbereich voranzubringen.

Klaus Faber

94

Klaus Faber,Rechtsanwalt in Potsdam und Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsfo-

rums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Der Artikel erschien zuerst in Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft 12/2002.

Page 97: perspektive21 - Heft 19

Notizen

Page 98: perspektive21 - Heft 19

Notizen

Page 99: perspektive21 - Heft 19

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perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

www.perspektive21.de Heft 19 • Juli 2003

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Heft 15 Der Islam und der Westen

Heft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik

Fotos: Andreas Altwein/ddp, Steffen Leiprecht/ddp, Montage: Weber Medien