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E E n n t t s s c c h h e e i i d d u u n n g g i i m m O O s s t t e e n n : : Innovation oder Niedriglohn? perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik www.perspektive21.de Heft 21/22 • April 2004 Politik, Wirtschaft und Innovation : Mit Beiträgen von Alexander Gauland und Matthias Platzeck.

perspektive21 - Heft 21/ 22

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Entscheidungen im Osten: Innovation oder Niedriglohn?

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Page 1: perspektive21 - Heft 21/ 22

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IInnnnoovvaattiioonn ooddeerrNNiieeddrriigglloohhnn ??

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

www.perspektive21.de Heft 21/22 • April 2004

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Seit 1997 erscheint

„Perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben,

können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage

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Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen

gerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden Sie uns bitte eine eMail an

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Zur Zeit sind noch folgende Titel lieferbar:

Heft 13 Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem

Heft 14 Brandenburgische Identitäten

Heft 15 Der Islam und der Westen

Heft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik

Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.

Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!

Politik, W

irtsch

aft und Innovatio

n :

Mit Beiträgen von Alexander G

auland

und Matth

ias Platze

ck.

Page 2: perspektive21 - Heft 21/ 22

NEUERSCHEINUNG (April 2004)

Heinz Kleger, Ireneusz Pawel Karolewski,

Matthias Munke

Europäische Verfassung.

Zum Stand der europäischen Demokratie im Zuge der Osterweiterung

3., aktualisierte und erweiterte Auflage

Lit-Verlag – Reihe Nation-Region-Europa – Band 3

616 Seiten – 29,90 Euro

ISBN 3-8258-5097-8

Aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. Januar 2002:

Die Autoren „hatten eingangs versprochen, große Anstrengungen zuunternehmen, zum ‚trotz einer komplizierten Materie auf die Ver-ständlichkeit der Ausführungen zu achten’. Sie haben vollauf Wortgehalten. Und je tiefer man sich in die Arbeit hinein versenkt, um soüberzeugender wird der originelle methodische Ansatz dieser Ana-lyse. Ihr Ergebnis zählt ohne Zweifel zu den wichtigen Beiträgen zueiner Debatte, die Europa noch lange beschäftigen wird.“

Das neue Deutschland

Die Zukunft als ChanceHerausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr336 Seiten. Broschur. s 15,90 (D)ISBN 3-351-02553-X

Kr ise im Westen, Umbruch im Osten – wie wir gemeinsamChancen beg rei fen und Refor men durchsetzen. Mit Bei trägenvon: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, UweRada, Landol f Scherzer, Alexander Thumfar t und vie len anderen

W W W. A U F B A U -V E R L A G . D E

aufbauV E R L A G

Das neueDeutschland

Page 3: perspektive21 - Heft 21/ 22

Vorwort 3

Magazin

Alexander Gauland 5Die Wunder der Streusandbüchse

Brandenburg zwischen Zukunft und Vergangenheit

Thema

Matthias Platzeck 9Zukunft, Arbeit und Familie – Unser Weg für Brandenburg

Jochen Röpke 19Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle. Oder: die Münchhausen-Chance

Jörg Aßmann 41Das Gespenst des Mezzogiorno

Welches Entwicklungsszenario erwartet Ostdeutschland?

Esther Schröder 71Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

Ulf Matthiesen 97Das Ende der Illusionen – Regionale Entwicklung in

Brandenburg und Konsequenzen für einen neuen Aufbruch

Tobias Dürr 115Brandenburg und das finnische Modell

Thomas Kralinski 125Wachsen wie die Sachsen? Eine kritische Bilanz der Nachwendezeit

Klaus Faber 137Innovationsinitiative und Ostdeutschland

Inhalt

Entscheidung im Osten:Innovation oder Niedriglohn?

Page 4: perspektive21 - Heft 21/ 22

Impressum

2

HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg

Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

in Berlin, Brandenburg und

Mecklenburg-Vorpommern e.V.

RedaktionKlaus Ness (ViSdP),

Ingo Decker, Benjamin Ehlers, Klaus Faber,

Klara Geywitz, Thomas Kralinski, Lars

Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Manja

Orlowski, Tina Fischer, Raimund Kropp

Anschrift – SPD LandesverbandFriedrich-Ebert-Straße 61

14469 Potsdam

Telefon: 0331 - 200 93 – 0

Telefax: 0331 - 270 85 35

Anschrift – Wissenschaftsforumc/o Klaus Faber

An der Parforceheide 22

14480 Potsdam

Telefon: 0331 - 62 45 51

Telefax: 0331 - 600 40 35

[email protected]

Internethttp://www.perspektive21.de

Gesamtherstellung, VertriebWeber Medien GmbH

Hebbelstraße 39

14469 Potsdam

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Abonnement direkt beim Herausgeber.

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Page 5: perspektive21 - Heft 21/ 22

der Osten ist zurzeit wieder in allerMunde –und zwar zur rechten Zeit. DerAufbau Ost hat gerade Halbzeit, denn imJahr 2019 läuft der Solidarpakt aus. Inso-fern ist es folgerichtig, die vergangenenJahre kritisch zu beleuchten und Konse-quenzen für die kommenden Jahre zuziehen. Mit diesem Heft wollen wir ineine solche Diskussion einsteigen. Wowurden Fehler gemacht, und vor allem:Wo liegen Zukunftschancen? Dies stehtim Mittelpunkt dieser Ausgabe.

Matthias Platzeck stellt in seinem Bei-trag vollkommen zu Recht fest, dass wirvor neuen Rahmenbedingungen stehenund es dafür keine Blaupausen gibt,genauso wenig wie uns die Ausrichtungan westdeutschen Vorbildern weiterhilft. Zusammen mit den spannendenBeiträgen von Jörg Aßmann, JochenRöpcke, Ulf Matthiesen und Klaus Faberwird deutlich, wo Innovationspotentialeliegen, welche Chancen Regionen habenund welchen Weg Brandenburg gehenkann. Die Texte zeigen, dass die Zukunftunseres Landes nur in Innovation undnicht im Niedriglohnbereich liegen kann.Daneben illustriert Esther Schröder, wel-che Fehler im Land in den letzten Jahrenvom CDU-geführten Wirtschaftsressortgemacht worden sind. Sie zeigt sehr ein-drücklich, dass es nicht um „Großinvesti-tionen“ oder „Mittelstand“ geht, son-

dern ob Unternehmen – unabhängigvon ihrer Größe – über tragfähige undhinreichend innovative Unternehmens-konzepte verfügen.

Aber auch ein Blick über die GrenzenBrandenburgs lohnt sich.Tobias Dürr undThomas Kralinski haben ihn gewagt. AmBeispiel Finnlands lässt sich sehr schönbeobachten, wie sich ein Land mit In-novation und Kreativität – zusammenmit einer „strategischen Vision“ – neuerfunden hat. Darum geht es auch inBrandenburg in den nächsten Jahren: umModernisierung und Aufbruch mit Herzund sozialer Seele.

Ab diesem Heft wird die Perspektive 21in Zusammenarbeit mit dem Wissen-schaftsforum der Sozialdemokratie inBerlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V. herausgegeben. Des-halb erhalten auch die Mitglieder undInteressenten des Wissenschaftsforumsdas Perspektive-Heft. Das Wissenschafts-forum und die Perspektive 21 haben ineinem beachtlichen Umfang vergleich-bare Themenschwerpunkte, wie auchdas neue Heft zeigt. Dies trifft ebensoauf die Zielsetzung in der Wissenschafts-und Innovationspolitik zu.

Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen

Ihr Klaus Ness

Vorwort

3

Liebe Leserinnen und Leser der „Perspektive 21“!

Page 6: perspektive21 - Heft 21/ 22

4

perspektive 21 im InternetDie Hefte 1-20 sind im Internet unter www.perspektive21.deals pdf-Datei zum Download verfügbar.

Page 7: perspektive21 - Heft 21/ 22

Nein, es ist nicht die Toskana, es sind

auch nicht die bayerischen Schlösser

und Seen. Die Landschaft ist karg, weit

und ein wenig traurig. Das Land

zwischen Elbe und Oder, das Kernland

des alten Preußen gehörte nie zu den

Sehnsuchtslandschaften der Deut-

schen. Man fuhr hindurch zu den

mondänen Ostseebädern oder in die

Weiten Ostpreußens und Masurens,

auf die Kurische Nehrung, nach

Königsberg oder Danzig. Brandenburg

war zwar schon Kolonialland „Ostel-

bien“, aber eben noch nah an Magde-

burg und Halberstadt, wo die deut-

schen Kaiser gotische Dome mit röm-

ischen Steinen gebaut hatten. „Gleich

hinter dem Rennweg beginnt Asien“

hatte einst Metternich über das alte

Österreich östlich von Wien geurteilt.

Gleich hinter Berlin beginnt die russ-

ische Weite, könnte man das Wort

abwandeln, blickt man von den See-

lower Höhen nach Osten zur Oder. Und

es waren diese letzten Ausläufer deut-

scher Mittelgebirge, die die russische

Flut 1945 aufhalten sollten – vergebens

wie wir wissen. Brandenburg liegt im

Schnittpunkt zweier Welten, der zum

Westen gehörenden mittelalterlichen

und der in den Osten reichenden

preußisch-slawischen. Irgendwo zwi-

schen Havelberg und dem Oderbruch

schlägt das Herz Brandenburgs.

5

Die Wunder der StreusandbüchseBrandenburg zwischen Zukunft und Vergangenheit

Von Alexander Gauland

Dächer von Ziegel, Dächer von Schiefer,Dann und wann eine Krüppelkiefer,Ein stiller Graben die WasserscheideBirken hier und da eine Weide,Zuletzt eine Pappel am Horizont,Im Abendstrahl sie sich sonnt.Auf den Gräbern Blumen und AschenkrügeVorüber in Ferne rasseln die Züge,Still bleibt das Grab und der Schläfer drin –Der Wind, der Wind geht darüber hin. Theodor Fontane

Page 8: perspektive21 - Heft 21/ 22

Dass diese Landschaft aus Sand und

Kiefern heute dennoch auf eine etwas

angestrengte Weise zu den großen

europäischen Kulturlandschaften zählt,

verdanken die Brandenburger einer Dy-

nastie und einem Dichter. Die Hohen-

zollern verwandelten die Seenland-

schaft um Berlin und Potsdam in ein

Kunstwerk, ein weltliches Arkadien, des-

sen Schönheit im seltsamen Gegensatz

zu dem sandigen Boden steht, dem es

abgerungen wurde. Es ist ein Wunder

im Zentrum der Streusandbüchse des

Reiches – wie die Mark verachtungsvoll

genannt wurde – das in Europa seines-

gleichen sucht. Man muss schon die

Toskana, Venedig oder die Loire-Schlös-

ser aufsuchen, um ähnliches zu finden,

und man begreift das Staunen der vie-

len Besucher über diese Anstrengung

zur Schönheit. Und statt dass die

„Katen“ des märkischen Adels daneben

in der Bedeutungslosigkeit versanken,

hat sie Theodor Fontane in seinen

„Wanderungen durch die Mark Bran-

denburg“ auf gleiche Höhe gehoben.

Die Hohenzollern bauten sich mit

Sanssouci, Charlottenburg, Rheinsberg,

Glienicke, Babelsberg, Charlottenhof,

Paretz und dem Cecilienhof in die Her-

zen ihrer Untertanen. Fontane rettete

Ruppin, Gransee, Wustrau, den Oder-

bruch, Friedersdorf und den Barnim vor

dem Vergessen – oder besser noch – vor

dem Nichtentdecktwerden. Und noch

heute sieht man manchen Besucher

vor den Schlössern der Mark statt mit

einem ordinären Führer mit den „Wan-

derungen“ in der Hand stehen. Bran-

denburg, so kann man getrost sagen,

ist eine Schöpfung Fontanes, nachdem

es längst in Preußen aufgegangen war.

Und noch heute erfährt man über

Menschen und Landschaften mehr aus

dem „Stechlin“ als aus jedem Hand-

buch über Land und Leute.

Brandenburg hat eine lange Vor-

geschichte unter den Askaniern und

den frühen Hohenzollern, die aus Süd-

deutschland kamen und davor Burggra-

fen von Nürnberg waren, erlebte eine

kurze Epoche künstlerischer Genialität,

nachdem es politisch längst als Kern-

land der Dynastie von dem eigentlichen

Preußen abgelöst worden war und

sucht heute verzweifelt eine Zukunft in

einer veränderten Welt.

Brandenburg ist alles, was von

Preußen geblieben ist, eine Idee, die

einen Staat hatte – oder wie die Kritiker

meinen, eine Armee, die ihn besaß. Nur

einmal ist Brandenburg an der tetegeritten, nicht in den Schlachten des

großen Friedrich, sondern danach, nach

seinem Tod, von 1790 bis 1840. Der

preußische Klassizismus ist eine Bran-

denburger Schöpfung, und seine Ver-

treter sind fast ausnahmslos hier ge-

boren, Gilly und Schinkel, Schadow,

Rauch und Persius. Für ein Menschen-

Alexander Gauland

6

Page 9: perspektive21 - Heft 21/ 22

alter bestimmten sie den Stil der Archi-

tektur und Skulptur in ganz Europa. Alle

großen Bauten Berlins entstanden zwi-

schen 1820 und 1840 in dieser Manier,

die Neue Wache, das Schauspielhaus

und das Alte Museum. Es ist verblüf-

fend und kaum nachzuvollziehen, dass

Deutschlands geistiges Zentrum für

eine historische Sekunde nicht mehr im

Geniewinkel des Südwestens, sondern

in der Rüben- und Kartoffelwelt zwi-

schen der Prignitz und der Uckermark

lag. Nimmt man die Schreibenden

hinzu, Heinrich von Kleist, die Schwe-

rins, die Arnims, Fouqué und Chamisso,

so wird auch der romantische Impetus

aus der Mark in die Welt getragen. Fast

alle Künste wachsen plötzlich auf dem

Boden, der ganz zum Schluss mit

Blechen, Menzel und Liebermann selbst

noch in der Malerei die anderen Re-

gionen Deutschlands hinter sich lässt.

Doch es dauerte nur einen Sommer, ein

kurzes Jahrhundert, der Rest ist ein

langer Abschied, zu dem wohl Lieber-

manns Bilder am besten passen.

„Die Mark“ – so Wolf Jobst Siedler, der

beste Kenner ihrer Kultur und Ge-

schichte – „hat alles hervorgebracht,

erst das Kurfürstentum Brandenburg,

dann das Königreich Preußen, schließ-

lich das kurzlebige Deutsche Reich. Es

ist, als ob sie sich dabei verzehrt habe.

Nun ist alles von ihr abgefallen, was ihr

Bedeutung, Glanz und wohl auch

Unheimlichkeit gab. Nun ist die alte

Mark wieder auf sich selber zurück-

geworfen; Brandenburg ist alles, was

von Preußen geblieben ist. Legt man die

Karte des heutigen Deutschland neben

eine Karte aus Staufischer Zeit, so hält

man wieder da, wo man vor einem Drei-

vierteljahrtausend stand, bevor man

über die Oder ging und den Heiden und

der Wildnis Land abgewann.“ Heute hat

das Land wenig mehr als diese Ver-

gangenheit, denn 40 Jahre Sozialismus

haben hier größere Schäden hinter-

lassen als anderswo. Schon der Krieg

war grausamer, da die Mark eben direkt

auf dem Wege nach Berlin lag, und die

letzten großen Schlachten des Welt-

krieges – Seelow und Halbe – hier ge-

schlagen wurden. Die Zerstörungen

waren gründlicher als in Sachsen und

Thüringen. Und dann war der Sozialis-

mus nicht nur eine Absage an die über-

lieferten Herrschaftsverhältnisse, son-

dern an die Geschichte selbst. Vieles

wurde dem Verfall preisgegeben, und

von manchem Gutshaus ist nur noch

der Baumbestand erhalten. Erst verließ

das dem Hof und der Armee verbun-

dene Bürgertum das Land, dann folgten

die Handwerker und zuletzt die Bauern,

die die Kollektivierung fürchteten. Die

Industrie in Brandenburg, Hennigsdorf

und Eisenhüttenstadt kämpft heute

ums Überleben, und Neues ist kaum

nachgewachsen.

Die Wunder der Streusandbüchse

7

Page 10: perspektive21 - Heft 21/ 22

„Heute“ – so noch einmal Wolf Jobst

Siedler – „mutet die Welt zwischen dem

Barnim und der Uckermark merkwür-

dig geschichtslos an, es fehlt, was ihr so

lange Bedeutung gegeben hat: Bürger,

Bauer, Edelmann.“ An die Stelle des wie

der Fehlenden ist ein nostalgisches Hei-

matgefühl getreten, das auch die DDR-

Vergangenheit einschließt. Manfred

Stolpe und Regine Hildebrandt reprä-

sentierten den daraus erwachsenen

Politikstil. Doch was im Westen unter

den Zumutungen des Reformdrucks

manchmal belächelt wird – der Bran-

denburger Weg – enthält manches

Gute. Es gilt noch der Satz: Wer verän-

dern will, trägt die Beweislast. Man ist

näher an der Vergangenheit, an den

Wurzeln und an der Geschichte. Und

allmählich dämmert es allen, dass

diese Vergangenheit die Zukunft ist. Ein

Industrieland wird die Mark nicht, der

Garten eines erneuerten Berlins schon.

Auch deshalb liegt in der Fusion beider

die eigentliche Chance, nicht für ein

neues Preußen, aber doch für ein Bun-

desland, das der historischen Tradition

auch eine wirtschaftliche Basis zu

geben vermag. Insofern sind gerade die

adligen Rückkehrer, die es gibt, wie die

Marwitzens und die Hardenbergs, ein

Zeichen für die Zukunftsfähigkeit der

Wiege Preußens. Und in einem sind

sich alle, ob zurückgekehrter Adel,

wiedereinrichtende Bauern oder ehe-

malige Kommunisten, ob CDU, SPD

oder PDS einig:„In Staub mit allen Fein-

den Brandenburgs.“

Alexander Gauland

8

Alexander Gaulandist promovierter Jurist und Herausgeber

der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ in Potsdam.

Zuletzt erschien von ihm die „Anleitung zum Konservativsein“,

Deutsche Verlagsanstalt 2002.

Page 11: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die Jahre nach der Wende waren

gekennzeichnet durch den gleichzeiti-

gen Zusammenbruch einer früheren

Gesellschaftsordnung und den Neu-

aufbau von Rechtsstaat, Unternehmen,

Arbeitsplätzen, Kommunen und Bürger-

gesellschaft. Mit großem Mitteleinsatz

wurden neue Infra- und Verwaltungs-

strukturen geschaffen sowie industrielle

Kerne entwickelt. Dabei sind viele nicht

mehr wettbewerbsfähige Arbeitsplätze

verloren gegangen. Der Neuaufbau des

Bildungs- und Verwaltungssystems ori-

entierte sich in der Regel an alten west-

deutschen Erfahrungen, die zu ihrer

schnellen Funktionstüchtigkeit führten.

Diese erste Phase des Aufbaus ist

jetzt abgeschlossen. Nun müssen wir

uns neu orientieren. Die Ausrichtung

an westdeutschen Vorbildern hilft uns

nur noch bedingt weiter. Denn am

Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir

es in Brandenburg mit anderen, neuen

und teilweise beispiellosen Rahmen-

bedingungen zu tun.

Deshalb ist es Zeit für eine neue

Etappe – einen Weg, der Perspektiven

und Orientierung schafft für alle Bürger

im Land, für Männer und Frauen, für Kin-

der und Ältere. Brandenburg soll Heimat

zum Wohlfühlen sein. Genau deshalb

muss Brandenburg im 21. Jahrhundert

auch die Heimat für geistreiche Ideen

sein. Die Zukunft unseres Heimatlandes

entsteht nicht in großen Sprüngen: Vor

uns liegen viele kleine Schritte. Entschei-

dend ist, dass wir heute unsere Aus-

gangslage klar analysieren,wir dann den

richtigen Kurs einschlagen – und diesen

zukünftig unbeirrt beibehalten. Die

Nachwendezeit ist vorbei. Jetzt braucht

Brandenburg einen neuen Anlauf.

9

Zukunft, Arbeit und Familie –Unser Weg für Brandenburg

Von Matthias Platzeck

1. Die erste Aufbauphase ist abgeschlossen

Page 12: perspektive21 - Heft 21/ 22

In den letzten Jahren hat Branden-

burg viel erreicht: mit 76 % des Niveaus

der alten Bundesländer beim Bruttoin-

landsprodukt je Erwerbstätigen liegt

unser Land auf dem Spitzenplatz unter

den neuen Bundesländern. Doch trotz-

dem: Momentan erwirtschaftet Bran-

denburg nur etwa 45 % seines Haushal-

tes durch eigenes Steueraufkommen.

Mit dem Solidarpakt II sind bis 2019 die

– schrittweise sinkenden – Finanztrans-

fers nach Ostdeutschland festgeschrie-

ben. Damit ist auch der Zeitraum abge-

steckt, bis das Land auf eigenen Füßen

stehen muss.

Das bedeutet: Es bleiben uns noch 15

Jahre, um Brandenburg für die Zukunft

fit zu machen. Der Weg dorthin ist stei-

nig und verläuft unter neuen Rahmen-

bedingungen:

• Bereits heute gibt es bei uns ein gut

ausgebautes Hochschul- und For-

schungsnetzwerk. Daneben gibt es

eine Vielzahl von Industrieunterneh-

men mit guten Produkten und hohen

Wachstumsraten. Deren Wirtschafts-

kraft ist jedoch noch zu gering, was

sich unter anderem in relativ niedri-

gen Exportanteilen niederschlägt.

• Unser Land hat viele Einwohner vor

allem in den ländlichen Regionen ver-

loren – und mit ihnen kreatives und in-

tellektuelles Potential, denn die meis-

ten der Abwanderer sind jung und

überdurchschnittlich gut ausgebildet.

Die Abwanderung verschärft den

zunehmenden Fachkräftemangel.

• Der Zuzug in das Berliner Umland –

und damit die Gleichzeitigkeit von

Wachstum und Schrumpfung im Land

– vergrößert die Entwicklungsunter-

schiede innerhalb Brandenburgs. Wir

müssen zwei auseinanderdriftende

Regionen – das Berliner Umland und

die berlinfernen Regionen – einfalls-

reich miteinander verklammern.

• Unsere älter werdende Gesellschaft

birgt neue Herausforderungen für

alle gesellschaftliche Bereiche und

den Staat.

• Nach wie vor verzeichnen wir geringe

Geburtenzahlen.Brandenburg braucht

wieder mehr Kinder.Wir müssen heute

unsere Anstrengungen verstärken, ein

familienfreundliches Umfeld zu schaf-

fen – damit Frauen wieder Kinder be-

kommen (wollen) und unser Land

attraktiv wird für neu hinzuziehende

Bürger.

• Die neue Lage Brandenburgs im Zen-

trum eines zusammenwachsenden

Europa schafft neue Chancen für

Wirtschaft und Arbeitsmarkt, die wir

erkennen und nutzen müssen.

Matthias Platzeck

10

2. Chancen schaffen und nutzen:Warum wir unser Land in den nächsten 15 Jahren verändern

Page 13: perspektive21 - Heft 21/ 22

Diese Herausforderungen sind in ihrer

Ballung neu – und sind besondere Merk-

male Brandenburgs und der übrigen

neuen Bundesländer. Es gibt keine ferti-

gen Blaupausen oder westdeutsche Er-

fahrungen, die uns helfen könnten, mit

einer solchen Situation umzugehen.

Wenn wir diese Herausforderungen

meistern wollen, muss Brandenburg

deshalb zum Land von Einfallsreichtum

und Erneuerung in Wirtschaft und Ge-

sellschaft werden. Und es muss wieder

zum Land der Kinder werden. Um neue

Perspektiven zu schaffen, brauchen wir

neue politische Spielräume. Spielräume

für eine Politik der mutigen Erneuerung.

Spielräume, um in Kinder und Familien,

in Schulen und Hochschulen und in

Fachkräfte zu investieren. Spielräume,

um Phantasie, Tatkraft und Gemeinsinn

zu fördern. Das ist unser Weg für Bran-

denburg.

Die wichtigste Voraussetzung für

eine lebens- und liebenswerte Heimat,

die Perspektiven für Familien bietet

und in der sich ältere Menschen wohl

fühlen können, sind Arbeitsplätze.

Arbeitsplätze und neue Produkte ent-

stehen heute und in Zukunft durch

„kreative Problemlöser“ – das heißt, wir

müssen verstärkt in Menschen inves-

tieren. Damit Unternehmen gute Pro-

dukte auf den Markt bringen können,

damit sie neue Märkte erschließen und

höhere Löhne erwirtschaften können,

brauchen wir eine funktionierende In-

frastruktur, eine leistungsfähige Ver-

waltung und vor allem zeitgemäß aus-

gebildete Fachkräfte. Dazu gehört eine

gute Kinderbetreuung und Bildung, die

zu Verantwortung und Gestaltungs-

kraft erzieht. Deshalb müssen wir

unser Augenmerk in Brandenburg auf

ein klar strukturiertes und qualitativ

hochwertiges Bildungssystem, auf ein

forschungsfreundliches Hochschulum-

feld, auf die Vernetzung von Unterneh-

men und Hochschulen und auf Spezia-

lisierung legen. Unsere Politik besteht

darin, Arbeit mit Bildung und For-

schung zu verschmelzen und um eine

moderne Familienpolitik zu ergänzen.

Zukunft, Arbeit und Familie – Unser Weg für Brandenburg

11

3. Zusammenhänge erkennen: Erfolg hat Voraussetzungen

Page 14: perspektive21 - Heft 21/ 22

Das ist keinesfalls ferne Zukunfts-

musik. Erfolg versprechende Branchen

in Brandenburg gibt es bereits heute.

Diese positiven Ansatzpunkte müssen

wir unterstützen und ausbauen. Zu

ihnen gehören die Luftfahrtbranche, der

Energiesektor, die Medienbranche, die

Bio- und Gesundheitstechnologie und

der Tourismus. Unser neuer Ansatz

heißt: zukunftsfähige Branchen zusam-

menführen, untereinander vernetzen

und Bedingungen schaffen, damit die

bereits vorhandene dynamische Ent-

wicklung beschleunigt werden kann.

Die Zukunft Brandenburgs liegt in hoch

produktiven Bereichen, liegt in wissens-

intensiven Arbeitsplätzen, in denen

hohe Löhne erwirtschaftet werden kön-

nen. Solche Arbeitsplätze entstehen

hauptsächlich aus der intensiven Zu-

sammenarbeit zwischen Unternehmen

und Hochschulen, Forschung und Ent-

wicklung. Erst wenn wir diese Bereiche

zusammen denken, wird sich neue wirt-

schaftliche Dynamik entfalten. Die fol-

genden Maßnahmen gehören für uns

dazu:

• Wir wollen für die verschiedenen

Branchen integrierte Entwicklungs-

strategien zusammen mit Hoch-

schulen, Forschungseinrichtungen,

Unternehmen, Schulen und den

Selbstverwaltungseinrichtungen der

Wirtschaft entwickeln. Die Politik

kann Entwicklungen nicht ver-

ordnen. Aber sie kann potentielle

Partner zusammenbringen und

ihrerseits Anreize schaffen. Das wirt-

schaftliche Erbe der DDR war eine

schwere Hypothek. Wir müssen uns

heute von der Erwartung verabschie-

den, dass allein durch staatliche

Großinvestitionen tausende Arbeits-

plätze geschaffen werden können.

Stattdessen müssen wir uns auf un-

sere eigenen Stärken konzentrieren,

uns mit einer Politik der vielen

Schritte auf die vorhandenen Stand-

orte konzentrieren und diese aus-

bauen.

• Die Forschungsausgaben der ostdeut-

schen Unternehmen sind nach wie vor

sehr gering, deshalb ist eine öffent-

liche Forschungsförderung zwingend

für unser Land. Wir brauchen heute

mehr Forschung und Entwicklung, um

morgen fit für die Zukunft zu sein. Wir

wollen helfen, die bestehenden For-

schungsstandorte weiter zu fördern

und auszubauen sowie durch aktives

Einwerben neue Forschungseinrich-

tungen gewinnen. Bereits heute ist

Brandenburg das einzige Bundesland,

das in den vergangenen Jahren seine

Haushaltsmittel für Wissenschaft und

Forschung nicht gekürzt, sondern auf-

Matthias Platzeck

12

4. Zukunft wird Gegenwart: Erste Erfolge sind schon sichtbar

Page 15: perspektive21 - Heft 21/ 22

gestockt hat. Diesen Kurs wollen wir

fortsetzen: Trotz der schwierigen

Haushaltslage werden wir die Aus-

gaben im Hochschul- und Forschungs-

sektor weiter stabil halten und alles

versuchen, sie weiter aufzustocken.

• Wir brauchen den Flughafen BBI, um

das Cluster im Bereich der Luftfahrt

auszubauen. Der Flughafen soll stu-

fenweise gebaut werden – die erste

Stufe soll 2010 in Betrieb gehen. Die

TFH Wildau wollen wir zu einem Zen-

trum für Luftfahrttechnik ausbauen.

• Wir wollen eine Tourismusförderung

aus einer Hand und verstärkt neue

Märkte erschließen – Gesundheits-

und Seniorentourismus sind große

Wachstumsfelder der Zukunft. Der

Bedarf an qualifizierten Fachkräften

im Bereich Tourismus wird weiter

zunehmen. Deshalb setzen wir uns

für die Schaffung eines Studiengangs

für Internationale Tourismuswirt-

schaft in Brandenburg ein. Ein solcher

Studiengang wird wirtschaftliche

Impulse auslösen, den Bildungsstan-

dort bereichern und das Tourismus-

land Brandenburg beleben.

• Unsere Unternehmen stehen vor

einem lohnpolitischen Dilemma, da

sie auf der einen Seite höhere Löhne

(noch) nicht erwirtschaften können,

ihnen aber auf der anderen Seite auf-

grund der niedrigen Löhne Fach-

kräfte abhanden kommen. In den

nächsten Jahren müssen wir neue

Wege gehen, um die nach wie vor

vorhandenen Lohndifferenzen auszu-

gleichen – damit wir in Zukunft qua-

lifizierte Fachkräfte im Land halten

können. Erste Kommunen gehen sol-

che neuen Pfade, indem sie Wohnun-

gen oder Grundstücke kostenlos

abgeben und auf diese Weise Anreize

dafür bieten, dass Menschen bleiben

oder sogar neu zuwandern. Dabei ist

es auch im Interesse der Branden-

burger Wirtschaft, die Menschen an

ihre Heimat zu binden. Ansiedlungs-

politik bezieht sich heute nicht mehr

nur auf Unternehmen, sondern – in

Zeiten ständig wachsender Mobilität

– auch auf deren Mitarbeiter. Wir

wollen es Kommunen ermöglichen,

solche neuen Wege einschlagen zu

können. Verbilligter Wohnraum kann

für viele Fachkräfte ein Anreiz sein,

hier zu bleiben oder hierher zu kom-

men. Auf diese Weise würden Löhne

durch Sachleistungen ergänzt. Sol-

che schöpferischen Initiativen müs-

sen vor Ort entstehen. Unternehmen

haben das Interesse, ihre Fachkräfte

zu halten – Kommunen wiederum

haben das Interesse, Menschen anzu-

ziehen und ihr Stadtbild zu ent-

wickeln. Gemeinsam kann es ihnen

gelingen, ihre Ziele zu erreichen.

Zukunft, Arbeit und Familie – Unser Weg für Brandenburg

13

Page 16: perspektive21 - Heft 21/ 22

Der wichtigste Rohstoff unseres Lan-

des steckt in unseren Köpfen. Dort ent-

stehen neue Ideen. Innovationen und

Kreativität lassen sich nicht verordnen,

sie müssen wachsen und in einem

fruchtbaren Umfeld gedeihen können.

Aber der Boden dafür muss bereitet sein.

Die Voraussetzungen für Forschung und

Entwicklung liegen in der guten Hoch-

schul- und Forschungslandschaft, die wir

in Brandenburg in den vergangenen Jah-

ren aufgebaut haben. Für uns ist es wich-

tig, die in unserem Heimatland entstan-

denen Potenziale optimal zu nutzen und

neue zu aktivieren. Dafür brauchen die

Hochschulen und Fachhochschulen mehr

Luft. Wir wollen ihnen Schritt für Schritt

mehr Freiheit lassen und dabei deutsch-

landweit eine Vorreiterrolle übernehmen:

• Der Hochschulsektor soll entbürokra-

tisiert und unabhängig vom Wissen-

schaftsministerium werden. Die Hoch-

schulen sollen ihre Professoren selbst

ernennen und anstellen können. Das

ist verbunden mit der Notwendigkeit,

die Verbeamtung in Deutschland neu

zu regeln. Darüber hinaus sollen die

Hochschulen auch ihre Studenten

selbst aussuchen können.

• Wir wollen Bildungschancen für alle

verbessern. Deshalb legt das Land ein

Stipendienprogramm zur Förderung

begabter, aber sozial benachteiligter

Brandenburger Studenten auf, um

innovative Leistungen zu fördern.

• Nach den Vereinbarungen zur Stär-

kung zukunftsträchtiger Branchen

(siehe Punkt 4) wollen wir die ent-

sprechenden Fachbereiche an Fach-

hochschulen und Universitäten stär-

ker fördern.

Die Schule ist die Basis für erfolg-

reiche Studenten und qualifizierte

Fachkräfte. Deshalb müssen wir die in

den vergangenen Jahren eingeleitete

Bildungsoffensive weiterentwickeln:

Wir wollen bessere und kreativere

Schulen. Neben dem Lernen muss die

Erziehung zu Selbständigkeit und Wis-

sensdurst, Partnerschaftlichkeit und

sozialer Gerechtigkeit in den Mittel-

punkt der Schulen gestellt werden:

Matthias Platzeck

14

5. Ideen brauchen Freiheit:Vorfahrt für Gestaltungskraft an unseren Hochschulen

6. Lernen und Bildung für alle:Schule muss Neugierde und Wissensdurst fördern

Page 17: perspektive21 - Heft 21/ 22

• Wir wollen für alle Schulanfänger

eine flexible Eingangsphase vom

Kindergarten in die Grundschule,

damit ihre individuelle Leistungs-

fähigkeit stärker berücksichtigt wer-

den kann. In dieser Eingangsphase

verbringen die Kinder zwei bis drei

Jahre und gehen dann in die 3. Klasse

über. Die Einschulung beginnt in

Zukunft mit 5 1/2 Jahren.

• Die Schüler sollen in der Regel inner-

halb von 12 Jahren bis zum Abitur

oder zum Berufsabschluss geführt

werden.

• Wir brauchen in Zukunft mehr hoch

qualifizierte Fachkräfte. Deshalb soll

die Abiturientenquote langfristig

auf 50 % steigen.Wir wollen dadurch

mehr Menschen „schlau“ machen,

ohne die Qualität der Ausbildung zu

senken. Dass dies möglich ist,

machen uns andere europäische

Länder erfolgreich vor.

• Alle einschlägigen Studien zeigen,

dass ein langes gemeinsames Lernen

und eine möglichst späte Selektion

sich positiv auf die Lernergebnisse nie-

derschlagen. Brandenburgs Schüler

sollen auch weiterhin mindestens

sechs Jahre gemeinsam lernen.

• Das Schulsystem soll übersichtlich

und klar strukturiert sein. Deshalb set-

zen wir – nach der Grundschule – auf

die beiden Schulformen Gymnasium

und Sekundarschule. Ein solches

Modell ermöglicht auch im ländlichen

Raum qualitativ gute Schulen in ak-

zeptabler Entfernung zum Wohnort.

• Wir wollen die Zusammenarbeit zwi-

schen Schulen, Hochschulen und

Wirtschaft weiter intensivieren. Un-

ternehmen sollen in die Schulen kom-

men, Schüler und Lehrer in die Unter-

nehmen gehen. Zusammen mit

Hochschulen und Unternehmen soll

ein stärkeres Augenmerk auf die

Berufs- und Studienwahl gelegt so-

wie auf zukunftsträchtige Tätigkeits-

felder orientiert werden. Dazu haben

wir in Brandenburg bereits einen bun-

desweit einmaligen Kooperations-

vertrag „Netzwerk Zukunft. Schule

und Wirtschaft für Brandenburg“ zwi-

schen Unternehmerverband, Gewerk-

schaften, IHKs, Hochschulen und

Schulen. Dieses System wollen wir

weiter ausbauen und dafür sorgen,

dass die Zusammenarbeit mit Wirt-

schaft und Hochschule in allen Schu-

len Wirklichkeit wird.

• Wirtschaftliche Zusammenhänge las-

sen sich am besten in der Praxis erler-

nen. Wir unterstützen die Gründung

von Schülerfirmen.

• Wir wollen für eine moderne Ler-

numgebung sorgen. Alle Schüler

bekommen einen E-Mail-Zugang.

Wir wollen, dass Bibliotheken zum

Mittelpunkt der Schulen und gleich-

zeitig kultureller Treffpunkt im Ort

Zukunft, Arbeit und Familie – Unser Weg für Brandenburg

15

Page 18: perspektive21 - Heft 21/ 22

oder Ortsteil werden. Für die Aus-

stattung der Bibliotheken wollen wir

die Wirtschaft als Kooperationspart-

ner gewinnen.

Familie ist die Sache aller. Unser Ziel ist

es, dass es in Brandenburg mehr Fami-

lien und mehr Kinder gibt. Familie ist

nicht nur da, wo Kinder sind. Familien

sind auch der Ort, wo Jung und Alt

zusammen leben, sich umeinander

kümmern, Verantwortung füreinander

übernehmen. Familien sind Orte der

Solidarität und der Zusammengehörig-

keit von Generationen. Familien, Kinder

und ältere Menschen sollen sich in Bran-

denburg wohl fühlen. Mehr Familien tun

unserem Land gut.Wir wollen die Bedin-

gungen – vor allem für Frauen – so ver-

bessern, dass Familie und Beruf besser

unter einen Hut gebracht werden kön-

nen. Frauen sollen stärker als bisher am

Erwerbsleben teilnehmen können, da-

mit sie ihre Schaffenskraft und Kreati-

vität nutzen können. Frauen erheben

darauf einen selbstverständlichen An-

spruch – und wir können es uns in Zu-

kunft nicht mehr leisten, Frauen zuerst

gut auszubilden und sie dann mit ihren

Kindern ohne Chancen auf Teilhabe am

Erwerbsleben zu Hause zu lassen.

Hinzu kommt: Ein Großteil unserer

derzeitigen und zukünftigen ökonom-

ischen und gesellschaftlichen Schwier-

igkeiten hat demografische Ursachen.

Nicht, dass wir immer älter werden, ist

unser Problem, sondern dass wir zu

wenig Kinder bekommen. Deshalb

brauchen wir auch in Zukunft ein gut

ausgebautes Kinderbetreuungssystem

– wie es in Brandenburg zurzeit exis-

tiert. Brandenburg hat die höchste

Angebotsdichte für Kleinkinder in ganz

Deutschland. Dabei muss es bleiben –

dieser Brandenburger Weg ist ein Vor-

bild für andere Länder. Dieses System

wollen wir in den kommenden Jahren

durch verbindliche Bildungsstandards

für die Kitas weiterentwickeln. Neben

einer modernen Kinderbetreuung

brauchen wir aber auch familien-

freundliche Unternehmen. Unser Ziel

ist es, dass wieder mehr Kinder in Bran-

denburg geboren werden. Dafür müs-

sen die Bedingungen stimmen:

• Wir wollen einen Wettbewerb auslo-

ben und damit die Familienfreundlich-

keit von Unternehmen auszeichnen.

• In Kooperation mit den Wohlfahrts-

verbänden setzen wir uns dafür ein,

dass Babysitter-, Tagesmutter- und

Matthias Platzeck

16

7. Die Kreativität der Menschen nutzen:Warum es auf Frauen und Familien ankommt

Page 19: perspektive21 - Heft 21/ 22

Pflege-Zentrale eingerichtet werden.

Sie soll helfen, wenn Hilfe gebraucht

wird und qualifizierte Unterstüt-

zung für Familien bieten. Gerade

auch, wenn es mal schnell gehen

muss.

• Gemeinsam mit Unternehmen, Ge-

werkschaften und Familieninitiativen

rufen wir ein „Bündnis für Familien“

ins Leben. Dort sollen konkrete Maß-

namen verabredet werden, die wir

Brandenburg kinder- und familien-

freundlicher machen können. Der

solidarische Umbau unserer Kommu-

nen, alters- und kindergerecht, soll

auf diese Weise begleitet werden.

Ideen und Innovation sind die Vor-

aussetzungen für den Erfolg Branden-

burgs. Bereits zu Zeiten der DDR be-

wiesen die Brandenburgerinnen und

Brandenburger ihren Einfallsreichtum,

wenn es darum ging, in schwieriger

Lage pragmatische Lösungen zu fin-

den. Heute wird wieder jeder Einzelne

mit seinen Ideen gebraucht, die das

Land voran bringen können. Im 21. Jahr-

hundert wollen wir wieder ein Land

der Ideen werden – ohne dabei den

Boden unter den Füßen zu verlieren.

Wir vertrauen nicht auf vermeintliche

Sofortlösungen von außen, sondern

auf die wachsenden Fertigkeiten und

Potentiale der selbstbewussten Men-

schen in unserem Land. Auch im 21.

Jahrhundert bleiben die Erfahrungen

und Kenntnisse der Brandenburgerin-

nen und Brandenburger unser wichtig-

ster Rohstoff. An ihre Traditionen und

Erfahrungen knüpfen wir an, denn

Zukunft braucht Herkunft.

Einfallsreichtum und Gestaltungs-

kraft sind Mittel zum Zweck. Gerade in

schwierigen Zeiten ist Phantasie ge-

fragt. Engagement von jedem ist not-

wendig, wenn wir erfolgreich sein wol-

len. Eine Kultur der Innovation und

Kreativität stärkt die Motivation aller

und spornt zu höheren Leistungen an.

Deshalb wollen wir die Landesverwal-

tung umbauen. Wir brauchen den

„schnellen“, hellwachen und innovati-

ven Staat, der Partner auf gleicher

Augenhöhe ist und den Menschen

hilft, ihre Ideen zu verwirklichen. Auch

deshalb soll Brandenburg zum bun-

desweiten Vorreiter bei der elektroni-

schen Verwaltung werden. Wir wollen

Bürgerterminals in erreichbarer Nähe

schaffen, an denen Behördengänge

erledigt werden können.

Zukunft, Arbeit und Familie – Unser Weg für Brandenburg

17

8. Ideen für Brandenburg: Wie sich eine moderneKultur der Kreativität und Innovation entwickeln wird

Page 20: perspektive21 - Heft 21/ 22

Bürgerliche Eigeninitiative in den

vielen Vereinen und Nachbarschaften,

in den Gemeinden und Stadtteilen

entsteht an den Graswurzeln der Ge-

sellschaft. Wir brauchen diese Gestal-

tungskraft und Autonomie der Gesell-

schaft, wir brauchen diese lebendige

Kultur des Mitmachens, die Eigen-

initiative, Verantwortung und Gemein-

sinn pflegt. Mit einem Wettbewerb

wollen wir solche Projekte für Bürge-

rengagement unterstützen. Die Bedin-

gungen für dieses Engagement müs-

sen stimmen – denn nur so können wir

die nötige Schubkraft entwickeln, die

wir brauchen, damit Brandenburg bis

2020 auf eigenen Füßen stehen kann.

Matthias Platzeck

18

Matthias PlatzeckMinisterpräsident des Landes Brandenburg und

Vorsitzender des SPD-Landesverbandes Brandenburg

Page 21: perspektive21 - Heft 21/ 22

„Ein anderes Mal“, so beginnt eines

der Abenteuer des Barons von Münch-

hausen, „wollte ich über einen Morast

setzen, der mir anfänglich nicht so

breit vorkam, als ich ihn fand, da ich

mitten im Sprunge war. Schwebend in

der Luft wendete ich daher wieder um,

wo ich hergekommen war, um einen

größeren Anlauf zu nehmen. Gleich-

wohl sprang ich auch zum zweiten

Male noch zu kurz, und fiel nicht weit

vom anderen Ufer bis an den Hals in

den Morast. Hier hätte ich unfehlbar

umkommen müssen, wenn nicht die

Stärke meines eigenen Armes mich an

meinem eigenen Haarzopfe, samt dem

Pferde, welches ich fest zwischen

meine Knie schloß, wieder herausgezo-

gen hätte.“ Vermag auch eine Region

sich am eigenen Zopf aus dem wirt-

schaftlichen Sumpf zu ziehen? Und

wie sollte so etwas möglich sein?

Meine These lautet: Durch kontinuier-

liche und nicht abbrechende Evolution

aus eigener Kraft. Ich sehe jedenfalls

keine überzeugende Alternative zu die-

sem „Münchhausen-Prozess“.

„ Das Praktischste was es gibt, ist eine

gute Theorie“, sagt Kant. Ich maße mir

nicht an, eine Theorie als gut oder

schlecht zu bezeichnen. Ich behaupte

allerdings, dass die Entwicklungspro-

bleme Ostdeutschlands – erst jüngst in

einem Aufsehen erregenden SPIEGEL-

Titelthema (Heft 15/04) anschaulich

illustriert – auch eine Folge theore-tischer Schieflagen sind. Denn alles, was

in der Wirtschaftspolitik passiert, hat

eine theoretische Grundlage, auch

wenn die Verantwortlichen glauben,

ausschließlich autonom und eigen-

ständig ihre Entscheidungen zu treffen.

Doch dem ist keineswegs so. Der Öko-

nom John Maynard Keynes hat dieses

Problem treffend beschrieben: „Die

Ideen der Ökonomen und Staatsphilo-

sophen, seien sie im Recht, seien sie im

Unrecht, sind einflußreicher, als ge-

meinhin angenommen wird. In der Tat,

die Welt ist durch nicht viel anderes

beherrscht. Praktiker, die sich ganz frei

von intellektuellen Einflüssen glauben,

sind gewöhnlich die Sklaven irgend-

eines verblichenen Ökonomen (defunct

19

Ostdeutschland in der EntwicklungsfalleOder: Die Münchhausen-Chance

Von Jochen Röpke

Page 22: perspektive21 - Heft 21/ 22

economist).“ Die theoretischen Wurzeln

bestimmter Programme und Konzep-

tionen freizulegen ist deshalb unver-

zichtbar, um Fehlentwicklungen aufzu-

zeigen und neue Handlungsmöglich-

keiten zu erschließen 1.

Stellen wir deshalb zunächst zwei

theoretische Ansätze der Wirtschafts-

theorie gegenüber: die vorherrschende

„Mainstreamtheorie“ (so genannte Neo-

klassik, vulgo „Neoliberalismus“) einer-

seits und die auf den österreichischen

Wirtschaftstheoretiker Joseph Schum-

peter (1883-1950) zurückgehende Ent-

wicklungstheorie andererseits. Die eine

läßt Münchhausens Pferd samt Reiter im

Sumpf landen, die andere dagegen er-

laubt es, sich aus eigener Kraft aus dem

Morast zu befreien. Eine für Ostdeutsch-

land nicht ganz reizlose Perspektive.

Den vorherrschenden und mit be-

trächtlicher wissenschaftlicher und in-

teressenpolitischer Verve vorgetragenen

Ansatz bezeichne ich als „Inputlogik“:

Mehr und optimal eingesetzte Ressour-

cen (Wissen, Qualifikation, Kapital, usw.)

erzeugen danach mehr Wachstum

inklusive Arbeitsplätze. Den zweiten

Ansatz bezeichne ich als „Innovations-

logik“: Entwicklung ist danach eine

Funktion der Neukombination der in

einem System jeweils verfügbaren Pro-

duktionsfaktoren. Im schumpeterschen

Paradigma erzeugen diese Neukombi-

nationen Wirtschaftswachstum; dieses

wiederum bewirkt zusätzliche Ressour-

cen („Inputwachstum“).

Kein Ansatz dominiert in reiner Form.

Wie ein chinesisches Sprichwort sagt:

Fische können in reinem Wasser nicht

leben. In der wissenschaftlichen und

wirtschaftspolitischen Debatte um die

Zukunft des „Standorts Deutschland“

und des „Aufbaus Ost“ ist allerdings

unschwer eine inputlogische Lufthoheit

auszumachen. Die Unterschiede der

zwei grundverschiedenen Ansätze zeigt

Tabelle 1 im vereinfachten Überblick:

Jochen Röpke

20

1 Zu den regionaltheoretischen und – politischen Grundlagen meiner Ausführungen möchte ich auf die Arbeit von JörgAßmann, Innovationslogik und regionales Wirtschaftswachstum, Marburg (Mafex), 2003 verweisen. Sie enthält einedetaillierte Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden und in weiten Bereichen unwirksamen Ansatz und entfalteteine auf Schumpeter gründende Alternative regionaler Entwicklung.

1. Die Quellen des Wachstums: Input- versus Innovationslogik

Page 23: perspektive21 - Heft 21/ 22

Alles, was in der Spalte „Neoklassik/

Mainstream“ steht, sind Aspekte des

vorherrschenden wirtschaftspolitischen

Paradigmas. Die hier verfügbaren Akti-

onsparameter sind für eine Entwick-

lungsgesellschaft jedoch funktionslos.

Sie optimieren das Bestehende. In einer

offenen Region bewirken sie schlei-

chende Stagnation und „effiziente Ver-

armung“; immerhin noch effizientem

Verhungern vorzuziehen. Münchhausen

im Morast. Erst in Verbindung mit dem

Schumpeter-Paradigma macht diese

Mainstream-Logik entwicklungsstrate-

gischen Sinn. Sie ist also nicht unsinnig,

nur kann sie – für sich alleine genom-

men – keine Region aus der Entwick-

lungskrise führen. Sie schafft Modelle

wirtschaftlicher Erscheinungen, ohne

den Mechanismus der Entwicklung zu

begreifen, der diese Erscheinungen

überhaupt erst hervorbringt.

Durch ein bloßes „Hineinpumpen“

von Ressourcen in die Maschine Wirt-

schaft läßt sich keine Entwicklung

erzeugen. Denn Entwicklung ist ein

qualitatives Phänomen. „Es können

noch so viele Postkutschen produziert

werden, und es werden daraus keine

Eisenbahnen entstehen.“ Mit diesen

Worten formuliert der Entwicklungs-

theoretiker Schumpeter die klassische

Kritik an dieser Logik. Und:„Es waren im

Allgemeinen nicht die Postmeister, wel-

che die Eisenbahnen gründeten“.2 Aus

einer Dampfmaschine wird keine Glüh-

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

21

Aspekte Neoklassik/Mainstream SchumpeterQuelle des regionalen Inputvermehrung Neukombination

Wachstums (Inputlogik) (Innovationslogik)

Träger des Wachstums Routine, „Unternehmer“

„Homo Oeconomicus“,„Wirt“ (Innovator)

Funktion von Wissenschaft/ Produzent von neuem Wissen Ohne Durchsetzung bleibt

Forschung Anwendung des Wissens in Wissen „tot“:

Form von Patenten, Lizenzen, unternehmerische Wissens

durch Transfer: gesellschaft

„Wissensgesellschaft“

Peter Drucker „Die Dinge richtig tun“ „Die richtigen Dinge tun“

Biologie des Lebens Kaltblüter (Dinosaurier) Warmblüter (Säugetiere)

Allokation der Faktoren Optimale Allokation der Neukombinationen lassen

Ressourcen „Wer optimiert sich nicht optimieren

gewinnt“ „Wer optimiert verliert“

Motivation Hedonismus, Gewinn, Leistungsmotivation, Freude

extrensisch am Gestalten, intrinsisch

Tabelle 1:

2 Joseph Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 8. Auflage, Berlin, 1964, S. 101.

Page 24: perspektive21 - Heft 21/ 22

birne, aus dieser kein Automobil, und

aus diesem kein Computer. Wirtschaft,

Wissenschaft und das System der In-

novation funktionieren nicht auf der

Grundlage von Input und Output. Sie

verfügen schlicht nicht über Mecha-

nismen, die dies erlauben könnten. Sie

sind daher auch nicht instruierbar. Wer

solches versucht, zerstört sie. Ost-

deutschland ist nur eine weitere Illus-

tration dieser Einsicht. Durch Transfers –

importierte Kaufkraft – zerstört. Seit der

Wiedervereinigung beläuft sich die

Kaufkraftübertragung auf 80.000 € pro

Einwohner der neuen Bundesländer.

Wo immer sich Entwicklung dem-

gegenüber tatsächlich vollzieht, ist der

Mechanismus stets der gleiche: Selbst-

erzeugung von Kaufkraft und Ressour-

cen. Diese Logik ist auf den ersten Blick

natürlich schwer zu akzeptieren. Sie

entzieht denen, die mit Außensteue-

rung, Transfers (von cash, Wissen, Egos)

und Beratung ihre Geschäfte machen,

die Geschäftsgrundlage. Auch eine

Entwicklungswirtschaft operiert na-

türlich nicht ohne Ressourcen. Was sie

von einer inputlogischen Wirtschaft

unterscheidet, ist ihre Operationswei-

se, ihr anderer Umgang mit Inputs.

Eine Innovationswirtschaft transfor-

miert nicht, weil sie über mehr Res-

sourcen verfügt und die verfügbaren

Ressourcen optimal einsetzt, sondern

weil sie die Ressourcen neu kombi-

niert. Dies ist der entscheidende und im

„Schumpetermodell“ auch einzige Un-

terschied. In den Worten Schumpeters:

„Es gäbe auch dann noch wirtschaft-

liche Entwicklung, wenn alle diese [für

neoklassisches oder inputlogisches

Wachstum notwendigen Elemente]

fehlen würden.“ 3 Aus diesem Unter-

schied läßt sich nahezu alles Weitere

ableiten – auch die erforderliche Wirt-

schaftspolitik.

Der Managementphilosoph Peter

Drucker unterscheidet zwischen dem

Tun richtiger Dinge (doing the rightthings) und dem richtigen Tun von Din-

gen (doing things right). Um die rich-

tigen Dinge zu tun (Ressourcen neu

kombinieren: Unternehmertum), muss

man die Dinge nicht richtig tun (den

Einsatz von Ressourcen optimieren:

Management). Eine Region kann das

Falsche optimieren (z.B. Güter höchst

effizient produzieren, die aber nur

noch bei niedrigen Löhnen rentabel

sind), oder das Richtige falsch machen

Jochen Röpke

22

2. „Doing the right things“

3 Joseph Schumpeter Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Auflage, Leipzig, 1911, S. 487.

Page 25: perspektive21 - Heft 21/ 22

(Innovationsgüter, unvermeidlicher-

weise, ineffizient produzieren). Die

Grundidee an einem konkreten Bei-

spiel: Eine nicht effizient hergestellte

Lokomotive wird eine effizient produ-

zierte Postkutsche immer aus dem

Markt werfen.

Niedrige Löhne seien schon lange

kein Vorteil mehr, schrieb Drucker

bereits 1988 (!), als er die Wettbewerbs-

fähigkeit neuer Branchen und Unter-

nehmen gegenüber etablierten unter-

suchte. Nicht Wettbewerb aufgrund

von Lohnunterschieden entscheidet

danach über die Zukunft eines Unter-

nehmens, sondern die Kompetenz des

Managements – die Produktivität des

Umgangs mit Wissen und Geld, Pro-

zesstechnologie, Qualität, Design, nicht

zuletzt Innovation. 4 Die in der Stagna-

tions- und Rückbildungsphase tätigen

Unternehmen sehen das naturgemäß

völlig anders. Wer nicht neukombiniert,

muß die Löhne senken. Am fiktiven,

aber realitätsnahen Beispiel: „Zur Stär-

kung unserer Wettbewerbsfähigkeit

gegenüber der Eisenbahn und dem

Automobil und zur Erhaltung der

Arbeitsplätze fordern wir eine dras-

tische Senkung der Löhne!“ (Verband

der Postkutschen- und Pferdefuhrwerk-

manufakturen e.V.). Einhundert Jahre

später ein Replay: „Die Firma Waggon-

bau Ammendorf war ein Vorzeigemo-

dells des Kanzlers, nun steht sie vor

dem Aus. Ein Lehrstück über den Auf-

bau Ost“ (DER SPIEGEL, Heft 13/2004).

Ostdeutsche Stimmungen im Jahr

2004: „Eher kommt Olympia als ein In-

vestor.“ – „Wir können es uns nicht leis-

ten, dass die Industrie weiter den Bach

runtergeht.“5 Warum auf Investoren

warten? Sie kommen, greifen ab – und

gehen. Die Beispiele sind täglich in den

neuen Bundesländern zu besichtigen.

Die Hiobsbotschaften reißen nicht ab.

Sie sind die Folgen „wurzellosen Invest-

ments“. Wie kommt eine Universitäts-

stadt wie Halle überhaupt auf die Idee,

nach „Investoren“ zu suchen, wenn die

(unternehmerische) Universität voller

potentieller „Investoren“ steckt?

Mit anderen Worten: Niedrige Löhne

sind – nicht immer, aber oft, und ins-

besondere in Ostdeutschland – ein Akti-onsparameter der Einfallslosigkeit. Ein

Zitat von Schumpeter macht deutlich,

worum es im Kern geht: „Ein System –

jedes System, nicht nur jedes Wirt-

schaftssystem, sondern auch jedes

andere –, das zu jedem gegebenen Zeit-

punkt seine Möglichkeiten möglichst

vorteilhaft ausnützt, kann dennoch auf

lange Sicht hinaus einem System unter-

legen sein, das dies zu keinem gege-

benen Zeitpunkt tut, weil diese seine

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

23

4 Peter Drucker, Low wages no longer an edge, The Asian Wall Street Journal, 25. März 1988.5 Zitate aus FAZ, 20. März 2004, S. 12.

Page 26: perspektive21 - Heft 21/ 22

Unterlassung eine Bedingung für das

Niveau oder das Tempo der langfris-

tigen Leistung sein kann.“ 6

„Wie das?“ fragt der wirtschaftstheo-

retische Laie und dem MBA und Univer-

sitätscontroller sträuben sich die Haare.

Total verrückt! Wer so was in der Prü-

fung sagt, kann sein Diplom vergessen.

Was Schumpeter hier formuliert, ist der

konfliktreiche Übergang von einer Stufe

des Funktionierens des Systems Wirt-

schaft (optimaler Ressourceneinsatz),

wie sie den neoklassisch-“neoliberalen“

Konzeptentwürfen zugrunde liegt, zu

einer „tieferen“ Ebene innovativer Re-produktion mit – zunächst – gegebenenRessourcen. Aus input- und allokations-

logischer Sicht sind Fehlallokationen

systemische Schieflagen, die der korri-

gierenden Hand des Reformers bedür-

fen. Schließlich ist Quelle des Wachs-

tums die Akkumulationsdynamik, die

jedoch nichts bringt, wenn die akkumu-

lierten Ressourcen fehlgeleitet werden.

Die ehemalige Sowjetunion und die

DDR illustrieren diese allokativen

Schieflagen. Eine hohe Akkumulations-

dynamik – die ins Leere läuft.

Die zweite Hypothese von Schum-

peter sagt demgegenüber: Entwicklung(nicht Wachstum!) bei optimaler Allo-

kation gibt es nicht, oder: eine nach der

Allokationslogik optimal wachsende

Wirtschaft wird einer neukombinieren-

den Wirtschaft unterlegen sein, weil die

„Fehlallokation“ Bedingung der Neu-

kombination ist. Doing the wrongthings right. Ergebnis: statische Effi-

zienz, dynamische Ineffizienz.

Eine solche Aussage ist in der Tat

theoretisch schwer zu schlucken. 7 Ein

Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt

andererseits ihre vollständige Norma-

lität. Kein Land auf der Erde hat sich

unter den Bedingungen eines opti-

malen Ressourceneinsatz bei freiem

Handel entwickelt. 8 Betrachten wir z.B.

den Aufstieg der westdeutschen Wirt-

schaft nach dem zweiten Weltkrieg:

hohe Innovationsleistung bei unvoll-kommener Allokation. Nur eine Illustra-

tion: Massiv unterbewerte Währung.

Demgegenüber wird Ostdeutschland

durch eine überbewerte Währung –

Umtauschverhältnis 1:1 Westmark zu

Ostmark; Überbewertung der D-Mark

im Euroverbund – rückindustrialisiert

und entinnoviert, auf passive Sanie-rungswege abgedrängt und in südital-ienische Transfermuster eingebunden:

Abbau Ost. Der ursprüngliche Sünden-

fall. Eine ostdeutsche Exportquote von

unter 20 % darf vor diesem Hinter-

grund niemand überraschen. Kein

„Solidaritätszuschlag“ vermag Fehl-

steuerungen eines solchen Ausmaßes

Jochen Röpke

24

6 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Auflage, Tübingen, 1993, S. 138.7 Zu Details Jochen Röpke, Der lernende Unternehmer, Marburg: Mafex, 2002, 2. und 3. Kapitel.8 Ha-Joon Chang, Kicking away the ladder. Development strategy in historical perspective, London, 2002.

Page 27: perspektive21 - Heft 21/ 22

auszugleichen. Parallel erfolgte der

Import des westdeutschen Sozialstaa-

tes; das Produkt einer Hochleistungs-

wirtschaft. In beiden Fällen Fehlallo-

kation – im westdeutschen Fall zu-

nächst Innovationen stimulierend, in

Ostdeutschland dagegen Neukom-

binationen erodierend.

Nennen wir die durch das herr-

schende Paradigma beobachtete Wirt-

schaft eine „Kaltblut-Ökonomie“. Kalt-

blüter können keinen direkten Einfluß

auf ihre Körpertemperatur nehmen.

Ihre Temperatur hängt von der Umge-

bung ab. Bleiben die Inputs aus, sei es

Kapital, Infrastruktur, Wissen, Qualifika-

tion usw., dann sinkt die „Arbeitstemp-

eratur“ der Kaltblut-Wirtschaft auf

einen Zustand ohne Wachstum. Aus

sich selbst heraus kann eine solche

Wirtschaft nicht wachsen, genau so

wenig wie ein Kaltblüter ohne Sonnen-

einstrahlung sich bewegen geschweige

denn vermehren kann. Diese Wirtschaft

funktioniert wie ein Frosch im Wasser:

steigen die Temperaturen auf die opti-

male Höhe, ist der Frosch happy. Eine

„Warmblutwirtschaft“ arbeitet anders.

Warmblüter können über den Stoff-

wechsel ihre eigene Temperatur regeln.

Sie operieren unabhängig vom Input.

Ob die Sonne scheint oder nicht, sie kön-

nen durch interne Veränderungen (Neu-

kombinationen) ihre Temperatur, also

ihr Überleben, sicherstellen. Wenn sie

überleben, sind sie auch in der Lage, sich

jene Ressourcen zu beschaffen, deren

Neukombination ihre Entwicklung vor-

antreibt. Innovationen erzeugen Nach-

frage und schließlich auch Angebot von

Ressourcen.

Innovationen gleichen damit „dem

starken Arm“ Münchhausens, welcher

die Wirtschaft ständig aus dem Sumpf

von Stagnation und „schöpferischer

Zerstörung“ (Schumpeter) zieht. Im

Grunde könnte sie daher ewig leben.

No sun no life, no inputs no growth –diese Gleichung gilt für sie nicht. Sie

operiert nach anderen Prinzipien. Rui-

nieren die chinesischen Autobauer

unsere PKW-Industrie – und früher

oder später wird das passieren – : wir

rekombinieren neu. Bodybuilding für

einen „starken Arm“ gleicht der Förde-

rung von Innovation, dem entscheiden-den, ja einzigen Aktionsparameter einer

„Warmblutökonomie“. Auch ein Warm-

blüter mag sich in der Sonne wohl

fühlen. Bekommt er aber zuviel Sonne

(Förderung, Subventionen, Protektion

usw.), schlafft er ab, wird träge, verlernt,

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

25

3. „Kalt- und Warmblutökonomie“

Page 28: perspektive21 - Heft 21/ 22

auf die eigene Kraft zu vertrauen: Die

Entwicklungsfalle der Unterforderung,

lange das Schicksal Westdeutschlands.

Kommt ein System in eine kältere

Umgebung, versucht es, durch ver-

mehrte Eigenaktivität seine Betriebs-

temperatur zur erhöhen. Innovatives

Unternehmertum wird angeregt. Aller-

dings gilt auch: Bei Überforderung ent-

weicht die Lebensenergie, das Innova-

tionssystem stirbt. Auch das lässt sich

am Beispiel Ostdeutschlands zeigen.

Die Regionen Ostdeutschlands wer-

den derzeit von zwei Seiten in die Zange

genommen. Billigimporte und Billig-

arbeit rollen den ostdeutschen Pro-

duktzyklus von hinten auf. Ost – unter-

scheidet sich nicht grundsätzlich von

Westdeutschland, was seine Innovati-

onsschwäche angeht.Was Ost und West

vereint ist Innovationsarmut. Und diese

ist immer und überall der Einstieg in

wirtschaftliche Stagnation. Der Osten

hat sich nach der Wende die struk-

turkonservierenden Stagnationsrezepte

des Westens aufdrücken lassen. Diese

Rezepte reflektieren auf Seiten von

Wissenschaft, Politik und verbandsorga-

nisierter Wirtschaft ein theoretisches

Modell der Konstruktion von Wirtschaft,

in welchem eine endogene Wirtschafts-

entwicklung überhaupt nicht möglichist. Wie will man auf der Grundlage

eines solchen Modells Entwicklung er-

zeugen? Es bleibt dann folgerichtig nur

der Weg, wenigstens die Stagnation zu

optimieren und eine passive Sanierung

„sozial gerecht“ zu begleiten, was in der

Tat das Beste ist, was sich dann noch

erreichen läßt. Auf eigenen Beinen wird

Ostdeutschland so aber niemals stehen

können.

Der Chef des ifo-Wirtschaftsfor-

schungsinstituts, Hans Werner Sinn,

meint: „Ob wir wollen oder nicht: Dem

Niedriglohnwettbewerb mit unseren

östlichen Nachbarn können wir nicht

ausweichen. Wir stehen in einer his-

torischen Phase, wo die Lohnkosten

gesenkt werden müssten, um das Mas-

sensterben von Firmen und insbeson-

dere die Verlagerung arbeitsintensiver

Produktionsprozesse nach Osteuropa

[und den Fernen Osten] zu verlang-

samen.“ 9 Frage: Wie sollen mehr Ar-

beitsplätze entstehen? Sinn: „Durch

deutlich niedrigere Steuern und Lohn-

kostensenkungen, die sich auf den Nie-

driglohnsektor konzentrieren.Wenn die

Löhne sinken und die Leute länger ar-

Jochen Röpke

26

4. In der Armutsfalle

9 Hans-Werner Sinn, Der Sozialstaat treibt die Löhne nach oben,Wirtschaftskurier, März 2004, S. 2.

Page 29: perspektive21 - Heft 21/ 22

beiten, schaffen die Unternehmen

neue Arbeitsplätze und lassen Men-

schen statt Maschinen in den Fabrik-

hallen arbeiten. Entscheidend ist dafür,

dass der Sozialstaat umgebaut wird.“ 10

Dies ist in der aktuellen Debatte – auch

um den „Aufbau Ost“ – die herrschende

Sicht der Dinge. Aber ist sie auch zwin-

gend? Ja, im Rahmen ihres eigenenParadigmas. Diese Sichtweise ist nicht

falsch, aber unvollständig. Sie legt, wie

jede Theorie, bestimmte Dinge auf Eis.

Die spannende Frage – auch für Ost-

deutschland – aber ist: Ist vielleicht

gerade das, was der Wirtschaftsexperte

ausblendet, der Ausweg aus der Ent-wicklungsfalle?

Empirisch ist die Sache ohnehin,

jedenfalls was Ostdeutschland angeht,

etwas komplizierter. Eine kollektive

Lohnfindung existiert dort praktisch

nicht mehr. Bezahlung unter Tarif ist

längst die Norm. Ob die ostdeutsche

Industrie wegen der Lohnkosten Pro-

bleme hat, sich gegen die osteuropä-

ische Konkurrenz zu behaupten, ist

zumindest zweifelhaft. Und Unterneh-

mensgründer sind den kollektiven Ta-

rifvereinbarungen erst gar nicht beige-

treten. 11 Eine kleine Geschichte kann

dieses, auch ostdeutsche, Lohnkosten-

problem vielleicht anschaulich illus-

trieren: Ein Bär verfolgt zwei Unterneh-

mer. Einer bleibt stehen und zieht sich

die Schuhe aus. „Warum tust du das?“,

fragt der andere.„Um schneller laufen

zu können.“ Sagt der andere: „Das

bringt doch nichts. Der Bär läuft doch

schneller als wir.“ Sagt der erste:

„Stimmt. Aber Hauptsache, ich bin

schneller als du.“ Der Hedonist läßt die

Schuhe an. Spiel mir das Lied von der

Kosten-Nutzen-Rechnung. Für eine

Handvoll Dollar (oder polnische Sløty,

chinesische Renmimbi) verkauft er sein

Leben als Innovator. Es hilft ihm nicht:

Er stirbt dennoch den Tod eines jeden

Kostenminimierers.

Wer es nicht schafft, schneller zu lau-

fen, wird gefressen („Massensterben“).

Die Lohnsenkung verzögert lediglich

einen unvermeidbaren Tod. Sich am

eigenen Schopf aus dem Morast ziehen

oder untergehen. Einen Trostpreis für

diejenigen, die auch ihren Tod noch

„effizient“ managen. Weglaufen durch

Innovation wäre die Antwort Schum-

peters auf den Niedriglohnwettbewerb.

Deutschland kann dieses lohnpolitische

race to the bottom niemals gewinnen –

auch Ostdeutschland nicht. Hinter

Polen steht China, hinter China lauert

Indien. Irgendwann, so die logische Kon-

sequenz, landen die Löhne dann auf chi-

nesischen und unser Sozialstaat auf

indischem Niveau. Herzlichen Glück-

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

27

10 „Die Löhne müssen sinken“ – Wie Hans-Werner Sinn Deutschland retten will.http://www.politikforum.de/forum/archive/2/2003/10/4/39974

11 Karl Brenke, Ostdeutsche Industrie:Weitgehende Abkehr von der kollektiven Lohnfindung, DIW-Wochenbericht 13/04.

Page 30: perspektive21 - Heft 21/ 22

wunsch, „Standort Deutschland“! Und

wir stehen erst am Beginn einer

beispiellosen Verdrängungs- und Out-sourcing-Welle. Motto: Tue nie etwas

selbst, was ein anderer für Dich (besser)

tun kann – in der Wirtschaftstheorie

auch als „Theorem der komparativen

Kosten“ (David Ricardo) bekannt. Wir

werden sehen, was dann für uns zu tun

übrig bleibt.

Vor kurzem wurde der ehemalige

Wirtschaftsminister Werner Müller im

Magazin CICERO gefragt, was denn

„nach dem Neoliberalismus“ komme.

Müllers Antwort war kurz und

schmerzhaft: „Die Chinesen.“ Tatsäch-

lich reicht die wirtschaftliche Heraus-

forderung des asiatischen powerhouseChina an die westlichen Industriestaa-

ten schon heute viel weiter, als den

meisten Deutschen bewusst ist. Im

wirtschaftlich boomenden China be-

obachten wir einen immenser Arbeits-

überschuss in Verbindung mit Lohn-

druck, der vermutlich über Jahrzehnte

anhalten wird. Die Konsequenzen sind

für uns in Deutschland schon heute

bitter. Heckscher und Ohlin schlagen

unerbittlich zu: das „Faktorpreisaus-

gleichstheorem“. 12 In China entsteht

eine labour surplus economy, eine Wirt-

schaft mit einem hoch elastischem

Angebot an Arbeitskraft. Das Angebot

drückt auf die Löhne in China und (!) –

und da liegt die Pointe – in den ent-

wickelten Volkswirtschaften. Ceterisparibus – bei freiem Handel, gegebener

Technologie und homogenen Gütern –

besteht eine Tendenz zur Angleichung

der Reallöhne zwischen den Volkswirt-

schaften. Lohndruck zunächst in den

arbeitsintensiven Branchen. Dieser

frißt sich aber durch den gesamten

Produktzyklus Schritt für Schritt bis zu

seinem Ursprung. Arbeitsmobilität

und Outsourcing verstärken diese Wir-

kungen. 13 Die Globalisierung frißt ihre

Erfinder.

Zum ersten Mal müssen nun auch die

Mitglieder der westlichen Mittelklasse,

gut qualifizierte Akademiker einge-

schlossen, dem Chinaman ihren Arbeits-

Jochen Röpke

28

5. Die Chinesen sind längst hier

12 Nach dem sog. Faktorpreisausgleichstheorem der beiden schwedischen Ökonomen Heckscher und Ohlin führtinternationaler Handel tendenziell zu einem Ausgleich der Reallöhne auch ohne internationale Mobilität derArbeitskräfte, d.h. ausschließlich durch das in den Gütern im Produktionsprozess eingelagerte Humankapital.Immer vorausgesetzt: keine Innovation. Wir importieren also über arbeitsintensive Güter auch die zu deren Her-stellung erforderliche Arbeitskraft.

13 Im Silicon Valley der USA beklagen sich nicht die Niedriglöhner, sondern vielmehr hoch qualifizierte Arbeitskräfteüber die Verlagerung ihrer Arbeitsplätze ins Ausland. Outsourcing ist Wahlkampfthema, und der Ökonom antwortetmit Ricardos Theorem der komparativen Vorteile.

Page 31: perspektive21 - Heft 21/ 22

platz überlassen oder sich zu Einbußen

oder Stagnation ihrer Realeinkommen

bereit finden – für Deutschland seit über

einem Jahrzehnt bedrückende Norma-

lität. Auch eine Superqualifikation der

Arbeitskräfte bietet keinen Ausweg in

einer innovationsschwachen Wirtschaft.

Wir subventionieren über Investitionen

in Humankapital („Eliteuniversität“)

dann nur innovationsstarke Ökonomien,

denen es gelingt, hoch qualifiziertes

Humankapital in Prozesse der Neu-

kombination zu integrieren. Die bittere

Konsequenz:Kompetenz für die Welt,die

Stagnation bleibt hier.

Die niedrigen Löhne in Polen und

China reflektieren die am deutschen

Standard gemessen noch niedrige Inno-

vationsintensität ihre Produkte und

Technologien. Niedrige Löhne, geringe

Sozialstandards usw. – also die sprich-

wörtlichen „neoliberalen“ Aktionspara-

meter – sind Ausdruck einer geringenInnovationsleistung. Wer sich mit Polen,

China und Indien über Löhne und Sozi-

alleistungen auf Konkurrenz einläßt,

verarmt, rückentwickelt sich auf deren

Standards, wenn er sein Innovations-

system schleifen läßt. Chinesen, Inder

und Osteuropäer müssen dazu gar

nicht zu uns kommen, auf unsere Bau-

stellen, in unsere Fabriken und Büros. Sie

kommen zu uns über ihre Produkte. In

diesen stecken die Arbeitskraft, die nied-

rigen Sozialleistungen, die Ausbeutung

der Arbeitskraft, die Ausbeutung der

Umwelt, die nicht-existierenden Ge-

werkschaften. Mit China und anderen

Staaten (z.B. den EU-Beitrittsländern

Osteuropas) in innovationsarmen Pro-

dukten konkurrieren zu wollen wäre

ökonomischer Selbstmord.

Die postindustriellen Gesellschaften

des Westens und Japans befinden sich

damit also, auch ohne Zuwanderung, in

direktem Wettkampf mit anderen Na-

tionen. Nur Volkswirtschaften, die ihre

Schuhe ausziehen, sich von Steuer-,

Regulierungs- und Sozialballast be-

freien, und die frei gesetzten Ressour-

cen in die kontinuierliche Stärkung ihres

Innovationssystems investieren, sind

leicht genug, dem polnischen Bären

und dem chinesischen und indischen

Tiger davon zu laufen. Soweit ich sehe,

wird die Brutalität dieser „Logik des

Faktorpreisausgleichs“ in Prozessen auf-

holender Entwicklung wirtschaftsstra-

tegisch bei uns nicht zur Kenntnis

genommen. Branchen mit geringer

Innovationsintensität sind dem Tode

geweiht. Sie „überleben“ durch Lohn-

senkung, McJobs, Investmentbankingund Controlling – die Aktionsparameter

der einfallslosen Routine- und Arbitra-

gewirtschaft. Betrachten wir als Beispiel

unsere Universitäten: sie fahren Sinolo-

gie runter und Controlling hoch. Ihre

Zukunft leuchtet strahlend in der Mor-

genröte schöpferischer Zerstörung.

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

29

Page 32: perspektive21 - Heft 21/ 22

Schauen wir noch einmal auf China.

1000 Jahre zurück. China boomt und

unsere Zivilisation hat sich vom Unter-

gang der römischen Zivilisation noch

nicht erholt. China durchlebt die

ersten vier nachgewiesenen „Kondra-tieffs“. Als „Kondratieff-Wellen“ be-

zeichnet man nach ihrem russischen

„Entdecker“ Nikolai D. Kondratieff

lange, von Basisinnovationen getra-

gene Wellen wirtschaftlicher Dynamik.

Auf jedem Gebiet schlägt China also

Europa. Und danach: Fast 1000 Jahre

Stagnation. Bis in den Anfang des 20.

Jahrhunderts, als der Kaiser zum

Abdanken gezwungen wurde. Zu weit

hergeholt? Nicht unbedingt. Der Nie-

dergang kann jede Region treffen. In

Deutschland sind wir schon ein Jahr-

zehnt fast ohne Wachstum, ernten

stagnierende Realeinkommen. Und ein

Ende der Stagnation ist nicht in Sicht.

Kein Wunder, dass der Normalbürger

ohne Hoffnung in die Zukunft schaut.

Symptom der Krise im „Autoland

Deutschland“: Der neue VW Golf ist für

den Durchschnittsverdiener unbezahl-

bar geworden. Ein Superauto findet

keine Käufer. Warum? Die Menschen

haben zu wenig Geld in der Tasche.

Und die vorherrschende Logik tröstet

sie: Es geht euch immer noch zu gut.

Ihr verdient zu viel, ihr seid unflexibel,

ihr geht zu oft zum Arzt und macht zu

lange Urlaub. „Ist Deutschland noch zu

retten?“, fragt Hans Werner Sinn.

Löhne runter für den Fortschritt? Na-

türlich nicht. Für die Armut. Genauer:

für die effiziente Armut. Der Golf Madein Germany ist zu teuer, kaufen wir

eben das Golf-Imitat aus China. Kom-

parative Kostenvorteile. Machen wir

uns also fit für Polen und China.

Dazu noch einmal eine Geschichte

über einen „schöpferischen Zerstörer“:

Ein Jäger begegnet einem Bären. „Was

suchst du hier im Wald?“, fragt der Bär.

„Ich will mir einen warmen Pelzmantel

besorgen“, versetzt der Jäger, wobei er

den Bären prüfend ins Auge fasst. „Und

ich“, sagt der Bär, „suche etwas zum

Frühstück. Komm doch zu mir in meine

Höhle und laß uns die Lage be-

sprechen!“. Der Jäger folgt der Ein-

ladung. Nach einer Weile erscheint

Meister Petz wieder vor seinem Bau und

klopft sich auf den Bauch. „Wir haben

einen diskursethischen Kompromiß

geschlossen“, erklärt er dem Fuchs, der

Zeuge der Begegnung war. „Ich habe

inzwischen gefrühstückt, und der Jäger

trägt nun einen warmen Pelzmantel.“

Jochen Röpke

30

Page 33: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die traditionelle Logik erklärt uns:

Überschüssige Arbeit, also Arbeitslosig-

keit, ist ein Allokationsproblem. Arbeits-

kraft sei zu teuer, ihre Reallokation durch

Fehlanreize erschwert. Folglich müssen

die Löhne runter und die Flexibilität stei-

gen – beides erzeugt Mehrnachfrage

nach Arbeit. Die Etablierung eines Nied-

riglohnsektors oder einer Niedriglohn-

wirtschaft im Namen der optimalen

Ressourcenallokation bei Durchhängen

von Innovation bedeutet jedoch faktisch

nur eine Optimierung des Elends. Auf

optimale Allokation setzende Maßnah-

men bringen nur etwas, wenn sie direkt

oder indirekt die Anreize zur Neukombi-nation stärken. Dies gilt für sämtliche

Vorschläge im Rahmen der Hartz-Refor-

men, der „Agenda 2010“ und der vielfäl-

tigen Vorschläge aus der Wissenschaft

(Hans-Werner Sinn, Sachverständigen-

rat) und Verbänden. Dagegen steht der

andere Weg: Innovationen erzeugen

Nachfrage nach Produktionsfaktoren,

einschließlich Arbeit. Langfristig schaf-

fen ausschließlich innovative Neugrün-

dungen von Unternehmen Netto-Ar-

beitsplätze. Dass Arbeitskräfte entlassen

werden, wenn die Produkte nicht mehr

absetzbar sind, ist normal. Man könnte

in Deutschland Schreibmaschinen zum

Lohnsatz von Null produzieren lassen

und sie würden im Computerzeitalter

dennoch keine Abnehmer mehr finden.

Ob Arbeitskräfte eingestellt werden, ist

langfristig also ausschließlich eine Frage

der Innovationskraft.

Auf Ostdeutschland übertragen:

niedrige Löhne reflektieren Inno-

vationsarmut. Wie die Ebbe der Flut

folgen Sozialabbau und Reallohnein-

bußen einer Erosion von Innovation.

Gegen diesen brutalen ökonomischen

Zusammenhang helfen auch keine

Massendemonstrationen. Nur eine

produktive und schöpferische Wirt-

schaft kann eine gute Sozialpolitik tra-

gen. Diese ist im Übrigen voll vereinbar

mit einer schumpeterschen Innova-

tionswirtschaft. Innovation und Markt-

fundamentalismus schließen sich so-

gar aus. Eine „Innovationsoffensive“ ist

geradezu eine spezifische Form

schumpeterscher Sozialpolitik.

Unternehmer erzeugen die erforder-

lichen Produktionsfaktoren, sie kon-

kurrieren sie aus bestehenden Verwen-

dungen heraus, entweder aus anderen

Unternehmen, oder aus Arbeitsamt

und Sozialhilfe. Diese Arbeit können

wir ihnen erleichtern. Hier treffen sich

Innovations- und Inputlogik. Ohne

einen flexiblen Einsatz der Produk-

tionsfaktoren ist Innovation tot. DerMehrwert der Innovation lebt von derNeukombination der Produktionsfak-

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

31

6. Die Optimierung des Elends und der Mehrwert der Innovation

Page 34: perspektive21 - Heft 21/ 22

toren. Den Einsatz der Arbeitskräfte in

bestimmten Phasen des Innovations-

prozesses auf eine bestimmte Dauer

oder Routinen festzulegen, erschwert

Neukombinationen stark. Folge: die

Nachfrage nach Arbeit sinkt – unab-hängig von der Lohnhöhe. Noch in stär-

kerem Maße als bestehende Unterneh-

men 14 verlangt das neue Unternehmen

nach flexibler Kombination der Produk-

tivkräfte. Hier liegt eine Chance desOstens. Je geringer die Flexibilität, desto

höher müssen – aus der Sicht der

Arbeitnehmer – die Löhne sein, um sie

aus den bestehenden Verwendungen

heraus zu konkurrieren. Dazu gehören

nicht zuletzt die vom Wohlfahrtsstaat

gesetzten Standards (Arbeitslosenun-

terstützung, Sozialhilfe). Der Innovator

muß dann nicht nur gegen Konkurren-

ten im Markt antreten. Er hat es auch

mit dem Staat und dem Rechtssystem

zu tun, welche die Freiheit zur Neukom-

bination bestimmen.

Ohne Neuerungen kommt Ost-

deutschland also nicht aus der Falle,

auch nicht durch polnische Löhne und

„indischen Sozialstaat“. Neukombina-

tionen im Sinne Schumpeters sind der

einzige Aktionsparameter wirtschaft-

licher Entwicklung, notwendige undhinreichende Bedingung zugleich. Eine

Wirtschaft kann Kapital akkumulieren,

so viel sie will. Eine Gesellschaft kann

Eliteuniversitäten aufbauen, 10 % des

Sozialprodukts für Forschung und Ent-

wicklung ausgeben, über hoch qualifi-

zierte Arbeitskräfte verfügen. Es gibt

immer jemanden auf der Welt, der

diese Wirtschaft und ihre Unterneh-

men nieder zu konkurrieren vermag.

Polen entlohnt seine Arbeitskräfte mit

20 % der ostdeutschen Löhne. China

mit 10 %, Indien mit 5 usw. Und diese

Länder holen auch hinsichtlich ihrer

Produktivität schneller auf, als wir die

Löhne senken könnten. Sie verfügen

über alle – in Ostdeutschland ver-

schenkten – Vorteile eines Spätstartersim nachholenden Entwicklungspro-

zeß. Die technologische Lücke und

damit auch die Produktivitätslücke

schließen sich wegen des Arbeitsüber-

schusses schneller als die Lohnlücke.

Warum aber schließt sich die Lücke,

warum sind immer mehr unserer

Unternehmen der Imitationskonkur-

renz aus Niedriglohnländern ausge-

Jochen Röpke

32

7. Strategie der Innovation

14 Obwohl auch diesen mit Flexibilität geholfen ist. „Deutsche Unternehmen suchen in Osteuropa Flexibilität“ berich-ten Vertreter der Wirtschaft. Das Lohnniveau ist bei der Standortwahl zweitrangig. Siehe FAZ, 23. März 2004, S. 15.

Page 35: perspektive21 - Heft 21/ 22

setzt? Weil wir uns weigern, schneller

zu laufen, die Schuhe auszuziehen. Auf

der Suche nach dem warmen Pelzman-

tel („Jeder Arbeitsplatz ist besser als

gar keiner“) lassen wir uns schöpfe-

risch und nachholend zerstören. Der

Weg nachholender Entwicklung ist für

die neuen Bundesländer verbaut. Die

Übernahme der westdeutschen D-

Mark, des Sozialstaates und eines Re-

gimes der Überregulierung machen

eine Steigerung der Wohlfahrt zu einer

Funktion von Kaufkrafttransfer, in des-

sen Folge sich „holländische Krank-

heit“, Entindustrialisierung und pas-

sive Sanierung ausbreiten.

Der Weg der „Tigerländer“ ist für die

ostdeutschen Regionen also nicht

mehr zu begehen. Deshalb: Weglaufen

durch Innovation. Der schumpetersche

Aktionsparameter: Neukombination,

schneller und besser, als es die anderen

können. Weglaufen, und nicht in die

Konkurrenz mit Bären und Tigern ein-

treten, die uns einen warmen Pelz-

mantel versprechen. Plus eine evolu-

torische Komponente. Wer schneller

laufen will, muß nicht nur Ballast

abwerfen, er muß auch seine Muskeln

trainieren, d.h. Ausbilden, Qualifizie-

ren,„Lernen zu Lernen“ und lebenslang

lernen. Innovation und Evolution

gehören also zusammen wie die Säge

und ein Werkzeug, um sie zu schärfen.

Wenn wir fragen, woher Dynamik,

Wertschöpfung, Arbeitsplätze und eine

moderne Infrastruktur kommen, bleibt

nach kritischer Durchsicht aller Theorien

und historischen Erfahrungen eigentlich

nur eine Antwort übrig: Dadurch, dass

Menschen bereit waren, neue Dinge zu

wagen, neue Ideen durch innovatives

Unternehmertum zu verwirklichen. In-

novative Neugründungen von Unter-

nehmen können wir als die Wachstums-

erzeuger überhaupt betrachten. Diese

These läßt sich sowohl empirisch be-

legen wie aus theoretischen Überle-

gungen ableiten. Auch dazu müssen wir

allerdings aus dem herrschenden Para-

digma herausspringen.

Funktioniert eine solche schumpeter-

sche Alternative? Noch nicht. Denn dort,

wo das Neue entsteht, im Ursprung des

Produktzyklus, sieht es schlecht aus. Pio-

nierprodukte und -technologien sind

Mangelware. Schon im Westen ent-

fallen gerade 10 % des Umsatzes des

verarbeitenden Gewerbes auf neue Pro-

dukte.15 Im Osten sind es noch weniger.

Was bleibt? Stagnation mit kleineren

Inseln der Innovation. Dies ist kein

Schicksal, es ist nur nur traurige Gegen-

wart. Und sie bleibt die zukünftige

Gegenwart, wenn alles so weiter läuft

wie bisher, und sich „Innovations-

offensiven“ im Einsatz von Aktions-

parametern erschöpfen, die ihre Her-

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

3315 Horst Penzkofer, Innovationsaktivität in der deutschen Industrie 2001/2002, ifo-Schnelldienst, 2/2003.

Page 36: perspektive21 - Heft 21/ 22

kunft dem neoklassischen-neoliberalen

Wachstumsparadigma verdanken.

Aus der Logik Schumpeters ist dabei

die Durchsetzung entscheidend, nicht

Wissen per se, auch nicht „geschütztes“

Wissen. Mangelndes Wissen ist für die

Innovationsdefizite durchaus nicht ver-

antwortlich zu machen. Das Trans-

ferdenken verstellt den Blick auf Inno-

vation, Unternehmertum und den

komplexen Zusammenhang zwischen

Wissen und Neukombination. Ein Bei-

spiel aus meiner Universität in Mar-

burg: Über 200 Patente aus der Nano-

Forschung. Durchsetzung: fast null.

Was die Wirtschaftsforscher gemein-

hin als „Hemmnis“ betrachten, sehe ich

eher als einen Vorteil Ostdeutschlands:

„Die kleinen und kleinsten Unterneh-

men (bilden) das Rückgrat für die in-

dustrielle FuE- und Forschungstätigkeit

in Ostdeutschland. In kaum einem

Industrieland beruht die Innovations-

tätigkeit so stark auf den Aktivitäten der

kleinen Unternehmen wie in den neuen

Bundesländern.“16 Die Förderung dieses

Potentials ist der Schlüssel für die Zu-

kunftsdynamik im Osten. Geförderte

Unternehmen zeichnen sich durch eine

höhere Innovationsintensität aus als

nicht geförderte. Auch die Wirtschafts-

forscher schließen deshalb, die „Innova-

tionsförderung (sei im Osten) in hohem

Maße erfolgreich gewesen“.

Wir erfinden daher Schumpeter und

Kondratieff neu und fassen ihre Ein-

sichten in zwei Aussagen zusammen,

einer Doppelhypothese zur Entwick-

lungsdynamik von Volkswirtschaft und

Region: 1. Wir können nur mit neuenIndustrien Wachstum erzeugen. In der

Regel heißt das auch: 2.Wir können nur

mit neuen Unternehmen Wachstum

erzeugen.

Werfen wir einen Blick auf die fol-

gende Abbildung: die Basishypothese

der Langwellenökonomik, begründet

von Kondratieff und weiterentwickelt

durch Schumpeter. Jede Basisinnovation

besteht aus einem Bündel vernetzterTechnologien, welche über Jahrzehnte

das Wirtschaftsgeschehen prägen. Im

oberen Teil der Abbildung sehen wir die

bisherigen Kondratieff-Innovationen, un-

gefähr 50jährige Auf- und Abschwung-

prozesse. Die Wachstumsraten dieser

sich wellenförmig entfaltenden Neue-

rungsschübe sind unsere Schätzungen.

Jochen Röpke

34

16 Zweiter Fortschrittsbericht wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute über die wirtschaftliche Entwicklungin Ostdeutschland, Kiel 2003, S. 15.

8. Riding the waves: Lange Wellen der Entwicklung

Page 37: perspektive21 - Heft 21/ 22

Dampfmaschine, Stahlproduktion, die

Automobilbranche waren einst die für

die wirtschaftliche Dynamik tonange-

benden Innovationen, heute dominiert

die Computer/Informationstechnologie;

Bio- und Nanotechnologie stehen in den

Startlöchern.

Die neuen Industrien sind die Träger

neuer langer Wellen. Basisinno-

vationen tragen aber auch dazu bei,

die alten Produktzyklen länger am

Leben zu erhalten (Elektronik und

Computer im Auto; Nanomaterialien

im Flachbildschirm). Das Überleben desAlten ist damit eine Funktion desAufbaus des Neuen. Die jüngeren Ba-

sisinnovationen sind dabei heute nicht

nur wissensintensiv, vielmehr wissen-

schaftsintensiv. Und ihre Wissen-

schaftsintensität nimmt weiter zu. Die

Erzeugung neuer Industrien durch

neue Unternehmen müsste somit auf

die Förderung wissenschaftlich fundier-ten Unternehmertums ausgerichtet

sein. Das aber reicht auch noch nicht.

Sie müsste zudem darauf zielen, die imSystem der Wissenschaft schlummern-

den unternehmerischen Potentiale zu

entfalten, ohne diejenigen Forscher,

die auch einen unternehmerischen

Weg gehen wollen, aus der Wissen-

schaft (Hochschulen, Forschungsein-

richtungen) zu vertreiben. In den USA

und in Israel geht das, ganz langsam

auch in Frankreich. Japan geht in

schnellen Schritten den amerikani-

schen Weg. Zehn Jahre Stagnation

haben Japan aufgeweckt. Hierzulande:

no way. Unternehmerische Schwarzar-

beit im Wissenschaftssystem.

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

35

Basisinnovationen und ihre wichtigsten Anwendungsfelder

Quelle: Nefiodow/FUNDUS Research

Dampfmaschine

Textilindustrie

Bekleidung

1. Kondratieff

Eisenbahn

Stahl

Transport

2. Kondratieff

Elektrotechnik

Chemie

Massenkonsum

3. Kondratieff

Automobil

Petrochemie

individuelleMobilität

4. Kondratieff

Informations-

technik

GlobalisierungKommunikation

5. Kondratieff

Psychosoziale

Gesundheit

GesundheitWellness-

Immobilien

6. Kondratieff

1800 1850 1900 1950 1990 20xx

Page 38: perspektive21 - Heft 21/ 22

Auf die fünfte, gegenwärtig lau-

fende lange Welle sind Deutschland

und die anderen EU-Staaten erst auf-

gesprungen, als die Wachstumsraten

bereits abnahmen und die „Pionierge-

winne“ und die Arbeitsplatzdynamik

von anderen (USA) eingefahren waren.

Mitte der 80er Jahre, der 5. Kondratieff

steckte noch in den Kinderschuhen,

glaubten sogar viele in Deutschland,

der „erreichte technische Entwick-

lungsstand sei soweit ausgereift, dass

es keine Chancen für Innovationen in

zukunftsorientierten Branchen gibt“.

So steht es 1983 in einer Analyse des

Ifo-Instituts. 17 Zu jener Zeit wurden die

Grundlagen für die bis heute anhal-

tende Wachstumsschwäche gelegt –

ein fünfter Kondratieff mit bescheide-

ner deutscher Beteiligung.

Wir sehen nunmehr auch, wie pro-

blematisch die inputlogische Lösung

dieser Herausforderung sich darstellt.

Innovationsdynamik, technologische

Lücke, schöpferische Zerstörung, nach-

holende Entwicklung, also die Pro-

zesse, die Wertschöpfung und Arbeits-

platzdynamik langfristig bewirken,

sucht man dort vergebens. Kaltblut-

ökonomik. Der Automobilzyklus ist

ausgelaufen; keine Flexibilisierung der

Arbeitsmärkte und keine Lohnsenkung

machen ihn wieder lebendig. Anderer-

seits sind die alten Industrien hochgra-

dig auf die neuen angewiesen: Autos

brauchen Elektronik, Software und ein

kommunikations- und empathiefähi-

ges Management („psycho-soziale

Gesundheit“) um die „innere Immigra-

tion“ ihrer Mitarbeiter aufzufangen.

Sonst sind sie gegen die aufstreben-

den Industrieländer des Fernen Ostens,

möglicherweise aber auch Osteuropas,

ohne Chance.

Worin könnten nun „Lösungen“ à la

Münchhausen und Schumpeter liegen?

Zunächst in der Überwindung des

Knowing-Doing-Gaps zwischen Wissen-

schaft und Wirtschaft. Mit der Abfolge

der Basisinnovationen geht eine zuneh-

mende Wissensintensivierung einher.

Hier setzen auch Inputlogiker an: Wis-

sensökonomie. Wissen als zentrale Res-

source, als die „Sonne“ der Wirtschaft:

Lasst uns mehr Wissen schaffen, mehrMenschen qualifizieren, damit sie hoch-

klassiges Wissen hervorbringen, For-

schung und Entwicklung fördern, mit

Jochen Röpke

36

17 Ifo-Schnelldienst, Ohne verstärkte Produktinnovationen kein Wachstum, Nr. 35-36, 1983, S. 15ff. Das Ifo-Institut wider-sprach vehement der im Text zitierten Meinung.

9. Kopplung von Wirtschaft und Wissenschaft

Page 39: perspektive21 - Heft 21/ 22

mehr oder weniger Verwertungsdruck.

Dies allein wäre jedoch eine Fehlthera-pie. In diese Logik eingebaut ist das

uralte Mißverständnis, Information und

Wissen werde von einem Sender (Wis-

senschaft) zu einem Empfänger (Wirt-

schaft) transportiert. Wer produziert

das neue Wissen? Die Wissenschaft,

öffentlich oder privat organisiert. Wer

setzt das Wissen durch und wie? Be-

stehende Unternehmen, neue Unter-

nehmen? Wie findet das Wissen über

radikale Innovationen Anschluß bei

bestehenden Unternehmen?

Die Erzeugung neuer Industrien durch

neue Unternehmen müßte somit auf

die Förderung wissenschaftlich fundier-

ten Unternehmertums in allen Feldern

ausgerichtet sein. Und auch das reicht

noch nicht. Sie müsste auch darauf zie-

len, die im System der Wissenschaft

selbst schlummernden unternehme-

rischen Potentiale zu entfalten. Mehr

Ressourcen für F&E!? Die Knappheit allerKnappheiten ist nicht Wissen, sondern

sind vielmehr die Menschen, die dieses

Wissen unternehmerisch nutzen kön-nen, wollen und dürfen. Wenn schon

Geld ausgeben, dann für die Förderung

innovativen Unternehmertums – von

der Schule bis ins Alter, Ich-AGs inklusive.

Was wir dadurch gewinnen? Weglaufen

lernen! Neue Wertschöpfungspotentialejenseits der alten Kondratieffs zu er-

schließen. Wenn deutsche Unterneh-

men ausländischen Niedriglöhnen nicht

widerstehen können – lassen wir sie zie-

hen. Erfreuen wir uns an chinesischen

DVDs und lernen mit ihrer Hilfe Qi Gong.

Herr Ackermann und Kollegen – die

reichsten Männer auf dem Friedhof. Gra-

tulieren wir ihnen zu einem erfüllten

Leben. Es gibt genug zu tun im eigenen

Land – auch wenn Siemens seine Han-

dys in Shanghai produzieren läßt.

Mit anderen Worten: Erst eine Kombi-nation von Humboldt und Schumpeter

schafft die Grundlagen für innovations-

politische Alternativen. Humboldt +

Schumpeter = „unternehmerische Uni-

versität“. Aus dieser Sicht kann es nicht

um Forschung und Qualifikation an sich

gehen. Forschen allein, Wissensproduk-

tion, auch auf höchstem Niveau, bringt

wenig,wenn diejenigen, die forschen, ihr

Wissen und ihre Kompetenz nicht

umsetzen dürfen, wie so oft in Deutsch-

land.Wissensproduktion ohne Kopplung

an Unternehmertum ist entwicklungs-ökonomisch Geldverschwendung.18

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

37

18 Ausführlicher zur Kopplung von Wissenschaft und Wirtschaft als Schlüsselprozeß einer modernen Innovationspoli-tik siehe Jochen Röpke und Elizaveta Kozlova, Die Kopplung von Wissenschaft und Innovation durch Unternehmer-tum erzeugt Wachstum. Anmerkungen zur einer „Innovationsoffensive“, Telepolis, 20. Februar2004,http://www.heise.de/tp/deutsch/html/result.xhtml?url=/tp/deutsch/special/eco/16758/1.html&words=Kozlova

Page 40: perspektive21 - Heft 21/ 22

Wie der neoklassische Ökonom

behauptet, Kapital investiere sich

selbst, pflichtet ihm der Mainstream-

Wissenschaftler – genauer: die Funk-

tionäre des Wissenschaftssystems –

bei, dass Wissen sich „irgendwie“ von

alleine durchsetzt, oder „irgendwie“

den Weg vom Wissensproduzenten

über Transferagenturen und Netzwerke

in die Wertschöpfung findet. Transfer-

hoffnungen sind unbeabsichtigte Fol-

gen blockierten Unternehmertums.

Ergebnis dieser auch in der Praxis aus-

gelebten Vorstellung ist eine Lücke zwi-

schen Wissen und Tun, eben die know-ing-doing-gap. Wie die für Forschung

und Innovation zuständige Ministerin

Edelgard Bulmahn (SPD) erkennt: „…in

der Nanotechnologie sind wir welt-

weit an der zweiten Stelle der For-

schung – exzellente Ergebnisse. Aber

leider sind diese Forschungsergebnisse

nicht immer konsequent, zügig und

schnell in Produkte, in Prozessinnova-

tionen oder in neue Organisations-

strukturen umgesetzt worden.“ 19

Wer die ostdeutschen Länder wirt-

schaftlich nachhaltig energetisieren

will, müßte daher den Forschern auch

die Freiheit geben, aus den Forschungs-

stätten heraus ihr Wissen mit Innova-

tionen durchzusetzen. Es gibt keinen

anderen Weg. Die USA laufen voraus,

weil sie diesen Weg als erste gegangen

sind.20 Wissenschaft und Wirtschaft

koppeln sich so durch akademisches

Unternehmertum bzw. unternehme-

rische Hochleistungsforscher. Jede

Hochschule verkörpert das Potenzial für

einen Entwicklungspol. Als Nebeneffekt

würde sich auch der Brain Drain umkeh-

ren: „Hast du Honig, hast du Ameisen.“

Der moderne Reformer müsste dort

weitermachen: Gewerbefreiheit für den

forschenden Unternehmer. Freiräume

schaffen, nicht nur für die Forschung,

auch für diejenigen, welche die unter-

nehmerische Energie mitbringen, in

Wertschöpfung umzusetzen, was sie

erforscht haben. Diese Lösung ist billig.

Sie kostet fast nichts – außer Mut,

Vision und Energie.

Die traditionelle Universität und das

bis heute evolvierte Wissenschafts-

system gehen unter. Davon bin ich über-

zeugt. Sie werden ein Opfer der schöpf-

erischen institutionellen Zerstörung.

Die beklagte Ressourcenarmut ist eine

Jochen Röpke

38

10. Die „unternehmerische Universität“

19 Edelgard Bulmahn in den ARD-Tagesthemen vom 6. Januar 2004.20 Henry Etzkowitz, Bridging kwowledge to commercialization: the American Way, Acreo Annual Conference 2002,

http://www.acreo.se/acreo-rd/IMAGES/PUBLICATIONS/PROCEEDINGS/ABSTRACT-ETZKOWITZ.PDF; Jochen Röpke,Der lernende Unternehmer, S. 313ff., ders.: Transforming knowledge into action, www.wiwi.uni-marburg.de/Lehr-stuehle/VWL/WITHEO3/documents/trans.doc; Nathan Rosenberg, Schumpeter and the endogenity of technology:Some American Perspectives. London/New York, 2002, 3. Kapitel.

Page 41: perspektive21 - Heft 21/ 22

selbstgemachte. Ohne Innovation kein

Münchhausen; statt dessen Staats-

knete als inputlogischer Lebensatem.

Ziel bislang verfehlt: Die akademische

Wissenschaft war bis heute nicht in der

Lage, eine strukturelle Kopplung auf

rekombinativer Grundlage mit der Wirt-

schaft aufzubauen.

Wenn man nicht genau weiß, wohin

man geht, kann es vorkommen, dass

man ganz woanders ankommt – auch

im Sumpf. In der folgenden Tabelle 2

habe ich wesentliche Unterschiede der

vorgestellten Entwicklungswege be-

wußt überzeichnend zusammenge-

stellt. Im Einzelnen ist sorgfältig zu

überprüfen, welche diese Merkmale im

konkreten Fall zutreffen oder nicht. Die

hier gemachten Vorschläge sind nicht

meine Erfindung. Auch innerhalb des

Mainstreams gibt es Innovationspoli-

tik. Was uns unterscheidet, ist die Wie-

Frage und ihre theoretische Fundie-

rung. Wir rücken eine intensive, durch

Unternehmertum bewirkte Kopplung

von Wissenschaft und Wirtschaft in

den Mittelpunkt. Hier sehe ich einen

ausgeprägten komparativen Entwick-lungsvorteil der neuen Bundesländer.

Die altindustrielle Basis ist weitgehend

zerstört. Die Transformation Ost-

deutschland ist – aus schumpeterscher

Logik betrachtet – bereits heute als

bemerkenswerte Innovationsleistung zu

interpretieren. Der Osten kann etwas,

was dem Westen aufgrund seiner über

Jahrzehnte aufgebauten industriellen

Struktur äußerst schwer fällt. Die Zer-

störung ist gelaufen. Die ostdeutschen

Hochschulen sind gut aufgestellt. Die

Wissenschaftsausgaben je Einwohner

übertreffen das westdeutsche Niveau.

Gleiches gilt für die staatlichen Hoch-

schulausgaben je Studierenden.

Ostdeutschland in der Entwicklungsfalle

39

11. Weglaufen – nicht hinterher laufen!

Page 42: perspektive21 - Heft 21/ 22

Schumpeter ist nicht schwer zu ver-

stehen. Er ist nur schwer zu akzep-

tieren. Der Einsatz schumpeterscher

Aktionsparameter in Politik, Wirtschaft

und Wissenschaft schafft natürlich Ak-

zeptanzprobleme. Die Akteure in Poli-

tik,Verwaltung,Wirtschaft und Wissen-

schaft sind gehalten, Dinge zu tun, die

auch ihnen selbst Innovationen abver-

langen und ihre strukturkonservieren-

den Denk- und Handlungsmuster einer

schöpferischen Zerstörung auszuset-

zen. Angesichts der durchaus er-

nüchternden Bilanz der bisherigen Ent-

wicklung sehe ich aber für die neuen

Bundesländer keinen anderen Weg als

den hier skizzierten: Weglaufen – nicht

hinterher laufen! Schon gar nicht dem

Westen, an dem der globale Sturm der

schöpferischen Zerstörung genauso

zerrt, wie an den gebeutelten Regionen

Ostdeutschlands.

Ansatzpunkte Inkremental RadikalUnternehmen Bestehend Neu (start up)

Transfer von Wissen Möglich Schwierig

Regionaler Entwicklungsfokus Ansiedlung bestehender Förderung neuer

Unternehmen Unternehmen

Finanzierung Aus laufendem Cash flow informelle Finanzierung

Kredit Selbstfinanzierug

Venture Capital

Technologiezentren Inputorientierung Inkubatoren

(Gebäude, etc.) Wachstumspole

Wissenschaft Auftragsforschung Ausgründungen, Spin offs

Hochschulen Verbesserung des strukturelle Kopplung

Transfermanagements zwischen Wissenschaft und

Humankapitaltransfer Wirtschaft durch

Unternehmertum

Ausbildung/Training Fachqualifikation Unternehmerische

Kompetenzen

Beitrag des Staates Hilfreich in Engpaßbereichen Unverzichtbar (Anschub-

und Gärtnerfunktion)

Jochen Röpke

40

Tabelle 2:Förderungsschwerpunkte in Abhängigkeit von der Radikalität von Neuerungen

Jochen RöpkeProfessor für Volkswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg.

http://www.wiwi.uni-marburg.de/Lehrstuehle/VWL/WITHEO3/main.html

Page 43: perspektive21 - Heft 21/ 22

Seit einigen Wochen ist das Thema

„Aufbau Ost“ wieder auf der wirt-

schaftspolitischen Agenda von Regie-

rung und Opposition auf Bundesebene.

Auslöser der Diskussion ist ein Arbeits-

papier, das vom „Gesprächskreis Ost“

um den ehemaligen Hamburger Bür-

germeister Klaus von Dohnanyi im Auf-

trag der Bundesregierung erstellt

wurde und in dem unverblümt eine

desaströse Bilanz der Einheitspolitik

gezogen wird: Arbeitslosigkeit von fast

20 % in den neuen Bundesländern,

ungeminderte Abwanderung junger

Menschen mit den beiden Konsequen-

zen einer überalternden Bevölkerung

und dem Verlust von Humankapital

und Kreativität, ein weiter steigendes

Wohlstandsgefälle zwischen West und

Ost sowie eine gesamtdeutsche

Wachstumsschwäche als Folge der

Transferpolitik – das sind wichtige Eck-

punkte der Schlussbilanz der bisheri-

gen Einheitspolitik.1 Vor dem Hinter-

grund des massiven Kapitaltransfers

von West nach Ost seit der deutschen

Wiedervereinigung (unter Berücksich-

tigung aller finanziellen Transferleis-

tungen ca. 100 Milliarden Euro jährlich),

ist der Zustandsbericht zur wirtschaft-

lichen Lage Ostdeutschlands geradezu

verheerend. Statt der einst versproch-

enen „blühenden Landschaften“ be-

steht die ernsthafte, von nicht wenigen

Experten prognostizierte Gefahr, dass

sich Deutschland auf Jahrzehnte hin-

aus mit einem zweiten Mezzogiorno

konfrontiert sehen könnte. Wie beim

„echten“ Mezzogiorno in Süditalien

würde es sich hierbei um eine Region

handeln, die dauerhaft am finanziellen

Tropf des Westens hängt, aus sich

selbst heraus keine wirtschaftliche

Entwicklung erzeugt und aufgrund der

langfristig erforderlichen Kapital-

infusionen sogar noch die gesamt-

deutschen Wachstumsperspektiven

nachhaltig trübt.

41

Das Gespenst des MezzogiornoWelches Entwicklungsszenario erwartet Ostdeutschland?

Von Jörg Aßmann

1 Dies deckt sich weitgehend mit den Aussagen der letzten beiden „Fortschrittsberichte zum Aufbau Ost“, jeweils ver-fasst von fünf angesehenen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten.

1. Der „Aufbau Ost“ am Scheideweg

Page 44: perspektive21 - Heft 21/ 22

Einerseits wegen der Klarheit und

Offenheit, mit der die bisherige Förder-

politik für die neuen Länder kritisiert

wurde, andererseits wegen der wirt-

schaftspolitischen Forderung, in Ost-

deutschland eine steuerbegünstigte

Sonderwirtschaftszone nach pol-

nischem Muster zu schaffen, hat das

Arbeitspapier zu einer hitzigen De-

batte zwischen den politischen Lagern

geführt. Thema: Was zeichnet eine

effektivere Förderstrategie für Ost-

deutschland aus? Ohne die gegenwär-

tige Diskussion bereits an dieser Stelle

näher zu kommentieren, lässt sich

dennoch feststellen, dass in keiner

politischen Partei einer Strategie jen-

seits der bislang praktizierten Kapital-

transferpolitik das Wort geredet wird.

Die unterbreiteten Vorschläge zeigen

vielmehr, dass es an einer echten

wachstumstheoretischen und -poli-

tischen Alternative zur Transferpolitik

fehlt. Zwar wird die Bedeutung von

Innovationen und technischem Fort-

schritt für den wirtschaftlichen Auf-

holprozess der Neuen Länder immer

wieder (zu Recht) hervorgehoben, doch

handelt es sich bei näherer Betrach-

tung zumeist um Innovationsrhetorik.

Denn hinsichtlich der Frage, wie inno-

vationsgetragene regionale Entwick-

lungsprozesse gezielt induziert und

gefördert werden können, herrscht

weitgehende Unkenntnis. Die Erfah-

rungen der vergangenen Jahre zeigen

nur eines sehr deutlich: Eine über Ka-

pitalinfusion bewirkte Verbesserung

der Sach-, Human-, Wissenskapitalaus-

stattung transformiert Ostdeutsch-

land noch nicht automatisch in ein

zweites Silicon Valley oder eine Boston

Route 128.

Zentrale These der weiteren Aus-

führungen ist, dass ein Aufbrechen zu

neuen Ufern in Fragen der effektiveren

Förderung Ostdeutschlands nur dann

gelingt, wenn sich alle Entscheidungs-

träger in Sachen „Aufbau Ost“ vom ver-

trauten, kaum noch hinterfragten und

damit fast schon paradigmatischen

Charakter einnehmenden „Kapital-

fundamentalismus wirtschaftlichen

Wachstums“ verabschieden und einem

anderen wachstumstheoretischen Pa-

radigma folgen. Dieses neue Paradigma

wird im Folgenden als „Innovations-

logik wirtschaftlichen Wachstums“ be-

zeichnet und bezieht sich maßgeblich

auf die wegweisenden Arbeiten von

Joseph A. Schumpeter (1950, 1961, 1993).

Die faszinierende und zugleich erfreu-

liche Einsicht der Überlegungen

Schumpeters ist darin zu sehen, dass

wirtschaftlich rückständige Regionen

immer nur endogen, also ohne Hilfe vonaußen, wachsen können, somit Kapital-

infusionen weder notwendige noch

hinreichende Bedingung für regionales

Wirtschaftswachstum darstellen.

Jörg Aßmann

42

Page 45: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die weiteren Ausführungen zwingen

den Leser zu einer anstrengenden

„theoretischen Reise“, die aber mit

einer neuartigen und überraschenden

Sichtweise zu den (wahren) Quellen

wirtschaftlichen Wachstums in Ost-

deutschland belohnt wird. Erst dies

aber eröffnet eine neue theoretische

Sicht auf den Weg für eine in Zukunft

hoffentlich erfolgreichere und volks-

wirtschaftlich sinnvollere regionale

Strukturpolitik. 2

Wodurch zeichnet sich die seit der

Wende praktizierte Förderpolitik in den

Neuen Ländern aus? Was ist das wesent-

liche Charakteristikum der Förderstra-

tegie in Ostdeutschland? Auf diese Fra-

gen lässt sich stark vereinfachend, aber

dennoch treffend wie folgt antworten:

Trotz der vielfältigen Facetten regionaler

Strukturpolitik in Ostdeutschland liegt

die Stoßrichtung aller Maßnahmen

darin, den Kapitalstock der ostdeutschen

Wirtschaft durch massiven Kapitaltrans-

fer von West nach Ost zu verbessern und

dadurch eine möglichst rasche An-

gleichung der Lebensbedingungen zu

erreichen.3

Ein erstes Element dieser Transfer-

politik lässt sich als „Kapitalmobilisie-

rungspolitik“ beschreiben. Es handelt

sich hierbei um die bereits seit Jahr-

zehnten in der Bundesrepublik sowie

in vielen anderen europäischen Län-

dern praktizierte Förderstrategie, nach

der mittels Investitionszuschüssen

und -zulagen, Steuererleichterungen,

zinsgünstigen Darlehen und Eigenka-

pitalhilfen eine Umlenkung privater

Investitionen von prosperierenden in

stagnierende Regionen bewirkt wer-

den soll. Die dadurch induzierte Ver-

besserung insbesondere der Sachkapi-

talausstattung führt dieser Strategie

zufolge unweigerlich dazu, dass der in

wachstumsschwachen Regionen in der

Regel bestehende Arbeitskräfteüber-

schusses verstärkt in Produktionspro-

zesse eingebunden und damit die Be-

schäftigungsproblematik maßgeblich

entschärft werden kann. Neben der

Förderung der Sachkapitalausstattung

lag (und liegt noch immer) ein beson-

deres Augenmerk der Förderpolitik in

Das Gespenst des Mezzogiorno

43

2 Die Ausführungen basieren auf der vor kurzem veröffentlichten Dissertation des Autors mit dem Titel „Inno-vationslogik und regionales Wirtschaftswachstum:Theorie und Empirie autopoietischer Innovationsdynamik“, Mar-burg (Mafex) 2003.

3 Das Geld, das über die „Leitungssysteme der Sozialversicherung in den Osten“ (Der Spiegel 2004a, S. 4) schoss,macht zwar einen Grossteil des stattgefundenen Kapitaltransfers aus, entspringt aber weniger einer aktivenFörderpolitik als vielmehr dem Umstand, dass den Ostdeutschen das westdeutsche Rechtsnormen- und Sozial-system übergestülpt wurde.

2. Ostdeutschland im Würgegriff „inputlogischen“ Wachstumsdenkens

Page 46: perspektive21 - Heft 21/ 22

Ostdeutschland in der Verbesserung

der wirtschaftsnahen Infrastruktur

(Straße, Schiene, Telekommunikation,

Gewerbeflächen und Technologie- und

Gründerzentren).4 Ziel ist hierbei,

durch attraktive Standortbedingungen

die Ansiedlung von innovativen Unter-

nehmen und damit hochwertigen

Arbeitsplätzen zu bewirken. Ein dritter

Anknüpfungspunkt der ostdeutschen

Transferpolitik liegt in der Verbes-

serung der Human- und Wissenska-

pitalausstattung in den neuen Län-

dern. Über die Modernisierung der be-

reits bestehenden Universitäten und

Forschungseinrichtungen sowie den

weiteren Ausbau der staatlichen Wis-

senschaftsinfrastruktur soll die unver-

zichtbare Grundlage für wissensinten-

sive Wertschöpfungsprozesse, Inno-

vationen und damit Wachstum und

Beschäftigung geschaffen werden.

Vor dem Hintergrund der skizzenhaf-

ten Ausführungen der praktizierten

Regionalförderung in Ostdeutschland,

die sich im Kern durch die angestrebte

(und zweifelsohne auch erreichte) Ver-

besserung des Sach-, Human- Infra-

struktur- und Wissenskapitalstocks

auszeichnet, wird eines deutlich: Re-

gionalförderung in Ostdeutschland ist

ein Kind neoklassischen bzw. input-

logischen Wachstumsdenkens, also

Ausfluss desjenigen wachstumstheo-

retischen Ansatzes, der die wirtschafts-

wissenschaftliche Diskussion zu den

Quellen wirtschaftlichen Wachstums

seit Jahrzehnten dominiert. Doch

wodurch zeichnet sich dieser Ansatz

aus, welches Kausalitätsdenken ver-

birgt sich hinter der neoklassischen

„Inputlogik des Wachstums“?

Vereinfacht ausgedrückt liegt tradi-

tionellen ökonomischen Wachstums-

theorien die Annahme zugrunde, dass

die wirtschaftliche Leistung eines Lan-

des, einer Region oder auch Kommune

durch den Input determiniert wird.5

„Der Output ist eine Funktion des

Inputs“, lautet demnach die einfache

Wachstumsformel der neoklassischen

Inputlogik. Die dem regionalen Wachs-

tumsprozess unterstellte Kausalität

trägt entsprechend dem Akkumula-

tionsgedanken Rechnung: Nur über die

regionale Akkumulation von zusätz-

lichen Inputs (Produktionsfaktoren)

kommt es zu einer Steigerung des Out-

puts, also zu wirtschaftlichem Wachs-

tum. Bei diesem Paradigma repräsen-

tieren somit Produktionsfaktoren und

insbesondere deren Akkumulation den

Jörg Aßmann

44

4 So haben laut Spiegel (2004a, S. 4) der Staat sowie staatsnahe Unternehmen wie bspw. Telekom bislang fast 100 Milli-arden € in infrastrukturverbessernde Maßnahmen investiert. Der Fokus auf Infrastrukturinvestitionen bleibt auch inZukunft erhalten: Der vor kurzem verabschiedete Solidarpakt II beschert dem Osten weitere Transfers in die Infrastruk-tur in Höhe von 156 Milliarden €.

5 Unter dem Begriff „Input“ sind sämtliche von der neoklassischen Wachstumstheorie für bedeutsam erachteten und zu-vor bereits erwähnten Produktionsfaktoren (u.a. Arbeit, Sach-, Human-,Wissens- und technisches Kapital) zu verstehen.

Page 47: perspektive21 - Heft 21/ 22

zentralen Engpassfaktor im regionalen

Entwicklungsprozess. Entsprechend

fällt der regionalen Strukturpolitik die

Aufgabe zu, die bestehenden regio-

nalen Faktorengpässe durch die zuvor

beschriebenen förderpolitischen Maß-

nahmen auszuräumen.

Neoklassisch denkende Wachstums-

ökonomen verweisen zwecks theore-

tischer Rechtfertigung der von ihnen

vertretenen Wachstumslogik zu Recht

auf den empirisch beobachtbaren

Gleichschritt zwischen Kapitalakku-

mulation und Wirtschaftswachstum.

So zeigt sich in der Tat, dass ausnahms-

los alle Wachstumsregionen der Welt

(Silicon Valley, Boston Route 128, Cam-

bridge in England, etc.) sich durch eine

immense Kapitalakkumulation aus-

zeichnen. Es stellt sich aber folgende

Frage: Inwieweit ist die empirisch

beobachtbare enge Korrelation zwi-

schen Kapitalakkumulation und Wirt-

schaftswachstum ein wirklich schlag-

kräftiger Beleg inputlogischen Wachs-

tumsdenkens?

Es gibt eine Vielzahl empirischer

Beobachtungen, gerade auch in Ost-

deutschland, die an der zentralen

Wachstumsrelevanz von Produktions-

faktoren ernsthaft zweifeln lässt. Zu

denken ist diesbezüglich bspw. an die

extrem hohe Arbeitslosigkeit unter

Akademikern. Bestes Human- und

Wissenskapital bleibt in diesem Fall

wirtschaftlich ungenutzt, trägt ver-

gleichsweise wenig oder gar nichts zur

Wertschöpfung bei .6 Ähnlich verhält es

sich mit dem Wissenschaftssystem. Im

Gegensatz zur Situation amerika-

nischer oder englischer Universitäten

ist das deutsche Wissenschaftssystem

nach wie vor weitgehend vom Wirt-

schaftssystem abgekoppelt und leistet

folglich vergleichsweise wenig für

Innovation, Wachstum und Beschäfti-

gung. Weiterhin ist zu beobachten,

dass das über die letzten Jahre in vie-

len ostdeutschen Kommunen (zumeist

über EU-Mittel) gebildete Infrastruk-

turkapital in Form von Gewerbegebie-

ten oder Technologiezentren keinen

oder nur einen geringen Beitrag zum

Wachstum leistet. Dies einfach deswe-

gen, weil es keine Unternehmen gibt,

die diese Angebote nachfragen.7

Beispiele für „tote“, d.h. wirtschaft-

liche ungenutzte Ressourcenpotentiale

gibt es in Deutschland (und anderen

Ländern) also genug. Der von der Neo-

klassik unterstellte Automatismus, nach

dem ein Mehr an Ressourcenausstat-

tung zwangsläufig zu einem Mehr an

wirtschaftlicher Leistung führt, greift

Das Gespenst des Mezzogiorno

45

6 So resümiert der Spiegel die millionenschweren Investitionen in Bildung und Qualifikation in den neuen Ländern mitdem vielsagenden Satz:„Junge Anwälte, BWLer oder Wissenschaftler jobben als Kellner oder Schreibkräfte“ (2004a, S. 10).

7 Im Hinblick auf die gravierenden Gewerbeflächenüberkapazitäten in Ostdeutschland ist in der Presse schon die Redevon „beleuchteten Schafweiden“ (Paetz 1997), die sich ostdeutsche Kommunen für sehr teures Geld zugelegt hätten.

Page 48: perspektive21 - Heft 21/ 22

keinesfalls immer. Andererseits ist aber

auch vom zuvor angesprochenen

Gleichschritt zwischen Kapitalakkumu-

lation und Wirtschaftswachstum aus-

zugehen. Vor dem Hintergrund dieser

empirischen Beobachtungen bedarf es

von daher eines theoretischen Ansatzes,

der den sich offenbarenden Wider-

spruch aufzulösen weiß. Obwohl die

„Inputlogik des Wachstums“ dies nicht

leistet, zeigt sich anhand der aktuellen

Maßnahmen und Vorschläge (Verab-

schiedung von Solidarpakt II, Ost-

deutschland als Sonderwirtschaftszone,

Förderung von Industrieansiedlungen

und wirtschaftsnaher Forschung, etc.),

dass Ostdeutschland auch auf längere

Sicht im Würgegriff inputlogischen

Wachstumsdenkens verbleiben wird.

Das als „Inputlogik“ bezeichnete Wachs-

tumsdenken besitzt in der heutigen

Gesellschaft und insbesondere in der

wirtschaftswissenschaftlichen und -po-

litischen Diskussion paradigmatischen

Charakter. Im Inputwachstum wird dieUrsache für wirtschaftliche Entwick-

lung gesehen. An der prinzipiellen Rich-

tigkeit der „Inputlogik des Wachstums“

wird nicht wirklich gezweifelt, Inputs

stellen in Wirtschaftstheorie und -poli-

tik die „conditio sine qua non“ wirt-

schaftlichen Wachstums dar.

Mit dem Schumpeterschen Entwick-

lungsparadigma, das – entgegen an-

ders lautender Rhetorik – in der wirt-

schaftstheoretischen und -politischen

Diskussion nach wie vor ein Schatten-

dasein fristet, wird im Folgenden ein

zur Inputlogik alternativer theore-

tischer Ansatz präsentiert. Dieser

Ansatz eröffnet eine vollkommen neue

und mit der Inputlogik nicht verein-

bare Perspektive zu den eigentlichen

Quellen wirtschaftlichen Wachstums.

Entsprechend sieht dieser Ansatz auch

andere Anknüpfungspunkte für eine in

Zukunft erfolgreichere ostdeutsche

Förderstrategie. Dabei manifestieren

sich die Überlegungen Schumpeters in

drei ergänzenden Thesen, die im Fol-

genden näher dargelegt werden.

Schumpeter-These I: SchöpferischeUnternehmer determinieren dieWachstumsrelevanz von Ressourcen

Schumpeter interessiert sich in sei-

ner Theorie der wirtschaftlichen Ent-wicklung (1993) für diejenigen Ver-

änderungen, die das ökonomische

System aus sich selbst heraus erzeugt.

Jörg Aßmann

46

3. Innovationslogik regionalen Wirtschaftswachstums:Selbsttransformation von Regionen

Page 49: perspektive21 - Heft 21/ 22

Wenn aber exogene, d.h. außerhalb der

Wirtschaft liegende Faktoren als Im-

pulsgeber im Entwicklungsprozess aus-

geschlossen werden, stellt sich die

Frage nach den endogenen Ursachen

wirtschaftlicher Entwicklung. Schum-

peter sieht in der „Durchsetzung neuer

Kombinationen von Produktionsmit-

teln“ (1993, S. 100) die zentrale Quelle

wirtschaftlichen Wachstums. Innova-

tionen sind für Schumpeter das

„Grundphänomen wirtschaftlicher Ent-

wicklung“ (1993, S. 100).8 Durchgesetzt

werden Innovationen durch den

schöpferischen Unternehmer, der „Trä-

ger des Veränderungsmechanismus“

(Schumpeter 1993, S. 93) ist .9

Bei Schumpeter sind es also nicht

Produktionsfaktoren, sondern deren

innovative (Anders-) Verwendung, die

Entwicklung verursachen: Wirtschaft-

liche Entwicklung resultiert nicht aus

zusätzlichen, sondern aus der Neukom-

bination gegebener Ressourcen. Damit

werden Innovationen und insbeson-

dere die sie durchsetzenden schöpfe-

rischen Unternehmer zum zentralen

Entwicklungsfaktor. Der Kapitalstock

einer Region hat nur eine nachge-

lagerte Bedeutung für wirtschaftliche

Entwicklungsprozesse, weil dessen

Wachstumswirkung durch die Qualität

seiner Einbindung in Produktionspro-

zesse, also durch den Innovationsgrad

seiner Verwendung, determiniert wird.

Oder anders formuliert: Aus innova-

tionslogischer Sicht erlangen Inputs

nur dann Entwicklungsrelevanz, wenn

deren wirtschaftliche Verwertung ge-

währleistet ist. Für den Fall, dass keine

Einbindung der Ressourcen in Produk-

tionsprozesse erfolgt, stellen Produk-

tionsfaktoren lediglich ein „totes“

Wachstumspotential dar.10

Dieser Gedanke lässt sich gut an-

hand des im Rahmen der endogenen

Wachstumstheorie (siehe dazu ins-

besondere Romer 1983, 1986) für so

überaus wichtig befundenen Produk-

tionsfaktors Humankapital veran-

Das Gespenst des Mezzogiorno

47

8 Allerdings führt, worauf Schumpeter selbst hinweist, das erfolgreiche Durchsetzen neuer Möglichkeiten gleich-zeitig zur Entwertung bzw.„schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter 1950, S. 134ff) etablierter Möglichkeiten. Dem-nach ist schöpferische Zerstörung die unverzichtbare Kehrseite innovationsgetragener Entwicklungsprozesse.

9 Unternehmer sind nach Schumpeter also nur solche Akteure, deren ökonomische Funktion in der Durchsetzungneuer Kombinationen liegt: Die Funktion des Unternehmers ist also einzig und allein die, neue Kombinationen„…lebendig, real zu machen, durchzusetzen“ (1993, S. 128). Entsprechend ist zwischen verschiedenen Typen vonUnternehmertum (Routine, Arbitrage, Innovation, Evolution; siehe dazu Röpke 2002) genauso zu differenzieren wiezwischen Innovator und Erfinder sowie Unternehmer und Kapitalist.

10 Dabei wird, so legt es uns zumindest der „frühe“ Schumpeter (1993) nahe, die Nachfrage nach Produktionsfaktorenund damit deren Entwicklungsrelevanz nicht durch etablierte Großunternehmen, sondern vor allem durch innova-tive Neugründungen determiniert. Die Einschätzung von Schumpeter zur Relevanz innovativer Neugründungen fürwirtschaftliches Wachstum wurde anhand verschiedener empirischer Studien mittlerweile bestätigt. So hat bspw.die exzellente Studie von Kirchhoff (1994) gezeigt, dass die in den USA verzeichneten positiven Wachstums- undBeschäftigungseffekte in erster Linie auf einige wenige neue und hoch innovative Firmen zurückzuführen sind(Ergebnis der Studie: ca. 80 % aller in den USA zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätze sind auf prozentual wenige,junge und vor allem hochinnovative Unternehmen zurückzuführen). Nach Timmons (1997, S. 29) stammen 95 % allerradikalen Neuerungen seit dem 2. Weltkrieg von neuen und nicht von etablierten Unternehmen.

Page 50: perspektive21 - Heft 21/ 22

schaulichen.11 Es besteht kein Zweifel

daran, dass qualitative Verbesserungen

des Humankapitals in der Regel zu

höheren Arbeitsproduktivitäten und

Einkommen führen. Übersehen wird

aber die entscheidende Rolle, die dem

unternehmerischen Faktor hierbei zu-

kommt. So ist keineswegs davon aus-

zugehen, dass ein größerer Humanka-

pitalstock sich automatisch (oder durch

eine „unsichtbare Hand“ geleitet) in

Outputwachstum transformiert. Dies

ist nur dann der Fall, wenn Human-

kapital in innovative Produktionspro-

zesse „einfließt“.12 Diese Einschätzung

zur Rolle von Humankapital im Wachs-

tumsprozess bestätigen auch Englan-

der/ Gurney (1994), wenn sie nach einer

intensiven Analyse von Studien, die

allesamt die Bedeutung von Human-

und Wissenskapital als treibende Kraft

für langfristiges Produktivitätswachs-

tum herausstellen, zu folgendem Er-

gebnis kommen:„…if there is a link bet-

ween education levels and productivity

growth, it is likely be small at the mar-

gin“ (1994, S. 60).

Schumpeter-These II: Innovations-prozesse führen zum Wachstum desKapitalstocks und nicht umgekehrt

Der „Inputlogik des Wachstums“ ist

aus innovationslogischer Sicht weiter-

hin entgegenzuhalten, dass die Frage

nach den Quellen des Inputwachstums

unbeantwortet bleibt. Der immer wie-

der zu findende Verweis auf regional

divergierende Sparquoten und daraus

resultierende Unterschiede im Investi-

tionsverhalten ist deswegen unbefrie-

digend, weil die Ursachen für unter-

schiedliches Sparverhalten selbst nicht

näher thematisiert werden (können).

Schumpeter bietet diesbezüglich eine

einfache und dennoch überzeugende

Antwort, indem er nicht nur die Rolle

von Innovationen und schöpferischen

Unternehmern bei der produktiven

und wohlfahrtsfördernden Verwen-dung der in einer Region verfügbaren

Ressourcen betont, sondern zudem auf

deren unverzichtbaren Beitrag bei der

Produktion dieser Ressourcen verweist.

Mit anderen Worten unterstellt die

„Innovationslogik des Wachstums“

Jörg Aßmann

48

11 Die folgende, auf den Produktionsfaktor Humankapital bezogene Argumentation ließe sich ohne größere Schwie-rigkeiten auf alle anderen im Rahmen der endogenen Wachstumstheorie für entwicklungsrelevant erachteten Pro-duktionsfaktoren (Infrastruktur-, Sach-, Wissens- oder technisches Kapital) übertragen.

12 Wenn dies Berücksichtigung findet, dann wird nachvollziehbar, wieso etwa ein hochqualifizierter russischer Wis-senschaftler oder Ingenieur, der in seinem Heimatland ein Dasein entweder als (völlig unterbezahlter) wissen-schaftlicher Angestellter, Arbeitsloser oder Fensterputzer fristet, im Falle der Emigration in die USA ein vielfachhöheres Einkommen beziehen kann. Der Exodus russischen, indischen und zunehmend auch deutschen Humanka-pitals in die USA dokumentiert folgenden (Schumpeterschen) Zusammenhang auf sehr eindeutige Weise: Ein Feh-len innovativen Unternehmertums bedeutet ausbleibende Nachfrage nach Humankapital, geringe Produktivitätund niedrige Einkommen.

Page 51: perspektive21 - Heft 21/ 22

eine Kausalität, die derjenigen der neo-

klassisch-inputlogischen Wachstums-

theorie diametral entgegensteht:

Nicht das Wachstum von Produktions-

faktoren bewirkt Entwicklung, sondern

Innovationsprozesse führen zu einem

Wachstum der Produktionsfaktoren.

Inputwachstum ist dem Entwicklungs-

prozess demnach nicht vor-, sondern

nachgelagert .13

Genau genommen basiert die Kapital-

akkumulation auf zwei im Wesentlichen

durch Innovationshandeln vorangetrie-

benen Teilprozessen. Einerseits bedin-

gen schöpferische Unternehmer durch

ihre Aktivitäten eine zusätzliche Nach-

frage nach Produktionsfaktoren. Durch

die Andersverwendung von – zu einem

bestimmten Zeitpunkt – gegebenen Pro-

duktionsfaktoren resultieren Produkti-

vitätsfortschritte, Beschäftigungs- und

Einkommenszuwächse und damit zu-

sätzliche Sparpotentiale, was wiederum

einen Prozess der Kapitalakkumulation

nach sich zieht. Indem dann – gewisser-

maßen auf einem „höheren Niveau der

Faktorausstattung“ – eine Andersver-

wendung der nunmehr zur Verfügung

stehenden Ressourcenpotentiale er-

folgt, wird die Kapitalakkumulation wei-

ter vorangetrieben. Andererseits spielen

innovative Unternehmer auch beim

Angebot von innovationsfördernden

Ressourcen eine Schlüsselrolle. Dies des-

wegen, weil die Produktion der von

ihnen benötigten Ressourcen entweder

Teil ihrer unternehmerischen Aufgabe

ist oder aber von anderen innovativen

Unternehmern wahrgenommen wer-

den muss.

Hinzuweisen ist an dieser Stelle,

dass die durch die „Innovationslogik

des Wachstums“ nahe gelegte Umkeh-

rung der Entwicklungsprozessen zu-

grunde liegenden Kausalität (Innova-

tionen führen zu Inputwachstum und

nicht umgekehrt) auf eine notwendige

Umorientierung in der regionalen

Strukturpolitik verweist. Die gegen-

wärtig in Ostdeutschland praktizierte

Strukturpolitik operiert weitgehend

nach den theoretischen Vorgaben des

„Say’schen Gesetzes“. So wird, um

beim Produktionsfaktor Humankapital

zu bleiben, davon ausgegangen, dass

ein zusätzliches Angebot an gut aus-

gebildeten und qualifizierten Men-

schen immer auf eine entsprechende

Nachfrage stoßen wird (das Angebot

schafft sich seine Nachfrage). Hin-

gegen ist der Schumpeterschen Ent-

wicklungsperspektive zufolge eine

Wirtschaftspolitik, die der Maxime

eines „auf den Kopf gestellten Say’schenGesetzes“ folgt, wesentlich effektiver

und effizienter. Denn hier schafft sich

Das Gespenst des Mezzogiorno

49

13 Neuere ökonometrische und empirische Studien bestätigen das hier vertretene Kausalitätsverständnis zwischenInnovationen (Entwicklung) und Inputwachstum. Vgl. dazu Weltbank (1993) und King/Levine (1993, 1994).

Page 52: perspektive21 - Heft 21/ 22

die innovationsbedingte Nachfrage

nach gut qualifiziertem Humankapital

ihr eigenes Angebot.

Schumpeter-These III: Zugang zuFinanzkapital als zentraleWachstumsressource in innovations-getragenen regionalen Entwicklungs-prozessen

Dem Ansatz von Schumpeter wird

aber nur dann wirklich Rechnung getra-

gen, wenn das für seine Überlegungen

zentrale Argument zur Finanzierung

von Innovationsprozessen Berücksich-

tigung findet: Nur wenn schöpferische

Unternehmer Zugang zu Finanzkapital

erlangen, können sie die für Innovatio-

nen benötigten Produktionsfaktoren

kaufen und ihre Ideen realisieren.14 Die

vollständige Schumpetersche Wachs-

tumsgleichung lautet demnach: Out-putwachstum ist eine Funktion vonInnovationen/Unternehmertum + demZugang zu Finanzkapital.

Die von Schumpeter vorgeschlagene

Deutung von Kapital als Finanzkapital

hat erhebliche Konsequenzen für die

Beantwortung der Frage nach der

tatsächlichen Relevanz von Ressourcen

für regionale Wachstumsprozesse. Um

innovieren zu können, brauchen lokale

Unternehmer Zugang zu Finanzkapital.

Sobald letzteres gewährleistet ist, kön-

nen sämtliche der für die Umsetzung

von Innovationen erforderlichen Pro-

duktionsfaktoren auf Märkten gekauft

werden, denn Finanzkapital ermöglicht

den Entzug von verfügbaren Ressour-

cen aus anderen Verwendungen, sei es

von innerhalb oder von außerhalb der

Region. Die theoretische Aufwertung

der monetären Sphäre im Entwick-

lungsprozess stützt demnach die bis-

herige Argumentation: Eine regionale

Knappheit an innovationsrelevanten

Ressourcen ist lediglich eine „abgelei-

tete Knappheit“, d.h. diese Ressourcen

sind nur dann knapp, wenn lokale

Unternehmer aufgrund fehlenden

Finanzkapitals keine Nachfrage nach

ihnen äußern können. Fehlt aber die

Nachfrage nach Ressourcen, kann auch

kein Angebot zustande kommen.

Aus dieser Überlegung ergibt sich

zweierlei: Erstens, regionalpolitische

Maßnahmen, die ausschließlich auf

eine Verbesserung der lokalen Faktor-

ausstattung hinauslaufen, müssen wir-

kungslos verpuffen, solange nicht die

Finanzierungsproblematik von Innova-

toren behoben wird. Entwickelt eine

Region diesbezüglich keine Lösungen,

dann transformieren sich selbst beste

Standortbedingungen nicht in wirt-

Jörg Aßmann

50

14 Finanzkapital ermöglicht es Unternehmern, die für die Umsetzung ihrer Ideen benötigten Ressourcen aus ihren bis-herigen Verwendungen herauszulösen (Schumpeter 1993, S. 102f). Kredit ist der „Hebel des Güterentzugs“ (Schum-peter 1993, S. 152) und stellt eine notwendige Bedingung für das Durchsetzen neuer Kombinationen dar. Darausfolgt, dass der Unternehmer „…nur Unternehmer werden (kann; J.A.), indem er vorher Schuldner wird … Sein erstesBedürfnis ist das Kreditbedürfnis“ (Schumpeter 1993, S. 148).

Page 53: perspektive21 - Heft 21/ 22

schaftliches Wachstum. Zweitens, funk-

tionsfähige Finanzsysteme spielen eine

fundamentale Rolle für regionale Ent-

wicklungsprozesse. Nur wenn in einer

Region Finanzmärkte und Finanzinsti-

tutionen operieren, die ihre von Schum-

peter zugewiesene Kanalisierungs-

funktion der bereits vorhandenen bzw.

der neu geschaffenen finanziellen Mit-

tel (Ersparnisse resp. Kredite) an inno-

vative Firmen und Unternehmensgrün-

der erfolgreich wahrnehmen, können

Neukombinationen realisiert werden.

Ein solches Finanzsystem ist unver-

zichtbarer Bestandteil eines regionalen

Innovationssystems.

Die vorangegangene Argumentation

zusammenfassend lässt sich sagen,

dass regionales Wirtschaftswachstum

im Schumpeterschen Entwicklungs-

paradigma auf den Spuren von Baron

Münchhausen wandelt: So wie es sich

beim Baron Münchhausen um eine Per-

son handelt, die durch reine Selbsthilfe

und mittels höchst innovativer Lö-

sungen schwierigste Situationen zu

meistern versteht, gründet sich auch

der wirtschaftliche Erfolg von Regionen

auf innovativer Selbsthilfe. Während

aus inputlogischer Sicht die Infusion

zusätzlicher Inputs notwendige und

hinreichende Bedingung für regionales

Wirtschaftswachstum ist, deutet die

„Innovationslogik des Wachstums“ re-

gionale Wirtschaftsentwicklung als

einen Prozess der regionalen Selbst-

Transformation durch Innovationen.

Bei Schumpeter produziert die regio-

nale Wirtschaft Wachstum immer von

innen heraus und ist dabei nicht auf die

umfangreiche und kontinuierliche ex-

terne Bereitstellung von zusätzlichen

und qualitativ besseren Inputs ange-

wiesen. „Innovations-“ und „Inputlogik

des Wachstums“ schließen sich gegen-

seitig aus, sind nicht miteinander ver-

einbar. Regionale Entwicklung ist bei

Schumpeter das Ergebnis von interner

Dynamik und von internen Bedingun-

gen, nicht aber von lokaler Ressourcen-

verfügbarkeit.

Innovationen, schöpferisches Unter-

nehmertum und Finanzkapital als dieeigentlichen regionalen Wachstumsde-

terminanten identifiziert zu haben, hilft

der Förderpolitik von Regionen aber

noch nicht wirklich weiter. Erforderlich

ist ein besseres Wissen über die Quellen

regionalen Innovationsverhaltens: Was

treibt regionale Innovationsprozesse

voran, wenn es die regionale Produkti-

onsfaktorenausstattung ganz offen-

sichtlich nicht ist? Gefordert ist eine

Erweiterung des Ansatzes von Schum-

peter, denn er bietet keine wirkliche

Erklärung des Prozesses wirtschaft-

lichen Wachstums, sondern beschränkt

sich auf die Beschreibung des Funk-

tionsmechanismus einer sich entwick-

elnden Wirtschaft. Dieser Aufgabe wid-

Das Gespenst des Mezzogiorno

51

Page 54: perspektive21 - Heft 21/ 22

men sich die weiteren Überlegungen.

Ausgangspunkt ist dabei die knappe

Darstellung des „Systemansatzes der

Innovation“, der das regionalpolitische

Handeln auch in Ostdeutschland maß-

geblich beeinflusst hat. Wie aber deut-

lich wird, handelt es sich entgegen aller

Innovationsrhetorik ebenfalls um einen

inputlogisch-argumentierenden An-

satz. Dies macht im Anschluss daran die

Entwicklung eines neuartigen, mit der

Innovationslogik im Einklang stehen-

den Erklärungsansatzes regionalen In-

novationsverhaltens erforderlich.

Der in den letzten Jahren viel beach-

tete „Systemansatz der Innovation“

wird von seinen Vertretern als ein

neuartiger theoretischer Weg zur Er-

klärung technologischer Innovationen

und wirtschaftlichen Wachstums in

nationaler, regionaler oder auch sekto-

raler Hinsicht gesehen. Das erklärte Ziel

dieses Ansatzes ist, den systemischen

Charakter des Innovationsprozesses

herauszustellen. Ausgangspunkt ist

dabei die Überlegung, dass der Innova-

tionsprozess hoch komplex ist und

durch eine Vielzahl von Faktoren beein-

flusst wird. Demnach agieren innova-

tive Unternehmen bzw. Unternehmer

fast nie in vollständiger Isolierung, son-

dern arbeiten immer mit anderen Or-

ganisationen zum Zwecke der Aneig-

nung und Entwicklung von Ressourcen,

Informationen und Wissen zusammen.

Folglich kann die Erklärung von Innova-

tionsprozessen nicht über die Betrach-

tung einzelner Unternehmen, sondern

nur über ein Verständnis der Struktur

und Funktionsweise von Innovations-

systemen gelingen. Dabei sind zu den

Organisationen, die den Innovations-

prozess von Firmen beeinflussen, nicht

nur andere Firmen (Zulieferer, Abneh-

mer, Wettbewerber, etc.), sondern auch

staatliche Apparate, Universitäten und

Ausbildungsstätten, öffentliche und

private FuE-Labors, Forschungsinsti-

tute, Banken und Venture Capital-

Unternehmen sowie intermediäre

(halb-öffentliche) Organisationen wie

Handelskammern, Verbände, Gewerk-

schaften usw. zu zählen.

Aber auch der Systemansatz der

Innovation ist, trotz seiner als überaus

positiv zu bewertenden Fokussierung

auf Institutionen als Wachstumsfaktor,

letztlich als inputlogisch einzustufen

und unterliegt damit ähnlichen Pro-

blemen wie die neoklassische Input-

logik. Wie ist das zu begründen? Zwei

(bereits bekannte) Antworten liegen

Jörg Aßmann

52

4. „Systemansatz der Innovation“: Inputlogik auf zweiter Ebene

Page 55: perspektive21 - Heft 21/ 22

auf der Hand: Erstens, die institutionell-

organisatorische Vielfalt von Regionen

transformiert sich nur dann in mehr

Innovation, Wachstum und Beschäfti-

gung, wenn der mit ihr verbundene

Ressourcenreichtum auch tatsächlich

innovativ genutzt wird. Von einer

Zwangsläufigkeit ist hier jedoch kei-

nesfalls auszugehen.15 Zweitens, es

fehlt dem Systemansatz der Innovation

an einer überzeugenden Erklärung für

die Entstehung innovationsfördernder

institutioneller Bedingungen in rück-

ständigen Regionen. Aufgrund des Feh-

lens einer solchen „dynamischen Insti-

tutionentheorie“ mit schöpferischen

Unternehmern in der Hauptrolle blei-

ben aber die folgenden – gerade aus

wirtschaftspolitischer Sicht – sehr be-

deutsamen Fragen unbeantwortet:

Welche Faktoren und Prozesse sind in

Regionen für die Etablierung und Wei-

terentwicklung einer innovationsför-

dernden institutionellen Infrastruktur

verantwortlich? Wie kommen Regionen

überhaupt zu „vorteilhaften“ institu-

tionell-organisatorischen Strukturen?

Wieso tun sich wachstumsschwache

Regionen in der Regel so schwer, wenn

es um die Übernahme bzw. Imitation

„institutioneller Erfolgsfaktoren“ ande-

rer Regionen geht?

Es wird deutlich, dass auch im

Systemansatz der Innovation entgegen

anders lautender Rhetorik Innovatio-

nen und schöpferische Unternehmer

weder Ausgangspunkt noch treibende

Kraft im regionalen Entwicklungspro-

zess, sondern lediglich „Ausdruck“ von

institutionellen Gegebenheiten sind,

auf deren Entstehung und Evolution sie

selbst keinen Einfluss haben. In diesem

Sinne verfällt auch der Systemansatz

der Innovation (wenn auch auf einer

zweiten Ebene) den „Verlockungen“

inputlogischen bzw. unternehmerlosen

Wachstumsdenkens. Dieses theore-

tische Defizit zeigt sich in der förderpo-

litischen Praxis. So spielen seit einigen

Jahren verschiedene „institutionelle

Förderinstrumente“ nicht nur im Rah-

men der in Ostdeutschland praktizier-

ten Strukturpolitik eine (finanziell)

gewichtige Rolle (z.B.: Förderung von

regionalen Innovationsnetzwerken,

Wachstumskernen oder lokalen Pro-

duktionsclustern). Hier wie anderswo

in der Welt zeigt sich aber, dass eine

gezielte wirtschaftspolitische Förde-

rung von Netzwerken und Clustern sel-

ten funktioniert. Offensichtlich fehlt

das Wissen über die Faktoren und Pro-

zesse, die hinter der Entstehung und

Evolution von vernetzten Regionen ste-

Das Gespenst des Mezzogiorno

53

15 Durch eine „institutional thickness“ (Amin/Thrift 1994, S. 14) zeichnen sich gerade wirtschaftlich rückständige Orga-nisationen aus, ohne dass dadurch mehr Innovations- und Entwicklungsdynamik zu beobachten wäre. Ein beson-ders gutes und empirisch leider relevantes Beispiel dafür sind die zuvor bereits angesprochenen ungenutztenWachstumspotentiale des deutschen Hochschulsystems; siehe dazu ausführlich Aßmann (2003, Kapitel 6).

Page 56: perspektive21 - Heft 21/ 22

hen. Wenn dem aber so ist, dann be-

steht die Gefahr, dass „…business net-

works, intended as an instrument of

economic development, become ano-

ther fad in the tool kit of governments

con-cerned with job creation and social

welfare“ (Staber 1996, S. 23).

Für eine erfolgreichere „institutio-

nellen Förderpolitik“ ist es notwendig,

die institutionelle Bedingungen wirt-

schaftlich erfolgreicher Innovations-

systeme nicht mehr als ein in ihrer Ent-

stehung und Evolution selbst nicht

erklärten „Input“, sondern als das emer-

gente Produkt der das Innovationssys-

tem ausmachenden Akteure zu begrei-

fen. Es gilt also die regionalen Prozesse

der Etablierung, Aufrechterhaltung und

Evolution von innovationsfördernden

institutionellen Strukturen systematisch

auf die Aktivitäten schöpferischen Un-

ternehmertums zurückzuführen. Im Fol-

genden wird ein theoretisches Konzept

vorgestellt, das die geforderte Endoge-

nisierung von Institutionen (= Deutung

institutioneller Strukturen als „Produkt“

schöpferischen Unternehmerverhal-

tens) in sich trägt.

Das Autopoiese-Konzept hat seinen

Ursprung in den Arbeiten der Neurobio-

logen Maturana und Varela (1979, 1982,

1987). Die beiden Wissenschaftler haben

sich mit folgender Frage auseinanderge-

setzt: „Was ist allen lebenden Systemen

gemeinsam, und was veranlasst uns, sie

als ‘lebendig’ zu bezeichnen?“ (Matu-

rana/Varela 1982, S. 181). Ziel ihrer Arbei-

ten ist, die Organisation des Lebendigen

offen zu legen und insbesondere den

einheitlichen Charakter lebender Sys-

teme zu identifizieren. Das Ergebnis

ihrer Forschungen lautet, dass lebende

Systeme als autopoietische Systeme

(griech. autos = selbst; poiein = machen,

produzieren) zu begreifen sind. Auto-

poiese hat die fortgesetzte Produktion

und Reproduktion der Elemente eines

Systems durch das System selbst zum

Inhalt (Maturana/Varela 1982, S. 186).

In Hinblick auf die Frage, wie die

autopoietische Rekonstruktion von re-

gionalen Innovationssystemen ausse-

hen könnte, ist die Vergegenwärtigung

der von Maturana vorgeschlagenen

Definition eines autopoietischen

Systems hilfreich. Demnach ist ein

autopoietisches System „…ein Netz-

werk der Produktion von Komponen-

ten. Diese Komponenten erzeugen

durch ihre Interaktionen wiederum

Jörg Aßmann

54

5. Innovationssysteme als „autopoietische“ Systeme:Regionales Wachstum ohne Ressourcenzufuhr von außen

Page 57: perspektive21 - Heft 21/ 22

dasselbe Netzwerk der Produktion, das

sie selbst erzeugte und die Grenzen

des Systems festlegte. Wenn das zu-

trifft, hat man es mit einem autopoie-

tischen System zu tun“ (Maturana

1990, S. 39). In enger Anlehnung an

diese Definition lässt sich ein auto-

poietisch-operierendes regionales In-

novationssystem wie folgt definieren,

wenn

a)lokale schöpferische Unternehmer-

systeme als die Komponenten regio-

naler Innovationssysteme und

b)die institutionellen Gegebenheiten

einer Region als das „Netzwerk der

Produktion“ aufgefasst werden:

Ein regionales Innovationssystem

ist ein Netzwerk der Produktion

von lokalen schöpferischen Unter-

nehmersystemen. Diese erzeugen

durch ihre wettbewerblichen und

kooperativen Interaktionen die in-

stitutionellen Bedingungen (die

institutionelle Infrastruktur eine

Region), das sie selbst erzeugte

und die Grenzen des Systems fest-

legte. Wenn das zutrifft, hat man

es mit einem autopoietischen Sys-

tem zu tun.

Aus dieser Definition lassen sich

zumindest vier weitreichende Schluss-

folgerungen ziehen:

Erstens, das „Autopoietische“ eines re-

gionalen Innovationssystems offenbart

sich in der fortlaufenden Reproduktion

der schöpferischen Unternehmerfunk-

tion mit der folgenden zirkularen Kau-

salität: Lokale schöpferische Unterneh-

mersysteme, zu begreifen als die Be-

standteile regionaler Innovationssys-

teme, produzieren durch auf spezifische

Weise verkettete Prozesse, d.h. durch

wechselseitige Interaktionen, exakt

wieder die Bestandteile des Systems,

also sich selbst .16 Entsprechend manife-

stiert sich die Autopoiese regionaler

Innovationssysteme in ei-nem Co-Inno-vationsprozess, bei dem Innovationen

zur zentralen Quelle weiterer Innova-

tionen werden. Mit der Formel „Innova-

tionen produzieren Innovationen“

(Röpke 2002, S. 214) bzw. – wenn auf die

Träger von Innovationen abhebend –

„schöpferische Unternehmer produzie-

ren schöpferische Unternehmer“ lässt

sich folglich die autopoietische Opera-

tionsweise von regionalen Innovations-

systemen umschreiben.

Das Gespenst des Mezzogiorno

55

16 Dies impliziert aber nicht, dass es in regionalen Innovationssystemen zur Reproduktion der spezifischen Akteure,also der das System zu einem bestimmten Zeitpunkt ausmachenden lokalen Unternehmersysteme kommt. Viel-mehr leben autopoietisch-operierende Innovationssysteme von der schöpferischen Zerstörung von Innovationenund ihren Trägern, denn „…das Innovationssystem reproduziert … nicht seine spezifischen Akteure, (sondern; J.A.)erfordert vielmehr ihren Untergang, um sich zu erhalten. Gerade dadurch erhält es Unternehmertum in seiner inno-vativen Funktion“ (Röpke 2002, S. 225). Folglich ist die Gefahr der schöpferischen Zerstörung wesentliche Triebkraftfür Unternehmen, innovative Produkte und Verfahren hervorzubringen. Erst der (wirtschaftliche) Tod macht Unter-nehmen erfinderisch.

Page 58: perspektive21 - Heft 21/ 22

Jörg Aßmann

56

Zweitens, dieser Co-Innovationspro-

zess kommt nur dann zum Tragen, wenn

das Konzept des schöpferischen Unter-

nehmers wesentlich weiter gefasst wird

als bei Schumpeter. Diese Forderung

nach einer stärkeren Differenzierung des

schöpferischen Unternehmertyps grün-

det darauf,dass der von Schumpeter vor-

nehmlich thematisierte realwirtschaft-

liche Unternehmer zwingend auf eine

Reihe von Innovationsvorleistungen aus

anderen gesellschaftlichen Bereichen

und damit auf andere Typen schöpfe-

rischen Unternehmertums angewiesen

ist. Demnach gewinnt schöpferischesFinanz- und Netzwerkunternehmertum

genauso an Bedeutung für regionale

Innovationsprozesse wie etwa wissen-schaftliches, institutionelles, administra-tives und politisches Unternehmertum.

Drittens, es wird deutlich, dass es die

lokalen schöpferischen Unternehmer

selbst sind, die durch ihre Interaktionen

das „Netzwerk der Produktion“, sprich

die innovationsfreundlichen institutio-

nellen Kontextbedingungen, ausbilden

und erhalten und damit genau das

„produzieren“, wovon ihre eigene Re-

produktion bzw. die Reproduktion der

von ihnen eingenommenen unterneh-

merischen Funktion der Innovation

abhängt. Innovationsfördernde institu-

tionelle Bedingungen (etwa: lokale

Unternehmensnetzwerke, unterneh-

merfreundliche Verwaltung, effektive

Innovationsförderung durch bspw.Wirt-

schaftsförderung, etc.) sind mit anderen

Worten Ergebnis institutioneller Inno-

vationen, welche per definitionem wie-

derum von schöpferischen Unterneh-

mern durchzusetzen sind.

Und schließlich, viertens, verweist die

Definition darauf, dass andere Typen

von Unternehmertum, etwa der Rou-

tine-Unternehmer, der Arbitrageur oder

auch der unproduktive Rent Seeker

(siehe dazu Baumol 1987), aufgrund

ihrer andersartigen unternehmerischen

Funktionen keine Komponenten des

regionalen Innovationssystems werden

können, also vom Innovationssystem

ausgeschlossen sind.

Es lässt sich an dieser Stelle festhal-

ten: Im Rahmen der vorgeschlagenen

autopoietischen Deutung von regiona-

len Innovationssystemen verbleiben

schöpferische Unternehmer eindeutig

im Zentrum der regionalen Innova-

tions- und Entwicklungsdynamik. Es

handelt sich um ein Modell der Selbst-

organisation, das regionales Wirt-

schaftswachstum eindeutig als ein

durch lokale schöpferische und institu-

tionelle Unternehmer verursachtes

Phänomen deutet. Die zentralen As-

pekte, durch die sich autopoietisch-

operierende regionale Innovationssys-

teme auszeichnen, werden im und

durch das System selbst hergestellt. Sie

entspringen der endogenen Opera-

Page 59: perspektive21 - Heft 21/ 22

tionsweise dieser Systeme, wobei dies

gleichermaßen für die Komponenten

(schöpferische Unternehmer), für das

„Netzwerk der Produktion“ (institutio-

nell-organisatorische Kontextbedin-

gungen einer Region) wie auch für den

Zugang von Innovatoren zu Finanzkapi-

tal (Finanzinnovatoren finanzieren real-

wirtschaftliche Unternehmer) zutrifft.

Und schließlich sind auch die von

schöpferischen Unternehmersystemen

benötigten Produktionsfaktoren, d.h.

die im Rahmen der neoklassischen

Theorie als „Inputs“ bezeichneten Res-

sourcen, im Innovationssystem entwe-

der bereits vorhanden, oder werden

den Routine- oder Arbitragesystemen

mittels des den Innovatoren im Innova-

tionssystem zur Verfügung gestellten

Finanzkapitals entzogen: „Woher kom-

men also Inputs? Sie werden im System

durch die Struktur innovativer Prozesse

selbst erzeugt. Schöpferische Zerstö-

rung setzt Produktionsfaktoren frei“

(Röpke 2002, S. 221).

Wenn aber alles, was eine Region

zum Wachstum braucht, im regionalen

Innovationssystem selbst geschaffen

wird, dann ist Ressourcenzufuhr von

außen weder notwendige noch hin-

reichende Bedingung für regionales

Wirtschaftswachstum. Regionale Inno-

vationssysteme sind wie alle autopoie-

tischen Systeme inputlos. Was heißt

das? Während bei inputdeterminierten

Systemen äußere Einflüsse ein wesent-

liches Erklärungsmoment dafür sind,

was mit dem System geschieht, wel-

ches Verhalten bzw. welchen Output es

zeigt, zeichnen sich lebende Systeme

dadurch aus, dass ihre Systemdynamik

einzig und alleine von internen Fakto-

ren abhängt. Folglich besteht die

Gefahr, dass massive Kapitalinfusionen

zum „Wohle“ wirtschaftlich rückstän-

diger Regionen die nur in diesen Regio-

nen selbst zu entfaltende Innovations-

und Entwicklungsdynamik nachhaltig

unterminiert. Für den italienischen

Mezzogiorno sind die Zeichen einer sol-

chen Überförderungspolitik aufgrund

der vergleichsweise langen Förder-

periode bereits deutlich erkennbar und

oft thematisiert (siehe u.a Arlacchi

1989, Fadda 1992, Florio 1996).

Es drängt sich folgende Frage auf: Ist

ein ähnliches Szenario auch für Ost-

deutschland zu erwarten, wenn am

Kapitalfundamentalismus festgehalten

wird? Davon ist auszugehen, wenn keine

nachhaltige Kurskorrektur der ostdeut-

schen Förderstrategie vorgenommen

wird. Bevor am Schluss dieses Beitrags

näher auf einige Eckpunkte einer inno-

vationslogisch-konsistenten Förderstra-

tegie für die neuen Länder eingegangen

wird, gilt es im Folgenden einen in Wis-

senschaft und Politik gleichermaßen dis-

kutierten regionalen Erfolgsfall, nämlich

das so genannte „Dritte Italien“, einmal

Das Gespenst des Mezzogiorno

57

Page 60: perspektive21 - Heft 21/ 22

etwas genauer zu betrachten. Es gilt

dabei aufzuzeigen, dass hier (aber nicht

nur hier!) das Schumpetersche Entwick-

lungsparadigma eine überaus trag-

fähige Erklärung des wirtschaftlichen

Erfolgs von Regionen anzubieten hat.

Beim „Dritten Italien“ (Bagnasco 1977)

handelt es sich um diejenige Region Ita-

liens (Emiglia Romagna, Venetien und

bedingt die Toskana), die sich nach dem

Zweiten Weltkrieg von der ärmsten zur

wachstumsträchtigsten und damit mitt-

lerweile reichsten Region „gemausert“

hat und sich dabei als ein dritter Wirt-

schaftsraum neben dem industrialisier-

ten Nord-Westen (Mailand, Turin) und

dem unterentwickelten Süden (Mezzo-

giorno) etablieren konnte. Die in dieser

Region liegenden Industriedistrikte ha-

ben sich als ideale Brutstätten für junge

Unternehmen erwiesen, weswegen die

Arbeitslosigkeit in Richtung natürliche

Arbeitslosenquote (2-3 %) tendiert, das

Einkommensniveau der Bevölkerung

hoch und die Verschuldung der Kommu-

nen vergleichsweise sehr gering ist.

Was aber nun ist so interessant am

Phänomen „Drittes Italien“? Fünf Beob-

achtungen sind aus innovationslo-

gischer Sicht besonders von Bedeutung:

Erstens, Wachstum wurde ohne Kapi-

talinfusion realisiert. Der rasante wirt-

schaftliche Aufstieg dieser Region nach

dem Krieg ist nicht auf massive Kapital-

infusionen von außen zurückzuführen.

Eher das Gegenteil war der Fall. Auf-

grund der Tatsache, dass die Lokalregie-

rungen zumeist kommunistisch, die ver-

schiedenen Zentralregierungen in Rom

hingegen bis Anfang der neunziger

Jahre fast durchgängig christdemo-

kratisch waren, wurde den Regionen des

„Dritten Italien“ systematisch der Geld-

hahn zugedreht. Fördergelder flossen

statt dessen reichhaltig in den Mezzo-

girono, wo es Wählerstimmen zu gewin-

nen galt. Fehlende Förderung von außen

bedeutete aber zwangsläufig, dass

eigene Lösungen gefunden werden

mussten. Der Innovationsdruck war

groß. Ein Grund sicherlich dafür, dass

gerade im „Dritten Italien“ seitens Poli-

tik,Verwaltung, Gewerkschaften und Ar-

beitgeberverbände, Wissenschaft usw.

sehr effektive, besonders auf kleine und

mittlere Unternehmen fokussierende

Innovationsvorleistungen (Serviceleis-

tungen, Kollektivgüter und Produk-

tionsfaktoren wie z.B. qualifiziertes

Jörg Aßmann

58

6. Wachstumsregion „Drittes Italien“:Eine Interpretation aus innovationslogischer Sicht

Page 61: perspektive21 - Heft 21/ 22

Humankapital) erbracht wurden. Es

zeigt sich somit: Inputwachstum auseigener Kraft ist ein erster Erfolgsgarant

dieser Region.

Zweitens, auch ohne Spezialisierung

auf High-Tech ist wirtschaftliche Pros-

perität möglich. Im Gegensatz zu Silicon

Valley oder anderen Wachstumsregio-

nen der Welt (Boston Route 128, Mün-

chen Martinsried, Cambridge) beruht

der Erfolg nicht auf hochtechnolo-

gischen Produkten oder auf dem Wirken

von „global playern“. Vielmehr zeichnet

sich das „Dritte Italien“ durch seine Spe-

zialisierung auf „etablierte“ Produkte

aus, die aber das nachhaltige Potential

für „kleinere“ (inkrementale) Innova-

tionen in sich tragen (z.B. Keramik,

Schuhe, Textilien, Maschinenbau, etc.).

Drittens,Wachstum wurde durch „kol-

lektive Effizienz und Effektivität“ er-

möglicht. In Anbetracht der überwäl-

tigenden Dominanz von teilweise

extrem kleinen Unternehmen im Wert-

schöpfungsprozess und der gleichzei-

tigen Spezialisierung auf „etablierte“

Branchen stellt sich im Hinblick auf die

Lohnkostenvorteile von Schwellenlän-

dern die berechtigte Frage nach den

eigentlichen Wurzeln des Erfolgs. Ein-

hellige Meinung unter Wissenschaft-

lern ist, dass der wirtschaftliche Erfolg

der industriellen Distrikte nicht über die

Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unter-

nehmen erklärt werden kann. Vielmehr

gründet er auf der räumlichen Verdich-tung kleiner und mittlerer Unterneh-

men sowie der zwischen diesen beste-

henden wettbewerblichen und vor

allem kooperativen Beziehungsmuster.

Insbesondere dieser „blend between

competition and cooperation“ (Brusco

1982, S. 169) verleiht industriellen

Distrikten insgesamt ein großes Maß an

Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Inno-

vationsdynamik und damit an kollek-

tiver Effizienz und Effektivität. Damit

aber werden institutionelle Kontext-innovationen zu einem weiteren Er-

folgsfaktor im „Dritten Italien“.

Viertens, regionales Wachstum ist

ohne institutionelles und Netzwerkun-

ternehmertum undenkbar. Die zuvor

für so wichtig befundenen institutio-

nellen Kontextinnovationen implizie-

ren, dass institutionelles und Netz-

werkunternehmertum im „Dritten Ita-

lien“ (genauso übrigens wie in allen

anderen Wachstumsregionen der Welt)

eine Schlüsselrolle gespielt haben müs-

sen. Ohne dies an dieser Stelle nach-

weisen zu können (siehe dazu Aßmann

2003, Kap. 4 bis 6), offenbart sich auch

im „Dritten Italien“ bei genauerer

Betrachtung eine Wachstumskausa-

lität, welche sich gravierend von der

Aussage des Systemansatzes der Inno-

vation unterscheidet: Nicht innova-

tionsfördernde institutionelle Struktu-

ren, sondern die Fähigkeit lokaler

Das Gespenst des Mezzogiorno

59

Page 62: perspektive21 - Heft 21/ 22

Akteure zur Etablierung, Aufrechterhal-

tung und Weiterentwicklung dersel-

ben, stellt die eigentliche („letzte“)

Ursache regionaler Entwicklung dar.17

Und schließlich, fünftens, wurde

Wachstum auf der Basis autopoietischer

Finanzierungskreisläufe realisiert. Inno-

vations- und Gründungsfinanzierung

stellt aufgrund der bekannten Risiko-

problematik in vielen Regionen ein

großes Problem dar. Nicht so im „Dritten

Italien“ und anderen Wachstumsregio-

nen der Welt. Diese Regionen zeichnen

sich dadurch aus, dass finanzinstitutio-

nelle Gegebenheiten existieren, die

Innovatoren den dringend benötigten

Zugang zu Finanzkapital ermöglichen.

Von einem autopoietischen Finanz-

ierungskreislauf lässt sich dabei aus

zweierlei Gründen sprechen: Erstens,

derartige finanzinstitutionelle Bedin-

gungen sind Ergebnis des Handelns von

(zumeist lokalen) schöpferischen Fin-

anzunternehmern. Zweitens, es zeigt

sich nicht nur in den industriellen

Distrikten, sondern in allen Wachstums-

regionen der Welt, dass das Innovatoren

zur Verfügung gestellte Finanzkapital

zum überwiegenden Teil in diesen

Regionen selbst „gesourct“ wird, also

nicht von außen hineinströmt.18

Die Ausführungen zum Erfolgsfall

„Drittes Italien“ haben gezeigt, dass es

durchaus einen Wachstumspfad jenseitsexterner Kapitalinfusion und High-Techgibt. Um diesen Weg allerdings gehen zu

können, bedarf es lokaler schöpferischer

Unternehmer in allen gesellschaftlichen

Subsystemen (Wirtschaft, Politik, Finan-

zierung, Verwaltung und Wissenschaft),

die durch ihre Aktivitäten eine sich selbst

tragende Innovationsdynamik in Gang

setzen und aufrechterhalten. Diesen auf

vielen Schultern verteilten regionalen

Innovations- und Entwicklungsprozess

zu induzieren, ist zentrale Aufgabe regio-

naler Strukturförderung. Wie regionale

Strukturförderung in Ostdeutschland

zukünftig ausgerichtet sein muss, um

den Selbstorganisationsprozess regiona-

len Wirtschaftswachstums auf die

Sprünge zu helfen, ist Thema des näch-

sten und zugleich letzten Abschnittes

dieses Beitrags.

Jörg Aßmann

60

17 So zeigt sich am Beispiel des von vielen rückständigen Regionen herbeigesehnten institutionellen Phänomens„regionales Innovationsnetzwerk“, dass dieses nicht wie „Manna vom Himmel fällt“, sondern immer nur dort ent-stehen kann, wo a) ein aus Innovationsaktivitäten resultierender Bedarf an Vernetzung besteht und gleichzeitig b)Akteure über die erforderlichen unternehmerischen Kompetenzen verfügen, um enge und vertrauensvolle Netz-werkbeziehungen aufzubauen. Was ist die Lehre daraus: Nicht Netzwerke bedingen Innovationen, sondern Innova-tionen bedingen Netzwerke.

18 Besonders deutlich wird dies bei einer genaueren Betrachtung der Bedeutung von Venture Capital für den Wachs-tumserfolg im Silicon Valley: In den 80er und 90er Jahren wurden fast 90% des weltweiten Venture Capitals anUnternehmen in Silicon Valley vergeben, wobei ca. 90% der investierten Mittel aus der Region selbst stammten.

Page 63: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die überaus ernüchternde Zwischen-

bilanz zum Thema „Aufbau Ost“, die

die Expertengruppe um Klaus von

Dohnanyi gezogen hat, führte bereits

zu einer Reihe von wirtschaftspoli-

tischen Vorschlägen, um die Effekti-

vität und Effizienz in der Förderung der

Neuen Länder maßgeblich zu erhöhen.

Es ist jedoch fraglich, inwieweit die bis-

lang unterbreiteten Vorschläge dem

geäußerten Anspruch auf einen radi-

kalen Kurswechsel in der Förderpolitik

Ostdeutschlands tatsächlich gerecht

werden. Zweifel sind angebracht, denn

der verabschiedete Solidarpakt II mit

einem Fördervolumen von 156 Mrd. €,

die geforderte Errichtung einer

Sonderwirtschaftszone mit niedrigen

Steuersätzen, die angestrebte ziel-

genaue Förderung von Industriean-

siedlungen, die vorgeschlagene Um-

widmung von Infrastrukturmittel auf

wachstumsrelevante Investitionen

oder auch die Forderung nach mehr

Investitionen in wirtschaftsnahe For-

schung lassen deutlich erkennen, dass

die Inputlogik nach wie vor das

wirtschaftspolitische Denken aller

politischen Parteien dominiert .19

Wodurch aber zeichnet sich ein alter-

natives, der Innovationslogik des

Wachstums folgendes regionales För-

derkonzept für die Neuen Länder aus?

Eine schnelle und einfache Antwort

darauf zu geben ist an dieser Stelle

nicht möglich. Dies deswegen, weil es

im Gegensatz zur Inputlogik kein

Patentrezept (ein Mehr an Input führt

zwangsläufig zu einem Mehr an Out-

put) gibt, sondern in jeder ostdeutschen

Region und Kommune eigene Antwor-

ten auf teilweise sehr individuelle, an

den konkreten Ort gebundene Problem-

lagen gefunden werden müssen. Es gilt

also bei der Formulierung einer in-

novationslogischen Förderstrategie den

Grundsatz zu berücksichtigen, dass

effektive Innovationsförderung selbst

eine hoch innovative Angelegenheit

darstellt. Begreift man aber Innova-

tionsförderung als unternehmerische

Leistung, dann ist es zumindest mög-

lich, einige grundlegende Prinzipien zu

formulieren, denen eine „innovationslo-

Das Gespenst des Mezzogiorno

61

7. Endogene Entwicklung von Regionen:Strukturförderung in Ostdeutschland aus innovationslogischer Sicht

19 Aber auch andere Vorschläge lassen keinen wirklich neuen Denkansatz erkennen. Die Konzentration der Wirtschafts-förderung auf so genannte „Wachstumskerne“ (ein in der Wirtschaftsgeographie seit langem bekanntes, aber fürwirtschaftspolitisches Handeln bislang wenig hilfreiches Konzept) stellt genauso wenig die Inputlogik in Frage wiebspw. die vorgeschlagenen Lohnkostenzuschüsse im Niedriglohnsektor, die längerfristige Steuerbefreiung von Unter-nehmen für garantierte Arbeitsplätze oder die Nutzung von Liegenschaften des Bundes zur Firmenansiedlung. Undschließlich: Auch die Forderung, Aufbau-Milliarden nicht mehr für Toilettenhäuschen mit Reetdach, Spaßbäder, Rad-wege oder für granitbelegte Bahnsteige (Der Spiegel 2004a), sondern für „handfeste Industrieansiedlungen“ zu ver-wenden, kritisiert weniger die inputlogische Förderpolitik an sich als vielmehr die Ineffizienz ihrer Umsetzung.

Page 64: perspektive21 - Heft 21/ 22

gische Ostförderung“ zu gehorchen hat.

Dieser Beitrag schließt mit der näheren

Erläuterung dieser vier Prinzipien und

deren auf die Problemlage Ostdeutsch-

lands. Auf diesem Wege zeichnet sich

zumindest in Umrissen das Bild einerneuen Förderstrategie, die sich nachhal-

tig von der bisherigen unterscheidet.

a.Prinzip der endogenen FörderungWird regionale Innovations- und Ent-

wicklungsdynamik als ein sich selbst

organisierender Prozess gedeutet,

dann muss regionale Strukturpolitik

immer in der Region selbst erfolgen.

Wenn zudem davon auszugehen ist,

dass eine innovationsorientierte regio-

nale Strukturpolitik einer autopoieti-

schen Logik zu gehorchen hat („Inno-

vatoren produzieren Innovatoren“ bzw.

„Innovationsförderung ist selbst un-

ternehmerisch“), dann lässt sich auf

einer „höheren“ Ebene doch noch eine

Möglichkeit zur Fremdsteuerung von

regionalen Selbstorganisationsprozes-

sen identifizieren: Strukturpolitik in

Ostdeutschland muss bei den poli-

tisch-handlungsrechtlichen Unterneh-

mern „vor Ort“ die Bereitschaft und

Fähigkeit zur effektiven Förderung

regionalen schöpferischen Unterneh-

mertums erhöhen. Es gilt also die poli-

tisch-handlungsrechtlichen Akteure

durch wirtschaftspolitische Weichen-

stellungen einem größeren Innovati-

onsdruck auszusetzen, sie also stärker

als bislang für erfolgreiche/wenig

erfolgreiche Innovationsförderung zu

belohnen bzw. zu bestrafen.20

Im vollen Gegensatz zum derzeit

praktizierten Kapitalfundamentalis-

mus ist es dem Prinzip der endogenen

Förderung zufolge zwingend erforder-

lich, (zumindest schrittweise) die der-

zeit sehr umfangreichen Transfer-

leistungen zwischen West und Ost

zurückzufahren, um bei gleichzeitig

stärkerer finanzpolitischer Verantwor-

tung der Kommunen und Regionen den

institutionellen Wettbewerb zwischen

Gebietskörperschaften und damit die

Suche nach eigenen Problemlösungen

zu intensivieren. Nur dadurch wird

gewährleistet, dass ostdeutsche Regio-

nen und Kommunen eigene effektive

Förderansätze für regionale Innova-

tions- und Entwicklungsprozesse fin-

den. Um es nochmals zu betonen: Das

Prinzip der endogenen Förderung pro-

pagiert eine völlige Abkehr vom Kapi-

talfundamentalismus. Schade nur, dass

ein solch einschneidender Richtungs-

wechsel im „Aufbau Ost“ politisch nicht

durchsetzungsfähig sein dürfte. Wenn

er dennoch kommt, dann ist das der

desolaten Finanzlage des Bundes, der

Jörg Aßmann

62

20 Dies entspricht einem Plädoyer für die möglichst weitgehende Abkehr direkter regionalpolitischer Einflussnahmedurch Akteure, die nicht dem regionalen Innovationssystem angehören, zugunsten einer indirekten „Steuerung“bzw. Förderung von lokalen politischen Akteuren.

Page 65: perspektive21 - Heft 21/ 22

Länder und Kommunen sowie die EU-

Osterweiterung, die zu einer Umlen-

kung der vorhandenen Mittel in die

noch ärmeren neuen Beitrittsländer

führen wird, zu verdanken.

b. Prinzip der selektiven FörderungEin zweites, autopoietische Wirt-

schaftspolitik leitendes Prinzip ist das

der selektiven Förderung. Es ist aus

entwicklungstheoretischer Sicht un-

verzichtbar, zwischen verschiedenen

Typen von Unternehmertum und

deren jeweiligen Beiträgen zur Ent-

wicklungsdynamik von Regionen zu

unterscheiden. Wenn davon auszuge-

hen ist, dass Unternehmer nicht gleich

Unternehmer ist, dann bedeutet dies

für eine innovationsorientierte Regio-

nalpolitik folgendes: Sämtliche wirt-

schaftspolitischen Maßnahmen gilt es

dahingehend zu überprüfen, ob sie

tatsächlich schöpferisches Unterneh-

mertum und nicht andere, weniger

entwicklungsrelevante Formen unter-

nehmerischen Verhaltens fördern.

Erforderlich ist also eine eindeutige

Konzentration regionalpolitischer

Maßnahmen auf die Förderung von

innovativen Unternehmen und Neu-

gründungen. Gerade die fehlende Dif-

ferenzierung unternehmerischen Ver-

haltens zeichnet dafür verantwortlich,

dass „gängige“ Elemente regionaler

Strukturpolitik oft nur diffus, auf die

gesamte unternehmerische Popula-

tion einer Region bezogen „wirken“

und damit sogar kontraproduktive

Effekte auf innovatives Verhalten nach

sich ziehen.

Am deutlichsten wird dies anhand der

stattgefundenen Milliardensubventio-

nen in Form von Investitionszulagen

oder im Rahmen der „Gemeinschafts-

aufgabe zur Verbesserung der regiona-

len Wirtschaftsstruktur“. Das eigentliche

Problem dieser beiden Instrumente ist

aus innovationslogischer Sicht aber

nicht deren Ineffizienz, also der Um-

stand von massenhaften und den Zorn

des westdeutschen Steuerzahlers her-

aufbeschwörenden Fehlinvestitionen im

Osten (siehe dazu Spiegel 2004b), son-

dern die damit zwangsläufig einher-

gehende selektive Förderung von nicht-innovativen Investitionen. Wie ist das zu

erklären? Investitionszulagen und -zu-

schüsse werden zu Recht nur dann aus-

gereicht, wenn die Gesamtfinanzierung

eines Investitionsvorhabens steht. In An-

betracht der Finanzierungsproblematik

innovativer Gründungsvorhaben und

der eindeutigen Präferenz des Banken-

systems für scheinbar „sichere“ Investiti-

ons- und Ansiedlungsvorhaben kann

nicht verwundern, dass von den Förder-

milliarden vornehmlich Routine-Unter-

nehmen, Arbitrageure und zum Teil auch

unproduktive Unternehmer im Sinne

von Baumol (1987) profitiert haben.

Das Gespenst des Mezzogiorno

63

Page 66: perspektive21 - Heft 21/ 22

Ganz ähnlich verhält es sich bei

sämtlichen öffentlichen Darlehenspro-

grammen, die bekanntermaßen nur

über Hausbanken beantragt werden

können und aufgrund von deren Ein-

schätzungsproblematik innovativer In-

vestitionen zu einer Kanalisierung der

Mittel an nicht-innovative Unterneh-

men geführt hat. Aber auch die immer

wieder zu hörende Forderung nach

einer Kostenreduktion des Produktions-

faktors Arbeit, sei es durch eine Flexibi-

lisierung des Arbeitsmarktes, durch

niedrige Tarifabschlüsse oder durch

Senkung der Lohnnebenkosten, ist eine

Förderpolitik, die aus innovationslogi-

scher Sicht deswegen nicht wirklich

überzeugen kann, weil a) davon in

erster Linie diejenigen Unternehmen

profitieren, die in einem Preis- und

Kostenwettbewerb stehen und somit

wenig innovativ sind, b) in Anbetracht

der Osterweiterung der EU das Lohn-

niveau in Ostdeutschland immer wei-

ter gesenkt werden müsste, um die

internationale Wettbewerbsfähigkeit

dauerhaft zu sichern, und weil c) in

langfristiger Sicht hohe Lohnkosten

den „Druck im Innovationskessel“ er-

höhen und damit Unternehmen zu Pro-

duktinnovationen zwingen würden.

Es zeigt sich somit: Regionale Struk-

turförderung in Ostdeutschland folgt

zwar dem Prinzip der selektiven Förde-

rung, hat dabei aber die „falschen“

Unternehmertypen im Fokus vieler

Maßnahmen. Wenn aber schöpferische

Unternehmer die eigentlichen Träger

der regionalen Innovations- und Ent-

wicklungsdynamik sind, dann könnte

bereits das „Rückgängigmachen“ be-

stehender Maßnahmen als indirekte

Förderung schöpferischen Unterneh-

mertums angesehen werden. Damit

liegt allerdings noch keine „positive

Ausformulierung“ von Strategien und

Maßnahmen vor, die explizit auf die

Förderung schöpferischen Unterneh-

mertums abzielen. Um hier weiter zu

kommen, ist eine regionale Theorie

schöpferischen Unternehmerverhal-

tens erforderlich, auf die an dieser

Stelle aber nicht mehr eingegangen

werden kann.

c. Prinzip der ganzheitlichen FörderungEntsprechend der Überlegungen zur

autopoietischen Operationsweise re-

gionaler Innovationssysteme sind re-

gionale Entwicklungsprozesse das Er-

gebnis von Co-Innovationsprozessen

verschiedener Typen schöpferischenUnternehmertums. Ohne das Zusam-

menspiel realwirtschaftlichen, finanzi-

ellen, wissenschaftlichen oder auch

politisch-administrativen Unterneh-

mertums kommt kein endogenes Wirt-

schaftswachstum zustande. Folglich

muss es der regionalen Strukturpolitik

in Ostdeutschland auch um eine ganz-

Jörg Aßmann

64

Page 67: perspektive21 - Heft 21/ 22

heitliche Förderung lokalen Unterneh-

mertums gehen, wenn sie in Zukunft

erfolgreicher sein will. Nicht mehr

alleine investive Maßnahmen gilt es zu

fördern, sondern vor allem auch finan-

zielle und institutionelle Innovationen.

Im Hinblick auf politisch-administra-

tives Unternehmertum muss dafür

gesorgt werden, dass politischer Erfolg

sich nicht mehr am Umfang der wider-

fahrenen öffentlichen Förderung ohne

Berücksichtigung der konkreten Pro-

jektinhalte definiert. Neben der Ver-

ringerung der Kapitalinfusion ist die

Einführung von Wettbewerbsföderalis-

mus mit Sicherheit ein probates Mittel,

um die Innovationsdynamik im poli-

tisch-handlungsrechtlichem System zu

erhöhen und dadurch die Qualität des

Angebots an „öffentlichen Innova-

tionsvorleistungen“ zu verbessern. In

Anbetracht der eklatanten Schwierig-

keiten von Banken, Förderbanken und

auch formellen Beteiligungsgesell-

schaften, im Zuge der „early stage-

Finanzierung“ von innovativen Grün-

dungsvorhaben eine zentrale Rolle zu

spielen, ist nach angelsächsischen Vor-

bild etwa durch Änderungen in der

Steuergesetzgebung dafür zu sorgen,

dass Privatinvestoren sich dieses The-

mas auch in Deutschland verstärkt

annehmen und damit ihren Beitrag zur

Innovationsdynamik zu leisten vermö-

gen.21 Und schließlich gilt es auch die

Wachstumspotentiale des Wissen-

schaftssystems (nicht nur im Osten!)

zur vollen Entfaltung kommen zu las-

sen. Aber bitte nur nicht auf inputlo-

gischem Wege, denn auch die Trans-

formation in eine unternehmerische,

also gegenüber Innovationshandeln

offenen Universität lässt sich nicht

durch zusätzliche Inputs, sondern nur

durch die Entfaltung unternehme-

rischer Initiative innerhalb von Univer-

sitäten erreichen.

d.Prinzip der unternehmerischenKompetenzförderungAufgrund dessen, dass unternehme-

rische Kompetenz unverzichtbar ist, um

Zutritt zum autopoietisch-operierenden

regionalen Innovationssystem zu er-

langen (Kompetenz als „Eintrittskarte

ins Innovationssystem“), und folglich als

zentrale, für die Entwicklung regionaler

Innovationssysteme unverzichtbare En-

ergiequelle fungiert, repräsentiert unter-

nehmerische Kompetenzförderung ein

viertes grundlegendes Prinzip autopoie-

tischer Wirtschaftspolitik.Viel gäbe es zu

diesem Thema sagen (siehe dazu aber

ausführlich Röpke 2002), besonders

Das Gespenst des Mezzogiorno

65

21 Die immens wichtige Rolle, die Business Angels in der Frühphasenfinanzierung von innovativen Neugründungenund damit für wirtschaftliches Wachstum in Ländern wie den USA, England oder auch Finnland spielen (siehe zurRelevanz privaten Investitionskapitals Aßmann 2003, S. 269ff), hat auch damit etwas zu tun, dass dort Investitionenin junge Firmen steuerlich wesentlich besser behandelt werden als es in Deutschland der Fall ist.

Page 68: perspektive21 - Heft 21/ 22

wichtig aber erscheint eines: Da unter-

nehmerische Kompetenz weit mehr um-

fasst als reines, etwa im Studium oder in

einer anderen Berufsausbildung zu er-

werbendes Fachwissen, ist es dringend

erforderlich, in jedweder Ausbildung den

Fokus verstärkt auf die Vermittlung von

solchen Schlüsselqualifikationen zu

legen, die für die erfolgreiche Umset-

zung neuen Wissens und neuer Ideen

unverzichtbar sind (etwa Lern- und Sozi-

alkompetenz, Empathie, Kommuni-

kationsfähigkeit, Vision, Fähigkeit zur

Selbstwahrnehmung, etc.). Wenn hier

keine Umorientierung stattfindet, wird

Deutschland insgesamt, besonders aber

auch Ostdeutschland, dauerhaft im in-

ternationalen Innovationswettbewerb

hinterherhinken bzw. keine Rolle spielen.

Welches Entwicklungsszenario wartet

nun also auf Ostdeutschland? Die Aus-

führungen haben deutlich gemacht,

dass das Wirksamwerden des „Münch-

hausen-Effekts“, so wie er vom innova-

tionslogischen Wachstumsparadigma

auch für Ostdeutschland nahe gelegt

wird, in erheblichen Maße von der prak-

tizierten Förderstrategie abhängt. Nur

wenn es gelingt, die endogenen Innova-

tionskräfte zur Entfaltung kommen zu

lassen, wird sich Deutschland einen

zweiten Mezzogiorno ersparen können.

Dass das Freisetzen dieser Kräfte – wie

zuvor gezeigt wurde – eher durch

förderpolitische Bescheidenheit denn

durch Prasserei zu erreichen ist, lässt in

Anbetracht zunehmend leerer öffent-

licher Kassen für die Zukunft hoffen.

Jörg Aßmann

66

Jörg AßmannDiplom-Volkswirt,

promovierte zum Thema „Innovationslogik und regionales Wirtschaftswachstum:

Theorie und Empirie autopoietischer Innovationsdynamik“.

Referent für Existenzgründung und Innovationsförderung

bei der Wirtschafts- und Innovationsförderung Salzgitter GmbH.

Page 69: perspektive21 - Heft 21/ 22

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Das Gespenst des Mezzogiorno

69

Page 72: perspektive21 - Heft 21/ 22
Page 73: perspektive21 - Heft 21/ 22

Schatten und Licht, Abschwung und

Aufschwung, schrumpfende und wach-

sende Wirtschaft liegen im Land Bran-

denburg dicht beieinander. Die Entwick-

lung ist nicht frei von Widersprüchen

und schon gar nicht folgt sie einem

Modell traditioneller Wirtschaftstheorie.

Wie in den anderen ostdeutschen Bun-

desländern auch, generierten Milliar-

denbeträge aus Fördertöpfen der Euro-

päischen Union (EU) und des Bundes

oder gar ein vermeintlicher Standortvor-

teil niedriger Löhne eine insgesamt nur

unzureichende Wirtschaftskraft.

Schaut man sich einzelne Regionen

und Branchen an, ist schnell zu erken-

nen, dass die Wirtschaftspolitik des Lan-

des in den zurückliegenden dreizehn

Jahren mit Erfolgen und Misserfolgen

aufwartet. In den wirtschaftlich schwa-

chen Regionen läuft die „Abstimmung

mit den Füßen“ wieder auf Hochtouren.

Brandenburgerinnen und Brandenbur-

ger verlassen ihr Land und ziehen den

Ausbildungs- und Arbeitsplätzen hinter-

her. Zukunft bedeutet so vor allem für

die Jüngeren wieder zunehmend ein

Stück weit das Aufgeben von Herkunft.

Umso schwerer wiegen in Zeiten von

Rekordarbeitslosigkeit und angespann-

ter Haushaltslage Fehlentscheidungen

in der Wirtschaftsförderung. Das gilt für

die falsche Einschätzung über Förder-

fähigkeit eines Investitionsvorhabens

und die daraus resultierende Ver-

schwendung knapper öffentlicher Mit-

tel. Schwer wiegt jedoch auch die Nicht-

verfügbarkeit verlorener Gelder für

andere, Erfolg versprechende Projekte

oder für Investitionsvorhaben, die heute

(noch) in keine Förderrichtlinie passen.

Arbeitsmarkt-, Investitions- und In-

novationsförderung gehören auf den

Prüfstand – wie von führenden Wirt-

schaftsforschungsinstituten längst ge-

fordert. Alle Förderinstrumente müssen

„Das Vergangene können wir nicht zurückrufen; über die Zukunft sind wir eherMeister, wenn wir klug und gut sind.“ Johann Wolfgang von Goethe

71

Wirtschaftspolitik in BrandenburgProbleme und Perspektiven

Von Esther Schröder

1. Einleitung

Page 74: perspektive21 - Heft 21/ 22

auf Zielgenauigkeit und Wirksamkeit

überprüft werden und dies nicht nur

durch die extern verordnete Halbzeit-

bilanz der EU-Förderperiode. Nein, in

Landesverantwortung selbst muss

gehandelt werden. Wir müssen das

Bedürfnis entwickeln, den Sinn und

Unsinn jeder einzelnen Förderrichtlinie

und der darin enthaltenen Kriterien zu

hinterfragen. Eröffnen sie Spielräume

zur Gestaltung eigener, landesbezo-

gener Rahmenbedingungen, die auf die

Möglichkeiten und Erfordernisse staat-

licher Eingriffe zugeschnitten sind?

Ausgehend von diesen Überlegun-

gen seien den nachfolgenden Aus-

führungen zehn Thesen vorangestellt.

These 1:Trotz wachsender Arbeitslosigkeit

und schrumpfender Wirtschaft, trotz

geringer Finanzkraft öffentlicher Haus-

halte leben wir in Brandenburg auf

einem hohen Wohlstandsniveau. Die-

ses basiert jedoch nur zur Hälfte auf

eigener Kraft. Ohne die hohen Transfer-

zahlungen der Europäischen Union, des

Bundes und der westdeutschen Länder

ließe sich dieser Lebensstandard in

Brandenburg nicht aufrechterhalten.

These 2:Die Innovationskraft der Branden-

burger Wirtschaft ist bis heute noch

immer zu gering, um das Leistungs-

bilanzdefizit des Landes zu verringern,

geschweige denn durch Überschüsse

aufzuheben. Das heißt: wir sind bis

heute in Brandenburg noch immer

nicht in der Lage mehr zu produzieren,

als wir im Land verbrauchen.

These 3:Unser noch immer relativ hohes

Wohlstandsniveau wird in den kom-

menden Jahren sinken, wenn es uns

nicht gelingt, die Wirtschaftskraft aus

den vorhandenen landeseigenen Po-

tenzialen heraus zu entwickeln und

durch neue Produkt- und Prozessinno-

vationen erheblich zu stärken.

These 4:Die Wirtschaftspolitik des Landes hat

– trotz Subventionen in Milliardenhöhe

– in den zurückliegenden Jahren in zu

geringem Maße Innovationen in der

Wirtschaft befördert. Zu einem großen

Teil flossen Fördermittel in innovations-

arme Wirtschaftsstrukturen. Produkt-

und Prozessinnovationen sind in der

Brandenburger Wirtschaft – bei posi-

tiven Ausnahmen – bis heute nicht vor-

herrschend. Die Entwicklung einer for-

schungsintensiven Industrie steckt in

Brandenburg in den Anfängen.

These 5:Hohe Wachstumsraten sind heute

vornehmlich über die Entwicklung for-

Esther Schröder

72

Page 75: perspektive21 - Heft 21/ 22

schungsintensiver Industrien zu er-

reichen. Die Entwicklung innovati-

onsorientierter Unternehmen ist in

Brandenburg – trotz positiver Wachs-

tumskerne – noch nicht ausreichend.

Wir brauchen erheblich mehr Unter-

nehmensgründungen im Bereich der

Spitzentechnologien.

These 6:Wirtschaftspolitik kann in den kom-

menden Jahren nur dann Rahmen-

bedingungen als Basis für regionales

Wirtschaftswachstum setzen, wenn

sie sich in der gesamten Breite auf die

wirkungsvolle Umsetzung von Innova-

tionen in Markterfolge orientiert. Effi-

zienz, Zielgenauigkeit und Wirksam-

keit von Wirtschaftsförderung ist

daher stärker an der Innovationsfähig-

keit und an den Innovationsergebnis-

sen geförderter Wirtschaftsprojekte zu

messen. Wirtschaftsförderung ohne

Beachtung des Innovationsaspektes ist

reine Geldverschwendung.

These 7:Bildung und Ausbildung, Wissen-

schaft und Forschung sind unverzicht-

bare Standortfaktoren für regionales

Wirtschaftswachstum auf der Grund-

lage von Innovationen. Sie müssen zur

Erweiterung des vorhandenen Wissens

und für die Entwicklung neuer Anwen-

dungen, verbesserter Produkte und

Dienstleistungen, Produktionsprozesse

oder Fertigungsverfahren beitragen.

These 8:Die Wirtschaftspolitik des Landes

war in den zurückliegenden Jahren zu

wenig auf landesweit spürbare In-

novationsergebnisse ausgerichtet, zu

wenig auf Effizienz, Zielgenauigkeit

und Wirksamkeit. Schaffung und Er-

halt von Arbeitsplätzen verkommen

als zentrale Zielstellungen ohne Be-

achtung wirtschaftlicher Innovation

mehr und mehr zur Etikette einer Kli-

entelpolitik.

These 9:Wirtschaftsförderung in Branden-

burg entzieht sich zunehmend einer

volkswirtschaftlichen Sicht. Fehlallo-

kationen und Rationalisierungseffekte

werden von der Politik bei der Berech-

nung von Arbeitsmarkteffekten durch

Wirtschaftsförderung vernachlässigt.

Vor allem mangelt es an einer Stra-

tegie, an denen Förderprogramme,

Landesrichtlinien sowie regions- und

branchenspezifische Subventionen neu

auszurichten sind.

These 10:Die Neuausrichtung von Wirt-

schaftspolitik beginnt mit der Einsicht,

dass Wirtschaftsförderung nach dem

„Gießkannenprinzip“ ein untaugliches

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

73

Page 76: perspektive21 - Heft 21/ 22

Instrument für die Zukunftsgestaltung

in Brandenburg ist. Unabdingbare Vor-

aussetzung einer Wirtschaftspolitik

neuen Typs, die sich auf Schwerpunkte

konzentriert, ist eine nach Regionen

gegliederte umfassende ehrliche IST-

Analyse vorhandener und förderfä-

higer Potenziale im Land.

(i) ArbeitDer Brandenburger Adler, der sich

Anfang der neunziger Jahre so stolz in

die Lüfte schwang, befindet sich im

Sinkflug und droht abzustürzen, wenn

es keinen Auftrieb gibt. Die wirtschaft-

liche Entwicklung im Bundesland

Brandenburg trägt nicht – insbeson-

dere leistet sie keinen spürbaren Bei-

trag zum Abbau der Arbeitslosigkeit.

Im Jahr 2003 verzeichneten wir im

Land die höchste Arbeitslosigkeit seit

der deutschen Wiedervereinigung. Am

Ausmaß der Arbeitslosenzahl muss

sich aber letztlich Erfolg oder Misser-

folg von Wirtschaftspolitik messen las-

sen – dies ist und bleibt der entschei-

dende Erfolgsindikator.

Bei den Brandenburger Arbeits-

ämtern wurden 2003 im Jahresdurch-

schnitt 252.918 Arbeitslose registriert,

6,4 % mehr als im bisherigen Branden-

burger Rekordjahr 2003 (237.831) und

16 % mehr als 1997, dem bundesdeut-

schen Rekordjahr (218.148).1 Nimmt

man das Bundes-Negativ-Rekordjahr

1997 als Basis und vergleicht damit die

Situation 2003, dann ist festzustellen,

dass in zehn Ländern weniger und in

sechs Ländern mehr Arbeitslose regis-

triert wurden. Bei diesen sechs Län-

dern mit negativer Entwicklung han-

delt es sich neben Brandenburg um

Bayern, Schleswig-Holstein, Sachsen,

Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.

Auch die Struktur der Arbeitslosigkeit

hat sich seit 1997 verändert. In Bran-

denburg waren vom Anstieg der

Arbeitslosigkeit Männer stärker betrof-

fen als Frauen – in keinem der anderen

fünfzehn Bundesländer stieg die Zahl

arbeitsloser Männer so stark wie in

Brandenburg. Dagegen nahm die Zahl

arbeitsloser Brandenburgerinnen leicht

ab. Seit 2003 liegt der Frauenanteil

nicht mehr über dem Männeranteil.

Deutlich über dem Schnitt der ost-

deutschen Länder liegt die Zunahme

der Zahl jugendlicher Arbeitsloser.

Trotz hoher Abwanderung junger

Esther Schröder

74

2. Arbeit, Wirtschaft, Finanzen – wo stehen wir?

1 Vgl. laufende Monatsstatistiken „Presseinformationen zum Arbeitsmarkt“ der Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirek-tion Berlin-Brandenburg sowie Analysen des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V.

Page 77: perspektive21 - Heft 21/ 22

Menschen stieg die Zahl Arbeitsloser

unter 25 Jahren um 41 %. Dagegen liegt

Brandenburg bei der Abnahme der

Arbeitslosigkeit von Älteren ab 55 Jah-

ren leicht über dem Durchschnitt der

ostdeutschen Länder. Dass Arbeitslo-

sigkeit aber in Brandenburg zuneh-

mend ein Problem der mittleren

Altersgruppen ist, zeigt der starke An-

stieg der Zahl Arbeitsloser unter 55

Jahren, in Brandenburg um 31,1 %.

Sowohl die Absolutzahlen, als auch der

Anteil von Langzeitarbeitslosen unter

den Arbeitslosen, der die 40 %-Marke

längst überschritten hat, zeigen auch

den besorgniserregenden Anstieg der

Langzeitarbeitslosigkeit .2 Arbeitsbe-

schaffungsmaßnahmen (ABM) trugen

in den letzten Jahren auch im Land

Brandenburg immer weniger zur Ent-

lastung bei, die Rückführung von

Beschäftigung am zweiten Arbeits-

markt erfolgte in Brandenburg jedoch

weniger stark als in anderen Ländern

Ostdeutschlands.

Wenn wir über Langzeitarbeitslosig-

keit, also dauerhafte Ausgrenzung vom

Arbeitsmarkt und Beschäftigungs-

system reden, dann reden wir immer

häufiger von Menschen, die über meh-

rere Jahre hinweg ununterbrochen

erwerbslos und Arbeit suchend sind,

zum Teil seit 1990. Oder wir reden von

so genannten Maßnahmekarrieren,

Biographien, die über Jahre durch meh-

rere Phasen der Arbeitslosigkeit sowie

Phasen von beruflicher Fortbildung,

Umschulung und öffentlich geförder-

ter Beschäftigung ohne die erhoffte

(Wieder-) Eingliederung in den ersten

Arbeitsmarkt gekennzeichnet waren.

Diese Entwicklungen ziehen andere

Entwicklungen nach sich, die auch in

Brandenburg nicht mehr zu übersehen

sind: Anstieg von privater Verschul-

dung, Kinderarmut, Altersarmut .3

Diese hier exemplarisch benannten

Negativtendenzen wachsen sich zu

großen beschäftigungs-, sozial- und

finanzpolitischen Problemen aus, die

nur mit wirtschaftlichem Aufschwung

und einer beschäftigungswirksamen

Wirtschaftsförderung zu lösen sind.

(ii) WirtschaftDie beste Arbeitsmarkt-, Sozial- und

Finanzpolitik können nicht richten, was

unzureichende Wirtschaftsentwicklung

und verfehlte Wirtschaftspolitik anrich-

ten. Zwar ist auch die Brandenburger

Arbeitsmarktbilanz dem wirtschaft-

lichen Konjunkturverlauf in Deutsch-

land und der allgemeinen Strukturkrise

in Ostdeutschland geschuldet. Sie ist

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

75

2 Offizielle Definition „Langzeitarbeitslose“: Zahl der Arbeitslosen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits länger alsein Jahr arbeitslos sind.

3 Vgl. aktuellen Sozialbericht des Brandenburger Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen (MASGF) „Sozi-alpolitik im Überblick 2003“.

Page 78: perspektive21 - Heft 21/ 22

aber auch hausgemacht, nicht zuletzt

durch eine verfehlte und ineffiziente

Landeswirtschaftspolitik in den letzten

fünf Jahren. In der öffentlichen Wahr-

nehmung richtete sich diese vor-

dergründig auf Prestigeprojekte, die

fehlschlugen, weil die Konzepte wirt-

schaftlich und finanziell nicht tragfähig

waren und sich wirtschaftspolitisches

Wunschdenken über jede Wirtschafts-

logik hinwegsetzte.

Böses Erwachen ereilte Ende des Jah-

res 2003 eine Region, ein ganzes Land

nach dem Scheitern des Projektes einer

Chipfabrik in Frankfurt (Oder), nicht

nur, weil hier öffentliche Fördergelder

in Höhe von etwa 100 Millionen € in

den märkischen Sand gesetzt wurden,

sondern weil Brandenburg mit diesem

Scheitern eines weiteren Großprojektes

bundesweit zum Aushängeschild für

gescheiterte Wirtschaftspolitik per se

avanciert. Noch ist nicht ausgemacht,

wodurch dem Land Brandenburg ein

höherer Schaden entsteht: durch die

immensen wirtschaftspolitischen Fehl-

entscheidungen in der Vergangenheit

oder durch den negativen Ruf, der wie

ein Klotz am Bein hängt und in Zukunft

seriöse Ansiedlungsprojekte von vorn-

herein verhindern könnte.

Doch zunächst zu den Fakten:

Hier gibt es widersprüchliche Ein-

schätzungen. Die aktuelle Entwicklung

des Bruttoinlandsprodukts (BIP) scheint

das Negativimage Brandenburgs zu

bestätigen. Die brandenburgische Wirt-

schaft schrumpft, wie in den Vorjahren

auch. Laut Angaben des „Arbeitskreises

Volkswirtschaftliche Gesamtrechnun-

gen der Länder“ sank das BIP 2003 preis-

bereinigt zum Vorjahr um 0,7 %. Der

Wert der wirtschaftlichen Gesamtleis-

tung lag damit bei rund 41,9 Milliarden

€. Schlechter als Brandenburg stehen

das Saarland mit minus einem und

Mecklenburg-Vorpommern mit minus

1,7 % da.

Mehr Optimismus hinsichtlich einer

in Gang gekommenen Gestaltung des

Strukturwandels in Brandenburg ver-

breitet dagegen die EU-Statistik im

Rahmen jüngster Rechnungen um För-

dergelder aus Brüssel und zur Ein-

ordnung der Fördergebiete nach dem

Jahr 2006. Die Berechnung selbst

basiert auf Daten von 2001. Danach

verzeichnet Brandenburg nach Sachsen

das zweithöchste Bruttoinlandspro-

dukt (BIP) im Vergleich der ost-

deutschen Länder. Nach diesen Daten

rangiert das Land mit 67,0 % des

europäischen Mittelwertes unter den

neuen Bundesländern hinter Sachsen

(67,3), aber vor Thüringen (66,2), Meck-

lenburg-Vorpommern (65,9) und Sach-

sen-Anhalt (65,4). Die Brandenburger

Ergebnisse werden insbesondere durch

die überdurchschnittliche Entwicklung

im Südwesten des Landes bestimmt.

Esther Schröder

76

Page 79: perspektive21 - Heft 21/ 22

Der Südwesten Brandenburgs bildet

neben Sachsen die wirtschaftsstärkste

Region in den ostdeutschen Ländern

mit 79,3 % der durchschnittlichen EU-

Wirtschaftskraft.

Brandenburg wird nach Auffassung

der Wissenschaftler im Ländervergleich

durch seine schwache Wachstumsdyna-

mik zurückgeworfen. Sollte das Land

nicht bald zur wirtschaftlichen Entwick-

lung anderer Länder aufschließen kön-

nen, drohe ein weiteres Zurückfallen im

Standortwettbewerb. „Noch ist es aber

nicht so weit, die Region ist nach wie vor

reich an Chancen, und eine entschlos-

sene Politik kann Brandenburg wieder

aufschließen lassen. Deutlich wahr-

nehmbare Kurskorrekturen,die zu einem

Stimmungsumschwung führen und

eine Aufbruchstimmung entstehen las-

sen, sind hierfür erforderlich.“4 Die poli-

tischen Akteure im Land müssen selbst

Kreativität und Innovation entfalten, um

zielorientierte und machbare Lösungs-

vorschläge anbieten und umsetzen zu

können. Wichtig ist, aus Fehlern der Ver-

gangenheit wirklich Schlüsse im wirt-

schaftspolitischen Denken und Handeln

zu ziehen.

(iii) FinanzenDer demographische Wandel und

seine Auswirkungen auf die gesell-

schaftliche Entwicklung haben für alle

ostdeutschen Länder große Auswir-

kungen. Das hohe Leistungsniveau des

Sozialstaates kann unter den Voraus-

setzungen eines heute schon hohen

und künftig noch wachsenden Anteils

Nichterwerbstätiger an der Bevölke-

rung nicht aufrechterhalten werden.

Die Folge ist, dass die öffentlichen

Haushalte inzwischen chronisch un-

terfinanziert sind und Politik immer

weniger agieren bzw. nur mehr noch

reagieren kann.

Der „Fortschrittsbericht Aufbau Ost“

des Landes Brandenburg, der zuletzt

für das Jahr 2002 vorgelegt wurde, ent-

hielt widersprüchliche Feststellungen

und Angaben. Einerseits hieß es, dass

die empfangenen Mittel den gesetz-

lichen Vorgaben entsprechend veraus-

gabt wurden. Andererseits gingen die

Aufwendungen für Investitionen in

den letzten Jahren kontinuierlich

zurück. Für die „Sonderbedarfs-Bun-

desergänzungszuweisungen“ (SoBez)

ergab sich in der Verwendungsrech-

nung für Brandenburg daher ein nega-

tiver Saldo mit Blick auf eine zweck-

gemäße Verwendung der Gelder.

Wurden laut Bericht bis 2000 jähr-

lich etwa 80 % der SoBez für Investitio-

nen aufgewendet, so waren es 2001

noch 71 %, 2002 noch 42 %. Der nega-

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

774 Vgl. Studie Bertelsmann Stiftung 2003: Länderanalyse Brandenburg (detaillierte Version auf CD-ROM).

Page 80: perspektive21 - Heft 21/ 22

tive Finanzierungssaldo sei durch Ein-

nahmeausfälle bei Steuern und steuer-

induzierten Einnahmen verursacht

worden, hieß es im Bericht. Hieraus

entstand – m.E. zu Unrecht – der Vor-

wurf, Solidarpaktmittel seien anstelle

von Investitionen zum Stopfen der

Haushaltslöcher zweckentfremdet ver-

wendet worden. Der Abbau tei-

lungsbedingter Sonderlasten und der

Ausgleich der kommunalen Finanz-

schwäche sei einer zweckgemäßen

Verwendung jedoch hinzuzurechnen,

erklärte demgegenüber das Finanz-

ministerium völlig korrekt.

Jährlich fließen rund 1,4 Milliarden €

Solidarpakt-Mittel in den 10-Milliarden

Haushalt von Brandenburg. Bis zum Jahr

2019 wird das Land 30 Milliarden € vom

Bund und von den „alten“ Ländern erhal-

ten. Wie das Geld ausgegeben wird, ent-

scheidet zwar die Regierung in Potsdam,

zugleich aber sind die Bundesmittel

zweckgebunden. Mit ihnen sollen Inves-

titionen in die zu DDR-Zeiten vernachläs-

sigte Infrastruktur finanziert werden,

um den Rückstand gegenüber dem Wes-

ten aufzuholen.

Das bereits hoch verschuldete Land

Brandenburg, das jährlich rund 800

Millionen € für Zinsen und Tilgung

zahlt, nimmt zur Zeit Kredite im Um-

fang von mehr als einer Milliarden €

auf, wodurch die Spielräume für Inves-

titionen zukünftig erheblich einge-

schränkt werden. Diese können nur

vergrößert werden, wenn es den Bran-

denburger Unternehmen, Gemeinden,

Städten und Regionen gelingt, in noch

viel stärkerem Maße als bisher Güter

und Dienstleistungen mit dem Ziel zu

„exportieren“.

Es muss im Fazit also klar gesagt wer-

den: Das Wohlstandniveau in Branden-

burg ist derzeit nur über hohe Trans-

ferleistungen der Europäischen Union,

des Bundes und der westdeutschen

Länder zu sichern. Ziel einer aktiven

Wirtschaftspolitik kann und muss es

aber sein, ein hohes Wohlstandsniveau

auf der Basis von Innovationsfähigkeit

der eigenen Wirtschaft zu gründen. Von

diesem Ziel sind wir insgesamt noch

weit entfernt. Es gibt inzwischen aber

auch eine Reihe von neuen wirtschaft-

lichen Entwicklungen in Brandenburg,

die uns – trotz einer insgesamt ungüns-

tigen Ausgangslage – mit Mut in die

Zukunft blicken lassen.

Esther Schröder

78

Page 81: perspektive21 - Heft 21/ 22

Der Strukturwandel, wie er seit

nunmehr 13 Jahren Brandenburgs

Wirtschaftslage charakterisiert, wird

wesentlich durch die Kräfte des Mark-

tes vorangetrieben. Zu einer aktiven

Gestaltung dieses Strukturwandels

gibt es keine Alternative. Politiker und

Planer dürfen dabei den Dialog mit der

Öffentlichkeit über die – aufgrund von

Demographie und Abwanderung –

neuen Situation nicht scheuen.

Die Dynamik negativer städtebau-

licher Entwicklungen ist mancherorts

besorgniserregend. Zunehmender Leer-

stand durch Abwanderungen und die

demographischen Folgen der Nach-

wendejahre führen zur Schließung von

Kinderbetreuungseinrichtungen, Schu-

len, Sport-, Kultur- und Freizeitein-

richtungen. Stilllegungs- und Rückbau-

maßnahmen werden dabei von vielen

Menschen oft auch als Abbau sozialer

Standards empfunden. Aktuell entzün-

den sich z.B. viele Debatten an der auf-

grund des starken Rückgangs von Schül-

erzahlen notwendigen Schließung von

Schulen. Doch die Reaktion auf den

demographischen Wandel ist unab-

dingbar und eröffnet auch Chancen zu

mehr Qualität statt Quantität.

Die durch eine negative wirtschaft-

liche Dynamik beschleunigten Bevölk-

erungsverluste haben aber nicht nur

Einfluss auf die Auslastung sozialer,

sondern auch auf die Wirtschaftlichkeit

und Funktionsfähigkeit von tech-

nischen Infrastruktursystemen, die sich

aus dem Rückgang des Verbrauchs bzw.

Anfalls von Wasser, Abwasser und Fern-

wärme ergibt. Viele der hierfür erforder-

lichen Systeme wurden Anfang der

1990er Jahre erneuert und zwar auf-

grund von Prognosen, die sich auf die

zurückliegenden Jahre stützten. Viele

Anlagen aber entsprechen heute nicht

mehr den Nachfragerealitäten und sind

überdimensioniert. Auch im öffent-

lichen Nahverkehr werden vielerorts

durch den Rückgang der beförderten

Personen die Grenzen der Wirtschaft-

lichkeit unterschritten. Die Folge nicht

nachfragegerechter und damit über-

dimensionierter Infrastruktursysteme

sind immer größer werdende und

immer schwerer beherrschbare Diffe-

renzen zwischen Einnahmen und

Kosten. Die Systemkosten steigen noch

durch die Erfordernisse erhöhter Be-

triebskosten für Instandhaltung und

des Rück- bzw. Umbaus der technischen

Infrastruktur. Hieraus ergeben sich für

die kommenden Jahre erhebliche Pro-

bleme, deren Lösungen im politischen

Raum oft nicht durchsetzbar sind.

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

79

3. Strukturwandel als Herausforderungan eine aktiv gestaltende Wirtschaftspolitik

Page 82: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die Brisanz der Problemlage liegt in

den starken Interdependenzen zwischen

wirtschaftlicher Entwicklung, Bevölke-

rungsdynamik sowie regionalen und

kommunalen Handlungsspielräumen.

Der Abbau von Arbeitsplätzen sowie der

Rückgang der Bevölkerung führen zu

niedrigeren Steuereinnahmen. Diese

wiederum verringern öffentliche Investi-

tionen. Damit fällt ein Teil der Nachfrage

für die regionalen Unternehmen aus.

Die Infrastrukturentwicklung stagniert.

Es entsteht ein Teufelskreis aus nega-

tiven Treibern der Wirtschaftsentwick-

lung. Die politische Aufgabenstellung

liegt damit auf der Hand: Es gilt, diese

negative Dynamik durch eine aktive

Wirtschaftspolitik zu durchbrechen.

Die Erfahrungen der letzten Jahre zei-

gen aber auch: Betriebsschließungen,

strukturelle Arbeitslosigkeit, Rückgang

der Kaufkraft, Rückbau der Infrastruktur,

Verschlechterung der Standortqualität

können nur in einem eng begrenzten

Maße und dann auch nur für eine

begrenzte Zeit durch eine sich dagegen

stemmende Arbeitsmarktpolitik auf-

gehalten werden. Eine solche Politik

entlastet zwar, schafft aber keine aus-

reichend neuen Wachstumsquellen.

Standortnachteile können nicht weg-

diskutiert, Standortvorteile aber kön-

nen gestärkt werden. Es geht hier also

um ein Wechselspiel der Kräfte und im

Anspruch einer sozialdemokratischen

Politik vor allem um die Stärkung posi-

tiver Kräfte, um mit ihnen den negati-

ven Trends „eines blinden Marktes“

sozial ausgleichend entgegenzuwirken.

Vier Grundprozesse kennzeichnen

auch in Brandenburg die wirtschaft-

liche Entwicklung in Zeiten des Struk-

turwandels:

1. der Rückbau „alter“, von der Entwick-

lung überholter Industrien,

2. der Aufbau bzw. die Stärkung inno-

vativer „neuer“ industrieller Wachs-

tumskerne,

3. die Re-Industrialisierung altindust-

rieller Regionen sowie

4.eine Renaissance damit verbundener

mittelständischer Betriebe.

Wenn es gelingt, diese vier Prozesse

durch eine aktive Wirtschaftspolitik und

verbesserte Rahmenbedingungen pro-

Esther Schröder

80

Teufelskreis aus negativenTreibern der Wirtschaftsentwicklung

NegativeWirt-

schafts-dynamik

NegativeBevöl-

kerungs-dynamik

GeringesSteuer-

auf-kommen

Abnahmeöffentl.Inves-

titionen

Page 83: perspektive21 - Heft 21/ 22

duktiv miteinander zu verbinden, dann

wandelt sich der Strukturwandel in

Brandenburg von einem Schreckge-

spenst in einen ganz normalen Vorgang,

der mit Intelligenz, Verstand und Ver-

nunft auch politisch beherrschbar ist.

In einer auf Innovation und Wachstum

orientierten Wirtschaftsförderung müs-

sen wir allerdings sehr klar zwischen

Hochtechnologien, mittleren und inno-

vationsarmen Technologien unterschei-

den. Es kann in den nächsten Jahren

nicht darum gehen, Unternehmen und

Wirtschaft – egal auf welchem technolo-

gischen Niveau – zu fördern.Wirtschafts-

förderung für innovationsarme Techno-

logien führt in der Regel nicht zu den

beabsichtigten Zielen. Durch die Produk-

tion von Massengütern im Niedriglohn-

sektor können wir unseren relativen

Wohlstand für die Zukunft nicht sichern.

Nur wenn wir in einer globalisierten Welt

Waren und Dienstleistungen auf wissen-

schaftlich-technologisch hohem Niveau

herstellen, werden sich auch hohe Preise

für angebotene Produkte und Dienstlei-

stungen realisieren lassen.

Effizienz, Zielgenauigkeit und Wirk-

samkeit von Wirtschaftsförderung

müssen sich stärker als bisher auf

Innovationen, Technologien und

Wachstum richten. Alles andere führt

zu Ineffizienz, Zielverfehlung und

Unwirksamkeit von Wirtschaftsförde-

rung. Aus Fehlern der Vergangenheit

müssen wir endlich die notwendigen

Schlussfolgerungen ziehen.

Der Blick auf die Brandenburger Inno-

vationsstandorte ist jedoch ermu-

tigend. Innovationsorientierung und

Innovationsergebnisse haben sich hier

vor allem in der Industrie verbessert.

Viele Firmen leisten inzwischen im Ver-

bund mit Brandenburger Wissen-

schafts- und Forschungseinrichtungen

Spitzenforschung in wichtigen Techno-

logiefeldern und setzen die Produkte

und Ergebnisse ihrer Forschungen mit

wachsendem Erfolg auf internationalen

Märkten ab. Innovative Unternehmen

haben in Brandenburg inzwischen auch

einen wachsenden Anteil am Unterneh-

mensbestand einzelner Regionen. Sie

bilden den Kern regionaler Netzwerke

mit erheblichen Wachstumspotenz-

ialen. Doch dieser innovative Unterneh-

menssektor ist in Brandenburg ins-

gesamt noch immer viel zu klein ist, um

Motor für eine positive Wirtschaftsent-

wicklung des ganzen Landes zu sein.

Damit die forschungsintensive Indu-

strie in Brandenburg aber deutlich

stärker wächst als bisher, müssen die

hierfür notwendigen Fördermittel

auch tatsächlich in diesen Bereich ge-

leitet werden. Die diesbezügliche Bi-

lanz der zurückliegenden Jahre ist in

keiner Weise zufrieden stellend.

So lag das Investitionsvolumen für

Forschung und Technologie in Branden-

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

81

Page 84: perspektive21 - Heft 21/ 22

burg im Zeitraum von 1999 bis 2003 bei

lediglich 2,6 % aller Förderausgaben der

Landesinvestitionsbank. Doch zur for-

schungsintensiven Industrie zählen

Unternehmen des verarbeitenden Ge-

werbes, deren FuE-Aufwendungen

mehr als 3,5 % des Umsatzes betragen.

Nur diese Unternehmen können in der

Wertschöpfung, beim Auslands- und

Gesamtumsatz stärker zulegen als alle

anderen Unternehmen.

Die hier sichtbar unzureichenden

Förderausgaben des Landes erklären

also, warum der forschungsintensive

Industriesektor in Brandenburg noch

immer nicht zum Beschäftigungs-

motor für das ganze Land geworden

ist. Neben Großbetrieben, die aus

ihrem Vermögen dazu eher in der Lage

sind, muss ein hoher Anteil mittelstän-

discher Unternehmen in breiterem

Umfang als bisher selbst oder im Ver-

bund mit Wissenschaftseinrichtungen

Forschung und Entwicklung betreiben

und erhebliche betriebliche Ressour-

cen für Innovationen einsetzen. So

können, neben bereits existierenden,

neue regionale Innovationssysteme

entstehen, die in der Wirtschaftsförde-

rung stärkere Beachtung finden soll-

ten. Solche Kooperationen bieten die

Möglichkeit, die Kosten für die Ent-

wicklung und Einführung neuer Pro-

dukte und Verfahren zu senken,Wissen

zu bündeln und so zu neuen Ideen für

Innovationen zu kommen.

Insbesondere auch im Bereich der

Existenzgründungen ist eine Umorien-

tierung in der Wirtschaftsförderung

erforderlich. Die auch hier immer

knapper werdenden Mittel müssen auf

Gründungen mit größten Wachstums-

chancen konzentriert werden. Grün-

dungen in konsumnahen Dienstleis-

tungsbereichen oder im Baugewerbe

sind keine Wachstumsmotoren, wäh-

rend Gründungen in forschungs- und

wissensintensiven Bereichen in den

kommenden Jahren einen besonderen

Schwerpunkt der Wirtschaftsförde-

rung in der Region bilden sollten.

Wesentlich stärker ist künftig der Blick

auf Start-up-Unternehmen zu richten.

Bei der Gründungshäufigkeit von

Know-How-Unternehmen liegt Bran-

denburg aktuell nicht an führender

Stelle. Es gibt deutliche Defizite bei

den gründungsrelevanten Rahmen-

bedingungen, wie z.B. eine qualitativ

unzureichende Existenzgründungs-

beratung der Zukunftsagentur Bran-

denburg (ZAB) und anderer Anbieter.5

Doch auch Bildung und Ausbildung als

Standortfaktoren müssen berück-

sichtigt werden. Die Förderung von

Kreativität, Selbständigkeit und Eigen-

Esther Schröder

82

5 Vgl. Studie Stiftung Warentest 2003: Hier wurden im Vergleich mehrerer Bundesländer die Existenzgründerberatung derZukunftsagentur Brandenburg (ZAB) als nur mittelmäßig bis niedrig eingestuft.

Page 85: perspektive21 - Heft 21/ 22

initiative sollte schon im Kindesalter

beginnen, damit sich nach Schule, Aus-

bildung und Studium Gründungsideen

und -fähigkeiten entwickeln können.

Eine innovative Wirtschaftsförde-

rung sollte deshalb folgende Ziele

haben: Überwindung einer traditio-

nellen Wirtschaftsstruktur, Konzen-

tration der Investitionsausgaben auf

innovations- und wachstumsorien-

tierte Unternehmen, Umorientierung

von Bildung und Ausbildung sowie ein

kreatives Umfeld für Gründerinnen

und Gründer.

Zur Herbeiführung eines wirtschafts-

politischen Kurswechsels in Branden-

burg bedarf es nicht nur des klaren Blicks

nach vorn, sondern vor allem eines ehr-

lichen Blicks zurück auf die Fehler der

Vergangenheit. Wir haben insbesondere

in den Jahren der laufenden dritten

Legislaturperiode (1999-2004) wertvolle

Zeit verloren – konservative Klientelpoli-

tik und Prestigedenken ließen keinen

Raum für erneuerte, moderne Wirt-

schaftspolitik. Dabei sei bereits an dieser

Stelle betont, dass die Trennlinie zwi-

schen gescheiterter und erfolgreicher

Wirtschaftspolitik nicht zwangsläufig

zwischen Investitionsförderung von

Großprojekten auf der einen und Investi-

tionsförderung von klein- und mittel-

ständischen Unternehmen (KMU) auf

der anderen Seite verläuft. Die Trennlinie

verläuft nicht zwingend zwischen groß

und klein, sondern zwischen wirtschaft-

lich tragfähigen und wirtschaftlich nicht

tragfähigen Konzepten. Dass es hier

immer auch Risiken gibt, ist selbstver-

ständlich – nur muss müssen politische

Entscheidungsträger in der Lage sein,

kompetent Risiken und Chancen abzu-

wägen, um dann entsprechend der auf

Wirtschaftslogik basierenden Gewich-

tung Fördergelder zu bewilligen oder

aber auch zu versagen. Diese Prozesse

werden derzeit in Brandenburg nicht

beherrscht. Aus Fehlern der Vergangen-

heit lernen, wäre der erste Schritt einer

Politik der vielen Schritte, die sich auf

eigene Stärken und auf die Entwicklung

vorhandener Potenziale im Land Bran-

denburg konzentriert.

(i) Die Chipfabrik in Frankfurt (Oder)als Beispiel für verfehlte Subventions-politik im Großen

Am 7. Februar 2001, dem Tag, an dem

erstmals öffentlich Vertreter des Lan-

des Brandenburg und Vertreter einer

Betreiberfirma namens „Communi-

cant Semiconductor Technologies AG“

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

83

4. Die Fehler der Vergangenheit

Page 86: perspektive21 - Heft 21/ 22

(Communicant) den Bau einer Chip-

fabrik am Standort Frankfurt (Oder)

bekannt gaben, begann eine in der

deutschen Wirtschaftspolitik wohl ein-

malige Geschichte: reich an geschür-

ten Hoffnungen, leeren Versprechen,

politischem Wunschdenken, polit-

ischer Erpressbarkeit, Politikversagen

auf Seiten der Exekutive und Legis-

lative aber vor allem reich an auseinan-

derdriftenden und widerstreitenden

wirtschaftlichen Interessen.

Etwa drei Jahre später, am 27.

November 2003, endete dieses trau-

rige Kapitel Brandenburger Wirt-

schaftsförderung. Der Erfolg blieb aus;

das Projekt einer Chipfabrik in Frank-

furt (Oder) brach wie ein Kartenhaus

zusammen, weil es finanziell und wirt-

schaftlich zu keiner Zeit auf einem

tragfähigen Fundament stand. Dabei

begann alles sehr zuversichtlich. Die

Idee jedenfalls war gut – eine in Ost-

deutschland entwickelte Hochtechno-

logie in enger Kooperation von Wissen-

schaft und Wirtschaft zu nutzen, um

vor Ort Arbeitsplätze, wirtschaftliches

Wachstum und Wohlstand zu schaf-

fen. Warum aber funktionierte diese

Kette in der Umsetzung nicht?

Angekündigt wurde das Vorhaben

seinerzeit als das größte ostdeutsche

Investitionsprojekt mit einem Investi-

tionsvolumen von 3,15 Milliarden DM

und der Schaffung von 1.500 direkten

und nochmals „mehreren tausend“

indirekten Arbeitsplätzen. Kein Super-

lativ fehlte: „Durchbruch für die Bran-

denburger Technologiepolitik“, „ein

Investitionsvorhaben mit erheblicher

internationaler Beachtung“, „Branden-

burg spielt in der Weltliga der Hocht-

echnologie“.6 Der Produktionsstart der

Chipfabrik in Frankfurt (Oder) war für

das erste Quartal 2003 geplant.

Angesichts der dargestellten Be-

schäftigungslage brach eine durchaus

verständliche Euphorie aus. Eine Re-

gion, ein ganzes Land klammerte sich

an die Hoffnung, dass die Großinves-

tition mit einer gehörigen Portion

staatlichen Engagements auf einen

Schlag tausende Arbeitsplätze schafft.

Hinter der Geschäftsidee verbarg

sich die Herstellung von Chips für

mobile Verbindungen mit dem Inter-

net, indem zwei Chips auf einem ver-

eint wurden. Eine vom Institut für

Halbleiterphysik (IHP) Frankfurt (Oder)

patentierte Technologie sollte mit

einer von Intel bereitgestellten Techno-

logie zusammengeführt werden. Im

Februar 2001 erklärte Communicant,

das bei Bedarf „auf dem Gelände spä-

Esther Schröder

84

6 Pressestatements des damaligen Brandenburger Wirtschaftsministers, Dr. Wolfgang Fürniß (CDU), der im November2002 wegen einer Millionenzahlung für private Zwecke aus Dubai, einem Mitinvestor des Projektes, vom Amt zurück-treten musste.

Page 87: perspektive21 - Heft 21/ 22

ter noch zwei weitere Chipfabriken

errichtet werden“ 7 könnten. Außerdem

wurde mitgeteilt, dass die Finanzie-

rung der Drei-Milliarden-Investition

„weitgehend gesichert“ sei.„Über 50 %

würden durch private Investitionen –

unter anderem aus den Vereinigten

Arabischen Emiraten – abgedeckt. Der

Rest der Mittel komme von Land, Bund

und EU sowie über Bankkredite.“ 8

Mit dieser Finanzierungsstrategie

ging Ex-Wirtschaftsminister Fürniß

(CDU) in das Kabinett und in den Land-

tag und versprach vollmundig von

Monat zu Monat, von Quartal zu Quar-

tal die Beantwortung noch offener

Finanzierungsfragen. Doch in allen drei

Finanzierungssäulen (Eigenkapital,

Fremdkapital, Fördergelder) klafften

riesige Lücken. Dennoch: immer wie-

der dieselben optimistischen Töne in

den Landtagsausschüssen für Wirt-

schaft und Finanzen. „Weitere Techno-

logiepartner werden dem Konsortium

beitreten. Entsprechende Verhand-

lungen seien bereits relativ weit ge-

diehen“ – leere Worte, die durch nichts

gedeckt waren.

Communicant, jene künstlich ge-

schaffene Firma, die vom Landeswirt-

schaftsministerium unter Beteiligung

des Marktführers der Chipbranche

Intel und dem Frankfurter Institut für

Halbleiterphysik (IHP) gegründet

wurde, suchte mühevoll private Invest-

oren zur Schließung der Eigenkapi-

tallücke. Das Wirtschaftsressort unter-

zeichnete ein Kooperationsabkommen

mit der Regierung des Emirates Dubai,

in dem sich das Emirat verpflichtete,

„im erheblichen Umfang“ in die ge-

plante Fabrik zu investieren. Später

wurde Dubai Mitgesellschafter von

Communicant – dafür erhielt Dubai

die vertragliche Zusage eines weit-

reichenden Technologie- und Wis-

senschaftstransfers und die Geneh-

migung zum Bau einer Zweitfabrik in

den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Weitere Gesellschafter fanden sich

nicht. Intel machte den eigenen

Anspruch frühzeitig klar: „Wir werden

nicht Mehrheitsaktionäre und auch

nicht die unternehmerische Führung

übernehmen.“ 9

Banken, wie die Deutsche Bank oder

die Commerzbank, bemühten sich in

weltweiter Suche vergebens um

Fremdkapitalgeber und stiegen nach

wenigen Monaten aus dem Projekt

aus. Dies war ein deutliches Warn-

signal dafür, dass sich das Projekt

offensichtlich schlicht und einfach

nicht nach betriebswirtschaftlichem

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

85

7 Zitat des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Betreiberfirma Communicant, Dr. Klaus Wiemer.8 Aus diversen Pressemitteilungen im Februar 2001.9 Zitat Mike Splinter, Vize-Präsident von Intel.

Page 88: perspektive21 - Heft 21/ 22

Kalkül rechnete. Gewinnerwartungen

überstiegen offenbar bei weitem nicht

die hohen Risiken. Dafür hätte die

Frage in den Mittelpunkt rücken müs-

sen, warum die öffentliche Hand ein

Risiko eingehen sollte, wenn private

Investoren das Risiko scheuen?

Allein mit dem Argument „Schaf-

fung von Arbeitsplätzen“ wurde Politik

zunehmend erpressbar und ließ sich

auch erpressen. Über die Fördergelder

verlor schon niemand mehr ein Wort –

sie waren in Maximalhöhe nach EU-

Beihilferecht längst kalkuliert und

auch in Brüssel genehmigt worden.

Doch selbst bei dieser Finanzierungs-

säule blieb bis zum Ende unklar, aus

welchen Töpfen konkret die öffentliche

Finanzierung hätte erfolgen sollen und

welche anderen Projekte von der Wirt-

schaftsförderung dadurch vernachläs-

sigt worden wären. Eines jedoch stand

fest: Der Mittelstand des Landes wäre

in erhöhtem Maße von Mittelkür-

zungen betroffen gewesen, was sich

bereits im Laufe der Diskussion um die

Chipfabrik anhand von zurückgestell-

ten Förderbescheiden und verspäteten

Ausreichungen genehmigter Förder-

gelder an Unternehmen des Klein- und

Mittelstandes (KMU) vollzog. Nichts-

destotrotz lag zu keiner Zeit ein ge-

schlossenes Finanzierungskonzept vor.

Weder Eigenkapital noch Fremdkapital

waren beisammen.

Trotzdem beschloss das Brandenbur-

ger Parlament 2001 auf Drängen des

Wirtschaftsministers eine Landesbürg-

schaft, die 2002 in eine Landesbetei-

ligung in Höhe von 38 Millionen €

umgewandelt wurde. Damit wurde das

Land über die InvestitionsBank Land

Brandenburg (ILB) Gesellschafter der

Firma Communicant. Bereits im August

2001 bewilligte die ILB der Stadt Frank-

furt (Oder) eine staatliche Subvention

in Höhe von 34,6 Millionen € aus der

Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung

der regionalen Wirtschaftsstruktur“ zur

Erschließung des Gewerbegebietes für

die Chipfabrik. Trotz ungeklärter Fin-

anzierung begannen vor Ort die Bau-

maßnahmen und damit der Versuch,

vollendete Tatsachen zu schaffen, die

die Politik weiter unter Druck setzen

sollten – und es auch taten.

Während sich bei völlig ungeklärter

Finanzlage das Risiko für die öffent-

liche Hand sukzessive erhöhte, wurde

bekannt, dass sich die per se schon

lächerliche Beteiligung des Markt-

führers Intel in Höhe von 40 Millionen

US Dollar als Scheininvestition erwies.

Intel übergab Communicant eine völlig

wertlose Lizenz, ein Produktionsver-

fahren, welches Intel selbst überhaupt

nicht einsetzte und erhielt dafür ver-

traglich zugesichert eben jene 40 Mil-

lionen US Dollar in mehreren Raten

von Communicant zurückerstattet.

Esther Schröder

86

Page 89: perspektive21 - Heft 21/ 22

Außerdem regelte eine Klausel in den

immer als Geheimsache gehandelten

Verträgen die Absicherung für Intel,

zeitlich unbefristet mit 6 % am Umsatz

(!) der Betreiberfirma Communicant

beteiligt zu sein, sollte es je zu einer

Produktion kommen. 10 Intel verfolgte

eigene Interessen in Bezug auf die

Erlangung neuester technischer Fort-

schritte im Bereich der Chipproduktion

– Dubai verfolgte eigene Interessen in

Bezug auf den Technologietransfer

und die Erwartung, selbst eine

Chipfabrik zu errichten. Die folgende

Tabelle zeigt, wie die Finanzierungs-

strategie letztlich aussah.

Dieses Konzept hatte mit der ur-

sprünglichen Ankündigung nichts mehr

zu tun. Alle Finanzierungssäulen waren

durchzogen von öffentlichen Geldern.

Im November 2003 wurde dieser unse-

riösen Finanzierungsstrategie ein Ende

gesetzt. Das Bundeswirtschaftsministe-

rium erteilte nicht die Genehmigung

für die 80%ige Bund-Land-Bürgschaft

und hat mit dieser vernünftigen Ent-

scheidung noch schlimmere Entwick-

lungen verhindert. Hätten wir die im

Bundeswirtschaftsressort vorhandenen

Kompetenzen auch nur annähernd im

Wirtschaftsressort des Landes beses-

sen, wären uns nicht nur etwa 100 Mil-

lionen € verschwendete Fördergelder

erspart geblieben, sondern auch der

beispiellose Ausverkauf wertvoller IHP-

Lizenzen. Es fehlte der starke Wirt-

schaftspartner – Land, Bund und EU

konnten diesen Part nicht übernehmen.

Politisch gilt es drei grundsätzliche

Lehren zu ziehen, um künftig Schaden

vom Land abzuwenden:

1. Regierung und Opposition müssen

sich davor hüten, bei großen Investi-

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

87

10 Vgl. Gutachten des Experten für Lizenzrecht und Kenner der Chipbranche, Prof. Dr.Wolfgang Winzer, Erlangen 2003. HerrProf. Winzer nahm Einsicht in die beim Handelsregister vorliegenden Verträge und analysierte die wirtschaftlich unsin-nigen und für das Land und das Projekt katastrophalen Vertragsgestaltungen.

Chipfabrik – ursprüngliches und verändertes Finanzierungskonzept

Eigenkapital Fremdkapital FördergelderUrsprüngliches Finanzierungskonzept

50% 25% 25%

Verändertes und gescheitertes FinanzierungskonzeptDubai 250 Mio US $ Bankenkonsortium 650 Mio Subventionen (EU, Bund,

Intel 40 Mio US $ US $, 80% Absicherung durch Land): Genehmigte Beihilfe

Land/ILB 38 Mio US $ Land-Bund-Bürgschaft 371 Mio €

Page 90: perspektive21 - Heft 21/ 22

tionsvorhaben die Augen vor Realität

und Marktlogik zu verschließen.

2. Wirtschaftskonzepte sind schneller

und kompetenter zu überprüfen. Ein-

deutige Entscheidungen sind ohne

langes Lavieren zu treffen.

3. Öffentliche Gelder dürfen grund-

sätzlich nicht in Projekte fließen, die

keinen privaten Investor haben.

Scheininvestitionen sind Fördermit-

tel zu versagen.

4.Das Parlament darf bei öffentlichen

Förderprojekten seine Aufgabe, die

wirksame Kontrolle der Regierung,

niemals aufgeben.

(ii) Die Firma Hesco als Beispiel für ver-fehlte Subventionspolitik im Kleinen

Auch an die Förderung von klein- und

mittelständischen Unternehmen sind

strenge Kriterien hinsichtlich Innovati-

onsförderung und Beschäftigungswirk-

samkeit anzulegen. Steuerungskraft

besitzt das Landeswirtschaftsressort

hierbei vor allem über die in Richtlinien

und den Zuwendungsbescheiden fix-

ierten Auflagen zu Wirtschaftsgütern

und Arbeitsplätzen. Politisch wirksam

sind gerade die Arbeitsplatzauflagen

aber nur dann, wenn sie zugleich Anreiz

und Sanktionskraft besitzen, wenn

wirtschaftspolitische Strategien auch

umgesetzt werden. Die immer wieder

hoch gehaltene Behauptung, Wirt-

schaftsförderung diene zuallererst der

Sicherung und Schaffung von Arbeits-

plätzen, wird am Förderfall Hesco, ad

absurdum geführt.11

Mit Bescheid vom 4. September 1997

wurde der Firma Hesco Kunststoffer-

zeugnisse Helmut Schulze & Co. GmbH

ein Investitionszuschuss nach der

Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung

der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in

Höhe von 931.062,52 € gewährt. Die

Fördermittel wurden als Investitions-

zuschuss für den Bau einer neuen Pro-

duktionshalle in voller Höhe ausge-

zahlt.12 Das Vorhaben war nach dem

vorgelegten Verwendungsnachweis

zum 31. März 1999 abgeschlossen.

Nach den Bestimmungen des Zuwen-

dungsbescheides hatte die Zuwen-

dungsempfängerin die Betriebsstätte

für mindestens fünf Jahre nach

Abschluss des Investitionsvorhabens

hinaus zu betreiben, mindestens bis

zum 31. März 2004 mit insgesamt 71

Arbeits- und 4 Ausbildungsplätzen.

Mitte des Jahres 2003 wurde

bekannt, dass die Firma Hesco Kunst-

stofferzeugnisse Helmut Schulze & Co.

Esther Schröder

88

11 Der Förderfall der Firma Hesco geriet in die Schlagzeilen wegen des Verdachts gezielter Verstöße gegen Insolvenz-, Sub-ventions- und Arbeitsrecht. Zudem befindet sich die Firma im Besitz einer Familie namhafter CDU-Politiker. Dieser Aspektinteressiert hier nur insoweit, als das er Transparenz ermöglicht für einen exemplarischen Förderfall mit negativen wirt-schaftspolitischen Effekten und Botschaften.

12 Insgesamt erhielt das Unternehmen in den vergangenen Jahren Fördermittel in Höhe von 1.329.154,38 €, davon640.341,95 € Landesmittel, 640.341,95 € Bundesmittel sowie EU-Gelder in Höhe von 48.470,48 €.

Page 91: perspektive21 - Heft 21/ 22

GmbH in HC Kunststofferzeugnisse

GmbH umbenannt wurde und allen 60

Beschäftigten zum 31.07.2003 gekün-

digt wurde. Die Betriebsstätte der HC

Kunststofferzeugnisse GmbH wurde

nach Horla in Sachsen-Anhalt verlegt,

an dem aber die geförderten Wirt-

schaftsgüter zur Aufrechterhaltung

der wirtschaftlichen Tätigkeit nicht

mehr zur Verfügung standen. 13 Die HC

Kunststofferzeugnisse GmbH meldete

beim Amtsgericht Halle/Saalkreis In-

solvenz an. 14 Gleichzeitig wurde am

Brandenburger Standort Luckenwalde

eine neue Firma Hesco Kunststoffver-

arbeitung GmbH durch dieselben

Inhaber der alten Hesco gegründet.

Dort existiert seit dem Jahr 2000 eine

weitere Firma der Unternehmerfami-

lie:„Entwicklung und Service – E&S“. In

dieser Firma wurden 33 der bei der

alten Hesco entlassenen Arbeitnehme-

rinnen und Arbeitnehmer wieder ein-

gestellt und per Arbeitnehmerüberlas-

sung an die neue Hesco zu niedrigeren

Löhnen verliehen.

Ziel all dieser Transaktionen war der

Arbeitsplatzabbau unter Umgehung

arbeitsrechtlicher Vorschriften,15 die

masselose Insolvenz der alten Hesco,

die Übertragung der staatlich geför-

derten Wirtschaftsgüter auf die neue

Hesco und die Abtretung arbeitsrecht-

licher Ansprüche an die Firma E&S.

Die Kündigung aller 60 in der alten

Hesco noch Beschäftigten Ende Juli 2003

zeigte, dass die Arbeitsplatzauflagen aus

dem Förderbescheid 1997 und Verwen-

dungsnachweis 1999 längst nicht mehr

eingehalten wurden. Das Unternehmen

informierte aber zu keiner Zeit die In-

vestitionsBank (ILB) über die Verände-

rungen im Arbeitskräftebestand. Auch

Kündigungen, Insolvenz und Betriebs-

verlagerung wurden nicht angezeigt.

Damit wurden eindeutig subventions-

erhebliche Mitteilungspflichten verletzt.

Hierbei handelt es sich nach geltender

Rechtslage um kein Kavaliersdelikt, son-

dern um einen Verstoß gegen §3 Sub-

ventionsgesetz i.S. §264 Strafgesetz-

buch. Die ILB leitete nach den aus den

Medien bekannt gewordenen Tatsachen

ein Anhörungsverfahren zur Prüfung

des Subventionsfalles ein. Im Prüfverfah-

ren wurde dann bekannt, dass die an die

Subvention gebundenen 71 Arbeits- und

4 Ausbildungsplätze lediglich in der Zeit

vom 1. April 1999 bis 31. August 2001 vor-

handen gewesen waren.

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

89

13 Verlagerung der Betriebsstätte meint hier nicht wirklich die Verlagerung der Firma. Lediglich wurde an einem alten still-gelegten Gehöft ein Pappschild mit dem umbenannten Firmennamen angebracht, auf dem als Ansprechpartner derAnwalt der Unternehmerfamilie eingetragen war.

14 Das Amtsgericht Halle/Saalkreis lehnte die Zuständigkeit ab, und Insolvenzverfahren wurde an das zuständige Amtsge-richt Potsdam verwiesen. Gleichzeitig wurde durch die Staatsanwaltschaft Halle ein Verfahren wegen Verdacht aufUntreue eingeleitet, dass ebenfalls nach Potsdam an die zuständige Staatsanwaltschaft übergeben wurde.

15 Die Firmeninhaber und ihr Anwalt ließen sich in Pressestatements dahingehend ein, dass sie dieses Firmengeflecht zurUmgehung des „starren deutschen Arbeitsrechts“ gewählt hätten.

Page 92: perspektive21 - Heft 21/ 22

Im Ergebnis des ILB-Prüfverfahrens

erfolgte keinerlei Rückforderung von

Fördergeldern. Stattdessen wurde der

alte Zuwendungsbescheid aus dem

Jahr 1997 auf die neue Hesco übertra-

gen, die Arbeitsplatzauflage auf 33

Arbeitsplätze reduziert mit einer Bin-

defrist bis zum 30.09.2005. Obwohl

§49 Absatz 3 Verwaltungsverfahrens-

gesetz (VwVfG) Brandenburg den

Widerruf einer Zuwendung in vollem

Umfang ausdrücklich vorsieht, wenn

Auflagen nicht erfüllt wurden, fiel die

Entscheidung zugunsten der Firma

und zu Lasten des Landes. Damit wur-

den das Umgehungsgeschäft belohnt,

Gleichbehandlungsgrundsätze ver-

letzt und das Prinzip einer sparsamen

Verwendung von Haushaltsmitteln

missachtet. 16

Auch eine Rückforderung von Teilbe-

trägen der Subvention wurde nicht dis-

kutiert. Das Wirtschaftsministerium und

die ILB begründeten ihre gemeinsam

getroffene „Ermessensentscheidung“

mit folgender Rechtfertigung: „Der Zu-

wendungsbescheid wurde nicht wider-

rufen, weil die Hesco Kunststoffverarbei-

tung GmbH den Antrag stellte, in die

Rechte und Pflichten des Bescheides bei

geänderten Auflagen einzutreten. Hier-

durch erfüllt die Hesco Kunststoffver-

arbeitung GmbH mit der Besetzung von

33 Arbeitsplätzen die Voraussetzungen,

unter denen von vornherein die Zuwen-

dung gewährt worden wäre.“17 Die Bot-

schaft ist klar: Das Argument „Erhalt des

Standortes“ rechtfertigt den Verstoß

gegen Auflagen und Gesetze. Unbe-

achtet blieben beschäftigungspolitisch

die Kündigung von 38 Arbeitskräften

und die Umwandlung von 33 Normal-

arbeitsverhältnissen in 33 prekäre Leih-

arbeitsverhältnisse sowie die eindeu-

tigen Verstöße gegen Subventionsrecht

und Arbeitsrecht.18 Es verbinden sich

aber über den Einzelfall hinaus weitere

äußerst bedenkliche und generelle wirt-

schafts- und beschäftigungspolitische

Botschaften:

1. Arbeitsplatzauflagen sind in Bran-

denburg nichts wert. Mitteilungs-

pflichten über Veränderungen von

Arbeitsplatzzahlen müssen nicht

eingehalten werden.

2. Das Interesse der Allgemeinheit an

einer wirkungsvollen staatlichen Wirt-

schaftsförderung durch Subventionen

wird nicht verfolgt.

Esther Schröder

90

16 Der rechtlichen Argumentation entsprechend Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), Subventionsrecht, Haushalts- undGleichbehandlungsgrundsatz folgte die ILB anfangs selbst. Es lag ein fertiger Widerrufsbescheid vor, der auf Anweisungdes Wirtschaftsministeriums nicht versandt wurde. Stattdessen wurden weitere Prüfungen angewiesen, die dazu führ-ten, das Land sich an die Bedingungen des Unternehmens anpasste.

17 Vgl. Landtag Brandenburg, 3.Wahlperiode, Drucksache 3/6981 - Antwort des Brandenburger Wirtschaftsministers auf dieKleine Anfrage Nr. 2598 der Abgeordneten Dr. Esther Schröder.

18 Das Arbeitsgericht Potsdam erklärte am 18.02.2004 die Kündigung eines 56jährigen Hesco-Betriebselektrikers fürunwirksam – acht weitere Kündigungsschutzklagen sind bei Gericht anhängig.

Page 93: perspektive21 - Heft 21/ 22

3. Quantitative und qualitative Beschäf-

tigungswirksamkeit von Wirtschafts-

förderung ist ein untergeordnetes Ziel

Brandenburger Wirtschaftsförderung.

4.Das Land hält Förderung für Unter-

nehmen auch bei Umgehung von

Gesetzen aufrecht.

Das alleinige Argument des Stand-

orterhalts ist nicht zulässig.Wieder ein-

mal spielt in Brandenburg die volks-

wirtschaftliche Perspektive keine Rolle

und auch nicht die Frage, wo die Förd-

ergelder effektiver hätten eingesetzt

werden können, um zukunftsfähige

Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhal-

ten. Statt dessen wird im Wirtschafts-

ausschuss des Landtages vom Wirt-

schaftsministeriums und der ILB

erklärt, dass Verstöße gegen Mittei-

lungspflichten in Brandenburg Gang

und Gebe sind, dass Arbeitsplatzaufla-

gen in der Bindefrist nicht kontrollier-

bar seien und die Einhaltung von

Arbeitsrecht für Wirtschaftsförderung

allemal nur eine Nebenbedingung sei,

die bei vermeintlichen Ermessensent-

scheidungen nicht berücksichtigt wer-

den müsse. Diese Aussagen beinhalten

politischen Sprengstoff und stellen

Ziele, Gesetze und Richtlinien Branden-

burger Wirtschaftspolitik grundsätzlich

in Frage.

Es stellen sich mit dem Fall Hesco aber

noch ganz andere Fragen, die wiederum

Anlass geben, Wirtschaftsförderung in

Brandenburg in Richtung Innovations-

förderung neu zu denken. Warum

konnte oder wollte Hesco die Arbeits-

platzauflagen nicht erfüllen? Bestand

Sinn und Zweck des undurchsichtigen

Firmengeflechts nicht lediglich darin,

Personalkosten bei gleich bleibenden

Subventionen radikal zu senken, weil der

Betrieb es eben nicht vermochte aus

eigener Kraft durch Innovation Mark-

teinbrüche zu kompensieren?

Die Firma fungiert als typischer

Zulieferbetrieb, als verlängerte Werk-

bank und ist damit abhängig von

Abnehmerfirmen. Hesco ist somit

eben kein Beispiel für wirtschaftliche

Innovationsträger. In den kommenden

Jahren muss ein starkes Augenmerk

darauf gerichtet werden, ob Pflanzen

Fördermittel beanspruchen können,

die nur solange leben, solange aus der

Gießkanne der Geldregen über sie

prasselt und die sofort eingehen, wenn

der Geldhahn zugedreht wird, weil sie

eben nicht aus sich heraus überlebens-

fähig sind.

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

91

Page 94: perspektive21 - Heft 21/ 22

Ohne Einsicht kein Ausblick. Lehren

aus den Fehlern der Vergangenheit zie-

hen, heißt für die Brandenburger Politik:

„Wir müssen uns heute von der Erwar-

tung verabschieden, dass allein durch

staatliche Großinvestitionen tausende

Arbeitsplätze geschaffen werden kön-

nen. Stattdessen müssen wir uns auf

unsere eigenen Stärken konzentrieren,

uns mit einer Politik der vielen Schritte

auf die vorhandenen Standorte konzen-

trieren und diese ausbauen.“19

Dazu gehört zuallererst die Fest-

stellung, dass Brandenburg ein Land

des Mittelstandes ist. Etwa 98 % der

brandenburgischen Unternehmen

zählen zum KMU-Bereich. Wir sprechen

also vorrangig über Probleme von

Klein- und Kleinstbetrieben, die durch

die Konzentration der Wirtschaftspo-

litik auf Großprojekte in den letzten

fünf Jahren erheblich vernachlässigt

wurden. Hier gilt es anzusetzen und

umzusteuern. Was wir dringend brau-

chen, ist eine landesweite Analyse

betriebs-, branchen- und regionsbezo-

gener Defizite, ein offenes Ohr für die

Sorgen der Unternehmen, die unsere

Wirtschaft stützen. Das klingt banal, ist

aber entscheidende Voraussetzung für

Zukunftskonzepte.

Wir haben insbesondere in der drit-

ten Legislatur, seit dem die CDU das

Wirtschaftsressort besetzt, kostbare

Zeit zur Gestaltung einer auf Zukunft

gerichteten Wirtschaftspolitik verloren.

Wenn jetzt am Ende der dritten Legis-

latur die Parole „Billiglohnland Bran-

denburg“ vom CDU-Wirtschaftsminis-

ter ausgegeben wird, dann kommt

diese Parole einem wirtschaftspoli-

tischen Offenbarungseid gleich. Der

hilflose Ruf nach Niedriglöhnen ist

letztlich ein Eingeständnis konserva-

tiver Politik, über keine tauglichen Kon-

zepte zu verfügen, mit denen sich Rah-

menbedingungen im Zuschnitt auf die

spezifischen Problemlagen in der Bran-

denburger Wirtschaft gestalten lassen.

Verstaubte neoliberale Theorien las-

sen sich in Brandenburg nicht aufpolie-

ren! Die Erfahrungen der letzten Jahre

im „Experimentierfeld Ostdeutschland“

belegen, dass die Verminderung der

Massenarbeitslosigkeit nicht durch

Lohnsenkungen, Tarifflucht und Ver-

schlechterung von Arbeitsbedingun-

gen zu erreichen ist. Stattdessen wird

durch Lohndrückerei der in Branden-

burg schwache private Verbrauch als

wichtigste Säule der gesamtwirtschaft-

lichen Nachfrage weiter untergraben.

Esther Schröder

92

5. Ausblick – was tun?

19 Vgl. in diesem Heft Matthias Platzeck:„Zukunft, Arbeit und Familie – Unser Weg für Brandenburg“

Page 95: perspektive21 - Heft 21/ 22

Wir müssen nicht lernen, mit dem

Ost-West-Gefälle im Lohnniveau offensi-

ver umzugehen. Im Gegenteil: Wir müs-

sen alles daran setzen, eine Angleichung

im Lohnniveau zwischen Ost und West

herbeizuführen. Dies wird uns nur in

Besinnung auf eigene Tatkraft und mär-

kische Potenziale gelingen. Wir müssen

endlich begreifen, dass nicht Geld-

ströme sondern Gehirnströme das Ent-

scheidende sind. Wenn wir tatsächlich

den beschriebenen Teufelskreis durch-

brechen wollen, dann mit Hilfe „krea-

tiver Problemlöser“ – unterstützt durch

öffentliche Forschungsförderung. Bei-

spiele im Land zeigen, dass sich öffent-

liche Gelder für Forschungs- und Ent-

wicklungsförderung bezahlt machen.

„Die Zukunft Brandenburgs liegt in

hoch produktiven Bereichen, liegt in

wissensintensiven Arbeitsplätzen, in

denen hohe Löhne erwirtschaftet wer-

den können. Solche Arbeitsplätze ent-

stehen hauptsächlich aus der intensi-

ven Zusammenarbeit zwischen Unter-

nehmen und Hochschulen, Forschung

und Entwicklung.“ 20 Hier muss ange-

setzt werden, müssen sich mit Hilfe

von politischer Moderation und öffent-

lich geförderten Kompetenzzentren

Netzwerke und Cluster entwickeln.

Statt Billigjobs brauchen wir Exis-

tenzgründungen im innovativen Hoch-

technologiebereich. Von Seiten der Poli-

tik und Gesetzgebung muss alles Erfor-

derliche unternommen werden, um die

Zahl der kreativitäts- und hochtechno-

logieorientierten Existenzgründungen –

vor allem aus dem Hochschulbereich

heraus – zu steigern. Eine damit verbun-

dene Anforderung ist die kontinuier-

liche Erhöhung der Qualifikation der

Arbeitskräfte. Wir brauchen für den

Kurswechsel im Land neben hoch quali-

fizierten Wissenschaftlerinnen und Wis-

senschaftlern auch gut ausgebildete

Fachkräfte. Die demographische Ent-

wicklung zeigt uns heute, dass wir mor-

gen mit einem Fachkräftemangel zu

rechnen haben. Hier muss jetzt gegen-

gesteuert werden. Niedriglöhne werden

ein Umsteuern nicht ermöglichen.

Auch für Brandenburg gilt: Wenn

neue wissenschaftliche Erkenntnisse

eine breite Umsetzung in Produktion

erfahren, dann wachsen sowohl Real-

einkommen als auch Steuereinnahmen

des Landes. Bildung und Ausbildung,

Forschung und Innovation sind daher

die Grundvoraussetzungen unserer Zu-

kunft. Gefragt ist Kreativität in For-

schung, Wirtschaft und Politik. Staat-

liches Engagement ist künftig verstärkt

bei den in Brandenburg erbrachten For-

schungsleistungen und ihrer Umset-

zung in Wertschöpfung gefragt. Im

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

9320 ebenda.

Page 96: perspektive21 - Heft 21/ 22

Ergebnis werden hochwertige Produkte

entstehen, für die sich auf dem Markt

entsprechend hohe Preise realisieren

und hohe Löhne erwirtschaften lassen.

Die Herbeiführung eines Kurswechsel

in der Brandenburger Wirtschaftspolitik

setzt aber auch noch eine Erkenntnis

anderer Art voraus: Staatliche Unter-

stützung kann es nur dort geben, wo es

auch ein deutlich ausreichendes privat-

wirtschaftliches Engagement und da-

mit Umsatz- und Gewinnerwartung

gibt. Allein die Ankündigung von Ar-

beitsplätzen rechtfertigt keine Investi-

tionen in Wirtschaftsgüter.

Der Konkurrenzkampf um Höchstsub-

ventionen im Standortwettbewerb ist

ein weltweites Phänomen. Brandenburg

sollte unabhängig davon vielmehr der

Kreativität, Courage und dem Innova-

tions- und Forschergeist im Land den

roten Teppich ausrollen. Dazu braucht es

den Abbau bürokratischer Hemmnisse

und den Umbau von Förderstrukturen,

braucht es klare, transparente und vor

allem kompetente Beratungs- und Ent-

scheidungslinien, die für potenzielle In-

vestoren auch handhabbar sind. Dazu

stellte der Brandenburger Ministerpräsi-

dent in seiner Regierungserklärung am

11. Dezember 2003 klar: „Wer sich an die

Landesregierung wendet, weil er inves-

tieren, weil er Arbeitsplätze schaffen

will, hat Anspruch auf eine schnelle und

eindeutige Entscheidung, sei es Ja oder

Nein. Jede Entscheidung ist besser als

keine Entscheidung. Unbürokratisch und

kompetent soll das geschehen.“

Das Maßnahmebündel aus Be-

ratung, Darlehen, Bürgschaften und

Zuschüssen ist intelligent zum Einsatz

zu bringen, eingebunden in eine Stra-

tegie, die dem hier gezeichneten Inno-

vationsaspekt Rechnung trägt. Damit

verbunden sein muss aber auch ein

verstärktes Controlling, welches

immer wieder wirtschaftspolitische

Strategie und Wirkungen der Wirt-

schaftspolitik miteinander abgleicht.

Das erfordert wiederum eine perma-

nente Prüfung vorhandener Kompe-

tenzen im Wirtschaftsressort und in

der nachgeordneten Zukunftsagentur

Brandenburg (ZAB) sowie Kontrolle der

Geschäftsvorgänge in der Investitions-

Bank Land Brandenburg (ILB).

Offen zu diskutieren ist auch die

Zusammenlegung der Ressorts Arbeit

und Wirtschaft. Landesarbeitsmarkt-

politik erhält mit der Umsetzung der

Hartz-Reformen künftig einen völlig

neuen Gestaltungsspielraum. Auch zur

Stärkung einer notwendigen aktiven

Arbeitsmarktpolitik wäre ein engeres

Zusammenwirken von Arbeits- und

Wirtschaftsförderung sinnvoll. Mit die-

ser Zielausrichtung sollte ein gemein-

sames Ressort Arbeit und Wirtschaft in

sozialdemokratischer Verantwortung

liegen. Nur so lässt sich gewährleisten,

Esther Schröder

94

Page 97: perspektive21 - Heft 21/ 22

dass Wirtschaftspolitik wieder den Kri-

terien von Beschäftigungswirksamkeit

und Innovationsgeist folgt und Ar-

beitsmarktpolitik nicht länger richten

muss, was verfehlte Wirtschaftspolitik

anrichtet. Hierüber muss in Branden-

burg ein Diskussionsprozess ange-

stoßen werden. Wenn gilt: Alles, was

Arbeit schafft, ist sozial – dann gilt

aber auch umgekehrt: Alles, was

Arbeitslosigkeit verursacht und ver-

stärkt, ist unsozial – auch eine nicht

beschäftigungswirksame und ineffi-

ziente Wirtschaftspolitik. Insgesamt

gilt es, den laufenden Strukturwandel

politisch zu beherrschen und in ihm

Chancen zu sehen. Fehlende Trans-

parenz, mangelndes Risikobewusst-

sein und politisches Wunschdenken

müssen in Brandenburg überwunden

werden. Wir brauchen Innovationen

nicht nur in der Wirtschaft – wir brau-

chen Innovation vor allem in der Wirt-

schaftspolitik.

Wirtschaftspolitik in Brandenburg – Probleme und Perspektiven

95

Esther SchröderVolkswirtin,

Mitglied der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg,

Direktkandidatin im Wahlkreis 38 Lauchhammer-Schwarzheide

Page 98: perspektive21 - Heft 21/ 22
Page 99: perspektive21 - Heft 21/ 22

In drei kurzen Schritten möchte ich

versuchen, eine brandenburgische La-

geskizze (1) mit ausgewähltem Orien-

tierungswissen (2) sowie dem Entwurf

einiger Bausteine für eine zukunfts-

fähige raumpolitische Handlungsstra-

tegie (3) zu verknüpfen. Fürwahr viel

Holz für einen kurzen Text.

Zugleich ist es aber auch die Chance,

die größeren Freiheitsgrade der kri-tischen Distanz eines Regionalfor-

schers aus einem brandenburgischen

Leibniz-Institut mit etwas anderem

zusammenzubringen: Signalen der

starken Empathie gegenüber diesem

schwierigen Flächenland, seinen Men-

schen und seinen reizvoll-asketischen

Natur- und Kultur-Landschaften. Bei-

des scheint mir für eine dringend

nötige Standortbestimmung 15 Jahre

nach 1989 unerlässlich zu sein: Em-

pathie und kritische Distanz. Nur so

auch lässt sich ein erstes, wie mir

scheint, gravierendes Manko Branden-

burgs beheben: nämlich die bislang

ungenügenden „Selbstbeschreibungs-

fähigkeiten“. Die Ära der Großprojekte

und die Verteufelung von Kritik als

Nestbeschmutzung – gehören dabei

eng zusammen.

Der „Aufbau Ost“ ist in etlichen Teil-

regionen Brandenburgs faktisch zum

Erliegen gekommen. Die tendenziöse

Rede vom „Abbau Ost“ macht die

Runde. Die sich verfestigende struktu-

relle Massenarbeitslosigkeit von über

20 % ist lediglich einer von mehreren

schmerzhaften Indikatoren für die

gegenwärtige Lage des Landes.

Und nur zur Erinnerung: Diese

schwache sozioökonomische Perfor-

manz stellt sich ein trotz einer exorbi-

97

Das Ende der IllusionenRegionale Entwicklung in Brandenburgund Konsequenzen für einen neuen Aufbruch

Von Ulf Matthiesen

„Entscheidend ist auf dem Platz!“ Addi Preißler

I. Zur Lage Brandenburgs im April 2004

Page 100: perspektive21 - Heft 21/ 22

tanten Förderkulisse und trotz der

Höchstförderung von EU- und Bundes-

seite. Das Jahr 2004 markiert daneben

genau die Mitte der Laufzeit des Soli-

darpaktes bis 2019: 15 Jahre sind also

um, ein selbsttragender Aufschwung

ist nicht in Sicht. Hohe Zeit also für kri-

tische Selbstbeschreibungen sowie für

einen Analyse- und Politikwechsel.

Die handfeste Fördermaxime: „Viel

hilft viel“ scheint danach grandios ge-

scheitert. Teilweise sind eher neue

Abhängigkeiten und nicht durch Leis-

tung gedeckte Anspruchsplateaus ent-

standen. Entsprechend machen sich

einerseits Ernüchterung und Ratlosig-

keit breit. Andernorts wird aber weiter-

hin geschäftiges „Tun als wäre nichts!“

gepflegt, insbesondere in den mannig-

faltigen Transfermittel-Beute-Netzen.

Das reicht – ich rede hier also prodomo

– auch in den Wissenschafts- und For-

schungsbereich hinein.

Es ist hier nicht der Ort, die (differen-

zierten!) Stagnations- und Schrump-

fungstendenzen und deren kumulative

Effekte für Ostdeutschland und Bran-

denburg im Einzelnen durchzubuchsta-

bieren (vgl. etwa Keim 2002, Matthiesen

2002). Stattdessen möchte ich die Kurz-

analyse auf fünf sich gegenseitig ver-

schärfende kritische Punkte konzentrie-

ren – die zugleich das zentrale Politik-

Thema „Krise als Chance“ vorbereiten

können.„Krise“ ist dabei immer auch als

mögliche „Geburtsstätte des Neuen“ zu

begreifen. Das allerdings setzt erstens

genaue Analysen und zweitens schwie-

rige – jedoch nicht chancenlose – gesell-

schaftliche und institutionelle Lernpro-

zesse voraus. Solche Lernprozesse rei-

chen weit über den zentralen Bereich

der Wirtschaft hinaus. Zunächst aber zu

den fünf Krisendimensionen:

1. Die Differenziertheit der Teilregionenund die weiterwirkende Mitgift „ost-fordistischer Monostrukturen“.In der Regel nach politischen Kriterien

exekutierte Fehlallokationen aus der Zeit

des real existierenden Sozialismus bilden

eine immer noch schwer zu verdauende

Randbedingung für die Entwicklung ge-

rade der kleinen und mittleren Städte

Brandenburgs. Zugleich bildet die große

Unterschiedlichkeit der brandenbur-

gischen Teilregionen aber auch einen un-

schätzbaren, weiter zu profilierenden

Wert: vom Weltkulturerbe der Potsdamer

Kulturlandschaft zu den neuerlichen in-

dustriepolitischen Schwerpunktsetzun-

gen im Raum Schwarzheide-Lauchham-

mer,von der aufblühenden Senioren- und

‘Fontanestadt Neuruppin’ zu den schwer

angeschlagenen Monostruktur-Städten

an Oder und Neiße, von den extrem dünn

besiedelten Landesteilen der Uckermark

und Prignitz in die Gewinner-“Speckwür-

fel“ des engeren Verflechtungsraumes

hinein (Kleinmachnow, Ludwigsfelde).

Ulf Matthiesen

98

Page 101: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die drastische Verschärfung der Stan-

dortkonkurrenzen von Städten und Re-

gionen in Europa wird dafür sorgen, dass

die Differenzen zwischen den unter-

schiedlichen brandenburgischen Teilre-

gionen nicht ab – sondern zunehmen.

Neue Raumpolitiken müssen deshalb auf

diese wachsenden teilregionalen Diffe-

renzierungen hin justiert werden, auch

um sie neu in Wert setzen zu können.

Nicht zuletzt: auch auf EU-europäischer

Ebene nehmen Disparitäten zwischen

Gewinner- und Verlierer-Räumen wieder

zu, nach dem 1. Mai 2004 mehr denn je.

2. Wissen & Brain Drain.Wir leben zunehmend in Wissens-

gesellschaften. Diese stimulieren Inno-

vationen, aber sie verschärfen zugleich

unerbittlich regionale Konkurrenzen

und Ungleichgewichte. Neue wissens-

gesellschaftliche Peripheriebildungen

überlagern ältere teilregionale De-In-

dustrialisierungseffekte. Zwei zentrale

Mechanismen treiben diese wissens-

gesellschaftlichen Disparitäten voran:

• Die abnehmende Halbwertzeit der

Gültigkeit von Wissen. Das bedeutet

zugleich: Niemand kann sich auf sei-

nen Wissensvorsprüngen ausruhen.

Wer hier den Kontakt zur innova-

tiven Spitze verliert, hat enorme Pro-

bleme, wieder Anschluss zu finden.

• Brain Drain, also der Abfluss von

Humankapital und Wissen, ist inzwi-

schen für die Zunahme von regiona-

len Disparitäten ein Schlüsselmech-anismus geworden. Junge Gutausge-

bildete, insbesondere junge Frauen,

wandern ab. Die peripheren Regio-

nen Brandenburgs sind inzwischen

mit dem Doppelproblem von hoher

struktureller Arbeitslosigkeit bei

gleichzeitigen gravierenden Human-

kapital- und Kompetenzmängeln in

innovativen, wissensbasierten Wirt-

schaftsbereichen konfrontiert.

3. EU-Osterweiterung.Zwischen den Eckpunkten einer

abstrakten Angst vor polnischen

Arbeitskonkurrenten im Niedrigquali-

fikationsbereich auf der einen Seite

und großen Hoffnungen auf neue

Expansions- und Kopplungschancen

für die brandenburgische Wirtschaft

jenseits von Oder und Neiße am ande-

ren Ende bleibt viel prognostische

Ungewissheit in der Mitte zurück:

• Illegale Arbeitsmigrationen werden

sich während der Übergangsfristen

verstärken – unklar ist, wie stark.

• Vermutlich wird es so etwas wie

europäische Stufen-Migrationen von

Ost nach West geben: der polnische

Arzt aus Breslau wird die lange

vakante Krankenhausarztstelle in

Frankfurt (Oder) besetzen, die sein

brandenburgischer Kollege vor eini-

ger Zeit auf dem Karriereweg Rich-

Das Ende der Illusionen

99

Page 102: perspektive21 - Heft 21/ 22

tung Westdeutschland nach Ham-

burg verlassen hat.

• Zugleich werden Niedrigsteuer- und

Niedriglohn-Länder jenseits von Oder

und Neiße mit ihren abgesenkten

Regelungsstandards gerade größere

Industrieansiedlungen anziehen –

möglicherweise auch diejenigen, die

sich für eine gewisse Förder- und

Abschreibungsfrist in Brandenburg

angesiedelt haben. Das verweist auf

die Gefahr, dass der „florierende

Speckgürtel“ möglicherweise seinen

Entwicklungszenit schon durchschrit-ten haben könnte – und ansonsten

zunehmend von direkten oder indi-

rekten Hauptstadt- und Metropolen-

effekten profitiert.

• Eine völlig ungenügende Vorberei-

tung der brandenburgischen Unter-

nehmen auf verschärfte Konkurrenz-

bedingungen nach dem 1. Mai 2004

(etwa die fehlende Zweisprachigkeit)

erweist sich als besonderer Hinde-

rungsgrund einer wirtschaftlichen

Expansion in die Beitrittsländer hin-

ein.

• Insgesamt wächst damit die Gefahr,

dass ökonomische Entwicklungsdy-

namiken im Gefolge der EU-Oster-

weiterung nicht nur den ostbran-

denburgischen Grenzraum zu Polen,

sondern Brandenburg insgesamt

„froschartig überspringen“ (leap-frogging).

4.Lokale Akteure & überlokaleStrukturprobleme.Das Land Brandenburg kennt eine

bewunderungswürdige Fülle lokaler In-

itiativen und kreativer örtlicher Akteurs-

netze, Vereine etc. Langsam bilden sich

auch hier bürgergesellschaftliche Milieusmit lokalem Stolz auf bislang Erreichtes.

Förderpolitisch muss daher auch umge-

steuert werden auf Orte und Plätze, wo

sich „etwas tut“. Zugleich wird das mär-

kische Flächenland aber von überlokalenStrukturdynamiken und Konkurrenz-

verschärfungen heimgesucht, gegen

die lokale Netze nur bedingt handlungs-

und strategiefähig erscheinen. Hier dro-

hen Überforderungen – weil überlokale

Strukturdynamiken sich lokal nur ganz

marginal bearbeiten lassen. Eine Re-

aktion auf die hier drohende Über-

forderung sind – insbesondere unter

Schrumpfungsbedingungen – soziale

und mentale Abschottungen (vgl. Matt-

hiesen 2003, 89 ff). Auch davor sind

brandenburgische Gemeinden und ihre

Bürgerschaft keinesfalls gefeit. In eini-

gen Städten, die sich selbst inzwischen

als „sterbende Städte“ sehen (Witten-

berge, Guben, Forst u.a.), scheint das

inzwischen fast die Regel. Hier muss

eine überlokal ansetzende Raumpolitik

vor endogenen Überlastprogrammen

schützen – und zugleich dennoch die

Ebene kreativer, neugieriger lokaler Ak-

teursnetze nach Kräften stärken.

Ulf Matthiesen

100

Page 103: perspektive21 - Heft 21/ 22

5. Metropole Berlin.Nehmen wir die nationalen und

internationalen Konkurrenzverschär-

fungen in den Blick, dann zeigt sich,

dass die zentrale Lagegunst Branden-

burgs nicht seine lange Grenze mit

Polen ist, sondern eher die bislang

„periphere Metropole Berlin“ in seiner

Mitte. Die Verschuldungskrise beider

Staaten kann im Ernst kein Haupt-

grund sein, dieses Alleinstellungs-

merkmal des brandenburgischen Flä-

chenlandes entschlossener zu profilie-

ren. Gerade die peripheren Regions-

teile Brandenburgs können nur in

einem fusionierten Bundesland Bran-

denburg neue Funktionen und neue

Rollen finden. Zumindest auf diesem

Gebiet geht die Berlin-Brandenbur-

gische Forschungs- und Wissen-

schaftslandschaft in einigen Teilen mit

leuchtendem Beispiel voran: etwa im

Biotech-Bereich mit Berlin-Branden-

burgischen Kompetenznetzwerken, in

der zukünftigen Governance-Ausbil-

dung (HU Berlin –Viadrina Frankfurt),

oder mit neu sich formierenden Berlin-

Brandenburgischen Kompetenzzen-

tren für „Stadt und Region“ (TU Ber-

lin/IRS) sowie mit dem „Georg Simmel-

Zentrum für Metropolenforschung“

(HU Berlin /IRS).

Das Orientierungswissen der sozial-

wissenschaftlichen Raumforschung, so

wie es das IRS beispielgebend in Erkner

entwickelt, operiert bewusst auf halber

Wegstrecke zwischen der kritischen

Analyse der Lage einerseits (s. Teil I) und

konkreten Politikempfehlungen (s. Teil

III) andererseits. Ziel ist es, die Freiheit

des analytischen Blicks mit deutlichen

Anwendungsbezügen zu verkoppeln.

Dabei ist einerseits unstrittig: Natür-

lich genügt es nicht, kritisch zu analy-

sieren. Aber gerade für Brandenburg

scheinen kritische Analysen wichtiger

denn je zu sein. Zu viele und zu große

Entwicklungshypes wurden hier schon

in den märkischen Sand gesetzt – auch

aufgrund von nicht hinreichend kri-

tischen Analysen. Möglicherweise

steckt hierin eine weitere verstärkende

Ursache für den brain drain: die Ent-

täuschung junger Menschen über zu

viel unrealistische, zudem fremd-

alimentierte Opulenz in den Entwick-

lungsprojektionen, mit der Folge zu

vieler gescheiterter „Leuchtturm-Pro-

jekte“ in dieser Gegend. Die Phase der

Großprojekte und Masterpläne scheint

Das Ende der Illusionen

101

II. Orientierungswissen unter Nicht-Wachstumsbedingungenund für disparitäre Regionalentwicklungen

Page 104: perspektive21 - Heft 21/ 22

inzwischen vorbei – die Kassenlage

erzwingt es. Das hat auch sein Gutes.

Was aber sonst?

Eine unscheinbare, aber folgenreiche

Grundregel für die Entwicklung von zu-

kunftsfähigem Orientierungswissen

für Brandenburg soll hier zunächst

hervorgehoben werden: Genauer hin-sehen – insbesondere auf örtliche Be-

gabungen, Kompetenzen und Initiati-

ven, wobei insbesondere lokales Wissen(etwa im low tech-Bereich) einbezogen

und strategisch gestärkt werden muss.

Allerdings darf dabei nicht noch einmal

die Feier der endogenen Potentiale bis

zur Überforderung ausgereizt werden.

Ohne die Mobilisierung von über-

lokalem Wissen wird sich gerade in

Brandenburg der circulus vitiosus der

weiteren wissensgesellschaftlichen

Peripherisierung durch brain drain

nicht mehr lösen lassen.

Deshalb müssen Deutungs- und

Erklärungsangebote der avanciertesten

internationalen Theorieansätze zu

„ungleichmäßigen Regionalentwick-

lungen“ aufgegriffen, dann aber mit

einem klaren Bewusstsein der Spezifik

des ostdeutschen und brandenbur-

gischen Transformationspfades verbun-

den werden: exorbitante industrial-

istische Monostrukturen als Hypothek,

Systemkrise (Globalisierung) mit spezifi-

schen – auch mentalen – „lock-in“-Struk-

turen, passfähig zu entwickelnde raum-

politische Strategien mit lokal- und

regionalspezifisch zu profilierenden

Chancenprofilen.

Orientierungswissen für die zukunfts-

fähige Gestaltung der nächsten Etappen

eines brandenburgischen Entwicklungs-

pfades sehe ich dabei in kritischer Dif-

ferenz zu mindestens vier konkurrieren-

den Entwicklungs-“Philosophien“:

1. Nachholende Modernisierung:Diese sicherlich einflussreichste Ent-

wicklungsphilosophie bildet das – häu-

fig auch implizit bleibende – Entwick-

lungsskript des bisherigen branden-

burgischen Regierungshandelns, alle

Großprojekt-Überhebungen inklusive.

Natürlich sind international und global

operierende Beraterfirmen professio-

nelle Verstärker solch „nachholender“

Entwicklungsansätze. Danach durchlau-

fen regionale Entwicklungsdynamiken

zeitversetzt überall mehr oder minder

dieselben Stadien, benötigen also auch

dieselben Steuerungs-, Planungs- und

Implementierungsinstrumentarien.

2. Entwicklungsprinzip Transfer:Mit dem 1. Mai 2004 treten Transfor-

mationsstaaten auf, die bislang ihre

nationalen Transformationspfade knall-

hart auf eigene Rechnung implementiert

haben. Damit wird das bisherige ost-

deutsche Strukturwandel-Alimentie-

rungsprinzip („Viel bewirkt viel“) trotz der

Ulf Matthiesen

102

Page 105: perspektive21 - Heft 21/ 22

Übergangsfristen schlagartig zum Aus-laufmodell – mit erheblichen Spätfolgen.

3. Ost-Avantgardismus:Dem mutigen Programmansatz Wolf-

gang Englers zufolge bilden gerade die

Ostdeutschen dank ihrer Transforma-

tionserfahrungen gleichsam eine euro-

päische „Avantgarde“ für transformato-

rische Entwicklungsagenden. Von deren

Erfahrungen könne zuförderst der

Westen, aber auch der neue EU-Osten

lernen. Leider machen die tiefreichen-

den Effekte des Brain Drain in Ost-

deutschland dieses hoffende Engler-

sche Entwicklungsskript zunehmend

zur Makulatur.

4.Beschränken wir unsereGestaltungsabsichten aufdynamische Kerne – überlassen wirden Rest sich selbst:Der strukturelle Zynismus in den meli-

orisierenden Schrumpfungspolitiken a

la „shrink to fit“ unterschätzt die Lang-

zeitfolgen der ostfordistischen Mono-

struktur-Arrangements für die Regional-

entwicklung – ganz zu schweigen von

den Mentalitätsstrukturen, die sich

bekanntlich sehr viel langsamer trans-

formieren als harte Infrastruktur.

Zielführendes Orientierungswissen zu

realistischen brandenburgischen Ent-

wicklungsoptionen muss sich stattdes-

sen in den Handlungsfeldern zwischen

diesen vier einflussreichen, aber in mei-

nen Augen verfehlten Entwicklungsphi-

losophien konkretisieren. Dabei kommt,

wie ich im Teil III zeigen möchte, vieles

auf intelligente Mischungen endogener

mit exogenen Potentiale an – unter der

Zusatzmaxime „Genauer hinsehen!“

Den global induzierten neuen Dis-

paritätenbildungen und ihren schlecht

prognostizierbaren Effekten weicht

das übliche regional-wissenschaftliche

Orientierungswissen häufig in relativ

abstrakte Prozessempfehlungen aus.

Bei der umstandslosen Übertragung

auf brandenburgische Verhältnisse

geht die Differenziertheit und Singula-

rität der brandenburgischen De-In-

dustrialisierungskrise verloren. Häufig

herangezogene Vergleiche (De-Indu-

strialisierung in England, im Ruhrge-

biet; Infrastrukturerfahrungen in tradi-

tionell dünn besiedelten Regionen

Skandinaviens) verfehlen also – sowohl

was Zeit, Raum wie Funktionen angeht

– eher die Spezifik des brandenbur-

gischen Raumes. Insbesondere über

die Quereffekte kumulierender Prozes-

sdynamiken – häufig im Schrump-

fungs-, seltener im Wachstumsmodus

– liegt „verfahrensgehärtetes“ Orien-

tierungswissen bislang kaum vor.

Besonders kritisch sind in der Regel vor

allem Vorschläge für die jeweilige Inku-bationsphase von Entwicklungen,also für

Das Ende der Illusionen

103

Page 106: perspektive21 - Heft 21/ 22

die kritische Phase 1 regionalpolitischer

Umsteuerungen: Innovative-Milieu-An-

sätze und andere wirtschaftsgeogra-

phische Vorschläge etwa werden hier

regelmäßig tautologisch, zirkular und/oder nebulös: Danach „bedarf“ es zur

Einleitung eines lokal- oder regionalöko-

nomischen Lern- und Wachstumszyklus

immer schon einer „gewissen“ lokalen

Konzentration „relevanter“ Humankapi-

talressourcen. Umgekehrt folgt daraus

ja auch,dass für peripherisierte Teilregio-

nen Brandenburgs mit starken Brain-Drain-Effekten per se überhaupt keineEntwicklungschancen mehr bestünden,

weil hier genau solche notwendigen,

aber nicht hinreichenden „Vorausset-

zungen“ für Entwicklung fehlen (s. die

kritische Analyse bei Matthiesen 2003, S.

105). Dasselbe lässt sich für Netzwerk-

und Clusteransätze zeigen: auch sie ten-

dieren für diese kritischen Anfangs-

phasen zu Tautologien, Zirkularitäten

und wolkigen Bestimmungen. Statt-

dessen spulen sie das Programm der

nachholenden „Cluster-Moderne“ ab:

„Ein Cluster ist ein Cluster ist ein Clus-

ter!“. Auch hier wird deutlich, welch zen-

trale Rolle die kritische Analyse lokaler

und regionaler Kompetenzen spielt. Die

Grundregel bleibt also: „Näher hin-

sehen!“

Die exorbitante Krisenlage Branden-

burgs, die sich durch absehbare Degres-

sionen in den Förderkulissen ja nicht

gerade aufhellt, bedeutet immer auch:

Hoffnungen auf Standardlösungen

oder auf den „one best way“ á la Taylo-

rismus sind schon im Ansatz illusorisch.

Überlegtes und beherztes, vernetztes,

verantwortliches und gleichwohl feh-

lerfreundliches Problemlösungshan-

deln muss an deren Stelle treten.

Zudem ist immer mehr mit einem

ganzen Satz von Problemlösungsalter-

nativen zu rechnen, zwischen denen

unter den chronischen Randbedin-

gungen von Ressourcendruck und un-

vollständiger Information verantwort-

lich zu entscheiden ist. Den einen

Masterplan für Brandenburg also gibt

es nicht mehr. Stattdessen stehen lern-

fähige interdisziplinäre Ansätze, vor

allem aber auch ressortübergreifende

Zugänge und Kooperationsformen auf

der Tagesordnung.

Den raumpolitischen Neuanfang

könnte ein großer Ideen-Potlatsch bil-

den, der die besten Köpfe der Region

einlädt, sich gemeinsam „einen Kopf

Ulf Matthiesen

104

III. Raumpolitische Handlungsstrategien für Brandenburg – und die Rolle von Raumpionieren

Page 107: perspektive21 - Heft 21/ 22

zu machen“. Das setzt innovative Ver-

fahren der Interaktion voraus, die die

Interessengebundenheit der Stand-

punkte verflüssigt: Ziel muss es sein,

Kompetenz zu stimulieren und verant-

wortlich zu bündeln.

Brandenburg steht vor einer Be-

währungsprobe, die selbst die wilde

Phase der Vereinigungskrise zwischen

1989 bis etwa 1991 noch in den Schatten

stellt. Desillusionierung und Ratlosig-

keit drohen. Gute Chancen also und vor

allem gute Gründe für einen Wechsel

im Kooperationsstil brandenburgischer

Wissens- und Politikakteure miteinan-

der: Statt paternalistischer „kleiner

DDR“ – mit NRW-Steuerungsrezepturen

– stehen kooperative, gleichwohl in der

Hierarchie oben eingetaktete neueGovernanceformen auf der Tagesord-

nung. Die Bereitschaft im Lande, sich

einzumischen, muss jetzt als Chance

ergriffen werden.

In diesem letzten Teil möchte ich

meine bisherige Argumentation raum-politisch zuspitzen und versuchsweise

mit Personal bestücken. Den Personen-

kreis von Akteuren, den ich dabei vor

allem ins Spiel bringen möchte, nenne

ich – in Ermangelung anderer Begriffe –

„Raumpioniere“. Damit greife ich ein

Konzept auf, das mancherorts und eher

unsystematisch in den letzten Jahren ins

Spiel gebracht wurde. Hier soll es auf die

besondere Disparitäten-Lage Branden-

burgs zugespitzt werden. Das überge-

ordnete Thema dabei ist: Brandenburgzwischen differenzierten Teilregionen undneuen Disparitäten. Dabei geht es immerauch um die Neustrukturierung des Ver-hältnisses von Metropolregion und peri-pheren Teilregionen in Berlin-Branden-burg insgesamt.

Wie zu Beginn schon betont, muss

die Verschiedenartigkeit des Landes,

mit seinen atemraubenden Landschaf-

ten (etwa an der Oder) und den opu-

lenten Kulturlandschaften in und um

Potsdam, mit dramatisch peripher fal-

lenden äußeren Regionsteilen (Ucker-

mark, Prignitz) und relativ profitabel

sich entwickelnden engeren Verflech-

tungsräumen mit Berlin zunächst als

eigener Wert kodiert und dann für eine

zusammenstimmende regionale Ent-wicklungsstrategie anschaulich ge-

bündelt werden.

Zugleich aber wird die immer krasser

werdende disparitäre Entwicklung

zwischen dem so genannten äußeren

Entwicklungsraum (mit einer für 2015

prognostizierten Bevölkerungsdichte

von 40-45 Einwohnern/km2) sowie

dem sich stabilisierenden, teilweise

auch wachsenden engeren Verflech-

tungsraum um Berlin zum entschei-

denden Prüfkriterium für eine zu-

kunftsfähige regionale Entwicklungs-

politik. Lässt die Politik die „neuen Peri-

pherien in der Mitte eines größer wer-

Das Ende der Illusionen

105

Page 108: perspektive21 - Heft 21/ 22

denden Europa“ links liegen oder gar

weiter „abschmieren“, hat sie diese un-

ausweichliche große Herausforderung

nicht bestanden.

Gleichzeitig ist einzuräumen, dass

die alten Ausgleichsfiktionen der unter

Wachstumshoffnungen institutiona-

lisierten „dezentralen Konzentration“

an der Realität gescheitert sind. Daher

genügt es nicht mehr, dieses branden-

burgische Entwicklungsleitbild nur

weiter zu profilieren. Es ist vielmehr

neu zu denken und neu zu entwerfen.

Fünf Maximen für einen solchen Neu-

ansatz sehe ich:

1. Die schwachen Entwicklungs-

dynamiken in Brandenburg sind zu

„kritischen Massen“ zu bündeln, ohne

die Peripherie ihrem Schicksal zu über-

lassen.

2. Dazu erscheint es zwingend, die Ent-

wicklung Brandenburgs strategisch mit

der Entwicklung der bislang selber peri-pheren Metropole Berlin zu verschrän-

ken. Dieses regionalwissenschaftlich-an-

alytische Plädoyer für eine Länderfusion

gilt selbst für den Fall, dass Fusionspläne

aus wahltaktischen Gründen temporär

inopportun erscheinen mögen.

3. Die der Gleichverteilungslogik von

Entwicklungsimpulsen geschuldete „Tor-

tenstück-Doktrin“ der Kreisbildungen

und Planungsregionen in Brandenburg

muss konzeptuell ersetzt werden durch

realistischere Raumentwicklungskon-

zepte für den Gesamtraum Berlin-Bran-

denburg. Deren Basis müssen neben den

realen funktionalen insbesondere auch

Verstärkungen der regionalkulturellenVerflechtungen zwischen Berlin, dem

engeren Verflechtungsraum (nicht ganz

zutreffend: „Speckgürtel“) und dem

äußeren Entwicklungsraum („ländlicher

Raum“) sein. Dabei spielen die engere

Metropolregion Berlin und die äußeren

Regionsteile Brandenburgs komplemen-täre, aufeinander stärker zu beziehende

Rollen.

4. Für zunehmend peripher fallende

Regionsteile muss es neu konzipierte

Stabilisierungsstrategien geben. K.D.

Keim (2004), dem ich hier im wesent-

lichen folge, hat gerade eine neue Art

internen Finanzausgleichs in die peri-

pheren Räume hinein vorgeschlagen,

etwa indem Zuwächse durch gestärkte

Wachstumsdynamiken im engeren

Metropolraum zu einem bestimmten

Prozentsatz als gezielte Mittelzuwei-

sungen in die brandenburgischen Peri-

pherien weitergegeben werden.

5. Um dem Sog der Zentrumsfix-

ierung aller bisherigen Metropolraum-

politiken entgegenzuwirken, müssen

daneben besondere innovative An-

Ulf Matthiesen

106

Page 109: perspektive21 - Heft 21/ 22

strengungen für die weitere Profilie-

rung der Berlinferneren Regionen

unternommen werden. Diese Anstren-

gungen müssen jetzt aber über (einge-

schränkte!) fiskalische Stabilisierungs-

strategien weit hinausgehen.

Das Stimulieren und Vernetzen loka-

ler und regionaler Potenziale spielt bei

diesen fünf regionalpolitischen Maxi-men sicher eine unersetzliche Rolle.

Gleichwohl sind Feiern der Endogenitätweniger denn je angebracht. Und sie

können leicht zur Abwälzung der

neuen raumpolitischen Verantwor-

tung für die „entstehenden Periphe-

rien in der Mitte eines größeren

Europa“ instrumentalisiert werden.

Was also sonst?

Generell geht es um die gemeinsame

Entwicklung intelligenterer Mischungenexterner mit endogenen Entwicklungs-impulsen.Was heißt das konkret? Neben

den fiskalischen Stabilisierungsstrate-

gien, die besser auf die Neuformu-

lierung von „asketischeren“ Mindest-

standards für periphere Räume justiert

werden müssen, sehe ich wieder fünf

zentrale Handlungsfelder für eine neue

Regionalpolitik im Berlin-Brandenbur-

gischen Raum:

1. Wissen, Lernen, Kultur – sowie die

entschlossene Profilierung der kultur-

landschaftlichen Potenziale bleiben

zentrale Stellschrauben zur Überwin-

dung der Gefahr von weiteren Periphe-

risierungsverschärfungen (vgl. dazu

ausführlicher Matthiesen 2004).

2. Entscheidend wird zunehmend die

Stärkung der Akteursebene in peripheren

Regionen. Gerade weil es gegen die

neuen wissensgesellschaftlichen Peri-

pherisierungsdynamiken kein überallgleich anwendbares Rezeptwissen geben

kann, sind das Erfahrungswissen der

Akteure und das Milieuwissen der krea-

tiven Netzwerke vor Ort und in der

Region unverzichtbare Andockstellen für

die Entwicklung von kontextuierten

Gegenstrategien. Hinzu treten einige

Grundregeln für die Stärkung lernfähi-

ger lokaler Akteursnetze, die sich gerade

auch in ausgedünnten Teilräumen

bewähren: Hebeleffekte nutzen, Feed-

back-Kreise schaffen; Teufelskreise

unterbrechen; Engpassfaktoren erken-

nen und ausschalten; Team-Lernen:

Gemeinsames Denken im Dialog; kom-

plementäre Stärkenergänzung; Offen-

heits-, Vertrauens-, Feedback-Kompeten-

zen qualifizieren; Coaching und Lern-

Partnerschaften bilden; zirkulär ver-

netzte statt kausal-lineare Erklärungs-

muster und hierarchische Entschei-

dungswege stärken; die „Bauchkompo-nente“ Ernst nehmen; Stärkung regiona-

ler und lokaler Identitätsformen; intrins-

ische Motivationsketten mobilisieren,

„asketische“ Leistungsnormen stärken,

Das Ende der Illusionen

107

Page 110: perspektive21 - Heft 21/ 22

reines transfergestütztes Anspruchs-

denken hinterfragen; eine kreative Span-nung zur Vision einer regionalen Lern-

und Wissensgesellschaft aufbauen und

aufrechterhalten; transparente und

offene Kooperationsformen entwickeln

und auf Dauer stellen – und nicht zuletzt

starke und schwache Partner „proaktiv“

verkoppeln.

3. Um die endogenen Akteursnetze

nicht zu überlasten, wird gerade in peri-

pheren Regionsteilen die Anziehung

externer Innovationskompetenzen zu

einem zentralen Punkt. Für die leer lau-

fenden Teilregionen müssen ja neue

Nutzungen und Funktionen regelrecht

erst wieder erfunden werden. Hier sehe

ich die erfolgversprechende Rolle von

„Raumpionieren“ aus den neuen Über-

gangsfeldern zwischen Wissen, Ökono-

mie, Kultur und Kunst. Solche Raumpio-

niere können hier eine wichtige Rolle als

Inkubatoren und Anreger spielen – etwa

um in der Verbindung mit lokalen Kom-

petenzen kreatives Wissen und neue

Ideen für die und in den peripheren

Räume zu entwickeln. Sie können zei-

gen, dass vor Ort kreative Prozesse und

Handlungsmuster nicht nur möglich

sind, sondern auch erfolgreich sein kön-

nen. Der raumpolitische Effekt von

Raumpionier-Netzen gründet auf dem

gemeinsamen Prozess der Konstruktionund Erprobung neuer Raumnutzungsfor-

men. Gerade die dünn besiedelten

Regionsteile mit ihrem eher asketischen

Charme können auf diese Weise neuer-

lich attraktiv gemacht werden – und

damit weitere Akteursmilieus aus den

überregelten Metropolregionen anzie-

hen. Für die durch Entleerung und

Humankapital-Abwanderung struktu-

rell und räumlich ausgedünnten Teilre-

gionen wird es insofern entscheidend,

Regelungsdichten, die Initiativen ab-

schnüren, vor Ort oder in den peripheren

Teilregionen abzusenken, um neue

Räume für innovatives selbstverant-

wortliches Probehandeln zu schaffen.

Das Konzept der Raumpioniere für die

neuen mitteleuropäisch-brandenbur-

gischen Peripherien führen wir zu-

nächst eher als Suchbegriff ein. Dieser

ist bewusst weit zu fassen: er reicht von

artisanalen, also kunsthandwerklichen

Kompetenznetzen über die Stärkung

lokaler und regionaler Kreisläufe im

ökologischen Landbau, über sanfte Tou-

rismusformen sowie – dem Terroir-Prin-

zip verpflichtete – Formen der regiona-

len Küche bis hin zu neuen, Mobilität

mit Sässigkeit mischenden Stadt-Land-

Existenzformen im Bereich von Design-

Graphik-IuK-Medien. Dieses Konzept

reicht von high-tech-vernetzten In-

genieurbüros in umgebauten Scheunen

mit regionalen Zuliefernetzen (Prignitz)

über die Wiederentdeckung high-tech-transformierter Manufakturformen

Ulf Matthiesen

108

Page 111: perspektive21 - Heft 21/ 22

(Holzbearbeitung Beeskow, Enten-

daunen-Fabrikationen im Oderbruch,

Schlupfwespen-Zucht in Baruth), über

polnische Künstler-Handwerker-Teams

bis zum starken persönlichen Engage-

ment „rückgekehrter“ Mitglieder ost-

elbischer Adelsfamilien – etwa in der

Uckermark. Genauere regionalwissen-

schaftliche wie regionalpolitische Be-

obachtungen dieser bislang „natur-

wüchsig“ sich bildenden Netze in den

peripheren Regionsteilen sind über-

fällig. Schon jetzt zeigen sich aber eine

Fülle von pionierhaften „Neuerobe-

rungen“ für aus der Nutzung gefallene

Räume. Sie belegen einmal die Erfin-

dung neuer Raumfunktionen, zugleich

aber auch die selbstbewusste Formulie-

rung leistungsorientierter Kooperati-

onsansprüche, die immer auch interes-

sante bau- und landschaftskulturelle

Rückwirkungen auf den peripheren

Raum selbst haben. Diese bislang natur-

wüchsigen Tendenzen sind nachdrück-lich zu stärken – etwa indem intelligente

Formen der Lockerung innovationsbe-

hindernder Handlungsnormierungen

vor Ort gefunden werden.

4. Eine weitere, bislang weitgehend

übersehene Chance der Stärkung peri-

pherer Regionsteile hängt mit der För-

derung der Innovationsdynamik dieser

neuen Raumpionier-Netze direkt zu-

sammen: Ich nenne sie die Gummi-

band-Strategie. Damit lassen sich Ge-

genstrategien gegen die fatalen Folgen

der weiterlaufenden Brain Drain-Pro-

zesse entwickeln (Die Gummiband-

Metapher ist den Wissensmilieuanaly-

sen von Bruno Hildenbrand und Marcel

Schmidt zur Entwicklung der Stadtre-

gion Jena entnommen. Vgl. Marcel

Schmidt 2004). Bislang wandern Gut-

ausgebildete, insbesondere die jungen

Frauen ab, ohne jemals wiederzukeh-

ren. Die Chancen einer Rückkehr der

jungen Gutausgebildeten, die sich

außerhalb der Region weiter qualifizie-

ren, lassen sich erheblich steigern,

wenn für sie selbst erkennbar wird, wie

und wo sich gerade in den entleerten

Räumen ihrer Heimatregionen neue

Handlungsoptionen auftun – mit selbstzu profilierenden attraktiven Karrie-

rechancen und Tätigkeitsformen. Erste

Fallanalysen zeigen, dass es nicht in

erster Linie die absolute Höhe der in der

westdeutschen Ökonomie zu verdien-

enden Löhne und Gehälter ist, die zum

Brain Drain führt, sondern ein Gemisch

von sich überlagernden Schrumpfungs-

charakteristika: also die Überlagerung

der Chancenlosigkeit auf lokalen und

regionalen Arbeitsmärkten mit Inno-

vationsbarrieren, selbstmarginalisie-

renden Abschottungsprozesse und Ver-

sorgungsmentalitäten vor Ort – nicht

zuletzt ist es eine tiefe Skepsis gegen-

über neuen Lösungen und neu/alten

Das Ende der Illusionen

109

Page 112: perspektive21 - Heft 21/ 22

Berufsprofilen, wobei avancierte Hoch-

technologien versuchsweise an ältere

lokale Kompetenzformen angeschlos-

sen werden. Positiv gewendet formu-

lieren diese Schrumpfungsdynamiken

genau die Ausgangskonstellationen für

das Einsickern von Raumpionieren in

solche auf neue Weise attraktiv und

leer werdenden Chancenräume. Das

„Inwertsetzen“ dieser Räume durch

innovative Netze erhöht also zugleich

die Chance, dass diese peripheren Orte

wieder zu attraktiven Zielräumen für

andernorts weiter qualifizierte „Lan-

deskinder“ werden können. Die Strate-

gie der Kontextförderung für Raumpio-

niere und die Förderung einer regiona-

len bzw. lokalen Gummiband-Strategiefür Junge und Gutausgebildete ge-

hören also zusammen.

5. Beratungsformen und Governance-strukturen in Berlin-Brandenburg. Die

systematische Förderung von Bildung,

Wissen und Kultur erhöht zunächst

immer auch die Fähigkeit einer realis-

tischen Selbstbeschreibung und die

Chancen für zukunftsfähige Strategie-

entwicklungen. Die erste Konsequenz

daraus ist: Die brandenburgischen For-schungs-, Wissenschafts- und Bildungs-institutionen sind durch die gravie-

rende Strukturkrise des Landes in

besonderer Weise gefordert, einen ver-

antwortlichen Beitrag zur Lösung der

neuen sozioökonomischen, kulturellen

und mentalen Wissenslagen zu leisten.

Eine zweite Konsequenz: Dazu sind

Verfahren, Lernprozesse und institutio-

nelle Arrangements nötig, die sich

nicht von selbst einstellen und die mit

Sicherheit über Lernprozesse weiter

optimiert werden müssen. Dabei sind

drittens ganz unterschiedliche Formen

der Entscheidungsberatung im Um-

lauf. Um drei Formen zu nennen:

• Sachsen hat in der Ära Biedenkopf

unter der Ägide von Meinhard Mie-

gel ein stark zentralistisch orien-

tiertes Strategieentwicklungsmodell

verfolgt, diskursiv eher schwächelnd,

aber umsetzungsstark.

• Berlin erprobt gerade eine große

Zukunftskommission – diskursiv stark,

mit bislang undeutlichen Umset-

zungsbindungen in die Senatspolitik

hinein, der immer noch das Label

„beratungsresistent" anhaftet. Man

erinnere sich an die „Lokale Agenda

2010“ von 1999 sowie die BerlinStudie

von 2001, die folgenlos zunächst in

den Schubläden der Verwaltung ent-

schwanden.

• Brandenburg hat unter der Leitung des

„regionsfremden“ Koordinators Chris-

toph Zöpel das Brandenburg 2025-

Zukunftsgremium erprobt: diskursiv

stark, zentrale Themen richtig platzie-

rend, aber doch implementationsfernund angesichts der kumulierenden

Ulf Matthiesen

110

Page 113: perspektive21 - Heft 21/ 22

Schrumpfungsdynamiken zu abstrakt

bleibend. Auch diese Vorschläge sind

größtenteils in den computerisierten

Schubläden verschwunden.

Es liegt daher nahe, für einen bran-

denburgischen Weg aus der Gegen-

wartskrise heraus Nachteile dieser drei

Beratungs- und Entwicklungsarran-

gements auszutarieren und deren je-

weilige Vorteile zu bündeln. Für

Strategieüberlegungen des Landes zur

differenziellen Profilierung seiner zu-

nehmend disparitären Regionalent-

wicklung schlagen wir deshalb vor:

1. Die Beratungsressourcen der Groß-

region Brandenburg systematischer

zu nutzen und im Sinne „Lernender

Regionen“ weiterzuentwickeln,

2. Unabhängige Strategiegutachten in

Auftrag zu geben, dabei von Beginn

an interdisziplinär und ressortüber-

greifend vorzugehen,

3. Mittelfristig angelegte Arbeitsge-

meinschaften zwischen wissenschaft-

lichen Experten und der Verwaltung

einzurichten,

4.den Diskurs, das Orientierungs-

wissen und den Koordinationspro-

zess von der Spitze aus anzuschieben

und zu begleiten,

5. lokale und teilregionale Problem-

lösungen stärker mit den Strategie-

fragen zu verschränken, und nicht

zuletzt

6.neue Prozessformen der lernenden

Strategiefindung zu erproben (open

space, task forces).

Bei der anstehenden schwierigen Stra-

tegieentwicklung für ein größeres Bran-

denburg bis zum Ende des Solidarpakts

im Jahr 2019 – mit einer peripheren 3,4

Millionen-Metropole in seiner Mitte und

einer langen gemeinsamen Grenze mit

dem EU-Vollmitglied Polen – scheinen

uns daneben einige Dinge unerlässlich:

unkonventionelle Verfahrenswege bei

einem größeren Orientierungswissen-

Ratschlag, die institutionelle Anbindung

der Strategieentwicklung als Chefsache,

eine verantwortliche Einbeziehung regi-

onaler wie transregionaler Forschungs-

ressourcen und nicht zuletzt die ent-

schlossene weitere Profilierung der

Unterschiedlichkeit brandenburgischer

Regionsteile. Auch hier also öffnen sich

gute Chancen für Raumpioniere!

Das Ende der Illusionen

111

Ulf MatthiesenAbteilungsleiter am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner,

außerordentlicher Professor an der Humboldt-Universität Berlin.

[email protected], www.irs-net.de

Page 114: perspektive21 - Heft 21/ 22

Ulf Matthiesen

112

Entwicklungsregion Brandenburg 2019: Elf Entwicklungsetappen

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Quelle: Grafik-UM/IRS

Page 115: perspektive21 - Heft 21/ 22

Das Ende der Illusionen

113

Literaturangaben

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K. D. Keim, Herausforderungen für die Regionalplanung, Vortrag vor der Regiona-

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Matthiesen, Ulf, Die Stadt im Umbau, in: IREGIA (Hrsg.), Stadtumbau und Revitali-

sierung, Sonderheft 6, Chemnitz, S. 45-61. 2002

Matthiesen, Ulf, Im Sog von Schrumpfungsdynamiken – eine Lernende Region im

deutsch-polnischen Grenzraum, in: Matthiesen, U.; Reutter, G. (Hrsg.) (2003),

Lernende Region – Mythos oder lebendige Praxis? Bertelsmann: Bielefeld, S. 89-

114. 2003

Matthiesen, Ulf, Wissen in Stadtregionen, in: Matthiesen, U. (Hrsg.), Stadtregion

und Wissen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. 2004, im Erscheinen

Schmidt, Marcel, Wissensmilieus in Jena, in: Matthiesen, U. (Hrsg.), Stadtregion

und Wissen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. 2004, im Erscheinen

Page 116: perspektive21 - Heft 21/ 22
Page 117: perspektive21 - Heft 21/ 22

Ob eine Region pulsiert, hängt auch

davon ab, ob sie weiß, was sie will und

worin ihr besonderes Profil bestehen

soll. In diesem Sinne benötigt Branden-

burg eine neue orientierende Idee für

seine Zukunft. Gebeutelt von krisen-

haften Entwicklungen und einander

wechselseitig verstärkenden negativen

langfristigen Trends in Ökonomie,

Demografie, Gesellschaft und öffent-

lichen Finanzen wird sich die Politik des

Landes in den kommenden Jahren

nicht darauf beschränken können, bloß

sehenden Auges den wachsenden

Mangel zu verwalten. Die Folgen wären

unweigerlich fortgesetzter und be-

schleunigter Niedergang – sowie der

Machtverlust derjenigen politischen

Formationen, die diesen Niedergang

federführend administrieren. Ange-

sichts aller erkennbarer Makrotrends

ist völlig ausgeschlossen, dass eine

grundlegende Umkehrung der Rah-

menbedingungen sich gleichsam im

Selbstlauf ereignen wird. Wie andere

Regionen des klassischen Industrialis-

mus auch, aber strukturell besonders

benachteiligt, tritt Brandenburg in eine

ganz neue Etappe seiner Geschichte

ein. Damit wächst die Wahrscheinlich-

keit gesellschaftlicher Verdrossenheit.

Benötigt wird daher umso mehr eine

zu Brandenburg passende, aber klar

über seine derzeitigen Verhältnisse hin-

aus weisende strategische Vision – also

das plausible Bild einer erstrebens-

werten, machbaren Zukunft für das

Land (beziehungsweise die Region).

Nur vor dem Hintergrund einer solchen

von allen wesentlichen Akteuren verin-

nerlichten, konsequent verfolgten und

offensiv kommunizierten langfristigen

strategischen Vision werden sich die

unweigerlich bevorstehenden Rück-

schläge und Durststrecken der kom-

menden Jahre überstehen lassen. Und

überhaupt nur langer Atem und eine

geeignete strategische Vision für Bran-

denburg werden dazu führen, dass sich

am Ende jener Rückschläge und Durst-

strecken eine lebbare und wünschens-

werte Zukunft für Brandenburg mög-

115

Brandenburg und das finnische Modell

Von Tobias Dürr

I. Eine strategische Vision für Brandenburg

Page 118: perspektive21 - Heft 21/ 22

lich wird. Ob es dazu kommen wird, ist

offen; als absolut sicher kann dagegen

gelten, dass das Land Brandenburg

(beziehungsweise die gesamte Region

Berlin-Brandenburg) ohne eine strate-

gische Vision für das 21. Jahrhundert

schweren Zeiten entgegen sieht.

Es ist offensichtlich, dass Branden-

burg nicht in der Lage sein wird, aus

eigener Kraft ein ganz eigenes ökono-

misches und gesellschaftliches Modell

zu entwickeln. Das Land braucht Leitbil-

der, es kann von den Ideen und Erfolgen

anderer profitieren, die sich in vergleich-

bar schwierigen Konstellationen „neu

erfunden“ haben. Dabei geht es nicht

darum, fremde Erfahrungen unreflek-

tiert zu kopieren; es geht darum, die

richtigen eigenen Schlüsse zu ziehen.

Ebenso wichtig bei der Auseinander-

setzung mit Erfolgsgeschichten anders-

wo ist der psychologische Aha-Effekt,

der sich mit der Einsicht verbinden

kann, dass so etwas überhaupt möglich

ist. Es kommt deshalb auch nicht darauf

an, ob sich ein anhand der Erfolge ande-

rer gewonnenes Leitbild in Branden-

burg maßstabsgetreu „anwenden“ lässt

– dies wird angesichts unterschiedlicher

Voraussetzungen ohnehin niemals der

Fall sein. Entscheidend ist die anschau-

liche Konkretion, die am geeigneten Bei-

spiel gewonnene Erkenntnis der Mach-

barkeit von Aufbruch und Wandel. Aber

an welchen Vorbildern, Modellen, Ideen,

Prinzipien könnte sich Brandenburg

überhaupt orientieren? Klar ist, dass

jede ernst gemeinte strategische Aus-

richtung – mindestens – den folgenden

Anforderungen genügen muss:

Anschlussfähigkeit. Langfristig ent-

standene und traditionsreiche Sozial-

modelle lassen sich aller Erfahrung nach

nicht im Handumdrehen austauschen;

es gilt das „Gesetz“ der Pfadabhängig-

keit allen gesellschaftlichen Wandels.

Jede noch so transformativ und radikal

gemeinte Strategie muss daher – zu-

mindest langfristig – zugleich doch an-

schlussfähig sein an die Vorstellungen,

Mentalitäten, Einstellungen der Bevölke-

rung. Die Fragen lauten also: Ist diese

strategische Vision öffentlich vermittel-

bar? Verspricht sie – paradox gesprochen

– Veränderungen im Dienste der Bewah-

rung dessen, was den Menschen vor

allem wichtig ist?

Folgerichtigkeit. Auch Parteien und

Politiker können sich nicht ohne weite-

res neu erfinden. Plötzliche Traditions-

brüche und ansatzlos aus dem Hut ge-

zauberte Identitätswechsel sind von

vornherein zum Scheitern verurteilt.

Die Fragen lauten: Ist die strategische

Vision vereinbar mit den grundlegen-

den normativen Orientierungen der

politischen Parteien und ihrer Reprä-

sentanten, die sich für diesen Weg ent-

Tobias Dürr

116

Page 119: perspektive21 - Heft 21/ 22

scheiden (sollen)? Ist sie vereinbar mit

den über lange Zeiträume entstande-

nen Erwartungshaltungen der Wähler

und Aktivisten gegenüber diesen Par-

teien und Repräsentanten?

Erfolgsaussichten. Eröffnet die in Be-

tracht gezogene strategische Vision

tatsächlich eine motivierende und

sinnstiftende Perspektive? Bietet sie

einen gangbaren Weg? Oder bedeutet

der großspurige Begriff „strategische

Vision“, bei Licht betrachtet, nicht doch

nur ein Synonym für „Wolkenkuck-

ucksheim“ und „Phantasterei“?

Was macht bei Berücksichtigung die-

ser Gesichtspunkte aus Brandenburger

Sicht den Fall Finnland so interessant?

Was lässt sich von Finnland lernen? In-

wiefern kann eine strategische Vision für

Brandenburg eher von finnischen Erfah-

rungen profitieren als von anderen?

In den vergangenen Jahren ist Finn-

land im Kontext der Aufregung um die

PISA-Studie vor allem aufgrund seines

im internationalen Vergleich heraus-

ragenden Schul- und Bildungswesens

auf dem deutschen Radarschirm aufge-

taucht. Auf diesem Gebiet lässt sich in

der Tat viel abschauen und nacheifern.

Dies ist allerdings umso sinnvoller, je

weniger die eindrucksvollen finnischen

Erfolge im Bildungssektor isoliert be-

trachtet werden. Die eigentliche „finn-

ische Lehre“ ist weit umfassender. Finn-

land ist dasjenige Land, das wie kein

anderes auf der Welt demonstriert, dass

und wie sich ökonomische Dynamik,

Informationsgesellschaft und modern

verstandene Sozialstaatlichkeit wech-

selseitig bedingen, ja beflügeln können.

Finnland kann heute gemeinsam mit

den Vereinigten Staaten und Singapur

als eine der wettbewerbsfähigsten

und dynamischsten wissensintensiven

Volkswirtschaften weltweit gelten. In

den Jahren 1996 bis 2000 erzielte Finn-

land ein jährliches Durchschnitts-

wachstum von 5,1 % gegenüber 4,3 %

in den USA und 2,6 % in den EU-Staa-

ten insgesamt. Die wirklich bemer-

kenswerte Erkenntnis lautet aber, dass

Finnland diese Leistung auf völligandere Weise erbringt als etwa die USA

mit ihrem marktliberalen Modell Sili-

con Valley oder Singapur mit seinem

Modell einer autoritär gesteuerten

Informationsgesellschaft. Unter allen

relevanten Gesichtspunkten sozialer

Gerechtigkeit (etwa Einkommensun-

gleichheit, Exklusion, Armut, Bildungs-

Brandenburg und das finnische Modell

117

II. Wissensökonomie und Sozialstaat: Das finnische Modell

Page 120: perspektive21 - Heft 21/ 22

niveau, Gesundheitsversorgung, staat-

liche Ausgaben für Forschung und Ent-

wicklung, Gewährleistung öffentlicher

Infrastruktur) steht Finnland heute im

internationalen Vergleich heraus-

ragend da. Das Land führt exem-

plarisch vor, dass für erfolgreiche tech-

nologisch-ökonomische Entwicklung

nicht der Preis steigender gesellschaft-

licher Ungleichheit und Ungerechtig-

keit entrichtet werden muss, sondern

dass im Gegenteil einerseits soziale

Gerechtigkeit sehr wohl eine entschei-

dende Ressource wirtschaftlichen Er-

folgs sein kann, wie auch andererseitsdie notwendigen Mittel zur Gewähr-

leistung sozialer Gerechtigkeit mittels

herausragender ökonomischer Perfor-

manz erwirtschaftet werden.

In ihrem Buch The Information Societyand the Welfare State:The Finnish Modell(Oxford 2002) beschreiben Manuel

Castells und Pekka Himanen genau die-

sen Zusammenhang als den „virtous

circle“, der das finnische Entwicklungs-

modell so interessant für bislang weni-

ger erfolgreiche und entwickelte Länder

und Regionen mache. Dies gilt vor allem

auch deshalb, weil Finnland selbst (an-

ders als die anderen nordischen Länder)

vor noch nicht langer Zeit selbst ein bit-

terarmes, ja geradezu unterentwickeltes

Agrarland war. Bis vor drei Generationen

lebte der überwiegende Teil der Bevölke-

rung in technologischer Rückständigkeit

von den mageren Erträgen der Forst-

und Landwirtschaft. Und selbst Ende der

achtziger Jahre noch beschäftigte sich

die 1865 als Sägewerk und Papiermühle

gegründete Firma Nokia mit der Produk-

tion von Toilettenpapier, Gummistiefeln,

Autoreifen und Fernsehern; heute ist

Nokia das Unternehmen mit der höchs-

ten Börsenkapitalisierung in ganz Euro-

pa. Und – aus ostdeutscher und bran-

denburgischer Perspektive ebenfalls be-

sonders aufschlussreich – noch Anfang

der neunziger Jahre, nach dem Zu-

sammenbruch des benachbarten Han-

delspartners Sowjetunion und des ge-

samten Ostblocks, musste Finnland eine

schwere Wirtschaftskrise überstehen:

Innerhalb des Jahres 1994 schrumpfte

das finnische Bruttosozialprodukt um

volle 13 %, während zugleich die Arbeits-

losenquote von 3,5 auf 17 % stieg.

Es dürfte ohne weiteres auf der Hand

liegen, dass die produktive finnische Ver-

bindung von Sozialstaat und hoch dyna-

mischer Informationsgesellschaft aus

deutscher (und erst recht ostdeutscher)

wie zugleich auch aus sozialdemokra-

tischer Perspektive deshalb besondere

Attraktivität besitzt, weil hier offensicht-

lich ein spezifisches Innovations- und

Entwicklungsmodell vorliegt, das im Ein-

klang steht mit dem sozialstaatlichen,

Gleichheit und Gerechtigkeit betonen-

den deutschen Sozialmodell sowie mit

den fundamentalen Wertvorstellungen

Tobias Dürr

118

Page 121: perspektive21 - Heft 21/ 22

der sozialen Demokratie. Als Brüche mit

diesen Traditionslinien empfundene

Modernisierungspfade in die wissensin-

tensive Wirtschaft (die Modelle „Silicon

Valley“ oder „Singapur“) wären nach

Lage der Dinge gesellschaftlich nicht

vermittelbar.

Aus der spezifischen Sicht Branden-

burgs treten indes noch weitere Fakto-

ren hinzu, die den Fall Finnland beson-

ders interessant machen. Dies gilt in

besonderem Maße unter sozialräum-

lichen Gesichtspunkten. Wie das deut-

sche Flächenland Brandenburg (tat-

sächlich noch in weitaus höherem

Maße als Brandenburg) hat es Finn-

land mit den Schwierigkeiten zu tun,

die sich im ökonomischen Modernisie-

rungsprozess aus geringer Bevölke-

rungsdichte sowie der zunehmenden

sozialökonomischen Abkoppelung und

demografischen Überalterung peri-

pherer Regionen ergeben. Ähnlich wie

Brandenburg sucht Finnland nach Ant-

worten auf das Problem des wachsen-

den Widerspruchs zwischen ökono-

misch und demografisch boomenden

metropolennahen Regionen einerseits

und zurückfallenden Randlagen. Dies

ist die räumliche Dimension der über-

geordneten Frage, auf welche Weise

soziale Inklusion unter den Bedingun-

gen einer zunehmend wissensbasier-

ten Ökonomie überhaupt noch mög-

lich sein kann.

Das Problem ist bekannt: „Je mehr

die Informationsgesellschaft das

große Leitmotiv des Landes insgesamt

ist“, schreiben Castells und Himanen,

„desto mehr fühlen sich diejenigen

vom Fortschritt abgehängt, die nicht

die Fähigkeiten besitzen, an diesem

Leitmotiv teilzuhaben – am Ende könn-

ten sie im innerhalb der finnischen

Informationsgesellschaft in einer Art

innerer Exil leben.“ Genau dies zu ver-

hindern ist ein zentrales Anliegen der

finnischen Politik. Im Einklang mit dem

expliziten Leitmotiv des finnischen

Innovationsmodells, unter allen Um-

ständen die gesamte Bevölkerung auf

dem Weg in die Informationsgesell-

schaft mitzunehmen, sind in Finnland

große Anstrengungen unternommen

worden, auch abgelegenere Regionen

technologisch und infrastrukturell auf

das neue wissensökonomische Para-

digma einzustellen.

Aber auch die positive Kehrseite die-

ser Herausforderung teilt das rund um

die deutsche Metropole Berlin gelegene

Brandenburg mit Finnland. Denn das

Korrelat zur Entvölkerung peripherer

Regionen ist die Entstehung neuartiger

Formen urbaner Agglomerationen. Im

Übergang von den sozialräumlichen

Strukturen der Industriegesellschaft zu

jenen der Informationsgesellschaft erle-

ben wir die größte Urbanisierungswelle

aller Zeiten. In den neuartigen ausge-

Brandenburg und das finnische Modell

119

Page 122: perspektive21 - Heft 21/ 22

dehnten, verkehrstechnisch und kom-

munikativ miteinander vernetzten Me-

tropolenregionen konzentrieren sich

heute und in Zukunft die Orte der Inno-

vation, der Wertschöpfung, der Kultur

und der Kommunikation. Damit sind

diese Städte neuen Typs zugleich die

Motoren von Wachstum und Kreativität

in ihrem jeweiligen Hinterland – der Er-

folg lokaler und regionaler Strukturen

hängt ab von deren Einbindung in glo-

bale Netzwerke.

Wie die südfinnische Region von

Groß-Helsinki (und im Übrigen viele

andere Metropolenregionen weltweit)

befindet sich auch die Großregion von

Berlin und Brandenburg mitten in einem

Prozess der „konzentrierten Dezentra-lisation“ (Castells/Himanen) von Bevöl-

kerung und ökonomischer Aktivität. Das

bedeutet, dass wir einerseits überall die

fortschreitende Ausdehnung und Domi-

nanz urbaner Siedlungsgebiete vis à vis

ländlichen Regionen erleben, dass die

dabei entstehenden und wachsenden

urbanen Strukturen aber andererseitsimmer weniger dem industriegesell-

schaftlichen Muster von Zentrum und

Vororten entsprechen. Zusammen-

genommen bilden diese neuartigen

Agglomerationen der Informations-

gesellschaft je eigene regionale Inno-

vationsmilieus: integrierte Wertschöp-

fungs- und Wissenschaftscluster fortge-

schrittener Produktion, Dienstleistung,

Forschung und Kultur. Diese untereinan-

der vernetzten Mega-Regionen bieten

mehr und bessere Arbeitsplätze, Bil-

dungschance und sonstige städtische

Angebote. Damit üben die enorme Sog-

wirkung auf die sie umgebenden Regio-

nen aus. Der finnische Weg besteht

darin, die großen Chancen dieser

Entwicklung entschlossen und ohne

schlechtes Gewissen zu nutzen – geradeum jene ökonomische Dynamik und

Ressourcen hervorbringen zu können,

die notwendig sind, um peripherer ge-

legene Regionen überhaupt an Wachs-

tum,Wertschöpfung und Fortschritt teil-

haben zu lassen. Castells und Himanen

beschreiben vielversprechende Stra-

tegien (etwa im abgelegenen Nord-

karelien), „der Informationsgesellschaft

eine lokale und regionale Dimension zu

geben.“ Hier könnten aus Branden-

burger Sicht womöglich spannende

Anknüpfungspunkte vorliegen.

Tobias Dürr

120

III. Warum also Finnland?

Zugegeben, für die höchst erfolg-

reiche Bewältigung des Weges von der

Agrar- oder Industriegesellschaft in die

moderne Wissensökonomie gibt es in

Page 123: perspektive21 - Heft 21/ 22

Europa noch andere Beispiele. Oft wird

voller Bewunderung der „keltische

Tiger“ Irland genannt. Irland gehörte

noch in den sechziger Jahren zu den

Armenhäusern Europas; die irische

Pro-Kopf-Produktion betrug unter 50 %

des westdeutschen Wertes. Heute liegt

Irland beim Sozialprodukt pro Kopf

nicht nur über dem europäischen

Durchschnitt, sondern hat auch

Deutschland hinter sich zurückgelas-

sen. „Irland ist heute das Wirtschafts-

wunderland Europas“, schreibt des-

halb voller Bewunderung der liberale

Ökonom Hans-Werner Sinn in seinem

Buch Ist Deutschland noch zu retten?(München 2003). Und ebenso begei-

stert nennt Sinn zugleich die Faktoren,

die den Aufstieg Irlands ermöglicht

haben. Zu diesen Faktoren gehört die

irische Niedrigsteuerpolitik mit einem

Einkommensteuersatz von nur 10 %

für große Unternehmen, ganz bewusst

darauf ausgerichtet, internationales

mobiles Kapital anzulocken; zu diesen

Faktoren gehören daneben, so Sinn,

„eine extrem liberale Wirtschaftspoli-

tik nach amerikanischem Muster“

sowie „ein weit gehender Verzicht auf

sozialstaatliche Einrichtungen“. Auf

diese Weise, durch niedrige Steuern,

niedrige Löhne und eine niedrige

Staatsquote, habe Irland massive Kapi-

talimporte angelockt. „Aber das ist es

eben, was eine hohe Standortqualität

ausmacht“, resümiert Sinn: „Wir Deut-

schen könnten uns im Hinblick auf die

Entwicklung in den neuen Ländern

vom irischen Beispiel eine Scheibe

abschneiden.“

Tatsächlich? Ist,ausgehend vom Status

quo, wirklich eine erfolgversprechende

strategische Vision für Ostdeutschland

und besonders Brandenburg vorstellbar,

die dezidiert auf niedrige Löhne und den

weit gehenden Verzicht auf Sozialleis-

tungen setzt? Und erst recht: Handelt es

sich hier tatsächlich um ein Modell, dem

Ostdeutsche sinnvoller Weise nacheifern

sollten? Wohl eher nicht. Es ist ziemlich

offensichtlich, dass jeder Versuch, Bran-

denburg „durch eine extrem liberale

Wirtschaftspolitik nach amerikanischem

Muster“ auf Vordermann zu bringen, mit

Grundüberzeugungen sozialer Demo-

kratie ganz unvereinbar wäre.

Als Vorbild für ein Brandenburg unter

sozialdemokratischer Regie erscheint

Irland also angesichts der Ursachen sei-

nes ökonomischen Erfolgs ziemlich

unbrauchbar. Das Gegenteil gilt für

Finnland. Das Beispiel Finnland de-

monstriert so eindringlich wie kein

zweites in Europa, wie ein vormals

rückständiges Land mit Hilfe einer zu

ihm passenden strategischen Vision zu

Modernität und Wohlstand gelangen

kann, ohne darüber seine Traditionen,

seine Kultur und gesellschaftliche Iden-

tität aufzugeben – vor allem aber: ohne

Brandenburg und das finnische Modell

121

Page 124: perspektive21 - Heft 21/ 22

eine Wirtschafts- und Gesellschaftspo-

litik zu betreiben, die auf Niedriglöhne

und Sozialdumping setzt.

Auch Hans-Werner Sinn zählt Finn-

land zu den vorbildhaften Staaten in

Europa, die heute „die Nase vorn“ haben.

Das Land habe sich in den neunziger

Jahren „aufgerappelt und zu einem soli-

den Wachstum gefunden“. Dass Finn-

land auf dem Weg zu diesem Erfolg

einen geradezu diametral anderen Kurs

eingeschlagen hat als Irland, also eine

gänzlich andere strategische Vision ver-

folgt und auf völlig andere Instrumente

setzt, bleibt dabei ganz und gar

unberücksichtigt. Doch eben auf diesen

Unterschied kommt es an. Unter den –

oben genannten – Gesichtspunkten der

Anschlussfähigkeit und der Folgerichtig-keit sozialer und ökonomischer Inno-

vationsprozesse hat Finnland die für

Brandenburg zweifellos weit aufschluss-

reichere Strategie gewählt.

In ihrer Studie zum finnischen Modell

legen Castells und Himanen wert auf

den Hinweis, dass ihre Absicht natürlich

nicht darin bestehe, Finnland schlecht-

hin als Blaupause für andere Gesell-

schaften und Regionen zu beschreiben.

Unmittelbar nachahmen lässt sich der

singuläre Aufstieg Finnlands sicherlich

nirgendwo, und bekanntlich ist ein bran-

denburgisches Nokia derzeit nirgendwo

auch nur am Horizont zu erkennen.

Sofern der Fall Finnland eine zentrale

ermutigende Lehre enthält, dann dieje-

nige, dass eine benachteiligte Gesell-

schaft oder Region auch unter den

Bedingungen von Globalisierung und

Wissensökonomie nicht bloß vor der

Alternative zwischen trostlosem Weiter-

so und rasender Anpassung an marktra-

dikale Lehren steht. Die Kombination

von inklusiver Gesellschaft, kultureller

Identität, moderner Sozialstaatlichkeit

und rundum wettbewerbsfähiger Öko-

nomie – „information technology with asoul“ (Castells/Himanen) – erscheint

nicht nur möglich, sondern bedeutet

langfristig zweifellos auch die erfolgver-

sprechendere Option. Das Unterfangen,

eine strategische Vision für Brandenburg

zu entwickeln, sollte aus dieser Zuver-

sicht heraus begonnen werden.

Tobias Dürr

122

Tobias DürrPolitikwissenschaftler und Publizist,

Chefredakteur der Zeitschrift „Berliner Republik“

Anschrift: Redaktion „Berliner Republik“, Stresemannstraße 30, 10963 Berlin.

E-Mail: [email protected]

Page 125: perspektive21 - Heft 21/ 22

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2003

Brandenburg und das finnische Modell

123

Literaturangaben

Page 126: perspektive21 - Heft 21/ 22
Page 127: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die neuen Bundesländer sind 1990

mit unterschiedlichen Voraussetzungen

gestartet – wirtschaftlich, gesellschaft-

lich, kulturell. In Sachsen und Thüringen

sind zwei Länder mit großem Re-

gionalbewusstsein wieder entstanden.

Sachsen-Anhalt hat eine verbindende

Identität bis heute nicht aufgebaut.

Auch die wirtschaftlichen Voraus-

setzungen waren sehr verschieden:

Thüringen mit einer verhältnismäßig

kleinteiligen und breiten Wirtschafts-

struktur, Sachsen-Anhalt mit landwirt-

schaftlicher Dominanz im Norden und

gewaltigen industriellen Monostruktu-

ren und Kombinaten im Süden, Meck-

lenburg-Vorpommern hingegen als

Land, das die DDR-Jahre eher als Moder-

nisierung wahrgenommen hat.

Sachsen erlebte seinen ersten wirt-

schaftlichen Modernisierungsschub im

Mittelalter durch den Silberbergbau. Im

19. Jahrhundert setzte die Industriali-

sierung früher als in anderen Ländern

ein, so dass Sachsen schnell zur wirt-

schaftlich modernsten Region Deutsch-

lands wurde – noch vor dem Ruhrgebiet

war es die größte deutsche Industrie-

landschaft. In den 1920er und 1930er

Jahren war Sachsen das am höchsten

industrialisierte Land der Welt. Dem

Wiederaufbau nach dem Zweiten Welt-

krieg folgte dann eine nachhaltige öko-

nomische Auszehrung – Sachsen er-

lebte die DDR-Jahre als relativen ökono-

mischen Niedergang.

Gleichwohl war die Ausgangslage für

die wirtschaftliche Transformation nach

1990 in Sachsen vergleichsweise gut.

Das Land war zwar nicht ganz von ge-

waltigen Industriekomplexen verschont

worden – das Erbe der Braunkohlein-

125

Wachsen wie die Sachsen? Eine kritische Bilanz der Nachwendezeit

Von Thomas Kralinski

Am 19. September 2004 wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Der Freistaatist das einzige neue Bundesland, in dem seit der Wende nur eine Partei, die CDU, mitabsoluter Mehrheit regierte. Bis 2002 herrschte Kurt Biedenkopf, seitdem Georg Mil-bradt. Wie weit sind die Sachsen seit der Wende gekommen? Was hat Sachsen ausseinen Voraussetzungen gemacht? Wie ist es auf die Zukunft vorbereitet? Und wel-chen Anteil hat die Landespolitik an all dem?

Page 128: perspektive21 - Heft 21/ 22

dustrie in der Lausitz und südlich von

Leipzig zeugen noch heute davon. Doch

im Gegensatz zu anderen Bundeslän-

dern verfügte Sachsen zum Ende der

DDR über eine stark ausdifferenzierte

Wirtschafts- und Forschungsstruktur

und, am wichtigsten, über entsprechend

gut ausgebildete Fachkräfte.

Das waren auch die beiden zentralen

Ressourcen für den Transformations-

prozess der 1990er Jahre. Die Wirt-

schaftspolitik des Landes setzte in

erster Linie auf industrielle Anker. Dabei

nutzte sie die vorhandenen Potenziale:

vor dem Zweiten Weltkrieg war Sach-

sen das bedeutendste Zentrum der

Automobilindustrie, eine Rolle, die vor

allem der Raum Chemnitz-Zwickau

auch für die DDR nicht verlor. Insofern

war es folgerichtig, in der Nachwende-

zeit auf die Ansiedlung von wichtigen

Automobil- und Maschinenbauunter-

nehmen zu setzen. Heute nennt sich

Sachsen wieder selbstbewusst „Auto-

land“. Die Werke von VW, BMW und

Porsche mit ihren vielen Zulieferern

legen dies nahe.

Doch Vorsicht. In der Gläsernen Fabrikin Dresdens Zentrum setzen ein paar

hundert Beschäftigte lediglich anders-

wo hergestellte Teile zu einem Auto zu-

sammen. BMW wird in seinem neuen

Leipziger Werk kein neues Auto produ-

zieren, sondern die vorhandene Produk-

tionskette aus einem süddeutschen

Werk verlagern, um dort ein neues Mo-

dell zu produzieren. Was also fehlt sind

nachhaltige Arbeitsplätze, die mit zen-

traler Forschung und Entwicklung ver-

knüpft sind. Arbeitsplätze, die mehr sind

als „verlängerte Werkbänke“. Dies ist der

zentrale Webfehler der sächsischen

Wirtschaftspolitik: Sie hat zu wenig dar-

auf geachtet, dass – bei aller Freude über

die gelungenen Ansiedlungen – auch die

nötigen Innovationsketten nach Sach-

sen kamen. Fördergelder flossen in

Milliardenhöhe – die verschiedenen

Streitigkeiten zwischen der sächsischen

Landesregierung und der EU-Kommis-

sion sind ein Ausdruck dessen. Doch

wurden die Fördermittel zu wenig ziel-

gerichtet in wissens- und knowhow-

basierte Wirtschaftszweige gesteckt.

Thomas Kralinski

126

Back to the Roots? – Sachsens industrieller Wiederaufstieg

Page 129: perspektive21 - Heft 21/ 22

Das zentrale Argument der sächs-

ischen Wirtschaftspolitik sind bisher

stets die niedrigen Löhne gewesen.

Doch hat sich dieser Vorteil mittler-

weile in sein Gegenteil verkehrt. Denn

die niedrigen Löhne verschärfen seit

einigen Jahren die Abwanderung – vor

allem aus den peripheren Regionen

Sachsens. Dabei gehen die besonders

gut Ausgebildeten zuerst. In der Folge

haben die kleinen und mittleren Unter-

nehmen – gerade in den boomenden

Zweigen der sächsischen Industrie –

Nachwuchssorgen, die sich in den kom-

menden Jahren weiter verschärfen

werden, wenn die geburtenschwachen

Jahrgänge der Nachwendezeit in die

Ausbildung und die Unternehmen

tröpfeln. Heute ist eine politische Stra-

tegie der Landesregierung, die die pro-duktionsorientierte Wirtschaftspolitik

in eine arbeitskräfteorientierte um-

steuern würde, nicht zu erkennen. Der

bisherige Kurs schlägt sich auch in den

Zahlen nieder: Das Bruttoinlandspro-

dukt pro Erwerbstätigen ist eines der

niedrigsten der neuen Länder, bei der

Angleichung an das Niveau der alten

Länder liegt Sachsen mittlerweile auf

dem vorletzten Platz.

Die produktionsorientierte Wirt-

schaftspolitik hat in den vergangenen

Jahren aus den sächsischen Zentren

wieder vorzeigbare Industriestandorte

Wachsen wie die Sachsen?

127

Die Niedriglohnstrategie ist am Ende

Mecklenburg-Vorpommern

Sachsen-Anhalt

Sachsen

Brandenburg

Thüringen

Wachstumsratedes Bruttoinlandsprodukts 1991-2002

3,5 %

3,6 %

3,9 %

4,4 %

4,5 %

0 % 1 % 2 % 3 % 4 % 5 %

Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder, SMWA

Page 130: perspektive21 - Heft 21/ 22

gemacht. Die Zahl der Industriearbeits-

plätze ist beachtlich. Vor allem der

Raum Chemnitz-Zwickau ist wieder ein

Zentrum des Maschinen- und Anlagen-

baus. Die Exportquote der Industrie ist

in den vergangenen Jahren beständig

gewachsen – wenngleich man auch

nicht darüber hinwegsehen darf, dass

die Hälfte des sächsischen Exports von

einer Handvoll Firmen erbracht wird.

Die Herausforderung der kommenden

Jahre liegt nun darin, diese Arbeits-

plätze dauerhaft zu sichern und sie mit

innovativen Ansätzen zu verknüpfen.

Ein Teil der Automobil-Zulieferer muss

zu Kosten produzieren, die denen in

Tschechien oder Mexiko nicht unüblich

sind. Dies ist auf Dauer nicht durch-

zuhalten und beeinträchtigt vor allem

die Innovationskraft dieser Unterneh-

men. Daneben ist nicht zu übersehen,

dass die bisherige Strategie einzig in

einigen wenigen Zentren erfolgreich

war und sich zu stark auf die großen

Unternehmen konzentriert hat. Darü-

ber hat die Landesregierung bisher eine

kohärente Mittelstandspolitik verges-

sen. So sind auch die Großansied-

lungen nicht nur ein Segen für die

sächsische Wirtschaft. Der neue BMW-

Standort in Leipzig saugt vor allem

Fachkräfte aus den kleinen und mittle-

ren Unternehmen der Region ab. Die

Beschäftigten erwarten von BMW eine

höhere Arbeitsplatzsicherheit und bes-

sere Löhne. Die kleinen Unternehmen

jedoch stellt diese Flucht nun vor neue

– nicht nur personalwirtschaftliche –

Probleme im ohnehin schwierigen Kon-

solidierungsprozess.

Thomas Kralinski

128

BIP je Erwerbstätiger 2002

im Vergleich zu alten Ländern

67,3

68,9

71,6

73,6

75,9

100

0 25 50 75 100

Thüringen

Sachsen

Mecklenburg-Vorpommern

Sachsen-Anhalt

Brandenburg

alte Länder

Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder, SMWA

Page 131: perspektive21 - Heft 21/ 22

Durch das Primat der produktions-

orientierten Politik der vergangenen

Jahre wurden in den vergangenen Jah-

ren innovative und wissensbasierte Ele-

mente vernachlässigt. Zwar ist die Lan-

desregierung zu Beginn der 1990er Jahre

mutige Schritte gegangen. Für die Beibe-

haltung des 12-jährigen Abiturs hat das

Land bis vor wenigen Jahren noch erheb-

liche Prügel einstecken müssen – vor-

nehmlich von Ländern, die das Zwölfer-

Abitur heute nicht schnell genug ein-

So ist die „Leuchtturmpolitik“ der

vergangenen Jahre für die Regionen

um Dresden, Leipzig und Chemnitz-

Zwickau erfolgreich verlaufen – in den

restlichen Regionen blieb es jedoch

weitgehend dunkel. Das lässt sich sehr

gut an der Entwicklung der Wande-

rungszahlen illustrieren: Während die

sächsischen Großstädte die Abwande-

rung abgebremst und teilweise sogar

in Zuzug verwandelt haben, laufen die

peripheren Regionen zunehmend leer.

Bisher ist keine politische Strategie zu

erkennen, wie diese Regionen in Zu-

kunft entwickelt werden können. Ein

Leitbild für sie fehlt. Die Landesregie-

rung nennt diese Regionen verbrämt

„Gebiete mit besonderen Entwick-

lungsaufgaben“ – der etwas hilflose

Begriff soll augenscheinlich darüber

hinwegtäuschen, dass ein Konzept für

die Zukunft von Lausitz, Nordsachsen

und Erzgebirge bisher fehlt.

Nun liegen die peripheren Regionen

Sachsens fast ausschließlich an der Gren-

ze zu Polen und Tschechien. Doch auch

hier mangelt es an Vorstellungen, wie

diese Regionen zu wahren Brücken wer-

den können: wirtschaftlich, kulturell und

sozial. Erste Ansätze gibt es vor Ort. Das

Görlitzer Theater spielt mit polnischen

„Übertiteln“ oder gleich komplette Stü-

cke auf Polnisch; im Vogtland gibt es

einen wegweisenden deutsch-tschech-

ischen Verkehrsverbund, der Züge und Ta-

rife miteinander vernetzt hat. Doch weit-

gehend fehlt die Infrastruktur: Aus der

am dichtesten besiedelten ostdeutschen

Region Chemnitz gibt es keine leistungs-

fähige Straße oder Schiene Richtung

Prag, nicht viel anders sieht es mit den

Verbindungen nach Polen aus. Es fehlen

vor allem die sprichwörtlichen kleinen

Brücken. Vor dem Krieg existierten etwa

100 Brücken über die Neiße, heute sind es

noch nicht einmal ein Dutzend.

Wachsen wie die Sachsen?

129

Perspektiven für die Peripherie fehlen

Neue Anfänge in der Bildungspolitik

Page 132: perspektive21 - Heft 21/ 22

führen können. Auch die Fusion der Real-

und Hauptschulen zur Mittelschulen ist

ein konsequenter Schritt gewesen –

wäre er nicht mit ihrer kontinuierlichen

Unterausstattung einher gegangen, der

diesen Schulen mancherorts nun doch

den Geruch der „Restschule“ gibt, ein

Merkmal, das man mit diesem Schritt

eigentlich vermeiden wollte. Die extrem

frühe Selektion zwischen Mittelschule

und Gymnasium bereits in der vierten

Klasse führt zu einem ungewöhnlich

starken Leistungsdruck auf die Kindern.

Nicht zuletzt deshalb ist die Unzufrie-

denheit mit dem sächsischen Schul-

system unter Schülern, Eltern und Leh-

rern in den vergangenen Jahren stark

angestiegen. Formal hat das Land zwar

bei der deutschlandinternen PISA-Studie

mit einem 3. Platz gut abgeschnitten –

wenngleich dieser Platz auch darüber

hinweg täuscht, dass Sachsen damit

trotzdem unter dem OECD-Durchschnitt

liegt. Dennoch, die Ablehnung des ge-

genwärtigen Schulsystems ist enorm. In

2003 wurden über 400.000 Unterschrif-

ten für ein Referendum über ein neues

Schulgesetz gesammelt – das nötige

Quorum wurde damit nur haarscharf

verfehlt und der Landesregierung blieb

eine schwere Niederlage erspart.

Aus guten Anfängen in der Bildungs-

politik ist in den letzten Jahren ein

zunehmend ideologisch aufgeladener

Konflikt zwischen Landesregierung

und CDU auf der einen Seite und

Eltern, Schülern, Lehrern und Kommu-

nalpolitikern auf der anderen Seite

geworden. Obwohl Thüringen und

Brandenburg zeigen, dass „kleine Schu-

len“ sowohl pädagogisch als auch

wirtschaftlich sinnvoll sind, sucht man

diese in Sachsen bisher vergeblich.

Ganztagsschulen gibt es in Sachsen

zurzeit lediglich vier. Warum sich das

Land nicht um die Millionen aus dem

Ganztagsschulprogramm des Bundes

bemüht, bleibt das Geheimnis der Lan-

desregierung. Bisher ist in Berlin jeden-

falls noch kein sächsischer Förderan-

trag eingegangen. Und dass die CDU

im mehrheitlich unchristlichen Sach-

sen den christlichen Bezug der Schule

erst vor einigen Monaten in das Schul-

gesetz geschrieben hat, verstärkt den

Eindruck einer ideologisch ausgerich-

teten Bildungspolitik. Wenig moti-

vierte Lehrer, ein überalterter Lehrkör-

per, der blockierte Einstieg für junge

Lehrer und ein noch häufig schlechter

baulicher Zustand vieler Schulen kom-

men hinzu.

Thomas Kralinski

130

Page 133: perspektive21 - Heft 21/ 22

In der Hochschulpolitik konnte Sach-

sen auf eine gute Ausgangsbasis

zurückgreifen: 22 Hochschulen und

Universitäten übernahm das Land aus

der DDR-Zeit. Drei davon wurden

geschlossen, etliche Einrichtungen

fusioniert. Heute verfügt Sachsen über

die umfangreichste Hochschulland-

schaft in den neuen Ländern. Hinzu

kommen zahllose mit öffentlichen

Mitteln unterstützte Forschungsein-

richtungen, die helfen sollen, die

Schwäche der industriellen Forschung

auszugleichen. Zu den renommierte-

sten Hochschulen gehören heute die

Universität Leipzig, die TU Chemnitz,

die FH Mittweida und die zur Volluni-

versität ausgebaute Technische Uni-

versität Dresden.

Doch der Ausbauschub Anfang der

1990er Jahre wurde unvermittelt abge-

brochen. Nach kräftigem Schub trat die

Landesregierung jäh auf die Bremse. So

muss die TU Dresden heute neue Fach-

bereiche, gerade zehn Jahre nach ihrer

Einrichtung, wieder schließen. Jetzt

rächt sich, dass der Ausbau der Univer-

sitäten nicht überlegt betrieben wurde,

sondern eher Tonnenideologie und Pre-

stigedenken folgte. Folgerichtig hat der

ausgesprochen gute Ruf der sächs-

ischen Universitäten in den vergang-

enen Jahren erheblich gelitten und die

Motivation von Lehrenden und Studie-

renden „auf den Nullpunkt“ gebracht.

In einer universitätsinternen Umfrage

gab ein Drittel der Dresdner Profes-

soren an, ihren Fortzug zu planen. In

wohl keinem Bundesland hat es in den

letzten Jahren so viele Proteste und

Demonstrationen gegen die Hoch-

schulpolitik gegeben. Als wesentlichen

Grund für das Zurechtstutzen der säch-

sischen Hochschulen gibt die Landesre-

gierung einen linear übertragenen

Rückgang der Studenten in Folge der

Bevölkerungsentwicklung an. Von

neuen Konzepten, etwa einer stärkeren

Internationalisierung, aktivem „Anwer-

ben“ neuer Studenten und Ausweitung

neuer Bildungsgänge keine Spur. Dabei

wäre genau dies der Weg, den ein Tech-

nologieland Sachsen einschlagen müs-

ste. Denn in der Tat: Die Demographie

verändert das Land – und wird Fach-

kräfte in Zukunft rar machen.

Wachsen wie die Sachsen?

131

Hochschulen ausgebremst

Page 134: perspektive21 - Heft 21/ 22

Die Demographie verändert Sachsen

bereits seit langer Zeit. In den 1950er

Jahre hatte Sachsen noch fast 5,7 Millio-

nen Einwohner, zurzeit der Wende

waren es noch 4,9 Millionen. Seitdem

hat sich der Bevölkerungsrückgang be-

schleunigt, kein ostdeutsches Bundes-

land hat einen ähnlichen Aderlass an

Menschen zu beklagen. Zurzeit leben in

Sachsen 4,3 Millionen Menschen, für das

Jahr 2020 werden 3,7 Millionen ge-

schätzt. Demographisch befindet sich

das Land heute auf dem Stand der

1890er Jahre. Mit einem Unterschied:

Sachsen ist mittlerweile das „älteste“

Land Deutschlands. Kein anderes Bun-

desland hat einen höheren Altersdurch-

schnitt als der Freistaat. Das Problem ist

nicht, dass die Lebenserwartung steigt.

Vielmehr fehlen dem Land die Kinder.

Der Einbruch der Geburtenrate nach

1989 um fast zwei Drittel wirkt nach und

setzt sich fort.So hat die Geburtenrate in

den Ballungszentren wie Dresden zwar

mittlerweile wieder fast drei Viertel des

Wertes von 1990 erreicht, in Regionen

wie der Lausitz verharrt sie jedoch nach

wie vor bei der Hälfte des 1990er Wertes.

Hinzu kommt die bereits erwähnte

Abwanderung vor allem der jungen und

gut ausgebildeten Menschen. Und

gerade deren Bereitschaft, nach Sachsen

zurückzukehren, ist ausgesprochen

niedrig. Nur 12 % der abgewanderten

jungen Abiturienten können sich vor-

stellen, zurück zu kommen.

Die demographischen Veränderungen

stellen Sachsen in den kommenden

Jahren vor vollkommen neue Fragen. In

immerhin elf von 29 Kreisen wird die

Thomas Kralinski

132

Sachsen ohne Kinder?

Bevölkerungsveränderung 1989-2020 (1989=100)

98

95

91

9898989897

979696969696

98

100

77

83

89909191

929393

93949495

97

98100

75

80

85

90

95

100

105

1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2010* 2020*

BrandenburgSachsen

Quelle: Statistische Landesämter, eigene Berechnungen; * = Prognose

Page 135: perspektive21 - Heft 21/ 22

Bevölkerungszahl bis 2020 noch einmal

um mehr als 18 % zurückgehen, nur Leip-

zig und Dresden werden nach dieser Pro-

gnose ihre Einwohnerzahl halten kön-

nen. Eine politische Antwort auf diese

Prognosen, die die gegenwärtigen Rah-

menbedingungen lediglich fortschrei-

ben, gibt es bisher nicht. Eine langfristig

und strategisch ausgerichtete Bevölke-

rungs- und Familienpolitik? Fehlanzeige.

Stattdessen hat Sachsen heute die

geringste Angebotsdichte in der Klein-

kinderbetreuung in Ostdeutschland.

Nach einer Studie des DIW kommen auf

100 Kleinkinder in Sachsen ganze 24

Krippenplätze, in Mecklenburg-Vorpom-

mern immerhin 30, in Brandenburg

dagegen 52. So ist es auch nicht verwun-

derlich, dass die Erwerbsquote der

Frauen – vom ehemaligen Ministerpräsi-

denten Biedenkopf immer als „zu hoch“

beklagt – in Sachsen bei nur 52,6 % liegt,

in Brandenburg immerhin bei 56,1 %. Bei

der in beiden Ländern etwa gleich hohen

Arbeitslosigkeit heißt dies, dass in Bran-

denburg letztlich mehr Menschen be-

schäftigt sind.

Die sächsische Landesregierung ist bis-

her nicht durch Gedanken zu der Frage

aufgefallen, wie die Zahl der Kinder in

Zukunft steigen, wie die Bedingungen

für Kinder und Familien im Land verbes-

sert werden können. Auch Konzepte zum

Erhalt der öffentlichen Infrastruktur vor

allem in den dünn besiedelten periphe-

ren Regionen gibt es bisher keine.

Wachsen wie die Sachsen?

133

Krippenplätze pro 100 Kinder

52

24

12

1

Brandenburg Sachsen Hamburg Bayern0

10

20

30

40

50

60

Quelle: DIW 2001

Page 136: perspektive21 - Heft 21/ 22

Zwar ist der öffentliche Dienst in

Sachsen in den vergangenen Jahren

bereits erheblich reduziert worden.

Doch einige qualitative Veränderun-

gen stehen noch an. So hat es das Land

Anfang der 1990er Jahre versäumt,

seine Verwaltung durchgreifend und in

einem Guss zu erneuern. Stattdessen

leistet sich das Land weiterhin drei

Regierungsbezirke. Die Zahl der kreis-

freien Städte wurde 1994 sogar erhöht,

sechs Landkreise haben weniger als

100.000 Einwohner. Die einseitige par-

teipolitische Durchwirkung des Frei-

staates – bis 2001 regierte die CDU alle

Landkreise – hat eher zum Konservie-

ren der eroberten Pfründe geführt und

eine Diskussion um sinnvolle Kreis-

grenzen und Aufgabenverteilungen

zwischen Land und kommunaler

Ebene verhindert. Das selbst bei der

Ernennung und Beförderung von Rich-

tern in Sachsen der Justizminister das

letzte Wort hat, ist beispielsweise in

Brandenburg undenkbar.

Die 2002 mit viel Tamtam eingelei-

tete enge Zusammenarbeit zwischen

Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin-

gen kam zwar spät, wurde nun aber

bereits wieder kleinlaut beerdigt. „Zu

unterschiedlich“ seien die Verwal-

tungskulturen der drei Länder, verlau-

tet aus den Staatskanzleien. Dabei

kann die umfassende Zusammenar-

beit ein zentraler Schlüssel bei der

Bewältigung der anstehenden Pro-

bleme sein. Eine Fusion der drei Länder

scheint in absehbarer Zeit illusorisch –

vor allem die heimatbewussten Thü-

ringer und Sachsen würden der Län-

derhochzeit in Volksabstimmungen

wohl kaum zustimmen. Über einen

weitgehenden – und zweifelsohne

innovativen – „Drei-Länder-Bund“ wird

bisher jedoch nicht nachgedacht.

Sachsen muss in den kommenden Jah-

ren seine politischen Spielräume aktiver

nutzen. Die fiskalischen Voraussetzun-

gen dafür sind gut: Der Freistaat ist nach

Bayern das am niedrigsten verschuldete

Bundesland Deutschlands (wenngleich

dies in der Vergangenheit vor allem zu

Lasten der Kommunen ging, deren Ver-

schuldung beispielsweise deutlich höher

ist als in Brandenburg). Sachsen hat

dafür heute fiskalische Spielräume, die

andere Bundesländer nicht (mehr)

Thomas Kralinski

134

Zweite Verwaltungsreform steht auf der Tagesordnung

Investitionen in Menschen müssen in den Vordergrund treten

Page 137: perspektive21 - Heft 21/ 22

Schulden pro Einwohner 2002

2.446

5.666

5.068

6.111

4.955

Sachsen Brandenburg Thüringen Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern

in €

pro

Ein

woh

ner

0

1.000

2.000

3.000

4.000

5.000

6.000

7.000

Quelle: SMF

haben und könnte eine innovationsgelei-

tete Strategie verfolgen, die in erster

Linie in Menschen und deren Bildung

und Lebensräume investiert.

Der Freistaat Sachsen steht heute –

wie alle neuen Länder – am Ende der

Nachwendezeit. Erstaunlich ist die

deutliche Einebnung der Niveauunter-

schiede zwischen den neuen Bundes-

ländern. Lag 1996 das Land mit der

höchsten Arbeitslosigkeit um 6 bis 7 %

über dem Land mit der niedrigsten

Quote, so ist dieser Abstand heute auf

nur noch 3 bis 4 % gesunken. Wurde

der Freistaat Sachsen Anfang der

1990er Jahre als Musterknabe bezeich-

net – und dieser Begriff stieß bei den

selbstbewussten Sachsen auf postiven

Widerhall –, so rangiert das Land heute

im Mittelfeld der neuen Länder. Und

sieht sich heute neuen Fragestellun-

gen gegenüber:

• Mit welcher Strategie und auf wel-

chen Feldern lässt sich eine innova-

tionszentrierte Wirtschafts- und Bil-

dungsstruktur aufbauen?

• Wie kann der demographische Wan-

del aktiv gestaltet werden?

• Wie können sich die Menschen mit-

nehmen lassen in diesem Moderni-

sierungsprozess, der das Ziel haben

muss, dass Sachsen bis zum Ende

des Solidarpaktes im Jahr 2019 auf

eigenen Füßen steht?

Die Fragen sind gestellt, die Antwor-

ten (noch) offen.

Wachsen wie die Sachsen?

135

Thomas KralinskiPolitikwissenschaftler,

Referent beim SPD-Landesverband Brandenburg.

Page 138: perspektive21 - Heft 21/ 22
Page 139: perspektive21 - Heft 21/ 22

Am 6. Januar dieses Jahres hat die

Bundes-SPD in Weimar eine neue

Initiative zur Innovationspolitik be-

schlossen (Weimarer Leitlinien 2004).

Die „Weimarer Innovationsleitlinien“

sind vor allem dadurch bekannt ge-

worden, dass ihre Vorstellung gegen-

über der Öffentlichkeit und der Presse

mit der Idee verbunden wurde, die Ent-

wicklung von deutschen „Elite-Univer-

sitäten“ zu fördern.

Die neue Initiative befaßt sich mit

verschiedenen Innovationssektoren,

z.B. mit der Verbesserung der Ganz-

tagsbetreuung im Bildungswesen, der

Sicherung der Sozialsysteme, der Kon-

solidierung der Staatsfinanzen oder

der Förderung neuer Technologien

auch im Rahmen der Europäischen

Union. Besondere Bedeutung kommt

aber dem Wissenschafts- und Bil-

dungsausbau zu.

„Der Wettbewerb hoch entwickelter

Volkswirtschaften“, so der Weimarer

Beschluß, „vollzieht sich über Innova-

tionen. Beschäftigung können wir nur

sichern und neu schaffen, wenn wir

Zukunftsmärkte gezielt und schnell

erschließen. Darin liegen große Chan-

cen gerade auch für strukturschwache

Regionen z.B. in Ostdeutschland. Des-

halb wollen wir“, so die Weimarer

Initiative, „dass Ostdeutschland Inno-

vationsregion in Deutschland wird.“

Im Mittelpunkt steht für die SPD das

Ziel, durch eine „Modernisierung von

Gesellschaft und Staat mehr Chancen

auf ein gutes Leben für möglichst viele

Menschen zu erreichen.“ Wirtschaft-

liches Wachstum ist für die Weimarer

Initiative kein Selbstzweck, sondern

muß gesellschaftlichen Zielen dienen

und ökologisch nachhaltig sein. Bil-

dung, Wissenschaft und Forschung

müssen ein „Anliegen der gesamten

Gesellschaft werden“, so eine zentrale

Forderung.

Im Wissenschaftsbereich fordern die

Leitlinien im einzelnen:„Der Zugang zu

unseren Hochschulen muß offen blei-

ben“, was wahrscheinlich die Ableh-

nung von Studiengebühren für das

137

Innovationsinitiative und OstdeutschlandRegionale Probleme und Chancen der deutschen Strukturreform

Von Klaus Faber

Weimarer Innovationsleitlinien

Page 140: perspektive21 - Heft 21/ 22

Erststudium einbezieht, wie sie auch

ein SPD-Parteitagsbeschluß fordert.

„Wir brauchen nicht weniger, sondern

mehr und besser ausgebildetete Hoch-

schulabsolventen“, so wörtlich der

Weimarer Beschluß. Die Leitlinien spre-

chen sich dafür aus, die Universitäten

und Fachhochschulen für die beruf-

liche Weiterbildung zu öffnen. Ein

wichtiger Teil der Leistungsbilanz wird

in der Weimarer Initiative erwähnt:

„Als wir 1998 die Regierungsverant-

wortung übernahmen, lag der Anteil

der Studienanfänger bei 28,5 %, in-

zwischen beträgt er 35,6 % eines Jahr-

gangs. Dazu hat vor allem die Ver-

besserung der Ausbildungsförderung

beigetragen. Unser Ziel bleibt, die Stu-

dierendenquote in den kommenden

Jahren auf 40 % zu erhöhen.“

Die Konsequenz aus diesen Grund-

forderungen beschreiben die Weima-

rer Leitlinien im einzelnen: „Wir wollen

die Struktur der Hochschullandschaft

so verändern, dass sich Spitzenhoch-

schulen und Forschungszentren eta-

blieren, die auch weltweit in der ersten

Liga mitspielen und mit internatio-

nalen Spitzenhochschulen wie Harvard

und Stanford konkurrieren können.“ –

Die Stanford/Harvard-Erwähnung ent-

hält übrigens Vergleichsbeispiele, die

angesichts der Struktur- und Finanz-

unterschiede (Stanfords Jahresausga-

ben z.B. rund 2,5 Milliarden Dollar)

kaum zur deutschen Hochschulland-

schaft passen – was nicht gegen die

Forderung spricht, „Spitzenleistungen“

an „Spitzenhochschulen“ zu fördern.

„Wir wollen“, so weiter der Weimarer

Beschluß, „bis spätestens 2010 den

Anteil der Forschungs- und Ent-

wicklungsaufwendungen am Brutto-

inlandsprodukt (BIP) von heute 2,5 %

(2001) auf 3 % steigern. Wir erwarten

von der Wirtschaft, dass sie ihren

Anteil auf 2 % des BIP erhöht. … Wir

werden in diesem Rahmen auch prü-

fen, ob eine Stiftung ‘Bildung, For-

schung und Entwicklung’ einen Beitrag

zur Finanzierung zentraler Innovati-

onsprojekte leisten kann.“

In Zielrichtung und Argumentation

zeigen die Weimarer Leitlinien Paralle-

len zur sozialdemokratischen Innen-

politik in Schweden. Auch dort war der

Umbau der mit viel Finanzaufwand

unterhaltenen Sozialsysteme notwen-

dig – nicht nur mit Rücksicht auf die glo-

balisierte Wirtschaftskonkurrenz. In

Schweden gelang es wohl besser als in

Deutschland, auch die positiven Zu-

Klaus Faber

138

Fragen zum sozialdemokratischen Politikprofil

Page 141: perspektive21 - Heft 21/ 22

kunftsperspektiven des Erneuerungs-

wegs deutlich zu machen. Durch höhere

Wissenschafts- und Bildungsinvestit-

ionen sollten das Ausbildungsniveau

gehoben, allen Schweden mehr Bil-

dungschancen eröffnet und damit mit-

tel- und langfristig die internationale

Wettbewerbsposition Schwedens ver-

bessert werden. Die Studienanfänger-

anteile am jeweiligen Altersjahrgang

sind in Schweden schon seit längerer

Zeit deutlich höher als die entsprech-

enden deutschen Durchschnittszahlen.

Das gleiche gilt für die Jahrgangsanteile

der Studierenden oder der Hochschul-

absolvententen und ebenso für die

Anteile der öffentlichen und privaten

Ausgaben für Forschung und Entwick-

lung am Bruttoinlandsprodukt.

Auch Finnland ist, neben anderen

skandinavischen Staaten (sowie den

USA, Südkorea, Japan und anderen), bei

diesen Vergleichszahlen in die Vorbild-

Liste einzureihen. Finnland hatte sich in

den Jahrzehnten vor 1990 wirtschaftlich

stark auf die Sowjetunion ausgerichtet.

Die Modernisierungs- und Erneuerungs-

initiative dieses Landes hat den Folgen

entgegengewirkt, die sich aus dem Zu-

sammenbruch des Ostblockwirtschafts-

systems ergaben. Ein nationaler Kon-

sens, der auch die Sozialdemokraten ein-

schloß, war die Grundlage für ein Inve-

stitionsprogramm zur Förderung von

Wissenschaft, Technologie und Bildung.

Der Jahrgangsanteil der Studienan-

fänger übersteigt in Finnland deutlich

die 60 %-Marke; für den Hochschul-

bereich gibt Finnland, wie Schweden

oder die USA, pro Kopf der Bevölkerung

ungefähr doppelt so viel aus wie

Deutschland. Finnlands Wirtschaft hat

sich nicht nur im Bereich der Informa-

tionstechnologie auf die neuen Welt-

marktbedingungen eingestellt. Das

finnische Staatskonzept wurde erneu-

ert, aber im Kern nicht in Frage gestellt.

Das wird z.B. in der Infrastrukturpolitik

sichtbar, die für große Teile der finn-

ischen Regionen entscheidende Be-

deutung hat. Finnland ist auf diesem

Sektor in gewisser Weise ein Gegen-

modell zu dem eher „neoliberalen“

Ansatz, dem Irland folgt, wie dies in

diesem Heft Thomas Dürr in seinem

Artikel deutlich macht.

In der öffentlichen Debatte Deutsch-

lands spielen die mit den Strukturre-

formen vorhandenen Belastungen eine

größere Rolle als künftige Vorzüge der

Umgestaltung. Die negative Seite der zu

lösenden Aufgaben beherrschen die po-

litische Diskussion, und zwar sowohl bei

den Regierungsparteien wie im Opposi-

tionslager. Dass die Opposition ein Inter-

esse daran haben könnte,Grau-Schwarz-

Szenarien für die Zukunft zu entwerfen,

ist vorstellbar. Weshalb gelingt es aber

den Regierungsparteien, dort vor allem

der SPD, nicht, die Innovationspers-

Innovationsinitiative und Ostdeutschland

139

Page 142: perspektive21 - Heft 21/ 22

pektive in der künftigen Entwicklung mit

ausreichendem Gewicht in den öffent-

lichen Diskurs einzubringen – mit einem

Gewicht, das den Anstrengungen und

Verzichtleistungen beim Umbau der

Sozialsysteme Ziel gibt und sie damit

rechtfertigt?

Renten- und Gesundheitsfragen,

Landwirtschafts- oder Arbeitsmarktpo-

litik haben ihre spezifischen „Lobby“-

Formationen, auf die auch die tägliche

Politik vor und nach Wahlen zu achten

hat, Investitionen in Wissenschaft, For-

schung, Innovation, kurz: in die Zukunft,

dagegen nicht, weil ihre Auswirkungen

erst langfristig zu spüren sind – so lau-

tet oft die Antwort auf die damit auf-

geworfene Frage. Wenn dem so wäre,

müßte freilich erklärt werden, weshalb

es anderen Ländern gelingt, über Zu-

kunftsinvestitionen eine öffentliche

Debatte zu führen und die richtigen

Entscheidungen zu fällen. Die Weima-

rer Leitlinien schildern die deutschen

Defizite, z.B. bei den Hochschulabsol-

venten oder den Forschungs- und Ent-

wicklungsinvestitionen, und, zu Recht,

die Leistungen der Bundesregierung

seit 1998. Beide Aspekte spielen aber in

der Wahrnehmung von Medien und

Bürgern keine oder jedenfalls nur eine

untergeordnete Rolle.

Dieser Sachverhalt gibt Anlaß zu ver-

schiedenen Fragen. Eine davon betrifft

die Schwerpunktsetzung für das sozial-

demokratische Politikprofil und seine

Vermittlung (vgl. dazu Schröder 2004),

eine andere das Entscheidungssystem

im deutschen Bundesstaat. Beide Ele-

mente hängen miteinander zusammen.

Ein Blick auf einige in den Innovati-

onsleitlinien sowie im Schweden-Finn-

land-Vergleich angedeuteten Defizite

Deutschland und in Ostdeutschland

macht in diesem Zusammenhang die

zugrunde liegenden Strukturprobleme

deutlich.

Immer mehr junge Menschen neh-

men nach einem im letzten Jahr ver-

öffentlichten OECD-Vergleich unter 27

wichtigen Industrienationen ein Stu-

dium auf. Im Schnitt der OECD-Unter-

suchung waren es 47% eines Alters-

jahrgangs. Nicht nur Finnland und

Schweden sondern auch Norwegen,

Polen, Australien und Island haben bei

der Studienanfängerquote am Alters-

jahrgang bereits die 60 %-Grenze

überschritten. In Deutschland beträgt,

wie dies die Weimarer Leitlinien schil-

dern, die Quote zuletzt 35,6 %.

Klaus Faber

140

Deutsche und ostdeutsche Innovationsdefizite

Page 143: perspektive21 - Heft 21/ 22

Im innerdeutschen Vergleich hatten

die ostdeutschen Länder gegenüber

Westdeutschland bis vor kurzem ihren

Studienquotenrückstand Schritt für

Schritt aufgeholt. In der DDR-Zeit lag die

Quote bei 10 % bis 15 % am Altersjahr-

gang. Neuerdings stagniert diese Auf-

holbewegung. Der Abstand zwischen

Ost- und Westdeutschland hat sich in

der letzten Zeit auf diesem Gebiet sogar

wieder vergrößert. Die ostdeutschen

Durchschnittszahlen liegen bei der Stu-

dienanfängerquote bei 25 %.

Die deutschen Defizite setzen sich

bei anderen Vergleichsdaten fort. Bei

den Bildungsinvestitionen, gemessen

am Bruttoinlandsprodukt, liegen die

USA mit 7 %, Schweden mit 6,5 % und

Korea mit 6,3 % vorne. Deutschland

erreicht mit 5,3 % nicht den OECD-

Schnitt von 5,9 % (zur Defizitbeschrei-

bung vgl. Deutsche Presse-Agentur

2003, Faber 2002a, S. 114 f., ders. 2003, S.

58, Wissenschaftsrat 2000, S. 51 f.,

Zukunft der Wissenschaft 2001, S. 6).

Der Hochschulsektor hat, wie bereits

angeführt, bei den Ausgaben pro Kopf

ebenfalls Rückstände. Auf diesem Ge-

biet gibt es zudem erhebliche Unter-

schiede zwischen den Bundesländern.

Gemessen an den Hochschulausgaben

pro Kopf der Bevölkerung belegen

einige der fünf ostdeutschen Flächen-

staaten einen Platz am Ende der deut-

schen Leistungsskala. Aber auch west-

deutsche Länder liegen bei den Hoch-

schulausgaben zum Teil beträchtlich

unter dem Bundesdurchschnitt.

Defizite weist Ostdeutschland eben-

so in der Industrieforschung auf. 1990

waren in der ostdeutschen Industrie-

forschung etwa 86.000 Personen be-

schäftigt, in der zweiten Hälfte der

90er Jahre dagegen nur noch 16.000.

Die Kapazitäten in der DDR-Industrie-

forschung gingen nach 1990 noch stär-

ker als das übrige Arbeitsplatzpotential

in der Industrie zurück. Das war auch

darauf zurückzuführen, dass die west-

lichen Firmen, die Betriebe im Osten

kauften, an ihren Herkunftsstandorten

in Westdeutschland häufig bereits über

ausreichende Kapazitäten in der For-

schung und Entwicklung verfügten.

Staatliche Förderprogramme des Bun-

des und der Länder für die Forschung

und Entwicklung in der ostdeutschen

Wirtschaft versuchten, dem Rückgang

entgegenzuwirken, zum Teil mit Erfolg.

Sie haben inzwischen den Auflösungs-

prozeß aufgehalten und dadurch in je-

dem Fall verhindert, dass noch mehr Po-

tentiale verloren gingen. In Ostdeutsch-

land ist der Anteil der nicht öffentlich

geförderten Forschung und Entwicklung

aber immer noch viel geringer als in den

westdeutschen Bundesländern. Ein

Grund dafür ist, dass kleine und mittlere

Unternehmen wirtschaftlich oft noch

nicht gesichert sind und sich daher keine

Innovationsinitiative und Ostdeutschland

141

Page 144: perspektive21 - Heft 21/ 22

eigenen Personalkapazitäten für For-

schung und Entwicklung leisten können.

Vor diesem Hintergrund kam und

kommt als Ausgleichselement dem Aus-

bau der öffentlich getragenen und ge-

förderten Wissenschaftseinrichtungen –

der Hochschulen und der außerhoch-

schulischen Forschungseinrichtungen –

eine entscheidende Rolle beim Wieder-

aufbau der ostdeutschen Infrastruktur

zu. Nicht alle beteiligten Regierungen im

Bund und in den ostdeutschen Ländern

haben dies nach 1990 rechtzeitig erkannt

und danach gehandelt.

Um das auch von der Weimarer Initia-

tive proklamierte Ziel, den Anteil der Stu-

dienanfänger am Altersjahrgang in

Deutschland auf 40 % zu erhöhen, müs-

sen die Infrastrukturbedingungen für

eine deutliche Erhöhung der zu niedri-

gen Studienanfängeranteile in den ost-

deutschen Ländern geschaffen werden.

Dazu gehört vor allem eine Beschleuni-

gung des Hochschulausbaus und des

Ausbaus anderer Wissenschaftskapa-

zitäten. Das gilt vermehrt dann,wenn,so

die Weimarer Leitlinien, Ostdeutschland

„Innovationsregion“ werden soll.

An diesem Punkt kommt das deutsche

System der politischen Willensbildung

ins Spiel – mit all seinen auffälligen

Besonderheiten und Problemen (zu den

Auffälligkeiten im Bundesstaatenver-

gleich s. Faber 2002a, S. 108 ff.;

Glotz/Faber 1995, S. 1415). Wer hat im

deutschen Bundesstaat was zu tun, um

Deutschlands Innovationsrückstand

aufzuholen und eine ostdeutsche In-

novationsregion aufzubauen? Welchen

Lösungsbeitrag kann die 2003 auf den

Weg gebrachte Initiative zur „Föderalis-

musreform“ leisten?

Die Föderalismusinitiative geht im

wesentlichen auf die Regierungsposi-

tionen in großen oder finanzstarken

Bundesländern wie Nordrhein-West-

falen, Bayern, Baden-Württemberg und

Hessen zurück. Sie steht bislang unter

dem Leitziel der „Entflechtung“ von

Bundes- und Landeskompetenzen, auch

im Bundesrat-Bundestag-Verhältnis. Die

ersten gemeinsamen Vorschläge aller

Landesregierungschefs sehen – mit dem

Vorbehalt eines ostdeutschen Bundes-

landes – neben einer Reduzierung von

Gesetzgebungskompetenzen des Bun-

des auch einen Verzicht auf Gemein-

schaftsaufgaben z.B. im Hochschulbau

oder für die Bildungsplanung vor. Soweit

damit eine Bundesmitfinanzierung ent-

fällt, sollen, so die Ministerpräsidenten,

höhere Steueranteile auf die Länder

Klaus Faber

142

Entscheidung im Bundesstaat: Föderalismusreform durch Entflechtung

Page 145: perspektive21 - Heft 21/ 22

übertragen werden. Die Stellungnahme

der Bundesregierung zur Position der

Länderregierungschefs läßt in Teilbe-

reichen Übereinstimmung, aber auch

Dissens in entscheidenden Fragen er-

kennen. Wichtig ist für die Bundesregie-

rung die Notwendigkeit, für Bundesge-

setze die Zustimmung des Bundesrats

zu erhalten bzw. auf Fälle zu begrenzen,

die „Länderbelange unzweifelhaft tan-

gieren“ – eine Position, für die aus dem

Länderbereich im Grundsatz Verständ-

nis signalisiert worden ist.

Überraschenderweise erklärte sich

die Bundesregierung dazu bereit, auf

Gemeinschaftsaufgaben zu verzichten.

Im Hochschulbereich, so Bundesvor-

schläge aus diesem Jahr, soll statt des-

sen eine neue Bundesförderkompetenz

für Spitzenleistungen in Forschung und

Lehre eingeführt und die Forschungs-

förderung im übrigen zwischen Bund

und Ländern aufgeteilt werden (vgl.

Bulmahn 2004). Für den übrigen Wis-

senschaftsbereich, also auch für den

Hochschulbau in alleiniger Landes-

zuständigkeit, erhalten nach diesem

Konzept die Länder höhere Steueran-

teile. Vor allem aus finanzschwachen,

darunter auch ostdeutschen Ländern,

kommen Stimmen, die den Verzicht auf

die wissenschaftsbezogenen Gemein-

schaftsaufgaben ablehnen. Eine Reihe

von Landesregierungen (z.B. diejenige

Brandenburgs) hat die ursprünglich ge-

meinsam vertretene Ausgangsposition

zur Föderalismusreform inzwischen in

diesem Punkt verlassen. Höhere Steuer-

anteile für die einzelnen Länder, so die

damit verbundene Argumentation,

sind, wie Haushaltserfahrungen nicht

nur in Ostdeutschland zeigen, kein

geeigneter Ersatz für die Wissen-

schaftsförderung durch den Bund.

Innovationsinitiative und Ostdeutschland

143

„Wettbewerbsföderalismus“: Lösung oder Problem?

Auch mit dem neuerdings vor allem

von süddeutschen Ländern vertretenen

Konzept eines auf strenge Aufgaben-

abgrenzung ausgerichteten „Wettbe-

werbsföderalismus“ sind die beschrie-

benen deutschen und ostdeutschen

Defizite nicht aufzuholen. Wettbewerb

zwischen den deutschen Ländern setzt

zunächst einmal voraus, dass ein un-

gefähr vergleichbarer Ausgangsstand

vorliegt. Das ist aber nicht der Fall, wie

ein Blick auf Ostdeutschland und die

Folgen von 45 Jahren deutscher Teilung

bestätigt. Zonenrandförderung, hori-

zontaler und vertikaler Finanzausgleich

und weitere Förderinstrumente für den

Regionalaufbau haben in der Zeit der

deutschen Teilung die Infrastrukturent-

Page 146: perspektive21 - Heft 21/ 22

wicklung etwa in Bayern vorangebracht.

Die deutsche Teilung hat die süddeut-

schen Länder von der Konkurrenz der

mitteldeutschen Industrie befreit. Auch

landespolitische Entscheidungen für

den Infrastrukturausbau haben damals

positive Signale gesetzt. Aus westdeut-

schen Regionen mit Infrastruktur- und

Wirtschaftsproblemen sind auf diese

Weise in den vergangenen Jahrzehnten

allmählich finanzstarke, leistungsfähige

Länder geworden.

Es ist kein Zeichen für Wettbewerbs-

orientierung, sondern für das Gegen-

teil, nämlich Besitzstandswahrung,

wenn jetzt einige Länder den Ausstieg

aus dem föderativen Finanzausgleichs-

und Förderverbund vorschlagen, der sie

in den vergangenen Jahrzehnten

begünstigt hat. Baden-Württembergs

oder Hamburgs Rückstand bei den Wis-

senschaftsinvestitionen ist, gemessen

an den OECD-Zahlen, viel geringer als

derjenige der meisten ostdeutschen

Länder. Nach den Entwicklungslinien

der DDR- und Nach-DDR-Zeit kann die-

ses Ergebnis auch kaum überraschen.

Wer das Schlagwort vom „Wett-

bewerbsföderalismus“ im hier be-

schriebenen Sinne größtmöglicher Ab-

koppelung aus der gesamtstaatlichen

Solidargemeinschaft ernst meint,

müßte nicht nur als Vorbedingung die

materielle Ausgangslage der Wettbe-

werber ändern, sondern darüber hin-

aus konsequenterweise den territoria-

len Zuschnitt der Länder neu ordnen,

um auf diese Weise einen vergleich-

baren Stand in der Leistungsfähigkeit

zu erreichen. Besitzstandswahrung ist

aber auch auf diesem Gebiet ein wich-

tiges Motiv.

Die neue Initiative für die Föderalis-

musreform hat aus nachvollziehbaren

Gründen auf territoriale Neugliede-

rungsaspekte verzichtet. Ein Blick auf

andere Bundesstaaten, wie etwa die

USA oder Kanada, zeigt übrigens, dass

das Nebeneinander von großen und

kleinen Mitgliedsländern in einem Bun-

desstaat einen Sinn machen kann. Die

nach der Bevölkerungszahl, aber keines-

falls nach dem Gebietsumfang kleinste

Territorialeinheit Kanadas – Nunavut –

hat etwa 27.000 Einwohner. Dass dieses

Territorium in einem „Wettbewerbs-

föderalismus“ nach dem süddeutschen

Modell in der nächsten Zeit wohl keine

großen Entwicklungschancen hätte,

muß nicht ausgeführt werden.

Klaus Faber

144

Page 147: perspektive21 - Heft 21/ 22

Das Ziel der im Prinzip von allen Sei-

ten geforderten Entflechtung bei den

Bund-Länder-Zuständigkeiten kann in

bestimmten Bereichen auch dadurch

erreicht werden, dass der Bund eine

eindeutige Verantwortung für struk-

turelle und normative Regelungen

sowie für die finanzielle Förderung

erhält. Dazu ist, neben anderen Gebie-

ten, auch der Wissenschafts- und

Innovationssektor zu rechnen. Ein

Kernbereich von Landeskompetenzen,

zu denen z.B. das Schulwesen und die-

sem eng verbundene Gebiete gehören,

Die Debatte über den „Wettbewerbs-

föderalismus“ führt zu aktuellen Über-

legungen für die Kompromißbildung in

der von Bundesrat und Bundestag

eingesetzten Föderalismuskommis-

sion. Die Politikverflechtung zwischen

Bundestag und Bundesrat aufzulösen

oder sie zumindest zu reduzieren und

damit die deutsche Politik entschei-

dungsfähiger zu machen, ist ein richti-

ger Ansatzpunkt für die Reform.

Im Bund-Länder-Verhältnis, sollte,

soweit dies möglich und sinnvoll ist,

ebenso das Entflechtungsprinzip zum

Erneuerungsmaßstab gemacht wer-

den. Ein verfassungspolitisches Pro-

blem stellt sich allerdings dann, wenn

sich, wie das die Stellungnahmen von

Bund und Ländern erkennen lassen,

ein politsches Tauschgeschäft zwi-

schen einer Einschränkung der Bun-

desratszustimmung und der Aufgabe

von Bundeskompetenzen abzeichnet.

Eine Aufgabe von Bundeszustän-

digkeiten in für den Gesamtstaat wichti-

gen Gebieten, z.B. in der Wissenschafts-,

Forschungs- und Innovationsförderung,

und der Verzicht auf Finanzausgleichs-

systeme, die für diese Felder Bedeutung

haben, ist kein geeigneter Beitrag zur

Föderalismusreform. Einzelne Lander,

wie Baden-Württemberg, Bayern oder

Nordrhein-Westfalen, könnten mit der-

artigen Konstruktionen vielleicht eine

Zeitlang leben, die Mehrheit der Länder

und vor allem der Gesamtstaat aber

nicht, wenn und soweit die Zielsetzung

verfolgt werden soll, Reform- und Struk-

turdefizite in Deutschland aufzulösen.

Innovationsinitiative und Ostdeutschland

145

Ein problematischer Tauschhandel:Verzicht auf Bundesratszustimmunggegen Abbau von Innovationskompetenzen des Bundes

Entflechtung und gesamtstaatliche Strukturreform

Page 148: perspektive21 - Heft 21/ 22

sollte im übrigen von wesentlichem

Bundeseinfluss frei bleiben, nicht nur

und nicht in erster Linie mit Rücksicht

auf die Föderalismusgarantie des Arti-

kels 79 Abs. 3 des Grundgesetzes.

Auch im Schulbereich gibt es, wie

PISA zeigt, deutsche Rückstände (vgl.

dazu Klemm 2001, Lernen für das Leben

2001). Eine sinnvolle Aufgabenvertei-

lung sollte aber unter den deutschen

Ausgangsbedingungen den Ländern

deutlich abgrenzbare Gebiete der

Eigenverantwortung, u.a. eben im

Schulbereich, sichern. Der Bund könnte

nach einer Verfassungsneuordnung

mit einer erweiterten Wissenschafts-

förderung die Länder entlasten, um

diese in den Stand zu setzen, mehr für

ihre Schulen zu leisten. Das Ziel der Ent-

flechtung und eine gesamtstaatlich

sinnvolle Schwerpunksetzung bei der

Aufgabenwahrnehmung wären auf

diese Weise miteinander verbunden.

Ob die „Föderalismusreform“, wenn

sie denn stattfindet, einen Beitrag zur

Förderung von Innovation und Wissen-

schaft – mit einem Schwerpunkt in

Ostdeutschland – leistet, ist demnach

eine offene Frage. Viel wird davon

abhängen, was aus Ostdeutschland in

die verfassungspolitische Debatte ein-

gebracht wird.

Die Bilanz des Überblicks zur Innova-

tions- und Föderalismusdebatte, im

ganzen: zur deutschen Strukturreform-

diskussion, ergibt kein einheitliches

Bild. Es fällt auf, dass die Verbindung

von Föderalismus- und gesamtstaat-

licher Strukturreform in der politischen

Auseinandersetzung kaum thema-

tisiert wird – und zwar auf allen Seiten

des politischen Spektrums.

Die Weimarer Innovationsleitlinien

nennen gesamtstaatliche Innovations-

ziele und entsprechende Bundeslei-

stungen, die bereits erbracht wurden.

Dass auch von den Ländern erhebliche

Anstrengungen erwartet werden müs-

sen, wenn man diese Ziele Ernst nimmt,

wird kaum angesprochen; noch weniger

wird eine eindeutige Antwort auf die

Frage gegeben, wie ein derartiges Ver-

halten der Länder erreicht werden soll.

Der nach den Weimarer Richtlinien zu

„prüfende“ Vorschlag, eine nationale

Stiftung „Bildung, Forschung und Ent-

wicklung“ einzurichten, kommt auch

für die Zeit vor einer Verfassungsände-

rung einem Lösungsvorschlag noch am

nächsten. Eine derartige Stiftung, die

Klaus Faber

146

Innovationsinitiative für Ostdeutschland:Weichenstellung und Chance

Page 149: perspektive21 - Heft 21/ 22

Bund, Länder und nicht-öffentliche

Geldgeber umfassen müßte, wäre dem

Ansatz nach in der Lage, z.B. Vorhaben

und Institutionen im Wissenschafts-

bereich zu fördern und damit auch

Struktur- und Finanzschwächen in ein-

zelnen Regionen auszugleichen (vgl.

Faber 2002b). Die Stiftungsgründung

wäre damit die erste Weichenstellung

für eine gesamtstaatlich wichtige

Strukturreform.

„Politikverflechtung“, die durch die

Bundesratskonstruktion und den „ko-

operativen Föderalismus“ ausgelöste

Neigung zu verdeckten Allparteien-

koalitionen, die damit verbundene

Einschränkung der Durchschaubarkeit

von Entscheidungsprozessen sowie

des Parlaments- und Wählereinflusses,

des Parteienwettbewerbs als Innovati-

onsmotor und letztlich auch der demo-

kratischen Legitimation – das alles sind

akzeptierte Kritikpunkte der ver-

fassungspolitischen Diskussion. Wenn

es konkret wird, fehlt allerdings der

Konsens.

Die Länder denken z.B. kaum daran,

Politikverflechtung in der „Länder-

selbstkoordination“, wie der Kultusmi-

nisterkonferenz, abzubauen. Die Bun-

despolitik formuliert, zum Teil durch-

aus im Konsens, Innovationsziele für

den Gesamtstaat. Keine der Bundes-

parteien tritt aber bislang unmißver-

ständlich für eine deutliche Erhöhung

der Wissenschaftsinvestitionen des

Bundes und für eine Erweiterung der

Bundeszuständigkeiten ein. Ohne eine

derartige Erhöhung können jedoch die

deutschen Innovationsrückstände

nicht überwunden werden. Keine Bun-

despartei kritisiert, dass zur Zeit in den

meisten Ländern, quer über die Partei-

enformationen, die im internationalen

Vergleich viel zu niedrigen Haushalts-

anteile für das Hochschulwesen

gekürzt werden. Das Land Branden-

burg stellt auf diesem Gebiet übrigens

eine rühmliche Ausnahme dar, weil

dort die entsprechenden Mittel-

ansätze nicht reduziert werden (zur

Wirtschafts- und Wissenschaftsent-

wicklung Brandenburgs vgl. Platzeck

2003, zur Position des Landes im ost-

deutschen Wissenschaftsvergleich s.

Sternagel 2002 und Vogelsang 2002);

ähnliches gilt für Nordrhein-West-

falen. Die großen Unterschiede bei den

Haushaltsansätzen für die Wissen-

schaft sowohl innerhalb der Gruppe

der finanzschwachen als auch im La-

ger der finanzstarken Länder machen

deutlich, dass nicht nur das Ausmaß

der Finanzknappheit über die Schwer-

punktsetzung entscheidet. Parteipoli-

tisch sind diese Differenzen ebenso-

wenig zu erklären.

Ein Wechsel in der Debattenrichtung

ist wohl nur zu erreichen, wenn die

politischen Eliten und die Öffentlich-

Innovationsinitiative und Ostdeutschland

147

Page 150: perspektive21 - Heft 21/ 22

keit die Problemdimension des deut-

schen Rückstands nicht nur kurzfristig-

aktuell, etwa in der Diskussion über

PISA- und sonstige OECD-Studien, son-

dern auch mit ihren strukturellen

Aspekten, nämlich im Zusammenhang

mit unserer Föderalismuskonstruktion,

wahrnehmen. Das ist bislang nur in

geringem Umfang der Fall, wie dies vor

nicht allzu langer Zeit Klaus von

Dohnanyi, früher Bundesminister für

Bildung und Wissenschaft und Bürger-

meister in Hamburg, festgestellt hat

(von Dohnanyi 2002; s. dazu auch

Faber 2002a, S. 124 f.). Nicht der Föde-

ralismus als solcher sei das Problem;

vielmehr sei, so seine Auffassung,

seine praktische Ausgestaltung in

Deutschland „die Hauptursache der

deutschen Misere“.

Auf der Bundes- und der Landes-

ebene wird die SPD auf Dauer nicht

darum herumkommen, die sich daraus

ergebenden Schlußfolgerungen aktiv

aufzunehmen. Das Innovationsthema

muß inhaltlich mit der Föderalismus-

debatte verbunden werden, auch dann,

wenn es in der dafür eingesetzten

Kommission in diesem Jahr noch nicht

zu einer tragfähigen Einigung kommen

sollte. Die Föderalismusargumentation

muß eine Erweiterung der Bundes-

verantwortung für Innovation und

Wissenschaft anstreben, was, wie

geschildert, unter bestimmten Voraus-

setzungen auch dem Entflechtungsziel

dienen kann. Die gesamtstaatliche

Kooperation mit den Ländern ist auf

diesem Gebiet durch Bundesangebote

– nicht nur für die Finanzierung – zu

fördern. Dazu gehört die Gründung

einer nationalen Stiftung für Wissen-

schaft und Innovation.

Ähnliche Diskussions- und Aktions-

perspektiven ergeben sich auf längere

Sicht ebenso für die anderen Parteien,

selbstverständlich in der Richtungs-

färbung und im Maßnahmenprofil mit

jeweils unterschiedlichen Akzenten.

Die Forderung der Weimarer Innova-

tionsleitlinien, in Ostdeutschland eine

Innovationsregion zu schaffen, sollte

von der ostdeutschen Politik ange-

nommen werden. Dafür sind von den

ostdeutschen Ländern Eigenleis-

tungen zu erbringen. Vom Bund ist

aber ebenso eine ausreichende Wis-

senschaftsförderung zu erwarten, die

auch dem Ausgleich von innerdeut-

schen Entwicklungsdefiziten dient.

Diese Defizite belasten nach der lan-

gen Zeit der deutschen Teilung die öst-

lichen und westlichen Regionen

Deutschlands immer noch in sehr

unterschiedlichem Umfang. Höhere

Innovations- und Wissenschaftsinve-

stitionen für Ostdeutschland sind, wie

internationale Beispiele zeigen, ein

geeigneter und wichtiger Beitrag zur

deutschen Strukturreform.

Klaus Faber

148

Page 151: perspektive21 - Heft 21/ 22

Innovationsinitiative und Ostdeutschland

149

Klaus FaberStaatssekretär a.D., Rechtsanwalt und Publizist in Potsdam;

Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums

der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V..

Page 152: perspektive21 - Heft 21/ 22

Klaus Faber

150

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schungspolitik, in: Wissenschafts- und Forschungspolitik in Brandenburg,

Literaturangaben

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Innovationsinitiative und Ostdeutschland

151

Dokumentation zum Workshop Wissenschafts- und Forschungspolitik, SPD-

Landtagsfraktion in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftforum der Sozial-

demokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V., Pots-

dam, S. 24 ff. 2002

Vogelsang, Frank: Wissenschaftsförderung des Bundes in Ostdeutschland unter

besonderer Berücksichtigung von Brandenburg, in: Wissenschafts- und For-

schungspolitik in Brandenburg, Dokumentation zum Workshop Wissenschafts-

und Forschungspolitik, SPD-Landtagsfraktion in Zusammenarbeit mit dem Wis-

senschaftsforum der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-

Vorpommern e.V., Potsdam, S. 20 ff. 2002

von Dohnanyi, Klaus: Warum ist unsere Politik so schwach?, in: Wirtschaftsdienst

2002, 4, S. 187 ff. 2002

Weimarer Leitlinien „Innovation“ – Unser Land gerecht erneuern, Beschluß des

SPD-Vorstands vom 6. 1. 2004, in: http://www.spd.de/servlet /PB/ menu/1031

335/index.html

Wissenschaftsrat, Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems

in Deutschland, Köln. 2000

Zukunft der Wissenschaft – Wissenschaftspolitik für die Zukunft, SPD-Parteivor-

stand, Projektgruppe Jugend der SPD, Vorsitzende: Dr. Christine Bergmann, Bro-

schüre, Berlin. 2001

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NEUERSCHEINUNG (April 2004)

Heinz Kleger, Ireneusz Pawel Karolewski,

Matthias Munke

Europäische Verfassung.

Zum Stand der europäischen Demokratie im Zuge der Osterweiterung

3., aktualisierte und erweiterte Auflage

Lit-Verlag – Reihe Nation-Region-Europa – Band 3

616 Seiten – 29,90 Euro

ISBN 3-8258-5097-8

Aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. Januar 2002:

Die Autoren „hatten eingangs versprochen, große Anstrengungen zuunternehmen, zum ‚trotz einer komplizierten Materie auf die Ver-ständlichkeit der Ausführungen zu achten’. Sie haben vollauf Wortgehalten. Und je tiefer man sich in die Arbeit hinein versenkt, um soüberzeugender wird der originelle methodische Ansatz dieser Ana-lyse. Ihr Ergebnis zählt ohne Zweifel zu den wichtigen Beiträgen zueiner Debatte, die Europa noch lange beschäftigen wird.“

Das neue Deutschland

Die Zukunft als ChanceHerausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr336 Seiten. Broschur. s 15,90 (D)ISBN 3-351-02553-X

Kr ise im Westen, Umbruch im Osten – wie wir gemeinsamChancen beg rei fen und Refor men durchsetzen. Mit Bei trägenvon: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, UweRada, Landol f Scherzer, Alexander Thumfar t und vie len anderen

W W W. A U F B A U -V E R L A G . D E

aufbauV E R L A G

Das neueDeutschland

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IInnnnoovvaattiioonn ooddeerrNNiieeddrriigglloohhnn ??

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

www.perspektive21.de Heft 21/22 • April 2004

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Seit 1997 erscheint

„Perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben,

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Zur Zeit sind noch folgende Titel lieferbar:

Heft 13 Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem

Heft 14 Brandenburgische Identitäten

Heft 15 Der Islam und der Westen

Heft 16 Bilanz vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes Reformprojekt

Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?

Heft 18 Der Osten und die Berliner Republik

Heft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.

Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!

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aft und Innovatio

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Mit Beiträgen von Alexander G

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