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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 74. Jahrgang 2 / 11 ISSN 0721-2402 H 54226 Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen In den Armen von Amma, der „göttlichen Mutter“ Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden wird Gastmitglied der ACK Stichwort: Positives Denken Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen Bund ... · Hadayatullah Hübsch ist tot 67 ... Und kurz darauf habe Gabriele Wittek mit ihrer Interpretation dem Ganzen noch eines drauf

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

74. Jahrgang 2/11IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen

In den Armen von Amma,der „göttlichen Mutter“

Bund Freikirchlicher Pfingstgemeindenwird Gastmitglied der ACK

Stichwort: Positives Denken

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Hansjörg HemmingerPsychische Abhängigkeit in Extremgruppen 43

BERICHTE

Georg SchmidIn den Armen von Amma, der „göttlichen Mutter“ 55

INFORMATIONEN

PfingstbewegungDer BFP wird Gastmitglied der ACK 60

Die weltweite Pfingstbewegung und die katholische Kirche 61

Neuapostolische KircheEin Gottesdienst mit dem Stammapostel 62

Neue religiöse BewegungenReaktionen auf den Film „Guru – Bhagwan, His Secretary & His Bodyguard“ 65

IslamHadayatullah Hübsch ist tot 67

In eigener SacheTagung über Psychotherapie und Weltanschauung 68

Positives Denken 69

INHALT MATERIALDIENST 2/2011

INFORMATIONENINFORMATIONEN

ZEITGESCHEHENIM BLICKPUNKT

INFORMATIONENBERICHTE

STICHWORT

inhalt0211.qxp 20.01.2011 13:27 Seite 41

Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg (Hg.)Aufklärung und KritikZeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie Schwerpunkt Atheismus (Heft 3/2010) 73

Shell Deutschland Holding (Hg.)Jugend 2010Eine pragmatische Generation behauptet sich 74

Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.)Fluide ReligionNeue religiöse Bewegungen im Wandel 76

INFORMATIONENBÜCHER

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Abhängigkeit als vielschichtiges Geschehen

Der Begriff psychische Abhängigkeit (see-lische Abhängigkeit) ist kein psychologi-scher Fachterminus, obwohl er sich häufigin der Literatur über sogenannte Sektenund Psychogruppen findet. Er beschreibtErfahrungen mit Menschen, die von au-ßen gesehen einem starken Einfluss einerGruppe oder einer Autorität unterliegen,durch eine Analogie mit dem Phänomender Sucht.2 Außerdem klingt der Vergleichmit sozialen, wirtschaftlichen, politischenund familiären Abhängigkeiten an, die aufMachtausübung und Manipulation beru-hen. Im Unterschied zu diesen lässt sichdie psychische Abhängigkeit in Extrem-gruppen jedoch nicht – oder nur zum Teil– durch Machtverhältnisse erklären, so-dass die Ursachen der Beeinflussbarkeit inder Innenwelt der Betroffenen vermutetwerden. Der Übergang zwischen dem(vielleicht positiven) Einfluss einer Autori-tät und der negativ zu bewertenden Ab-hängigkeit ist dabei ebenso fließend wieder Übergang von der Gruppenkonformi-tät zum Gruppenzwang. Im Einzelnenkann der Begriff recht unterschiedlicheBeobachtungen in verschiedenen Konstel-lationen umfassen:• Distanzlosigkeit gegenüber der Ge-

meinschaft, Kritikunfähigkeit;• starke Fremdbestimmung alltäglicher

Lebensvollzüge – gemessen an üb-lichen Formen der Einflussnahme;

• finanzielle, zeitliche und sexuelle Aus-beutbarkeit;

• ungewöhnliche Konformität in der An-hängerschaft – gemessen am gängigenSpektrum von Verhalten und Habitusweltanschaulicher Gemeinschaften;

• auffallende Verehrung für Autoritäten,Personenkult.

Diese Wahrnehmungen sind etwas ande-res als die Diagnose einer abhängigen (asthenischen) bzw. dependenten Persön-lichkeitsstörung.3 Sie beruhen gerade aufdem Befremden, dass eine vorher nichtauffällig unselbstständige Persönlichkeitmit einer mehr oder weniger normalenBiografie nach der Konversion ein derartabhängiges Verhalten zeigt. Wo liegen dieGründe? Dazu ein Auszug aus einem Be-richt ehemaliger Mitglieder der Neuoffen-barungsgemeinschaft „Universelles Le-ben“ (UL):

„Die Tage der UL-Anhänger sind randvoll, Zeitzum Nachdenken bleibt kaum. Trotzdem gerätdas Ehepaar Berger irgendwann ins Grübeln ...Es werde zwar stets betont, dass die Anhängerder Glaubensgemeinschaft wahre ‚Urchristen‘seien, nach der Bergpredigt lebten und gemein-sam am Friedensreich Jesu Christi bauten. DochBergers kommt es vor, als ob das für GabrieleWittek und ihre engeren Vertrauten keine Be-deutung habe. Es gelte zwar das Motto ‚Wir sindalle gleich‘. Doch Hermann Berger hat immeröfter den Eindruck, dass es Menschen gibt, die‚gleicher‘ sind ... die Gemeindeordnung des ULwidmet sich dem Thema Geld. Dort heißt es:‚Für das Gemeindeleben ist es nicht gut, wennein Glied der Gemeinde größeres finanziellesEinkommen aus der Welt hat, das er nach sei-nem Ermessen oder einzig für sich verwendet.Eine solche Ungleichheit fördert nicht das Ge-meinschaftsleben. Das Leben der Gemeinde in

IM BLICKPUNKTHansjörg Hemminger, Stuttgart

Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen1

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Christus kann im Sinne Christi nur aktiv sein,wenn alle Glieder der Gemeinde die Prinzipiendes Friedensreiches einhalten: Gleichheit, Frei-heit, Einheit, Brüderlichkeit.‘ Für Sabine Bergersteht zwei Jahre nach ihrem Ausstieg fest: ‚Dasist ein schönes Märchen.‘ Dieses ‚Märchen’ ver-sperrt Fritz Englert lange Zeit den Blick auf dieWirklichkeit. Indes kommen ihm zunehmendZweifel. Zweifel, die er nicht haben darf, denner stellt damit das Werk Gottes in Frage. Zweifel,die sich aber nicht mehr unterdrücken lassen,denn er sieht einen ständig wachsenden Wider-spruch zwischen Theorie und Praxis ... Das Le-ben beim UL entwickelt sich für Englert zu ei-nem Wettlauf gegen sein Misstrauen: Ist daswirklich noch die Gemeinschaft, der er sich vol-ler Überzeugung angeschlossen hat? Auch Gabriele Wittek bleiben die Bedenken Englertsnicht verborgen: ‚Sie sah mir schon von weiteman, ob ich wieder einen zweifelnden Gedankenhatte.‘ Beinahe täglich muss sich Englert ...rechtfertigen ... Schließlich kommt es zu einemGespräch im größeren Kreis ... Die Wirkung ei-nes solchen Gesprächs beschreibt ein ... Gut-achten ..: ‚Offensichtlich wird beträchtlicherGruppendruck auf die Teilnehmer ausgeübt:wenn ein Einzelner aus dem Werk wieder aus-steigen möchte, was gar nicht möglich seindürfte, ohne dass dieser mit dem Odium des Ab-trünnigen behaftet ist, wird die Schuld dafürnicht nur bei dem Einzelnen, sondern bei den,Geschwistern‘ gesucht. Auf diese Weise ist si-chergestellt, dass die ,Geschwister‘ psychologi-schen Druck auf das Individuum ausüben, beimWerk zu bleiben, da sie sonst selbst mit puniti-ven [strafenden, H.H.] Konsequenzen zu rech-nen hätten.‘ Drei Tage nach dem Gesprächscheint für Fritz Englert alles wie umgewandelt.Er fühlt sich besser, freier, spürt nicht mehr denkaum zu ertragenden Druck. Doch dann kommtder ‚Roll back und eine Woche später war eswie vorher‘ ... Und kurz darauf habe GabrieleWittek mit ihrer Interpretation dem Ganzennoch eines drauf gesetzt – in dem Sinne: ‚Frei-heit ist Einsicht in die Notwendigkeit‘. ‚Damitwar die Sache über die Bühne‘, urteilt Englert.Auch Sabine und Hermann Berger halten esnicht länger aus. In einem Brief schreibt SabineBerger, ‚dass ich nicht sehen kann, dass in die-ser Gemeinschaft die Prinzipien, von denen im-mer gesprochen wird, gelebt werden.‘ Bereitsdrei Wochen zuvor hat sich Hermann Bergerebenfalls schriftlich an die Bundgemeinde ge-wandt. Er wolle seine Kritikfähigkeit nicht am

Kleiderhaken abgeben, begründet er den Aus-stieg.“4

In dem Bericht werden verschiedene Sei-ten einer Abhängigkeit von einer soge-nannten Sekte deutlich: Die Bindung aneine absolute Autorität, der man Verant-wortung für sein eigenes Leben überträgt,aber ebenso die Einbindung in eine Ge-meinschaft und deren strikte Hierarchie,die verbindliche Denk- und Verhaltens-muster vorgibt. Dabei definieren sich dieAnhänger einer extremen Gruppe nichtselbst als abhängig, sondern als engagiert,hingegeben, verbindlich lebend oder ähn-lich. Die ehemaligen UL-Mitglieder be-werten ihr Leben im „Friedensreich“ erstim Nachhinein als wesensfremd und ein-engend. „Psychische Abhängigkeit“ ist indiesem Sinn eine von außen bzw. imNachhinein gemachte Feststellung, diemindestens drei Erfahrungen zusammen-fasst:• die Einbindung in eine geschlossene

Gemeinschaft mit strikter Hierarchieund hohem Konformitätsdruck;

• die stark asymmetrische Beziehungzwischen Führungsgestalt und Anhän-gerschaft; die asymmetrische Kommu-nikation, die diese Beziehung auf-rechterhält;

• die innerpsychische Bindung an eineFührungsgestalt bzw. eine Gemein-schaft und deren Psychodynamik.

Innere Bindungen und auf diesen beru-hende Einflussmöglichkeiten gehören al-lerdings (von Persönlichkeitsstörungen ab-gesehen) zum menschlichen Sozialverhal-ten, ebenso asymmetrische Beziehungenzwischen dominanten und submissivenPartnern. Was man in einer extremen Ge-meinschaft beobachten kann, findet maninsoweit überall. Psychische Abhängigkeitin extremen Religions- und Weltanschau-ungsgemeinschaften kann sich nur in Aus-

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maß und Wirkung von anderen Formender Bindung unterscheiden. Außerdemwird eine weltanschauliche Gruppe nichtnur von „Abhängigkeitsmechanismen“stabilisiert, sondern zuerst einmal von derVerinnerlichung und Umsetzung der Sinn-und Weltdeutungen, die von der Gemein-schaft vertreten werden. Mit anderenWorten: Die Funktion der Gemeinschaftals Sinnagentur verleiht ihr ein großes Ge-wicht, sowohl für die alltägliche Lebens-führung als auch für die Identität und fürdie Lebensthemen der Anhängerschaft. Wird die Sinnhaftigkeit des Angebots voneiner Führungsgestalt garantiert, kommtdieser ein ebensolches Gewicht zu. Da-durch kann die Gemeinschaft für ihre Mit-glieder zu der sozialen Welt werden, dieviele – wenn nicht fast alle – ihrer wichti-gen Beziehungen umfasst, sodass das Ver-lassen der Gruppe auf einen weitgehen-den Sinn- und Beziehungsverlust hinaus-liefe. Dass ein Mensch seinen Sinnhori-zont, seine Lebensorientierung und seineBeziehungen zu erhalten sucht und nurim Fall schwerwiegender Probleme auf-gibt, ist zu erwarten. In dem oben wieder-gegebenen Bericht wird deutlich, dass dieIdeale des Universellen Lebens ein we-sentlicher Grund für den Einstieg warenund das Zerbrechen dieser Ideale ein we-sentlicher Grund für den Ausstieg. Mandarf also die Wirkung innerseelischer undsozialer Zwänge – so wichtig sie sind –nicht überbewerten.

Von der Gruppenkonformität zur Abhängigkeit

Wie lässt sich eine soziale Gruppe be-schreiben? Gruppen haben erstens eineFunktion oder Aufgabe, zweitens ist defi-niert, ob eine bestimmte Person dazuge-hört oder nicht, und drittens haben dieMitglieder persönliche Beziehungen zu-einander. Die menschliche Generalisie-

rungs- und Abstraktionsfähigkeit macht esallerdings möglich, die Zugehörigkeit aufunbekannte Individuen auszudehnen, in-dem Symbole an die Stelle der persönli-chen Beziehung treten. Dadurch könnenGemeinschaften über natürliche Grup-pengrößen hinauswachsen und trotzdemgewisse – aber nicht alle – Eigenschafteneiner Gruppe beibehalten. Durch die Ver-bundenheit in der Gruppe ergibt sich, al-lerdings in verschiedener Stärke, einGruppenbewusstsein, ein Wir-Gefühl, einZusammenhalt nach innen und außen(Gruppen-Kohäsion). Außerdem zeichnetsich eine Gruppe dadurch aus, dass ihreMitglieder verschiedene Rollen einneh-men, die sich zum Teil durch die unter-schiedlichen Persönlichkeiten und Fähig-keiten ergeben (informelle Rollen) oderdie als formelle Rollen durch Satzungenund Regeln festgeschrieben sind (z. B.Vorstand eines Vereins).Das Netz von Beziehungen bezeichnetman als Gruppenstruktur oder sozialesSystem. Es kann für eine bestimmte Auf-gabe oder Funktion notwendig und kon-struktiv sein (die funktionierende Arbeits-gruppe, die funktionierende Familie). DasSystem kann sich aber auch einengendund zerstörerisch auf ein Mitglied auswir-ken. Die Manipulierbarkeit von Mitglie-dern und Anhängern einer Gemeinschaftist eine Folge der Bindung, die zum We-sen einer Gruppe gehört. Wenn die Ge-meinschaft darüber hinaus die Funktionhat, dem Menschen Sinn, Geborgenheit,Glück und Heil zu vermitteln, erhält siebzw. ihre Leitung eine Autorität, die mani-pulativ benutzt werden kann. In solchenGruppen werden die Zeichen der Zusam-mengehörigkeit oft speziell betont. Manumarmt sich, sitzt nahe beisammen, be-nutzt besondere Begriffe, besondere Anre-den (seien es Spitznamen oder Titel) undbestätigt sich häufig gegenseitig, währendKritik und Abweichlertum tabuisiert sind.

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Dieses Verhalten, das nicht nur extremeGemeinschaften zeigen, demonstriert dieGruppengrenzen nach außen hin, be-schwichtigt aber gleichzeitig die latenteAngst, nicht mehr dazuzugehören, undmacht die Drohung des Ausschlusses imFall der Nicht-Konformität (Gruppen-druck) wirkungsvoller. Je exklusiver diegeteilte Intimität vorher war, desto uner-träglicher ist – oder zumindest erscheint –ihr Verlust. Wenn die Gemeinschaft fürihre Anhängerschaft Sinn und Wert dermenschlichen Existenz garantiert, wäh-rend außerhalb ihrer Grenzen Sinnlosig-keit und Verlorenheit herrschen, bildet dieTrennung von ihr (solange diese Sicht ihrePlausibilität für das Individuum behält)keine mögliche Option. Außerdem gibt eskonkrete finanzielle und soziale Abhän-gigkeiten, zum Beispiel bei der angestell-ten Mitarbeiterschaft einer Organisation. Die Gruppe als Einheit sozialen Lebens istkeineswegs eine unter mehreren Möglich-keiten, Beziehungen zu gestalten. Sie istneben der Kernfamilie (die als Primär-gruppe eine besondere Art von Gruppedarstellt) die Grundform einer sozialenGemeinschaft.5 Daher spielt sich auch dasreligiöse Leben hauptsächlich in Gruppenab. Die einzige soziale Beziehungsform,die ähnlich hohe Bedeutung hat wie dieGruppe, ist die Zweierbeziehung: einefeste Freundschaft oder eine Paarbezie-hung. Es gibt Hinweise darauf, dass dieFähigkeit zu solchen Bündnissen ebensobiologisch vorgegeben ist wie die Fähig-keit zum Umgang mit Familien- undGruppenstrukturen. Die Zweierbeziehungist nahezu die einzige soziale Beziehung,die stark genug ist, um Gruppenstrukturenaußer Kraft zu setzen. Daher versuchenviele extreme Gruppen, die Bildung engerPartnerbeziehungen zu verhindern oderzu kontrollieren.6 Das Ehepaar Berger (s.den obigen Bericht) lebte auch nach demEintritt in das „Universelle Leben“ weiter

zusammen, anstatt sich völlig in das kom-munitäre Leben zu begeben. Frau Bergerberichtete, dass sie Schuldgefühle hatte,weil diese Zweierbeziehung dem „ge-schwisterlichen“ Ideal nicht entsprach. Inder Tat machte ihre intakte Ehe den Ber-gers später den Ausstieg leichter.

Stimmungsübertragung, Rangordnung und Verantwortung

Einige besondere Eigenschaften vonGruppen7 sind für die Entstehung psy-chischer Abhängigkeiten bedeutsam:Gruppen wirken emotionalisierend. Vonden Mitgliedern geteilte Ängste und Sehn-süchte werden verstärkt, Stimmungenübertragen sich schnell. Dadurch könnensowohl Gruppenängste als auch euphori-sche Stimmungslagen entstehen, denensich einzelne Mitglieder nur schwer ent-ziehen können. Die Gruppenbindungbringt also eine hohe Beeinflussbarkeitauf der Gefühlsebene mit sich. Dadurchsind Gruppen leicht zur gemeinsamen Ag-gression nach außen hin zu bewegen, un-ter bestimmten Bedingungen auch gegeneinzelne Mitglieder, die dadurch ausge-grenzt werden. Gezielte Demütigungensind in einer Gruppe leichter zu inszenie-ren als zum Beispiel in der Zweierbezie-hung. Bei Psychotrainings (Landmark Fo-rum, Avatar-Training u. a.) dient dies imRahmen einer „schwarzen Pädagogik“dem Abbau der bisherigen Identität unddem Aufbau einer gruppenkonformenIdentität. Kollektive Aggressivität kannauch nach außen gerichtet werden undFeindbilder erzeugen. Allerdings könnenin der Regel nur die ranghohen Mitgliedereiner Hierarchie wirksame kollektive Ag-gression auslösen. Das Autoritätsgefälleverhindert dann interne Kritik. Es kommt in Gruppen immer zu (formel-len oder informellen) Hierarchien. DieRollenverteilung ist, was Autorität angeht,

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stets asymmetrisch – allerdings je nachder Selbstdefinition der Gruppe und der(davon abhängigen) Definition der inne-ren Beziehungen in unterschiedlichemAusmaß. Die völlig egalitäre Gruppe, inder alle eng miteinander verbunden unddoch gleich sind, ist eine romantischeFantasie. Herr Berger im obigen Berichtbemerkte, dass einige Mitglieder des Uni-versellen Lebens „gleicher“ sind als an-dere, trotz der offiziellen Gleichheitsideo-loge. Eine solche Ideologie verbirgt oft be-sonders steile Hierarchien. Von daher sindnicht Autoritäten und Hierarchien an sichvermeidbar, aber Ausmaß und Zielrich-tung des von den „Ranghöheren“ ausge-übten Einflusses lassen sich kontrollierenund einschränken. Ob es dafür gültigeund wirksame formelle und informelleRegeln gibt oder nicht, unterscheidet ex-treme und gemäßigte Gemeinschaftenvoneinander. Außerdem gibt es einen Gruppeneffekt,der „Diffusion von Verantwortung“ ge-nannt wird. Für das, was man als Grup-penmitglied mit Unterstützung derGruppe tut, fühlt man sich weniger ver-antwortlich, als wenn man eigenständighandelt. Das kann sich positiv als Ermuti-gung des Individuums auswirken, ebensoaber negativ als „Entmoralisierung“. Auchdieser Effekt ist umso stärker, je stärkerund exklusiver die Bindung an dieGruppe ist, sodass man in krassen Fällenvon einer Verführung des Einzelnen durchdie Gemeinschaft sprechen kann. Schließ-lich gibt es einen Gruppeneffekt, den manals „Vermeidung von Unentschlossenheit“bezeichnen könnte. Gruppen sind weni-ger als Individuen zum Abwägen undnachdenklichen Zögern imstande. DieBereitschaft zur definitiven Handlung isthoch, da Risiken als verteilt und daher un-wesentlich erlebt werden. Das kann sichpositiv und negativ auswirken. RichtigeEntscheidungen werden von Gruppen

schneller, falsche vorschnell getroffen.Negative Auswirkungen werden dannwahrscheinlich, wenn ranghohe Grup-penmitglieder die Abneigung der Gruppegegen Abwarten und Abwägen zur Durch-setzung ihrer Interessen und zur Unter-drückung von Kritik ausnutzen.8Wenn ein hohes Maß an Emotionalisie-rung, eine „steile“ Hierarchie, die Entmo-ralisierung des Handelns und das Dele-gieren von Verantwortung an die Gemein-schaft die Gruppenkultur prägen, ergibtsich allein daraus schon eine innere Ab-hängigkeit. Gezielte Manipulation istdazu nicht erforderlich, kann allerdings –wie im Fall der „schwarzen Pädagogik“ –hinzukommen. Psychischer Druck, dersich aus dem Glaubenssystem und derPraxis einer Gruppe ergibt, ist also keine„Psychotechnik“ und keine Manipulation.Zum Beispiel führt die Theologie der Zeu-gen Jehovas, zusammen mit der starkensozialen Kontrolle, bei vielen Mitgliedernzu Versagens- und Strafängsten. Diesewiederum steigern (in Grenzen) die Leis-tungsbereitschaft und erschweren eine in-nere Distanz zur Gemeinschaft. DieÄngste sind jedoch Teil des Frömmigkeits-stils der Zeugen und nicht operationali-siert. In manchen esoterischen Gruppen wirddagegen gezielt davor gewarnt, dass eineTrennung vom Meister automatisch Un-glück nach sich ziehen würde. Die War-nung wird durch angebliche Beispielesuggestiv bekräftigt. In diesem Fall kannman von Manipulation sprechen, denn esgibt manipulierende Täter und manipu-lierte Opfer, deren Situationswahrneh-mung verschieden ist. Das gilt ebenso fürdas Auditieren in der Scientology-Organi-sation, falls es aus der Sicht des Auditorsdem Aufdecken von „Gegenabsichten“und der Kontrolle der „Linientreue“ dient.Eine der Gruppe inhärente soziale Kon-trolle betrifft demgegenüber alle Beteilig-

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ten. Die ranghohen Mitglieder sind dannihren Rollen ebenso verpflichtet wie das„Fußvolk“, und die Wahrnehmung der Si-tuation deckt sich bei allen Beteiligtenweitgehend. Daher sollte der Begriff Ma-nipulation nur für geplante und organi-sierte Formen der psychischen Beeinflus-sung benutzt werden. Solche Methodenhaben bei einigen Gruppen hohe Bedeu-tung (z. B. bei Scientology), bei anderenpraktisch überhaupt keine (z. B. bei denZeugen Jehovas). Von daher können dieseMethoden nicht per se zur Erklärung vonpsychischer Abhängigkeit benutzt wer-den.

Manipulation der Welt- und Selbstwahrnehmung

In manchen Gruppen spielen veränderteBewusstseinszustände (z. B. Tranceerleb-nisse, Phantasiereisen, Visionen) beimSchaffen von Abhängigkeiten eine wich-tige Rolle. Dazu ein Beispiel aus der(nicht mehr existierenden) Anhängerschafteiner Psychologin und Neuoffenbarerin:„Wie war es möglich, dass Frau Maier in dieseAbhängigkeit hinein geriet? ... Im Rückblickglaubte sie, in Heide Fittkau-Garthe eine gütigeMutter gesucht und dann auch gefunden zu ha-ben. Sie bekam das Gefühl in den Seminaren, et-was Besonderes zu sein, einen Auftrag bekom-men zu haben, um Großes verrichten zu kön-nen ... Heide habe mitgeteilt, die jetzige Verstri-ckung der Welt sei dadurch entstanden, dassFührerpersönlichkeiten in ihren Beziehungenzueinander versagt hätten. Sie als Göttin und diemitwissenden Gruppenanhänger hätten nun dieAufgabe, das Weltenkarma zu verbessern, in-dem sie missglückte Beziehungsgeschichten dergroßen Menschen in der Vergangenheit noch-mals durchleben und besser bewältigen, um da-mit das Welten-Karma zu reinigen ... durch ent-sprechende suggestive themenzentrierte Vor-gabe wurden bei den Mitgliedern im Sinne einerkatathymen Tagtraumtechnik innere Bilder undSzenen produziert, gleichsam induziert, diedann als Bestätigung von Seiten der Meditieren-den gewertet wurden im Sinne von Evidenzer-

fahrungen. Diese inneren Bilder wurden als Be-weis dafür gewertet, dass Frau Fittkau-Garthe‚göttliche‘ Kräfte und Fähigkeiten aufweist. Eskam bei den Betroffenen zu einer narzisstischenAufblähung ihres Größenselbst, das zu Überle-genheitsgefühlen gegenüber anderen führte undsie an die Gruppe und an Frau Fittkau-Garthemehr und mehr band.“9

Meditationserlebnisse werden von vielenesoterischen Gemeinschaften und Guru-Gruppen (oft gegen deren traditionellenSinn) als angebliche Beweise für die gran-diose Rolle der Gruppe und für die Autori-tät der Führungsgestalten benutzt. Die Er-lebnisse bei verändertem Bewusstseinwerden von den Mitgliedern als authenti-sche Erfahrungen gewertet, obwohl sie inhohem Maß durch die Gemeinschaft, dieAnleitung und die Gruppenerwartung vor-geformt sind. In dem Bericht wird aberauch die wichtige Beobachtung formu-liert, dass Abhängigkeit keinesfalls per-sönliche Entwertung bedeutet, jedenfallsnicht aus subjektiver Sicht. Vielmehr wirdFrau Maier durch die Bindung an dieMeisterin eine grandiose Rolle und einunermesslicher Wert zugesprochen.Durch diese Bindung wehrt das Mitgliednicht nur seine Ängste ab, sondern sichertsich einen – allerdings externen – Selbst-wert und Lebenssinn. Die Gruppenkohä-sion ist stark, die gegenseitige Verantwor-tung hoch entwickelt; wer dazugehört, hatkeine Vereinsamung zu befürchten. Je-doch kommt es dadurch auch zur Ent-fremdung von den eigenen Ideen, Wahr-nehmungen und Gefühlen zugunsten derGruppeneinflüsse. Wenn die religiöse Ge-meinschaft oder ihre Leitfigur idealisiertwerden, geht das Gleichgewicht vonSelbstbewusstsein und Gemeinschaftsbe-wusstsein verloren. Negative Gefühlekönnen nicht der idealen Gemeinschaftzugeschrieben werden. Man muss die Ur-sachen bei sich selbst suchen. Dieser Me-chanismus wird von vielen Extremgrup-

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pen ausgenutzt, um Gruppendruck zu er-zeugen. Die andere Möglichkeit ist, die Ursachenaller Übel bei äußeren Feinden zu suchen– seien es geistige Mächte, Dämonen undTeufel, seien es Kritiker, Polizei, Gerichteusw. Wenn eine Gruppe die Selbstideali-sierung zu weit treibt, wird die Projektionnegativer Befindlichkeit nach außen un-vermeidlich. Anders ist die Diskrepanzzwischen Anspruch und Wirklichkeitnicht mehr aufzufangen. Dafür sind bzw.waren leider alle bisher genannten Ge-meinschaften Beispiele (Universelles Le-ben, Scientology, Gruppe um Heide Fitt-kau-Garthe, Jehovas Zeugen). Für die Ver-drängung der Konflikte und Aggressionenin der Gruppe bezahlt man mit Ängstenund Aggressionen gegenüber der Außen-welt und mit dem Verlust eigener Entwick-lungsmöglichkeiten.

Ein anderer Zugang: Dogmatismus undRigorismus

Bernhard Grom10 beschreibt die innereDynamik extremer Gruppen mit dem psy-chologischen Begriff „Dogmatismus“.Nach der klassischen Theorie von MiltonRokeach aus den 1960er Jahren wird derDogmatismus von geschlossenen Über-zeugungssystemen anstatt von offenen ge-prägt. „Der dogmatisch Denkende über-sehe die Gemeinsamkeit zwischen seinerAnsicht und der Meinung der Andersden-kenden, vereinfache Überzeugungen, dieer ablehnt, beurteile Menschen, die sievertreten, mit intoleranter Verachtung, be-harre in Diskussionen hartnäckig auf dereigenen Meinung, richte sich nach derAnsicht von Autoritäten, die er absolutsetzt usw.“11 Nach Rokeach besteht einZusammenhang zwischen innerseeli-schen Ängsten und Dogmatismus. DieserZusammenhang hat sich in späteren For-schungen grundsätzlich bestätigt. Aller-

dings lässt die Theorie offen, welcheÄngste es sind, die zum Dogmatismusführen. Dazu stellt Bernhard Grom fest,dass es sich um sehr unterschiedliche psy-chische Konstellationen handeln kann.Wie wird Dogmatismus zum Merkmal ei-ner Gruppe oder Gemeinschaft? Gromgeht bei seiner Antwort vom Konzept derIntensivgruppe12 aus. In Intensivgruppenrichtet sich das Leben in besondererWeise an religiösen Vorgaben oder an ei-ner weltanschaulichen Autorität aus. Siewollen intensivere Erfahrungen vermittelnund das Leben stärker nach festen Regelngestalten, als dies in der jeweiligen Tradi-tion üblich ist. Dabei stellen Intensivgrup-pen keineswegs immer eine Gefährdungdar; sie können psychische Schwächenauch auffangen. Aber ihre Intensität kanndurch die (nach Max Weber unausweich-liche) „Veralltäglichung des Charismas“zu einem Rigorismus führen, der den Bo-den für eine Abhängigkeit der Mitgliederbereitet. Arnold Pfeiffer spricht vom Rigo-rismus deshalb im Sinn der Religionspsy-chologie und -soziologie (nicht im philo-sophischen Sinn) als von einem „starr ge-wordenen Enthusiasmus“13. Den Hintergrund dieses Vorgangs be-schreibt Max Weber in seiner klassischenBetrachtung charismatischer Herrschaftwie folgt: „In ihrer genuinen Form ist diecharismatische Herrschaft spezifisch au-ßeralltäglichen Charakters und stellt einestreng persönlich, an die Charisma-Gel-tung persönlicher Qualitäten und derenBewährung, geknüpfte soziale Beziehungdar. Bleibt diese nun aber nicht rein ephe-mer, sondern nimmt sie den Charakter ei-ner Dauerbeziehung – ‚Gemeinde’ vonGlaubensgenossen oder Kriegern oderJüngern, oder: Parteiverband, oder politi-scher, oder hierokratischer Verband – an,so muss die charismatische Herrschaft,die sozusagen nur in statu nascendi inidealtypischer Reinheit bestand, ihren

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Charakter wesentlich ändern: sie wird tra-ditionalisiert oder rationalisiert (legalisiert)oder: beides in verschiedenen Hinsichten... Die Art, wie sie gelöst wird – wenn siegelöst wird und also: die charismatischeGemeinde fortbesteht (oder: nun erst ent-steht) – ist sehr wesentlich bestimmend fürdie Gesamtnatur der nun entstehendensozialen Beziehungen.“14

Eine der möglichen „Lösungen“ im SinnMax Webers besteht darin, dass die Ge-meinschaft versucht, ihr starkes religiösesErleben, ihre moralische Reinheit, ihrenbesonderen Auftrag usw. durch strikteMaßnahmen und enge, starre Normen(Traditionalisierung) sowie durch ein ex-tremes Lehrgebäude (Rationalisierung) zusichern. Diese „Lösung“ ist nur möglich,wenn die Gemeinschaft geschlossenerund konformer wird. Im Ergebnis be-stimmt die Gruppenkultur alle Lebensbe-reiche einschließlich der politischen, fa-miliären, beruflichen und moralischenOrientierung. Das Gegenbeispiel für einesolche Exklusivität bilden die gegenwärti-gen Großkirchen, deren Identität derzeitverschwimmt, deren gesellschaftliche Er-kennbarkeit geringer wird und deren Ein-flussmöglichkeiten auf die Mitglieder da-durch beschränkt sind. Die Last, sichselbst als evangelischer oder katholischerChrist zu definieren, geht damit von derGemeinschaft auf die Individuen über.Die rigorose Gemeinschaft entlastet dage-gen von den Schwierigkeiten des Subjekt-seins, indem sie selbst zum eigentlichenSubjekt des Glaubens bzw. der Weltan-schauung wird. Allerdings darf nicht vorschnell geschlos-sen werden, dass alle Mitglieder einer ri-gorosen Gemeinschaft dogmatischer wä-ren als alle Mitglieder einer offenen Grup-pierung. Vielmehr muss man zwischendem rigorosen (oder offenen) sozialenSystem und dem individuellen Befindenunterscheiden. Ein Mitglied der evangeli-

schen Landeskirche kann von der Persön-lichkeit her hochgradig dogmatisch seinund entsprechende Konflikte produzieren.Ein Mitglied einer exklusiven Guru-Gruppe mit monastischen Lebensregelnmag relativ reibungsfrei in dem rigorosenSystem leben und mit der Außenwelt zu-rechtkommen. Die Persönlichkeit ist zwarnicht unabhängig vom sozialen System,sondern interagiert mit ihm, aber seine Ei-gendynamik wirkt sich dabei unterschied-lich aus. Die dogmatischsten (oder fana-tischsten) Individuen findet man gehäuftnicht in stabilen Gruppierungen, sondernals Einzelgänger, zum Beispiel als funda-mentalistische Schulverweigerer oder alsVerschwörungstheoretiker, die psychischvon niemandem abhängig sind außer vonsich selbst. Das folgende Beispiel zeigt, wie das rigo-rose Feindbild einer glaubenslosen, gott-widrigen Außenwelt von den Zeugen Je-hovas plausibel gemacht wird.

„Wäre es für einen Christen ratsam, in einer Kir-che einer Beisetzungsfeierlichkeit oder einerTrauung beizuwohnen? Jede Beteiligung an fal-scher Religion missfällt Jehova und muss ver-mieden werden (2. Korinther 6:14-17; Offenba-rung 18:4). Eine kirchliche Bestattungsfeier istein sogenannter Gottesdienst, bei dem in einerPredigt unbiblische Lehren und Vorstellungenvertreten werden wie die von der Unsterblich-keit der Seele und dem Leben im Himmel alsLohn für alle guten Menschen ... Vielleicht wirdeine christliche Ehefrau von ihrem ungläubigenMann gedrängt, ihn zu einem solchen Anlass zubegleiten ... Vielleicht beschließt sie aus Rück-sicht ihm gegenüber, mitzugehen, fest ent-schlossen, sich an keiner religiösen Handlungzu beteiligen. Sie könnte sich auch dazu ent-schließen, nicht mitzugehen, weil sie befürchtet,sie werde womöglich dem gefühlsmäßigenDruck nachgeben und in Bezug auf göttlicheGrundsätze Zugeständnisse machen. Wofür siesich entscheidet, ist ihr überlassen ... Nicht über-sehen darf man allerdings, wie es Mitgläubigeberühren könnte, wenn wir einem so genanntenGottesdienst in einem religiösen Gebäude bei-wohnen. Könnte dadurch das Gewissen einiger

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verletzt werden? Könnten sie in ihrer Entschlos-senheit geschwächt werden, sich an keiner göt-zendienerischen Handlung zu beteiligen? ... EinChrist muss hierbei alles, was dabei eine Rollespielt, sorgfältig abwägen.“15

Was auch immer die fiktive Zeugin tunwird, sie wird es unter Ängsten tun. Unddie Ängste wiederum machen sie manipu-lierbar.

Die asymmetrische Beziehung: Helferund Klient, Meister und Schüler

In vielen extremen Gemeinschaften (nichtin allen) bedeutet die Identifikation mitder „Intensivgruppe“ auch die Identifika-tion mit einer zentralen Führungsperson.Diese Abhängigkeit existiert manchmalauch ohne besondere Gruppenkohäsionund sollte deshalb gesondert betrachtetwerden. Ihr Ausgangspunkt ist die (unver-meidliche) asymmetrische Beziehungzwischen Leitern und Anhängern. Letzterelernen von der Gruppe und ihren Zentral-figuren, Erstere lehren. Letztere suchenHilfe, Erstere bieten Hilfe an. Dabei legtder Anhänger nicht selten Einzelheiten in-timer Art über sein Innenleben und seinBeziehungsnetz offen und macht damitein Einwirken möglich, macht sich aberauch verletzlich. Der Helfer oder Meistertut dies seinerseits nicht. Er greift in dieLebensvollzüge des Anhängers ein, nichtumgekehrt. Der obige Bericht über die Pseudo-Thera-pie bei Heide Fittkau-Garthe illustriert,wie weit diese Eingriffe gehen können.Die Anhängerin schreibt dem Meisteroder Lehrer wohlwollende Autorität zu:Wohlwollen, weil sie positive Zuwendungund nicht selten Liebe erwartet, Autorität,weil sie beim Gegenüber Fähigkeitenoder Wissen voraussetzt, die sie nichtselbst hat. Wie das im Einzelfall aussieht,hängt von vorgegebenen Rollenmusternab. In christlichen Extremgruppen nimmt

ein Meister oder ein „apostolischer Leiter“zum Beispiel häufig die priesterliche Rolledes Mittlers zwischen Gott und Menschein. Man könnte annehmen, dass säkularlebende Menschen dazu keinen Zuganghaben, aber das trifft nicht zu. Ohne es ineiner areligiösen Sprachwelt formulierenzu können, sucht man einen durch Pries-tertum vermittelten Zugang zum Ewigenoder Göttlichen. Das priesterliche Amt le-gitimiert dann die Asymmetrie der Bezie-hung. Weiterhin gibt es die Rolle des be-rufenen und begnadeten Meisters, dessenAutorität weder auf fachlichem Könnennoch auf einem Amt beruht, sondern aufseinem wesenhaften Anderssein. Der Be-gnadete vermittelt nicht nur den Kontaktzu überweltlichen Kräften und Mächten,er ist selbst eine solche Macht. Esoterischeund neuhinduistische Führungsgestaltenwie Gabriele Wittek und Heide Fittkau-Garthe nehmen diese Rolle für sich in An-spruch. Es gibt sie aber auch im säkularenGewand: das Jahrhundert-Genie, der Aus-nahme-Wissenschaftler, der Entdeckergroßer Wahrheiten. Der Gründer derScientology-Organisation, L. Ron Hub-bard, ist ein Beispiel dafür.Eine derart asymmetrische Beziehung istimmer missbrauchbar, nicht nur im Grup-penkontext, sondern auch in Zweierbe-ziehungen, nicht nur in Weltanschauungs-gemeinschaften, auch z. B. in Therapien.Sie erfordert deshalb externe Kontrolle.Wo diese fehlt, wird Abhängigkeit mög-lich. Eine Voraussetzung ist, wie obenskizziert, der exklusive Anspruch desMeisters und seiner Gemeinschaft. Psy-chisch wirksam wird dieser durch die in-neren Zuschreibungen der Anhänger. DieAsymmetrie der Beziehung lebt (andersals bei politischer, wirtschaftlicher odersozialer Abhängigkeit) von Projektionenund Fantasien. Die Meistergestalten ver-körpern in der Innenwelt der Anhänger-schaft die Macht über das eigene Leben,

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die man selbst nicht hat; sie verkörperndas liebende Gegenüber, das es im Alltagnicht gibt. In vieler Hinsicht spiegelndiese Projektionen menschliche und reli-giöse Grundbedürfnisse wider. Abgesehen davon gehören asymmetrischeBeziehungen zu Lehrern und Helfern aberauch zur normalen Sozialisation. Aller-dings beziehen diese ihre Autorität geradenicht aus Fantasien, sie sind üblicherweisegesellschaftlich beauftragte und bezahlteExperten. Helfer sind entsprechend Leute,die eine Expertenpraxis betreiben. Diesegesellschaftlich etablierten Rollen könnenpsychische Abhängigkeit begünstigen.Zum Beispiel erzeugt die Experten-Autori-tät tendenziell Passivität beim „Kunden“.Eigenverantwortung wird abgegeben undnicht übernommen. Jeder Seelsorgerkennt den Vorgang, dass ihm ein persön-liches Problem präsentiert wird, was denKlienten viel Überwindung kosten mag.Aber damit hat dieser seinen Teil erbracht,er lehnt sich zurück und wartet, dass derExperte das Problem für ihn löst. Damit kann ein unrealistisches Machbar-keitsdenken verbunden sein, denn die Lö-sungsmöglichkeiten der Experten-Techniksind (so eine verbreitete Illusion) tenden-ziell unbegrenzt. Seriöses Helfen bedeutetdeshalb, solchen Engführungen entgegen-zuwirken, realistische Erwartungen an dieStelle des Machbarkeitsglaubens zu set-zen und die Eigenverantwortung zu stär-ken. Ebenso bedeutet seriöses Unterrich-ten, vom Bild eines Nürnberger Trichterswegzukommen, mit dem der Experte Wis-sen in den Lernenden einfüllt, um ihm zurSelbstständigkeit zu verhelfen. Die Rolledes neuzeitlichen Experten hat aber auchVorzüge: Zu ihr gehört einmal die Begren-zung der Zuständigkeit auf den Auftrag,auf die Problemlage bzw. auf das Errei-chen eines vorher bestimmten Ziels. Ex-tremgruppen und ihre Meister sind ten-denziell allzuständig, die Fachperson ist

es nicht. Die Überlegenheit des Expertenist auf Fachfragen beschränkt. Das wird oftals ein Verlust an Ganzheitlichkeit be-klagt. Esoterik-Gurus ebenso wie spirituellorientierte Heilpraktiker werben daher mitihrem „ganzheitlichen“ Vorgehen. In derTat bedeuten Spezialisierung und Funktio-nalisierung nicht nur Gewinn, sondernauch Verlust. Aber der Preis des „ganz-heitlichen“ Lehrens und Helfens kannsehr hoch werden. Denn wer für dasGanze zuständig ist, kann Einblick in dasganze Leben des Klienten und imschlimmsten Fall Zugriff darauf verlangen.Von daher lässt sich analysieren, auf wel-chen Wegen psychische Abhängigkeit voneiner „Überperson“ aus gängigen asym-metrischen Beziehungen entstehen kann:

• Fachliche Standards (Theologie, Psycho-logie, Medizin usw.) werden außer Kraftgesetzt, indem man sie zu trockenem For-malwissen erklärt, über das der Meisterhinausgewachsen sei, der „Ganzheitlich-keit“ beansprucht. Die äußeren Abzei-chen des Expertentums können dennochvorgezeigt werden: Titel und Referenzen,akademische Publikationen usw. Erstaun-licherweise ist es möglich, gleichzeitig zubehaupten, nach den geltenden Standardsein hervorragender Experte zu sein, undüber diesen Standards zu stehen.• Die Übertragung von Eigenverantwor-tung auf den Lehrer oder Helfer wird ge-fördert, anstatt sie zu verhindern. ZumBeispiel wird die Hilflosigkeit des Anhän-gers seinem Problem gegenüber betontund mit dem (angeblich) glänzenden Zu-stand des Meisters verglichen. „Was ichbin, kannst du werden – allerdings nur,wenn du dich mir anvertraust.“ Das zurLehrer- und Helferbeziehung gehörigeWohlwollen wird zu einer umfassendenBejahung und zu einer Liebesbeziehungerweitert. Der Meister erkennt und dieGruppe demonstriert, dass der Anhänger

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ein viel wertvollerer Mensch ist, als erselbst weiß. Er sichert sich diesen exter-nen Selbstwert, indem er sich vorbehaltlosdem Meister und der Gemeinschaft anver-traut.• Die Zuständigkeit des Meisters wird zueiner Allzuständigkeit erweitert. EinSchritt dazu ist, wenn man Grenzüber-schreitungen toleriert, die häufig gezieltversucht werden. Der Meister dringt zumBeispiel in die Intimsphäre ein, er schaffteine unübliche persönliche Nähe, küm-mert sich um private Lebensbereiche usw.Sich dagegen nicht abzugrenzen, istgleichbedeutend mit Regression. DerMeister oder die Gruppe wissen dann,was eigentlich mit dem Anhänger los ist,was er eigentlich braucht und will. Er istnicht mehr der beste Experte für sein eige-nes Befinden, für seine Wünsche undZiele.• Die Autorität des Meisters wird ver-schleiert, die steile Rangordnung in derGruppe wird oft völlig gegen den Augen-schein geleugnet. Damit immunisierensich der Meister und hochrangige Grup-penmitglieder gegen Kritik. Da alle in derGruppe „gleich“ sind, ist der Anhängerangeblich völlig frei und für sich selbstverantwortlich, so abhängig er auch wir-ken (und sich gelegentlich fühlen) mag.• Die vorherige Lebenswelt des Mitgliedswird abgewertet, die neue Welt der Ge-meinschaft glorifiziert. Die bisherigen Be-zugspersonen werden als hinderlich oderschädlich dargestellt – außer sie fügensich ebenfalls der neuen Autorität. Diebisherigen Lebensleistungen sind unbe-deutend demgegenüber, was sein könnte.Da die „alte“ Lebenswelt konkret ist, mitallen Ecken und Kanten realer Verhält-nisse, und das Neue weitgehend Fantasie,ist es leicht, das Alte unvorteilhaft mit demNeuen zu kontrastieren. Der Anhängerbemerkt oft nicht, dass mit der Abwertung

seiner bisherigen Bezugspersonen auchseine eigene Identität abgewertet wird. Erwird in seinem Wertesystem und seinerLebensorientierung verunsichert, viel-leicht sogar verwirrt, und ist dadurchleichter zu manipulieren.

Durch den umfassenden Anspruch desMeisters bzw. seiner Gemeinschaft ent-steht eine Entscheidungssituation, oftohne dass diese reflektiert würde. Manmuss sich für oder gegen die bean-spruchte Autorität entscheiden, für odergegen die von der Gruppe geforderte Inti-mität. Eine mittlere Distanz wie in sonsti-gen Beziehungen ist nicht mehr möglich;selbst verantwortete und von der Gemein-schaft lediglich geförderte Entwicklungen(self-efficacy) sind blockiert. Möglich sindder Extremgruppe gegenüber nur Reak-tanz (Abgrenzung, Abwehr) oder Submis-sion (Einfügung, Unterordnung). Letztereöffnet dem Missbrauch Tür und Tor undführt zu psychischer Abhängigkeit.

Zusammenfassung

„Psychische Abhängigkeit“ von Extrem-gruppen lässt sich als soziale und inner-seelische Bindung an eine Gemeinschaftund eine Autorität verstehen, die durchihre exklusive Selbstdefinition als Sinn-und Werteinstanz und durch die Konkreti-sierung dieses Selbstverständnisses in hie-rarchischen Machtstrukturen ein hohesMaß an Sozialkontrolle ausüben, ein ho-hes Maß an Gegnerschaft gegenüber derUmwelt erzeugen und hohe Investitionenan Zeit, Geld und Dienstleistungen vonden Mitgliedern fordern. Der Verlust die-ser Gemeinschaft und dieser Autoritätstellt für die Anhängerschaft eine existen-zielle Bedrohung dar, die man durch einebis zum Äußersten gehende innere undäußere Anpassung vermeidet.

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Anmerkungen

1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die erweiterteFassung eines Vortrags, der im Rahmen der 3. Kurs-woche des EZW-Curriculums „Religions- und Welt-anschauungsfragen“ (berufsbegleitende Fortbildungfür Pfarrerinnen und Pfarrer) am 8. Februar 2010 inBerlin gehalten wurde.

2 Der medizinische und psychologische Fachbegriff„Abhängigkeitssyndrom“ umfasst die körperlichen,seelischen und sozialen Merkmale, die durch denMissbrauch psychotroper Substanzen entstehen.

3 Das Diagnose-Handbuch der „World Health Or-ganization” ICD-10 führt die Störung (dependentpersonality disorder) unter F60.7 auf. Zu beachtenist, dass sie die allgemeinen Diagnosekriterien füreine Persönlichkeitsstörung erfüllen muss. Trotz derÄhnlichkeit mit einzelnen Verhaltensweisen ist dasbei Mitgliedern einer extremen Gemeinschaft, diesich selbst im Nachhinein als abhängig charakteri-sieren, meist nicht der Fall. Zum Beispiel ist einePersönlichkeitsstörung chronisch und zeigt sich be-reits in Kindheit und Jugend.

4 Aufbruch in die Freiheit – Das Universelle Lebenund seine Aussteiger, in: Würzburger katholischesSonntagsblatt, Kirchenzeitung der Diözese Würz-burg, Nr. 6 vom 7.2.1999 (Personennamen geän-dert).

5 Dieser Sachverhalt leitet sich aus der Verhaltensbio-logie des Menschen ab und macht frühere psycho-logische und soziologische Theorien der Gruppen-anziehung und -bildung überflüssig, zum Beispieldie Feldtheorie nach Lewin. Auch Begriffe wie „Ge-sellungstrieb“ sind damit überholt.

6 Vermutlich geht die Sexualfeindlichkeit vieler Ex-tremgruppen nicht nur auf eine rigorose Sexualmo-ral zurück, sondern darauf, dass die Gemeinschaftdie soziale Sprengkraft der Sexualität fürchtet.

7 Es wird im folgenden Text nicht berücksichtigt, dasssich Kleingruppen bis ca. zwölf Personen in einigenwesentlichen Merkmalen von großen Gruppen un-terscheiden.

8 Damit sind nur einige wenige Eigenschaften vonGruppen genannt. Zum Beispiel sind alle Eigen-schaften, die mit der Leistungsfähigkeit der Men-schen im Beruf oder beim Lernen zu tun haben,nicht berücksichtigt.

9 Gunther Klosinski, Vom Missbrauch imaginativerPsychotherapie-Techniken in Psychokulten – vonder Evidenzerfahrung, „world-saviour“ zu sein,http://griess.st1.at/gsk/fecris/deutsch%20Klosinski.htm (30.12.2010).

10 Bernhard Grom, Religionspsychologie, München1992.

11 Ebd., 383.12 Nicht zu verwechseln mit der therapeutischen oder

pädagogischen Intensivgruppe.13 Arnold Pfeiffer, zitiert in Reinhard Gaede, Das reli-

gionskritische Erbe des religiösen Sozialismus, in:Christ und Sozialismus 1/2000.

14 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft – Grund-riss der verstehenden Soziologie (1922), § 11: DieVeralltäglichung des Charisma durch Traditionali-sierung und Rationalisierung zum Zwecke der De-signation von Nachfolgern.

15 Der Wachtturm vom 15.5.2002.

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Unermüdlich umarmt „Amma“ (Mata Am-ritanandamayi) alle Menschen, die sich zuihr drängen, in endlosen Reihen, Tau-sende an einem Tag. Schon 24 Millionensoll sie während ihrer weltweiten Wirk-samkeit umarmt haben.1 „Embracing theWorld“ nennt sich ihr Programm, und die-ses Motto versteht sie wörtlich: Sieumarmt stundenlang. Kommt ein Fernseh-team zu einem Interview, unterbricht sieihre Umarmungen nicht. Sie lässt sich dieFragen in Malayalam übersetzen, antwor-tet umarmend, argumentiert streichelnd.Nimmt sie den einzelnen Menschen nochwahr, den sie umarmt? Sie habe göttlichesBewusstsein, sie nehme in einem Momentalles wahr, sagen die Anhänger. Aber wieerlebt sie selbst die endlose Kette derUmarmungen? Wie aus Schilderungen aus ihrem Lebenhervorgeht, sehnte Amma sich seit ihrerJugend nach Gott, zuerst nach Krishna,später nach der Devi, nach Durga oderKali, nach der göttlichen Mutter. In ihrerSehnsucht suchte sie schon früh Ver-schmelzung mit dem geliebten göttlichenWesen. Hat sie früher als spirituell wacheund mit mystischer Vorstellungskraftreichlich gesegnete junge Frau in ekstati-schen Erfahrungen, in taumelnder Trun-kenheit gespürt, wie die Gottheit in ihreinzieht und wohnt, so ist später die Iden-tifikation mit der Gottheit für Amma zurSelbstverständlichkeit geworden, an dersie zu keiner Zeit mehr zu zweifelnscheint. Sie ist eins geworden mit ihrerRolle als Avatar, als göttliche Herabkunft,

als Gott in Menschengestalt. Dieses Wis-sen schenkt ihr das Gefühl, dass für siemenschliche Grenzen keine Bedeutungmehr haben. Sie wirkt fröhlich, gelassen,beinahe locker in ihrem Umarmungspar-cours. Wenn sie zu leiden beginnt, danngeht es um die Leiden der zu ihr gekom-menen Menschen, die sie auf sich nimmt.Sie leidet stellvertretend für die Hilfesu-chenden. Dennoch bleibt sie die Mutter,die ihr Kind an sich drückt, nicht feierlichund steif, sondern beherzt und munter. All dies wirkt so, als ob es nichts Selbst-verständlicheres gäbe als Gott zu werdenund Gott zu sein. Das genauere Hinsehenbelehrt uns aber eines anderen. Besondersin Indien fanden schon manche zu derGewissheit, dass sich Gott in ihnen inkar-niert. Aber bei Weitem nicht immer wirduns so augenfällig wie bei Amma geschil-dert, welche Erfahrungen und Zuständediese sich anbahnende Gewissheit beglei-tet und befördert haben. Auch wenn alldie Schilderungen aus der Kindheit undJugend der Amma legendär überzeichnetwirken – in ihren Grundlinien erahnenwir immer noch Elemente der biografi-schen Realität.

Vom Dienstmädchen für alle zur Mutterfür alle

Sudhamani Idamannel, die spätereAmma, geboren 1953 in Parayakadavu,einem kleinen Fischerdorf in Kerala, erle-digt schon mit neun Jahren anstelle ihrer„ständig leidenden Mutter“ einen großen

Georg Schmid, Rüti/Schweiz

In den Armen von Amma, der „göttlichen Mutter“

BERICHTE

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Teil der Hausarbeit. Mit zehn Jahren ver-lässt sie die Schule, um sich ganz demHaushalt und ihren jüngeren Geschwis-tern zu widmen. Unter dem strengen Re-giment ihrer Mutter wird sie beinahe zurHaussklavin, gut genug, um allen dienst-bar zu sein. Eine intensive Liebe zuKrishna, dem göttlichen Kind und Jüng-ling, rettet sie über die dunklen Jahre ihrerKindheit hinweg. Ab dem Alter von 13Jahren muss sie im Haushalt der weiterenVerwandtschaft dienen, als besondersdunkelhäutiges Mädchen kaum beachtet.Lieder der Sehnsucht und der Hingabe anihren göttlichen Freund Krishna begleitenauch hier ihren schwierigen Alltag. Reli-giöse Lieder – auch christliche – könnensie in einen Trancezustand versetzen, ausdem sie oft erst nach einer halben Stundeerwacht. Auf der Bootsfahrt zum Haus derGroßmutter, bei der sie zeitweilig arbeitet,stimmt sie fromme Lieder an und entwi-ckelt eine eigene spirituelle Praxis: DerMotor des Bootes singt in ihrem Ohr„OM“, den göttlichen Urlaut, und imSpiel der Wellen entdeckt sie die SpieleKrishnas. Während ihre ältere Schwesterstudieren darf und jede Unterstützung derEltern genießt, wird ihr bald sogar dasFahrgeld entzogen, das es ihr erlaubthätte, das sechs Kilometer entfernte Hausder Großmutter mit dem Boot zu errei-chen. Als sie nun am Meer entlang zu Fußgeht, ruft ihr das Meer mächtig rauschend„OM“ zu, im Wind erlebt sie die Liebko-sungen ihres göttlichen Freundes. Wenndiese inneren Erfahrungen sie überwälti-gen, wird ihr Schritt immer langsamer, sietaumelt, sinkt zu Boden und verliert dasBewusstsein. Als sie später eine christlicheNähschule besuchen will, wird ihr dasnur gestattet, wenn sie nebenher auchnoch die Hausarbeit bewältigt. Trotz oderwegen dieses permanenten Drucks derVerwandtschaft häufen und vertiefen sichihre spirituellen Erfahrungen.2

1975, mit 22 Jahren, trifft sie auf demHeimweg von der Feldarbeit auf einenKreis von Krishna-Verehrern, tritt in ihreMitte und „spielt“ spontan mit ihren Ges-ten und Segenszeichen den blauen Gott.3Ihre Krishna-Sehnsucht hat ihr Ziel er-reicht: Krishna hat in ihr Gestalt ange-nommen. Doch damit ist sie noch langenicht Amma geworden. Bald bricht in ihrdie Sehnsucht nach der Devi, der gött-lichen Mutter, auf. Sie ruft unentwegtnach der Gottheit. „Amma, Amma“ wirdihr Mantra. Manchmal droht sie der Gott-heit sogar, die zuerst nicht bereit ist, sichihr zu offenbaren. Einmal bedroht sie dasGottesbild mit einem hölzernen Stößel. Inihrer Sehnsucht wälzt sie sich schluch-zend am Boden. Einmal beißt und schlägtsie sich in der Meditation selbst, reißt sichdie Haare aus und meint, die Devi habesie geschlagen. Manchmal fällt sie be-wusstlos ins Brackwasser und muss vonFreundinnen herausgezogen werden. Eskommt vor, dass sie von einer Nachbarinwie ein Säugling gestillt werden will.Manchmal bricht sie in hysterisches Ge-lächter aus, und einmal versucht sie sogar,sich umzubringen.4 In ihrer Umgebunggilt sie phasenweise als verrückt, ein Arztwird aber nicht aufgesucht.Doch ein halbes Jahr nach dem Krishna-Bhava, der Krishna-Identifikation, wird ihrDevi-Bhava zuteil. Sie fühlt sich eins mitder Gottheit, die sie sich so leidenschaft-lich herbeigewünscht hat.5 Heute erin-nern an die Phase äußerster psychischerBedrohung wahrscheinlich einerseitsnoch ihre Seufzer, ausgestoßen im trance-nahen Singen, und andererseits die rigo-rosen, beinahe angstbesetzten Ermahnun-gen zur gurunahen spirituellen Disziplinin ihrem Schülerkreis. Seit Amma eins mit der Devi wurde, lebtsie betont souverän. Jede und jederscheint ihr willkommen zu sein. In einemLand, das immer noch Unberührbare

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kennt und Kasten, die Berührungen undUmarmungen außerhalb des engsten Fa-milienkreises soweit wie möglich vermei-den, durchbricht sie ein Tabu: Wer immersich in die lange Reihe derer fügt, dieumarmt werden wollen, wird unbesehenvon ihr umarmt. Sie ist überzeugt, dass siedamit einen Beitrag zum wichtigsten leis-tet, was heute geleistet werden muss: DenMangel an Liebe und Mütterlichkeit in derreichen und den Mangel an Nahrung, Un-terkunft und Medizin in der armen Weltwill sie alle und alles umarmend gleich-zeitig überwinden und damit die Welt desdoppelten Mangels in eine Welt des Frie-dens und des Glücks verwandeln.Die reichlich fließenden Spenden ihrernicht wenigen begüterten Anhänger inOst und West erlauben es ihr, eine beein-druckende Zahl sozialer Projekte in In-dien und Katastrophenhilfe in der ganzenWelt anzubieten. Dass sie mit Wohnun-gen, Krankenhäusern und Schulen allerArt das Schicksal der Benachteiligten ver-ändert, soll nicht bestritten werden. Aberwie kann sie, fragt sich der kritische Beob-achter, durch Umarmungen die westlicheWelt verwandeln?

Umarmung als Sakrament der Einheitund als Erfüllung von Sehnsucht

Auf einer höchsten Ebene betrachtet ver-steht Amma Umarmung als Sakrament desAdvaita. Das Stichwort „Advaita“, schlichtals „Nicht Zwei“ verstanden, erinnert denindischen Wahrheitssucher seit Jahrhun-derten an die Wahrheit, die als einzigeWahrheit genannt werden sollte: an dieEinheit hinter aller Dualität. „Mensch undNatur? Nicht zwei. Schöpfung und Schöp-fer? Nicht zwei. Innen und außen? Nichtzwei. Gott und Gottes Diener? Nichtzwei. Meister und Schüler? Nicht zwei.Göttlicher und individueller Geist? Nichtzwei. Du und ich? Nicht zwei.“6 Amma

und Amma-Verehrer? Nicht zwei. Ammaweist gern und oft auf dieses „Nicht-Zwei“ hin7, das sich hinter jeder ihrerHandlungen und Worte verbirgt. Ob aber dem einzelnen Amma-Verehrerim nicht enden wollenden Strom der War-tenden dieses „Nicht Zwei“ als Tor in einEinheitsbewusstsein auch vor Augensteht? Und ob er – während Sekundenvon Amma umarmt – wirklich tiefste mys-tische Einheitserfahrungen macht? Viel-leicht erlebt er als Teil einer langen Schü-lerkette sogar eher die gespaltene Wirk-lichkeit, die Differenz zwischen Meisterinund Schülerschar in besonders augenfälli-ger Weise. Umarmung ist Sakrament der Einheit inder mystischen Theorie. In der Amma-Umarmungspraxis spielt ein anderer As-pekt des Geschehens aber wahrscheinlicheine weit wichtigere Rolle: Amma heißt„Mutter“, und als Muttergottheit tritt siebewusst auf, hier und da sogar wie dasBild der göttlichen Mutter selbst gekröntund geschmückt. Aber auch ohne diegöttlichen Insignien ist sie in ihrem eige-nen Verständnis und dem ihrer Anhängerinkarnierte Devi, göttliche Mutter inmenschlicher Gestalt. Damit öffnet sie ih-rem Millionenpublikum die Tür in ein Er-leben, das nur wenigen grundsätzlichfremd ist. Wer hat nicht als Kind seineMutter auch als Bezugsperson schlecht-hin, als Quelle aller Zuwendung undLiebe erlebt? Wenn sich das kleine Kind,das alle Wartenden einmal waren und ingewisser Weise immer noch sind, an dieBrust der kleinen südindischen Meisterindrücken lässt, dann fließen in diesen Se-kunden nicht selten Tränen der vergesse-nen Sehnsucht und der wiederentdecktenMutterliebe.Mit ihrer unbekümmerten Herzlichkeithat Amma zweifelsohne eine Marktlückeentdeckt. Es finden sich heute in allenWeltregionen zu viele Menschen, die

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fröhliche, nichts fordernde und nichts ver-sprechende Umarmungen nur vom Hö-rensagen kennen. Noch einmal wie einkleines Kind geliebt zu werden – was füreine Chance in einer einerseits umar-mungsscheuen und andererseits umar-mungsgierigen Gesellschaft! Mit der leib-lichen Mutter verbinden sich im Empfin-den vieler Zeitgenossen so schwierigeLoslösungs-Erfahrungen, dass sie nichtmehr spontan als göttliche Quelle allerLiebe dienen kann. Bei Amma ist das an-ders. Niemand verbindet schmerzhafte Er-lebnisse mit dieser kleinen Mutter aus Ke-rala – abgesehen von jenen, die sich ausdem innersten, völlig auf Amma konzen-trierten Kreis der Bewegung nach Jahrenschmerzhaft gelöst haben, oder vielleichtvon jenen, die am Rande der in Amma-Gruppen gelebten Spiritualität auch erfuh-ren, wie skeptisch und distanziert oft dasLeben der weltlich gesinnten Umgebungbetrachtet wird. Bei Amma kann manwährend Sekunden noch einmal gefühls-mäßig in die eigene früheste Kindheit zu-rückkehren; hier können sich emotionaleBlockaden lösen.8

Wunder über Wunder

Die unzähligen Wunder allerdings, diesich seit ihrer Kindheit im Umfeld Ammasereignet haben sollen und sich angeblichnoch heute ereignen, tragen so deutlichlegendäre Züge, dass der kritische Beob-achter der Bewegung sich davor hütet,Ammas göttliche Kräfte zu überschätzen.Oft sind die berichteten Wunder Wand-lungssymbole, z. B. von Wasser in Pud-ding oder Kerzenwachs. Oder Amma siehtdie Zukunft voraus, auch den Tod ihresschwierigen Bruders und seine Reinkarna-tion als Neffe. Oder sie leckt mit ihrerZunge die eiternden Wunden eines Aus-sätzigen aus.9 Amma war und ist nicht nureine lebende Person, sondern vor allem

auch eine Projektionsfläche für All-machtsphantasien, Erlösungshoffnungenund mystische Sehnsüchte – zuerst ihrerindischen Umgebung und nun ihrer un-zähligen Freunde weltweit. Wunder stel-len sich wie in anderen Gemeinschaftenvor allem dort ein, wo Meister-Suggestionund Schüler-Sehnsucht sich treffen undsich auf der Grenze zwischen Vorstellungund Realität eine neue Wirklichkeit bildet.Genau wie anderswo aber eröffnen Wun-der nicht nur das Tor ins Eigentliche, sieverschließen es sogleich auch wieder.Auch im Umfeld von Amma degeneriertder Wunderglaube sofort auch zum magi-schen Spiel mit Amma-Puppen undAmma-Träumen, die die Welt nicht ver-wandeln, sondern höchstens punktuellverzaubern.

Die andere Seite der göttlichen Mutter

„Göttliche Mutter“ – das klingt in west-lichen Ohren nach grenzenloser Herzlich-keit. Die indische göttliche Mutter, dieAmma in sich spürt, kennt aber auch an-dere Aspekte: Sie ist auch die kämpfendeDurga und die blutige Kali. Sie kann gren-zenlos liebevoll und unerbittlich hart sein.Je näher Menschen ihr rücken, desto radi-kaler sind die Forderungen, die sie an siestellt. Seit Amma die göttliche Mutter in-karniert, lebt sie im inneren Kreis ihrer Be-wegung auch diese harte, fordernde Seitehemmungslos aus.Der ernsthafte Schüler muss die Sinneslustin all ihren Facetten überwinden, dennder spirituell Übende gleicht nach AmmasÜberzeugung einem Kessel voller Löcher,wenn er nicht gleichzeitig enthaltsamlebt: Was will er schöpfen? Nichts wirdihm bleiben. Ehepaaren wird geraten, be-ginnend mit der Hochzeit sich in immerlängeren Zeitenabschnitten in Enthaltsam-keit zu üben, bis man nach ein paar Jah-ren auch in der Ehe völlig enthaltsam

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lebt.10 Andauerndes Wiederholen desMantras – was dringend empfohlen wird –soll negative Gedanken stoppen11, eineMethode, die – zum Automatismus ausge-weitet – letztlich auch jede kritische Dis-tanz zur Meisterin und jede wirklich ei-gene Erwägung unterbindet. Schlafentzug(vier Stunden Schlaf sollen genügen12)trägt das Seine dazu bei, dass kritische Re-flexion verstummt. Jede Bindung an die Welt wird suspekt.Denn die Freunde und Verwandten liebenangeblich sowieso nur aus Eigeninteresse.In der Bewegung ist man überzeugt, dasssich selbstlose Liebe nur bei Gott und beiseiner Inkarnation findet: Amma liebt rein,völlig selbstlos, ohne Ende und der gan-zen Welt zugewandt. Den Menschen zu-liebe kam die Mutter zur Welt. Wer aufspirituellem Pfad geht, muss sich einemwahren Meister anvertrauen. Mutter istWahrheit.13 Wie ein Vogel vom dürren Astsofort wegfliegt, bevor er bricht, so mussder spirituell Übende rasch jede Bindungaufgeben können.14 Wer sich der Wahr-heit zuwendet, sollte anfangs wederBriefe schreiben noch Zeitungen lesen, daall dies nur seine unheilsamen Bindungenverstärken würde.15

Bindung an die Welt wird mit einem Tu-mor verglichen, den der Mensch in sichträgt.16 Amma ist bereit, diesen Tumor beiall denen herauszuschneiden, die sich ihranvertrauen. Sie reinigt mit „härtester Dis-ziplin“ das durch weltliche Erfahrungenbefleckte Gemüt17 und schleift die Cha-raktere ihrer näheren Umgebung, bisnichts mehr die gewünschte unbedingteHingabebereitschaft stört. Acht StundenMeditation pro Tag, eine Stunde körper-liche Arbeit und möglichst seltenes Redensollen die Hingabe formen und fördern.Amma weiß, welche Gefahren auf demWeg des ernsthaften Gottsuchers lauern,hat sie doch selbst die größten Krisendurchstanden, bis die Devi in ihr Gestalt

annahm. Wahrscheinlich möchte sie ihrenSchülern diese Krisen ersparen, denn wür-den sie das durchstehen, was sie selbstdurchgestanden hat? Sie würden vorheraufgeben und in die trügerischen Sinnes-lüste der Welt zurückfallen. Aus AmmasSicht finden die Schüler nur im absoluten,zweifelsfreien Vertrauen zu ihrem wahrenGuru ans Ziel: Gehorchen, ohne Fragenzu stellen, zeichnet den wahren Schüleraus. Dies nennt man wahren Dienst amMeister.18 Dass dieser Dienst sich lohnt,ist ebenso gewiss wie das Wissen, dass erdem Schüler alles abverlangt. JahrelangesMeditieren hilft manchen keinen Schrittweiter. Wer sich hingegen vier Jahre langdurch Ammas Anweisungen leiten lässt,wird „die Wahrheit erkennen“19. Absoluter, fragloser Gehorsam – wenwürde diese Forderung nicht sofort an to-talitäre Bewegungen übelsten Zuschnittserinnern? Ist Amma noch bewusst, in wel-ches Fahrwasser sie das Schiffchen ihrerwahrhaft Getreuen rudert, wenn sie ihreSchüler in der geschilderten Weise diszip-liniert? Wahrscheinlich ist es gut, dass dievielen Umarmten Amma zwar nahekom-men, aber doch nicht zu nahe. Die aller-meisten könnten dieses Maß an Gehor-sam und Hingabe sicher nicht aufbringen,das nötig ist, um uneingeschränkt AmmasSchülerin oder Schüler zu sein. Und vondenjenigen, die die geschilderte Diszipli-nierung gerne über sich ergehen lassen,wären nur wenige fähig, sich noch dasMaß an eigener Reflexion zu erhalten, dasuns in jedem religiösen Engagement davorbewahrt, uns selbst zu verlieren.

Anmerkungen

1 Vgl. Friedmann Eißler, Amma umarmt Tausende aufEuropatournee, in: MD 1/2009, 30.

2 Vgl. Mata Amritanandamayi, Mutter der unsterbli-chen Glückseligkeit, Leben und Lehre einer jungenindischen Weisen der heutigen Zeit, hg. von Amri-tatma Chaitanya, Interlaken 21993, 39ff.

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3 Vgl. ebd., 89.4 Vgl. ebd., 118ff.5 Vgl. ebd., 141.6 www.amritapuri.org/5792/advaita-tsunami.7 Hier und da allerdings auch mit Fragezeichen im

Blick auf die spirituelle Wirksamkeit der Advaita-Philosophie (vgl. Gespräche mit Amma. Die Lehrender Heiligen Mutter Mata Amritanandamayi, Inter-laken 1993, 90).

8 Vgl. Judith Cornell, Amma. Das Leben umarmen,Berlin 2002, 99.

9 Vgl. ebd., 52f, 60, 76ff.10 Vgl. Mata Amritanandamyi, Mutter, a.a.O., 343.11 Vgl. ebd., 332.12 Vgl. ebd., 296.13 Vgl. ebd., 287ff.14 Vgl. ebd., 297.15 Vgl. Gespräche mit Amma, a.a.O., 201.16 Vgl. Mata Amritanandamyi, Mutter, a.a.O., 307.17 Vgl. Gespräche mit Amma, a.a.O., 207.18 Vgl. Mata Amritanandamyi, Mutter, a.a.O., 291ff.19 Ebd., 303.

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PFINGSTBEWEGUNG

Der BFP wird Gastmitglied der ACK. DerBund Freikirchlicher Pfingstgemeinden(BFP), die zahlenmäßig größte Pfingstge-meinschaft in Deutschland mit 46 000Mitgliedern in 759 Gemeinden, davon ca.ein Drittel Migrationsgemeinschaften,wird Mitglied im Gaststatus der Arbeitsge-meinschaft Christlicher Kirchen (ACK). EinMeinungsbildungs- und Entscheidungs-prozess innerhalb des BFP führte 2008dazu, die Mitgliedschaft zu beantragen.Im Oktober 2010 wurde dem BFP mitge-teilt, dass die ACK-Mitgliedskirchen nachintensiven Beratungen dem Antrag ent-sprochen haben. Die offizielle Aufnahmeals Gastmitglied wird in der Mitglieder-versammlung im Frühjahr 2011 erfolgen.Ihrem Selbstverständnis gemäß hat die Ar-beitsgemeinschaft Christlicher Kirchendas Ziel, die Einheit der Christen zu för-dern. Derzeit gehören 17 Kirchen als Mit-glieder und 3 Kirchen als Gastmitgliederzur ACK.

INFORMATIONEN

Die Gastmitgliedschaft des BFP wird nachgut 25-jähriger Pause wieder aufgenom-men, denn knapp zehn Jahre lang (von1975 bis Ende 1984) war der BFP bereitsMitglied der Arbeitsgemeinschaft Christli-cher Kirchen im Gaststatus gewesen. Trotzzahlreicher Konfliktfelder zwischen denhistorischen Kirchen und den Pfingstge-meinschaften wurde die Offenheit desBFP gegenüber anderen Kirchen undchristlichen Gemeinschaften auch in derZeit seiner Distanzierung von der ACK im-mer wieder zum Ausdruck gebracht. 2001wurde die Gastmitgliedschaft in der Verei-nigung Evangelischer Freikirchen (VEF) ineine Vollmitgliedschaft umgewandelt. Be-reits seit den 1990er Jahren ließ sich einestärkere Einbeziehung der Pfingstler ineine evangelikal geprägte „missionarisch-evangelistische Ökumene“ beobachten.Auf örtlicher und auf überregionalerEbene ist es seit Jahren immer wieder zuBegegnungen und zur erfreulichen Zu-sammenarbeit gekommen. In globalerPerspektive wird man im Rückblick aufdas 20. Jahrhundert unterstreichen müs-sen: Die pfingstkirchlichen Bewegungen,die zu Beginn des Jahrhunderts entstan-den, sind in einem bemerkenswerten Pro-zess überaus schneller und wirkungsvollerAusbreitung ein wichtiger Teil der Welt-christenheit geworden. Auch die Wahr-nehmung der pfingstkirchlichen Bewe-gungen hat sich verändert: An die Stelledes alten Bildes der Pfingstler als aus demProtestantismus kommender Sektierer istzunehmend ein neues getreten, das diepfingstkirchlichen Bewegungen als Teilder Familie der sich ökumenisch begeg-nenden Kirchen ansieht. Mit der grund-sätzlichen Akzeptanz charismatischer Er-neuerungsgruppen in den historischenKirchen ist diese veränderte Sichtweisebeschleunigt worden. Wenn der BFP als größte Pfingstgemein-schaft in Deutschland jetzt in den institu-

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tionalisierten ökumenischen Dialog zu-rückkehrt, bietet dies Chancen, die wech-selseitige Wahrnehmung durch Gesprächund Begegnung zu fördern und voneinan-der zu lernen. Zum Dialog der Kirchenmit pentekostalen Gemeinschaften undBewegungen gibt es keine Alternative. Einsolcher Dialog sollte das nach wie vorStrittige und Klärungsbedürftige nicht aus-klammern, sich auf alle Ebenen eines öku-menischen Miteinanders beziehen undnach mehr Gemeinschaft in der missiona-risch-evangelistischen Sendung, im ver-antwortlichen Dienst in der Welt und imVerständnis und Bekenntnis des aposto-lischen Glaubens suchen.

Reinhard Hempelmann

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Die weltweite Pfingstbewegung und diekatholische Kirche. Die Pfingstbewegungist für die römisch-katholische Kirche eineenorme Herausforderung. Das Institut fürWeltkirche und Mission (IWM), das 2009von der Deutschen Bischofskonferenz ander Philosophisch-Theologischen Hoch-schule Sankt Georgen (Frankfurt a. M.) ge-gründet wurde, hat seine erste Jahresta-gung dieser Herausforderung gewidmet.Unter dem Thema „Pentekostalismus –Anfragen an Theologie und Kirche“ hatteder Direktor des Instituts, Albert-PeterRethmann, vom 23. bis 25. November2010 an die Hochschule eingeladen. Ein Ziel der Tagung war es, sich nichtgleich von der Bewegung abzugrenzen,sondern das Phänomen des Pentekostalis-mus in seiner vielfältigen Gestalt in denverschiedenen Regionen der Welt wahr-zunehmen und implizite Rückfragen andie eigene verfasste Kirchlichkeit zuzulas-sen. Drei Referate boten empirische Ana-lysen sowohl der Pfingstkirchen als auchder charismatischen Bewegung innerhalbder katholischen Kirche in Brasilien, aufden Philippinen und im subsaharischen

Afrika. Ergänzt wurden die soziologischenStudien durch „Illustrationen“ von katho-lischen Geistlichen von den Philippinen,aus Nigeria, dem Kongo, Indien und Po-len sowie einer Soziologin aus Brasilien.In einem weiteren Schritt beschäftigtensich drei theologische Referate mit denThemen Gemeindebildung und Liturgie,Pneumatologie und Ekklesiologie sowieSpiritualität und Gesellschaft. Die Soziologin Brenda Carranza aus Bra-silien sprach von einer „Verpfingstung“der katholischen Kirche Brasiliens durchdie neocharismatische Bewegung undneue katholische Gemeinden, die durchLaien geführt würden und sich erfolgreichund geschäftstüchtig der modernen Me-dien bedienten. Der Religionswissen-schaftler Paul Gifford sah einen unmittel-baren Zusammenhang zwischen dem tra-ditionellen Geister- und Hexenglaubenauf dem afrikanischen Kontinent und demdortigen Erfolg der Pfingstbewegung. Siebringe eine verzauberte Weltsicht in dasChristentum zurück. Er kritisierte, dassafrikanische Theologen diesem Aspekt derInkulturation kaum Beachtung schenkten.Die Soziologin und Politikwissenschaftle-rin Christl Kessler konnte in ihrer empiri-schen Untersuchung auf den Philippinenfeststellen, dass die charismatische Bewe-gung eher Menschen mit höherer Bildunganspricht. Mit der persönlichen Bezie-hung zu Jesus und der eigenen spirituellenVeränderung verbinde sich die Hoffnungauf einen Weg aus dem Elend, ja sogar aufgesellschaftliche Veränderung von Miss-ständen wie Korruption und Gewalt.Der Jesuitenpater Jerry Rosario aus der Re-gion Tamil Nadu in Südindien beschriebdie dortige Pfingstbewegung als Phäno-men der Mittelschicht. Die Bewegung seivon jungen Menschen geprägt, sie über-winde das Kastenwesen, betone das Lai-enchristentum und gestehe Frauen mehrRechte in der Gemeinde zu. Der Domini-

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lichkeit wurden vor allem die Betonungdes individuellen Glaubenslebens sowiedie Rolle der Laien und Frauen verstan-den. Informationen zur Tagung mit Video-interviews einiger Referenten befindensich auf der Homepage des IWM:www.iwm.sankt-georgen.de.

Claudia Knepper

kaner und Publizist Tomasz Dostatni ausPolen zeigte einen Zusammenhang zwi-schen der charismatischen Bewegung inder polnischen katholischen Kirche undden politischen Aufbrüchen in den 1980erJahren auf. Der Missionstheologe KlausVellguth näherte sich in seinem Referat ei-ner „missionarischen Pneumatologie“ an.Die Pneumatologie sei Ausgangspunkt ei-ner heilsamen Verunsicherung. Der Geistkönne als Anwalt der Offenheit der Kirchegesehen werden. Der Heilige Geist alsDynamik der Kirche dränge dazu, alleGrenzen zu sprengen. Er wirke auch jen-seits der je eigenen Konfession oder Reli-gion. Die Theologin Margit Eckholt griff die Be-zeichnung der Pfingstkirchen als „eineneue, fünfte Grundgestalt christlicher Kir-chen“ auf. In ihrem Referat fragte sie da-nach, wie die katholische Kirche dem Be-dürfnis nach religiöser Subjektwerdunggerecht werden könnte durch ein Ver-ständnis der Kirche als Volk Gottes undSakrament der Völker in Rückbesinnungauf das Zweite Vatikanum.An der Tagung nahmen etwa 40 Teilneh-mer und alle Referenten teil. Die Veran-staltung zeigte, dass die Pfingstbewegungzwar wesentliche Merkmale weltweitteilt, aber dennoch je nach kulturellemKontext auf unterschiedliche gesellschaft-liche Bedürfnisse reagiert. Vor allem dietheologischen Tagungsbeiträge ließeneher vorsichtige erste Schritte der Ausein-andersetzung mit der Pfingstbewegung inder katholischen Theologie erkennen. DieVorschläge zum Umgang der traditionellverfassten katholischen Kirche mit demPentekostalismus reichten vom Plädoyerfür mehr Bescheidenheit bis zur Forde-rung nach mehr Selbstbewusstsein undBesinnung auf das Eigene. Ein gewissesGewicht in den Diskussionsbeiträgenhatte die Vorstellung von der Einheit derKirche. Als Anfrage an die eigene Kirch-

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NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

Ein Gottesdienst mit dem Stammapostel.(Letzter Bericht: 1/2011, 27ff) Im Novem-ber 2010 besuchte das Oberhaupt derNeuapostolischen Kirche (NAK), Stamm-apostel Wilhelm Leber, die Hauptstadt. InBerlin-Charlottenburg hielt er mit zahlrei-chen weiteren Amtsträgern den sogenann-ten „Gottesdienst für die Entschlafenen“.Dreimal jährlich feiert die NAK einen sol-chen Gottesdienst, in dem nicht nur derVerstorbenen gedacht wird, sondern ih-nen auch stellvertretend die Sakramentegespendet werden.Bereits eine halbe Stunde vor Beginn desGottesdienstes hatte die Gemeinde diePlätze eingenommen. Es herrschte eineerwartungsvolle Stimmung. Um 10 Uhrbegann der Gottesdienst mit dem Einzugder Amtsträger. Die Gemeinde sang be-gleitend das Lied „Sei uns gegrüßet DuFürst des Lebens / Jesus erstandener Sie-gesheld / ... Du brichst auf ewig des TodesKetten / willst auch als Fürst des Lebensheut / Menschen von Sünden und Tod er-retten / in der Apostel Wirksamkeit“.Diese kleine Szene, der Einzug der Amts-träger in Verbindung mit dem Lied, fasstdas Selbstverständnis der NAK sehr schönzusammen. Das Amt der Apostel genießthöchstes Ansehen. Im 5. Glaubensartikelheiß es: „Ich glaube, dass die von Gott fürein Amt Ausersehenen nur von Apostelneingesetzt werden und dass aus demApostelamt Vollmacht, Segnung und Hei-

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ligung zu ihrem Dienst hervorgehen.“ EinGottesdienst wird üblicherweise als se-gensreich empfunden – ein Gottesdienstmit dem Stammapostel gilt als besonderssegensreiches Ereignis. In den Mittelpunkt seiner Predigt stellteLeber einen Vers aus dem ersten Petrus-brief, bei dem es sich um eines der Bibel-worte handelt, mit denen die NAK ihr Ent-schlafenenwesen begründet: „Denn dazuist auch den Toten das Evangelium ver-kündigt, dass sie zwar nach Menschen-weise gerichtet werden im Fleisch, abernach Gottes Weise das Leben haben imGeist“ (1. Petr 4,6). Indem das Wort sage,dass den Toten das Evangelium verkündigtwerde, weise es über den Tod hinaus:„Wo eine Verkündigung ist, da muss auchdie Änderung eines Zustandes möglichsein, sonst hat das Verkündigen keinenZweck“, so der Stammapostel. Diese Än-derung, hin zum ewigen Leben, führeüber Jesus Christus: „Das muss alles überden Sohn Gottes gehen, ohne ihn kommtniemand zum ewigen, zum wahren Le-ben. Sein Opfer, sein Verdienst, das ist dasLebenselixier.“ Daher liege der Gedankenahe, dass auch die Sakramente der jen-seitigen Welt zugute kommen sollten. Le-ber räumte in seiner Predigt jedoch ein,dass diese Konsequenz im biblischen Textnicht explizit gezogen wird; wörtlichsagte er: „Das ist alles in dem Wort ange-legt, nicht ausgeführt, aber in Ansätzen er-kennbar.“ In weiteren Verlauf seiner Predigt warb Le-ber darum, den „unerlösten Seelen in derEwigkeit“ mit bedingungsloser Liebe ent-gegenzutreten und fürbittend für sie ein-zutreten. Er nannte unter anderem Men-schen, die in den vergangenen Monatenbei Naturkatastrophen ums Leben gekom-men sind. Auf die Frage, warum Gott sol-che Unglücke zulasse, habe auch er keineAntwort. „Aber unser Vertrauen in denHerrn sagt uns, dass er letztlich doch Ge-

danken des Friedens hat.“ Dies zu erken-nen sei im Blick auf jene, die so aus demLeben gerissen würden, aber sehr schwer.Weiter sah er unter den unerlösten SeelenMenschen, die sich das Leben genommenhaben, sowie Konfessionslose, die er als„im Jenseits orientierungslos“ bezeich-nete. Ausdrücklich sei darauf hingewie-sen, dass Stammapostel Leber nicht gesagthat, es seien die Seelen all jener orientie-rungslos, die zu Lebzeiten nicht neuapos-tolisch waren. Es mag sein, dass mancherNeuapostolischer so denkt und zweifelloshat die NAK das viele Jahrzehnte so ge-meint; in dem von mir besuchten Gottes-dienst wurde dieser Heilsexklusivismusexpressis verbis jedenfalls nicht ausge-sprochen. Höhepunkt des Gottesdienstes war diestellvertretende Spendung der drei Sakra-mente (Taufe, Versiegelung, Abendmahl)für die Entschlafenen. Dazu heißt es indem Grundsatzpapier „Der Jenseitsglaubeder neuapostolischen Christen“ (2005):„Zu den Höhepunkten im neuapostoli-schen Gemeindeleben zählen die Gottes-dienste für Entschlafene ... Der Stamm-apostel, der Bezirksapostel oder der dazubeauftragte Apostel spenden an diesen Ta-gen Heilsverlangenden je nach derenGlauben die Sakramente: einigen die Hei-lige Wassertaufe, einigen die Heilige Ver-siegelung und allen das Heilige Abend-mahl. Die Handlungen werden stellvertre-tend an zwei Amtsträgern vollzogen.“Eine solche stellvertretende Sakraments-spendung ist in der Christenheit unüblich.Daher ist der Entschlafenendienst derNAK erklärungsbedürftig. In dem bereitserwähnten Papier wird 1. Kor 15,29 be-müht, wo es heißt: „Was machen sonst,die sich taufen lassen für die Toten, wenndie Toten überhaupt nicht auferstehen?Was lassen sie sich taufen für die Toten?“Aus dieser Stelle leitet die NAK den Auf-trag ab, „nicht nur die Heilige Wasser-

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taufe, sondern konsequenterweise auchdie Sakramente der Heiligen Versiegelungund des Heiligen Abendmahls den Ent-schlafenen zu spenden“. Die Bibelstelleist sicher nicht leicht zu verstehen. Wir er-fahren aber viel zu wenig über den frem-den Brauch, um von dieser einen Stelleeine Taufe für die Verstorbenen herleitenzu können. Zwar wurde das in der altenKirche gelegentlich so verstanden („Vika-riatstaufe“), aber der Kontext unsererStelle zeigt, dass über die Frage der Toten-auferstehung diskutiert wird (1. Kor15,12). Paulus argumentiert: Gäbe eskeine Auferstehung der Toten, dann hättedie von manchen geübte Vikariatstaufegar keinen Sinn, da sie das Fortleben nachdem Tode voraussetzt. Die Intention derBibelstelle ist also nicht eine Aussage überdie Taufe für die Verstorbenen, sonderndie Erläuterung der Auferstehung. Es er-scheint nicht sachgemäß, aus dieser Stelledie Zustimmung des Apostels Paulus zurstellvertretenden Taufe abzuleiten. (Übri-gens begründet auch die „Kirche JesuChristi der Heiligen der Letzten Tage“ –Mormonen – ihre stellvertretende Taufemit dieser Bibelstelle.) Selbst wenn man die biblische Begrün-dung und die Praxis der stellvertretendenSakramentsspendung kritisch sieht, kannman versuchen, das Ritual zu verstehen.Dabei sind die seelsorgerliche und dietheologische Ebene auseinanderzuhalten.Unter seelsorgerlichem Aspekt könnteman versuchen, die Handlung im weite-ren Sinn als eine Segenshandlung für dieVerstorbenen zu interpretieren. Solche Se-genshandlungen wie Fürbitten für Verstor-bene, aber auch Messen für Verstorbene(sog. „Messen für die armen Seelen“)kennt auch die römisch-katholische Kir-che. Die Lehre vom Fegefeuer impliziertschließlich die Vorstellung, dass Lebendeetwas für die Verstorbenen tun können. ImKatechismus der katholischen Kirche

(1997) heißt es: „Schon seit frühester Zeithat die Kirche das Andenken an die Ver-storbenen in Ehren gehalten und für sieFürbitten und insbesondere das eucharis-tische Opfer dargebracht, damit sie geläu-tert werden und zur beseligenden Gottes-schau gelangen können.“Auch die orthodoxen Kirchen kennen Bei-standshandlungen für die Verstorbenen.So sind Fürbitten für Verstorbene wichtigeElemente der Gebetspraxis. Wenn derPriester im Gottesdienst die eucharisti-schen Gaben vorbereitet, ordnet er umdas große Brotstück, das später konse-kriert wird, kleine Brot-Partikel, die er ausden von den Gläubigen erworbenen „Prosphoren“ schneidet, auf dem golde-nen Teller an. Sie sind gedacht zum Ge-denken an Heilige und die von den Gläu-bigen genannten Lebenden und Verstor-benen als Zeichen der Gemeinschaft derKirche über Raum und Zeit hinweg. Auchder orthodoxe Beerdigungsgottesdienst istkeine tröstliche „Trauerfeier“ für die „Hin-terbliebenen“, sondern eine einzige großeFürbitte für die Verstorbenen, denen dieLebenden in zahlreichen Gebeten ihreStimme leihen.Zweifellos sind die beschriebenen Ele-mente aus der katholischen und der or-thodoxen Tradition nicht mit einer stell-vertretenden Sakramentsspendung zu ver-gleichen. Sie erhellen jedoch den Hinter-grund des NAK-Rituals. Wenn Gott einGott der Lebenden und der Toten ist, danngeht es (auch) darum, dass die Lebendenfür die Toten eintreten. Im Gottesdienst für die Entschlafenenwerden dessen ungeachtet auch die theo-logischen Sonderlehren der NAK deutlich.Dass nur der Stammapostel und die Apos-tel die Vollmacht zum Erlösungsdienst anden Toten haben, unterstreicht ihre he-rausragende Stellung. In dem bereits er-wähnten Text der NAK heißt es: „Durchdie Apostel, die nicht nur in urchristlicher

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Zeit, sondern auch in unserer Zeit wirken,verschafft Christus den Lebenden und denToten den Zugang zur Gnade Gottes.“Damit bedarf Christus in seinem Erlö-sungshandeln der Mithilfe durch die (neu-apostolischen) Apostel. Dazu der Vorsit-zende der Projektgruppe Ökumene derNAK, Volker Kühnle, in einem Arbeitspa-pier: „Die Apostel sind die GesandtenChristi, die wie er in die Bereiche der To-ten hineinzuwirken vermögen. Mit seinerVollmacht ausgestattet, vermitteln sie denZugang zu den Verdiensten Christi zumWohl für die gesamte Menschheit – alsofür Lebende und Tote.“ An der Praxis desEntschlafenenwesens wird also dieenorme Autorität des Apostelamts erneutsichtbar. Bei allen Fragen und Anmerkungen, dieman zweifellos formulieren muss, ist fest-zuhalten: Die NAK befindet sich in einemWandlungsprozess. Der Reformprozessführt zu einem neuen Nachdenken übertheologische Fragen. Er könnte auch zueinem neuen Nachdenken über die Sakra-mente für die Verstorbenen und deren Be-gründung aus dem Apostelamt führen.

Andreas Fincke, Berlin

NEUE RELIGIÖSE BEWEGUNGEN

Reaktionen auf den Film „Guru – Bhag-wan, His Secretary & His Bodyguard“.(Letzter Bericht: 11/2010, 425f) Im Sep-tember 2010 lief der Film „Guru – Bhag-wan, His Secretary & His Bodyguard“ inDeutschland an. Er zeigt die Entwicklungder Bewegung um Bhagwan ShreeRajneesh (später Osho) von den Anfängenim indischen Poona bis zum vorläufigenZusammenbruch der Kommune „Raj-neeshpuram“ in Oregon aus der Sichtzweier enger Anhänger des indischen Gu-rus, seiner Sekretärin Sheela und seinesLeibwächters Hugh Milne.

Der Film hat unter ehemaligen Neo-Sann-yasins um Rajneesh kontroverse Reaktio-nen ausgelöst. Auf der einen Seite begrü-ßen manche früheren Anhänger den Filmals gelungenen, tiefgründigen und kriti-schen Anstoß zur Auseinandersetzung mitder eigenen Vergangenheit und mit Meis-ter-Schüler-Beziehungen im religiösenFeld. Auf der anderen Seite sehen ehema-lige Neo-Sannyasins die Bewegung durchden Film verunglimpft. Sie werfen den Re-gisseuren eine einseitige, parteiliche Sichtvor. Gemeinsam ist beiden Sichtweisen,dass sie nach wie vor grundsätzlich einetiefe Verehrung für Osho teilen. Beispiel-haft zeigt sich dies in zwei Zeitschriftenaus dem Umfeld der Bewegung, die vonehemaligen Sannyasins verantwortet wer-den. Wolf Schneider würdigt in „connectionspirit“ (9/2010, 32f) den Film grundsätz-lich als gelungen und „aufrüttelnd“. Erstimmt der kritischen Einschätzung desehemaligen Bodyguards Rajneeshs, HughMilne, im Film zu, dass die schiefe Ent-wicklung der Bewegung begann, als derInder sich als Messias von Amerika be-zeichnete. Dieser Größenwahn sei einVerrat an „Poona I“ gewesen, der erstenKommune in Indien vor dem Umzug derBewegung nach Oregon. Kritisch siehtSchneider außerdem die „Schwäche“ desGurus, Lachgas zu konsumieren, sowievor allem seinen „unwahrhaftigen, dis-loyalen“ Umgang mit seiner SekretärinSheela Birnstiel, der er mehr oder wenigerdie Führung in Oregon überlassen hatte.Anders als viele Kommentatoren des Filmsglaubt Schneider Sheelas Beteuerung, derGuru selbst habe alle Anweisungen zumharten Regime in Oregon gegeben, dasRajneesh später als „Faschismus“ be-zeichnete. Schneider wirft ihm vor, alleVerantwortung auf Sheela abzuwälzen. Erspricht an dieser Stelle vom „unbeküm-merten Umgang [Oshos] mit Fakten“ und

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ist letztlich doch bereit, sein Verhalten zurechtfertigen: „Osho vertrat eine Ebenevon Wahrheit, in der Fakten keine sogroße Rolle mehr spielen – an diesemPunkt leider zum Schaden von Sheela.“Die Befürchtung Schneiders, dass dieWahl der Interviewpartner in den Augenehemaliger Anhänger Rajneeshs den Vor-wurf der Parteilichkeit des Films aufkom-men lassen könnte, findet sich in Leser-briefen und in einem Beitrag von Jörg An-drees Elten im Magazin „Osho Times“(10/2010, 6f) bestätigt. Elten, der als Sannyasin den Namen Satyananda trägt,zeigt sich von dem Film „Guru“ zutiefstenttäuscht. Statt in der DokumentationOsho oder „Osho-Lovern“ zu begegnen,habe er „Osho-Projektionen der beidenenttäuschten Hauptpersonen Sheela undShiva“ gesehen. Elten verurteilt die Kriti-ker und entlastet Rajneesh in jeder Hin-sicht. Sheela und Milne hätten den Fehlerbegangen, in Osho einen „Über-Vater“ zusehen. Statt selbst Verantwortung zu über-nehmen, wie es der Meister gebotenhabe, hätten sie die Verantwortung an ihnabgegeben. Die harten Arbeitsbedingun-gen in der Siedlung der Sannyasins,„Rajneeshpuram“ in Oregon, interpretiertElten als „Test“, den nicht alle bestandenhätten. Das Verhalten des Gurus entschul-digt er damit, dass der Meister das „Ego“der Schüler „zertrümmern“ wollte. „Tota-lität war angesagt. Halbheiten gab es mitOsho nicht.“ Weder die eigene Verführ-barkeit und Ideologieanfälligkeit noch diedes Gurus werden von Elten reflektiert,noch wird die Gefahr gesehen, die in je-der Totalität liegt. Die Skandale um seine92 Rolls Royce und die „karnevalistischen‚Drive Bys’“ hätte Osho geschickt ge-nutzt, um seine eigentliche Botschaft glo-bal zu verbreiten. „Was so aussieht wiedie eitle Selbstdarstellung eines verrück-ten Narzissten, war in Wahrheit ein genia-ler Werbe-Witz.“ Das „Kommune-Experi-

ment“ in Oregon sei kein katastrophalerFehlschlag gewesen, so Elten, sondern imGegenteil: „Die Ranch war Oshos ‚Mys-terienschule’ – das größte, schärfste, ris-kanteste und erfolgreichste ‚HumanGrowth’-Experiment aller Zeiten.“Wolf Schneider empfiehlt eine Filmbe-sprechung Martin Frischknechts zur Lek-türe. Der Chefredakteur und Herausgeberdes in Winterthur in der Schweiz erschei-nenden „Magazins für neues Bewusst-sein“, „Spuren“, zeigt sich gegenüber derOsho-Bewegung freundlich distanziert(www.spuren.ch/news_comments/952_0_3_0_C). Er begrüßt den „bemerkenswertunaufgeregten“ und „lehrreichen“ Filmmit „exzellentem“ Bildmaterial und hofft,dass er die ehemaligen Anhänger Oshos20 Jahre nach dessen Tod zum Nachden-ken bringen möge. Die Kritik, die beidenInterviewpartner im Film seien voreinge-nommen, bezeichnet Frischknecht als„Freund-Feind-Schema von vorgestern“.Ganz anders als Elten kommt er zu demSchluss, dass das „Experiment“ vermutlichan einem „Geburtsfehler“ litt und „vonvornherein zum Scheitern verurteilt“ war.„Die kollektive Projektion auf eine ein-zige vermeintlich leuchtende Lichtgestaltliess die Bewegung von Oshos Neo-Sannyasins Schatten verdrängen, dieschließlich im Zusammenbruch der Stadt-Ranch in Oregon offenkundig wurden.Wollen wir daraus Lehren ziehen, solltenwir nicht länger über die enigmatischePersönlichkeit des Gurus rätseln, sondernuns beherzt jenen Anteilen in uns zuwen-den, aus denen wir spirituelle Lichtgestal-ten konstruieren und sie hoch über unsauf ein Podest stellen.“ Das Befangenseinzwischen „der Ekstase von einst und derErnüchterung, die unweigerlich folgte“,wie sie an Sheela Birnstiel und HughMilne beobachtet werden könne, sei wohlexemplarisch für die Verfassung vielereinstiger Sannyasins, so Frischknecht. „Sie

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hängen alten Zeiten nach, die vielleichtgar nie ‚gute alte Zeiten’ waren.“Die drei Wortmeldungen zeigen beispiel-haft Positionen in der Szene der ehemali-gen Neo-Sannyasins und deren Umfeld.Der Film hat offenkundig Bewegung indie Szene gebracht. Filmbesprechungen,Berichte über lebhafte Diskussionen nachFilmvorführungen und Leserreaktionenzeigen, wie mit der eigenen Vergangen-heit und der Verehrung Rajneeshs umge-gangen wird. Die Reaktionen reichen vonÄrger, Verletztsein und Verschlossenheitfür Kritik („Warum noch mal die altenSheela-Geschichten? Warum nicht end-lich ein Film über Oshos Botschaft?“) biszur Nachdenklichkeit und Selbstkritik(„Was lief schief auf der Ranch? Es lief ei-niges schief! Wir sonnten uns im Lichte‚Bhagwans’, des besten und größtenMeisters aller Zeiten ... Wir hatten ein gi-gantisches spirituelles Ego aufgebaut, wa-ren arrogant und glaubten: Wir sind die(etwas) Besseren ... All das flog uns auf derRanch um die Ohren. Wir landeten imspirituellen Faschismus und hatten Gele-genheit, uns unsere ‚Schatten’ anzu-schauen“, Osho Times 11/2010, 46f). Interessant ist an der Debatte, wie einespirituelle Bewegung, die zu den soge-nannten Jugendkulten der 1970er und1980er Jahre gehörte, beginnt, sich der ei-genen schwierigen Vergangenheit zu stel-len. Das ist ein schmerzhafter Prozess.Die größte Herausforderung dabei scheintzu sein, zu einer kritischen Sicht desMeisters zu gelangen. Gerade beim Schritthin zum Eingeständnis der Fehlbarkeitund Schuld des als Guru verehrten Men-schen zeigen sich bis heute starke Immu-nisierungsmuster. Alles, auch die Täu-schung im Meister, wird noch als dessenLehrstück ausgelegt, den Schüler auf sichselbst zurückzuwerfen. Mit Sheelas man-gelnder Schuldeinsicht und ihrer Weige-rung konfrontiert, Verantwortung für ihr

Handeln zu übernehmen, stellt sich denehemaligen Sannyasins die Frage nach ih-rer eigenen oft kritiklosen, devoten Ge-folgschaft und ihrer je eigenen Verantwor-tung. Dem Film von Beat Häner und Sa-bine Gisiger ist damit ein wichtiger Bei-trag zur Auseinandersetzung innerhalbder Bewegung der Neo-Sannyasins gelun-gen.

Claudia Knepper

ISLAM

Hadayatullah Hübsch ist tot. Kurz vor sei-nem 65. Geburtstag starb Anfang Januar2011 einer der prominentesten deutschenKonvertiten zum Islam, Paul Gerhardt Ha-dayatullah Hübsch, in Frankfurt am Main.Der ehemalige langjährige Sprecher der„Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschlande.V.“ war Imam (Leiter des Freitagsgebets)in der Frankfurter Nuur-Moschee, Autorzahlreicher Bücher und Broschüren zumIslam und viele Jahre im interreligiösenDialog engagiert. Hübsch wurde nicht nurals Muslim bekannt, der eine ganze Gene-ration von Konvertiten und die Wahrneh-mung des Islam in Deutschland seit denfrühen 1980er Jahren mit prägte. Er warein ausgewiesener Kenner der alternativenLiteraturszene, der Pop- und Rockmusikund selbst Beatpoet, freier Schriftsteller,Lyriker (Debüt: „Mach was du willst“,1969), Print- und Hörfunkjournalist sowieVerleger (Leiter des Ahmadiyya-Verlags„Der Islam“). 2008 erschien eine Biogra-fie über Cat Stevens alias Yusuf Islam ausseiner Feder. Zuvor schrieb er für eineReihe von bekannten Tageszeitungen, waracht Jahre lang freier Mitarbeiter derFrankfurter Allgemeinen Zeitung undebenfalls acht Jahre Vorsitzender des Ver-bandes deutscher Schriftsteller in Hessen.Der hessische Integrationsminister wür-digte anlässlich seines Todes auch seine

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für keinen“ und betont mit dem Verweisauf die gut strukturierte Frauenorganisa-tion „Lajna Imaillah“ ihre Wertschätzungder Frauen und ihrer Bildung. Nach eige-nen Angaben ist die AMJ „mit ihren vielenzehn Millionen Mitgliedern in über 190Staaten“ weltweit die größte „islamischeReformgemeinde“. Sie betrachtet sich alsBewahrerin der ursprünglichen Werte desIslam; von der Mehrheit der Muslime wer-den Ahmadis hingegen als Häretiker be-trachtet. In Pakistan wurden sie 1974 offi-ziell aus der islamischen Gemeinschaftausgeschlossen und erleiden Diskriminie-rung und Verfolgung. In Deutschland ver-zeichnet die Muslim Jamaat etwa 35 000Mitglieder und unterhält in rund 230 loka-len Gemeinden über 30 Moscheen. Dasreligiöse Oberhaupt der Gemeinde ist der5. Khalif Hazrat Mirza Masroor Ahmad,der in London residiert (vgl. zur Ahma-diyya-Bewegung: MD 8/2006, 292ff;5/2005, 184ff).

Friedmann Eißler

Arbeit für den Ethikrat des Bundeslandes. Früh in seiner bewegten Biografie warHübsch Aktivist in der 68er-Bewegungund lebte zeitweise in der Kommune 1.Nach intensiven Drogenerfahrungen undPsychiatrieaufenthalten folgte die radikaleLebenswende. Hübsch trat 1969 zum Is-lam über und wurde Mitglied der Ahma-diyya Muslim Jamaat (AMJ). In letzter Zeitwurde ihm gelegentlich eine gewisseNähe zu rechten bis rechtsextremen Krei-sen vorgeworfen.Ein guter Teil der über 100 Schriften Ha-dayatullah Hübschs beschäftigt sich mitdem Islam. Einerseits versucht er fürChristen und andere Nichtmuslime Brü-cken zum Verständnis des Islam zu schla-gen, andererseits vertritt er keineswegs ein„liberales Islamverständnis“, wie ihm im-mer wieder attestiert wird. Vielmehr ver-breitet er konsequent die Lehren der Ah-madiyya-Bewegung, die in den virulentengesellschaftspolitischen Fragen (Frauen-frage, Demokratie, Menschenrechte, reli-giös-weltanschaulicher Pluralismus) ent-schieden islamisch-konservativ bis rigideausfallen und in nicht wenigen Aspektenspezifisch antichristliche Spitzen enthal-ten (vgl. das Angebot des Verlags „Der Is-lam“ und besonders die 150-seitige Ein-leitung zur Koranausgabe der Ahmadiyya,herausgegeben unter der Leitung vonHazrat Mirza Tahir Ahmad – diese zwei-sprachige Ausgabe wurde mit und ohneGoldschnitt in großer Zahl unter das Volkgebracht, als man hierzulande sonst nochkaum etwas vom Islam wusste, ge-schweige denn den Koran kannte).Die Verbreitung des Korans in vielen Spra-chen gehört zum missionarischen Pro-gramm der Ahmadiyya-Bewegung ebensowie etwa das 100-Moscheen-Programm,das anlässlich der Hundertjahrfeierlich-keiten 1989 verkündet wurde (und inzwi-schen relativiert worden ist). Die AMJwirbt mit dem Motto „Liebe für alle, Hass

IN EIGENER SACHE

Tagung über Psychotherapie und Weltan-schauung. In Therapie und Beratung neh-men weltanschaulich gebundene Ange-bote zu. Ein aktuelles Beispiel dafür istdas buddhistische Konzept der Achtsam-keit, das derzeit von vielen therapeuti-schen Schulen aufgegriffen wird. Weichendie Grenzen zwischen wissenschaftlicherPsychologie und weltanschaulicher Le-bensdeutung damit auf? Inwieweit kannPsychotherapie überhaupt der Sinnfin-dung dienen, und wie können Religionund Spiritualität professionell in therapeu-tische Angebote eingebunden werden?Zur Teilnahme an der Tagung „Gute Psy-chotherapie – eine Frage der Weltan-schauung?“, die in Kooperation mit derEvangelischen Akademie zu Berlin vom

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18. bis 20. März 2011 veranstaltet wird,lädt die EZW herzlich ein! Das detaillierteProgramm und Informationen zur Anmel-dung sind auf der Internetseite der EZW(www.ezw-berlin.de) in der Rubrik „Ver-anstaltungen“ zu finden.

Michael Utsch

Positives Denken

Spätestens seit dem Boom der Motivati-onstrainer in den 1990er Jahren ist der Be-griff des Positiven Denkens allgemein be-kannt geworden. Durch bestimmte Denk-methoden sollen sich wie von selbstGlück, Erfolg und Wohlbefinden einstel-len. Die Vorzüge einer optimistischen Le-benseinstellung werden in dieser Lehre zueiner Ideologie gebündelt, durch dieWunschträume in allen Lebenslagen Rea-lität werden sollen. Nach dem „Gesetzder Anziehung“ verwandle Positives Den-ken Vorstellungen in Tatsachen. Die dies-bezügliche Ratgeberliteratur und entspre-chende Coaching-Angebote sind unüber-schaubar und ein lukrativer Markt gewor-den. Geprägt wurde die sich als Lebens-hilfe verstehende Methode von der esote-rischen Neugeist-Bewegung. In der Positi-ven Psychologie versucht man seit zehnJahren, durch empirische Forschungen zuermitteln, wie Menschen ein produktives,erfüllendes Leben führen können. Erst seitKurzem werden hier auch Grenzen undschädliche Effekte des Positiven Denkensbedacht.

Die Neugeist-Bewegung

Das Positive Denken entspringt der nord-amerikanischen Neugeist-Bewegung (NewThought Movement). Diese ist ursprüng-

STICHWORT

lich eine vor allem von protestantischen,weißen Mittelstands-Amerikanerinnen ge-tragene religiöse Heilmethode. Danachentspringen alle Krankheiten demmenschlichen Geist. In Ausbildungenwurde vermittelt, sich mit dem göttlichenGeist zu verbinden und im Einklang mitGott zu leben. Grundlage bildete das be-rühmte „mind-over-matter“-Prinzip, beidem es darum geht, sich selbst und dieMaterie zu beherrschen. Durch Affirma-tionen und Visualisierungen sollen dieWahrnehmung und das Denken so nach-haltig beeinflusst werden, dass sich da-durch die Wirklichkeit ändert. Krankma-chende Gedanken sollen als falsch durch-schaut werden. Aus einer solchen innerenHaltung heraus soll es möglich sein, dasalltägliche Leben spielerisch zu meisternund sich und andere von Krankheiten zuheilen. Als Begründer der Neugeist-Bewegunggilt der Heilpraktiker Phineas ParkhurstQuimby (1802-1866). Er versuchte seinePatienten davon zu überzeugen, dass ihreKrankheit als Folge eines Irrglaubens,grundloser Befürchtungen und negativerGedanken zu betrachten sei und lehrtesie, sich auf die reine und vollkommeneGegenwart Gottes zu konzentrieren, weiles im göttlichen Bewusstsein wederKrankheit noch Störung geben könne. DerSwedenborgianer Warren Felt Evans(1817-1889) systematisierte später dieseGedanken zu einer Lehre vom „wahrenMenschen“; er soll auch die Bezeichnung„positive thinking“ geprägt haben. Im Un-terschied zur Anhängerschaft der Theoso-phie war die der Neugeist-Bewegungdurchweg christlich orientiert. Man folgteaber nicht den etablierten Kirchen, ausdenen die meisten stammten, sondernvertrat, was Evans „esoterisches Christen-tum“ nannte. Die Neugeist-Bewegungverstand sich nicht als Konkurrenz zu denKirchen, sondern als ihre Ergänzung.

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1907 wurden zum Beispiel alle KlerikerBostons zur alljährlichen Jahrestagungeingeladen, um über „Die Beziehung deskirchlichen Amts zu Geistheilung“ zusprechen.Im Jahr 1900 wurde im Mutterland Ame-rika die Mitgliederzahl von Neugeist-Gruppen wie der „Church of Divine Sci-ence“ oder „Science of Mind“ auf übereine Million geschätzt. Verwandte An-schauungen finden sich bei der „Unity-Church“ und bei „Christian Science“, diebeide auch in Deutschland Fuß fassten.1915 wurde in Kalifornien ein Dachver-band der Neugeist-Gruppen gegründet(International New Thought Alliance), undein erster internationaler Kongress fand inSan Francisco statt. In seiner Anspracheverwies der Präsident darauf, dass in Ita-lien und Frankreich führende Vertreter derNeugeist-Bewegung in Kreisen des YMCAaktiv seien. In Europa ging man 1930 von etwa 100 000 Anhängern aus, wobei allein inDeutschland mehr als 500 Ortsgruppenund Zirkel existierten. Noch stärker wurdedie Neugeist-Bewegung in Europa jedochdurch eine Abspaltung von Quimbys Be-wegung bekannt, die „Christian Science“-Kirche von Mary Baker Eddy (1821-1910).In Deutschland verbreitete sich die Bewe-gung darüber hinaus literarisch. Neugeist-Gedanken wurden durch die Bücher vonKarl Otto Schmidt (1904-1977) und dieZeitschrift „Esotera“ (zunächst „Die an-dere Welt“) breit gestreut. Historisch be-trachtet verwandelte sich die Neugeist-Be-wegung im ersten Drittel des 20. Jahrhun-derts immer mehr in eine „Religion desErfolgs“, die den modernen, konsumori-entierten Kapitalismus perfekt unter-stützte. Heute werden Neugeist-Gedanken zumTeil wieder in den amerikanischen Mega-kirchen und in der Glaubensbewegungaufgegriffen.

Erfolgreiche Vertreter und Glaubenssätzedes Positiven Denkens

Viele Vorreiter des Positiven Denkens wa-ren früher als Pastoren tätig und verfügtenüber eine theologische Ausbildung. Zuden bekanntesten zählt Joseph Murphy(1895-1981), ein Amtsträger der „Churchof Divine Science“, der im Prominenten-wohnort Beverly Hills (Kalifornien) resi-dierte. Sein Hauptwerk „Die Macht IhresUnterbewusstseins“ hat bereits 65 Auf-lagen erlebt und ist noch immer ein Best-seller. Darin wird der richtige Umgang mitder unendlichen, göttlichen Intelligenz imUnterbewusstsein gelehrt. Bei „richtigemDenken“ hätten Furcht, Zweifel oderSorge keinen Platz mehr, sondern nurnoch Gedanken der Harmonie und desGuten. Auch heute noch berufen sich Au-toren wie Vera F. Birkenbihl (geb. 1946),Erhard F. Freitag (geb. 1940) oder derFernsehpastor der Crystal Cathedral, Ro-bert Schuller (geb. 1926), auf Murphy. Grundlage für den Optimismus des Positi-ven Denkens bildet die Überzeugung,dass es einen göttlichen Kern im Men-schen gibt. 1957 unterstrich die Neugeist-Bewegung in ihrem Leitbild („Declarationof Principles – What We Believe“) die un-trennbare Einheit von Gott und Mensch.Gott sei der lebendige, allmächtige Geistim Innern des Menschen. Nach Murphyist es völlig unnötig, seine Kräfte durch Ar-beit zu verschwenden: „Wiederholen Sievor dem Schlafengehen das Wort ,Reich-tum’ etwa fünf Minuten lang ganz ruhigund mit Gefühl, und Ihr Unterbewusstseinwird Ihre Vorstellung alsbald verwirk-lichen“ (Die Macht Ihres Unterbewusst-seins, 76).Norman Vincent Peale (1898-1993) be-gann seine berufliche Laufbahn als Me-thodistenprediger, wechselte aber späterzur niederländisch-reformierten Kirche,um eine große Pfarrei in New York antre-

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ten zu können. Seine Predigten waren sobeliebt, dass sich die Gottesdienst-Besu-cherzahlen vervielfachten. Sein viertesBuch „Die Kraft Positiven Denkens“ ver-kaufte sich millionenfach und zählt zuden erfolgreichsten Selbsthilferatgebern.Dale Carnegie (1888-1955) wuchs als Far-mersohn in ärmlichen Verhältnissen auf.Zunächst war er als Vertreter und Schau-spieler tätig, begann jedoch bald Rheto-rikkurse zu geben. Weil sie erfolgreichverliefen, veröffentlichte er die Inhalte inBuchform. „Sorge Dich nicht – lebe!“ istheute ein vielfach aufgelegter Klassikerder Ratgeberliteratur.Napoleon Hill (1883-1970) verdiente sichals Student durch die Veröffentlichung vonArtikeln Geld. Nach dem Interview einesbedeutenden Managers beschloss er, be-rühmte Persönlichkeiten über ihr Erfolgs-geheimnis zu befragen. Seine Thesen ver-öffentlichte er 1937 in dem Bestseller„Denke nach und werde reich“, der sichseither etwa 15 Millionen Mal verkaufthat.Auch in Deutschland breitete sich die Me-thode aus. Schon 1921 gründete OscarSchellbach (1901-1970) das „Institut fürMentalen Positivismus“ und brachte sog.„Seelephonie“-Sprechschallplatten he-raus. Sein Buch „Mein Erfolgs-System“fand große Verbreitung. Der Persönlich-keitstrainer Nikolaus B. Enkelmann (geb.1936) entwickelte diesen Ansatz weiter. Eine zeitgenössische Variante des Positi-ven Denkens stammt von Bärbel Mohr(1964-2010), die umfassende Wunscher-füllung durch „Bestellungen beim Univer-sum“ versprach. Eine weitere Vertreterinist die Drehbuchautorin Rhonda Byrne(geb. 1951), die in „The Secret“ das Ge-setz der Anziehung dargestellt hat, wo-nach ein Mensch das bekommt, was erausstrahlt. Sein Denken und Fühlen er-zeuge das, was sich im Leben ereignet.Die Fernsehpredigerin Joyce Meyer (geb.

1943) geht davon aus, dass nicht derGlaube, sondern „unsere Einstellungmehr als alles andere darüber entscheidet,wie sich unser Leben gestalten wird ...“„Besonders wichtig ist es, sich eine posi-tive Haltung zu bewahren, denn Gott istpositiv“, erklärt sie auf ihrer Homepage.

Positives Denken und die Positive Psychologie

Die Positive Psychologie hat sich in denUSA im vergangenen Jahrzehnt zu einererfolgreichen akademischen Disziplinentwickelt. Offiziell grenzt sie sich vomPositiven Denken ab, das sie als unwis-senschaftlich und vereinnahmend be-zeichnet. Sie möchte die psychologischenErkenntnisse über das Positive im Men-schen systematisieren und weiterentwi-ckeln, also alles, was man über positiveEntwicklung, seelische Gesundheit undWohlbefinden weiß. 2009 fand in Philadelphia der erste Welt-kongress der „International Positive Psy-chology Association“ mit 1500 Wissen-schaftlern aus über 50 Ländern statt. Dererste Studiengang mit Doktorat wurde inPennsylvania eingerichtet, und auch inLondon kann man seit 2007 einen Master-Abschluss in Positiver Psychologie erwer-ben. Jedes Jahr fließen viele MillionenEuro in die Forschung. Das hängt maß-geblich mit den Fördergeldern der Tem-pleton-Stiftung zusammen, die 1987 vondem Aktienmakler Sir John Templeton(1912-2008) gegründet wurde. Templetonwar Anhänger Norman Vincent Peales,dem er nach eigenen Angaben die Ein-sicht verdankte, dass die Suche nach demGuten Gutes bringt. Kritiker bemängeln,dass die Stiftung versucht, mit der Positi-ven Psychologie das Positive Denken wis-senschaftlich zu untermauern. Mit rund40 Millionen Dollar pro Jahr finanziert dieStiftung weltweit Studien, die dem Ziel

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dienen, Wissenschaft und Religion mitein-ander zu versöhnen. Der „Templeton-Preis für den Fortschritt in der Religion“ istmit 1,3 Millionen Dollar höher dotiert alsder Nobelpreis. Gefördert werden Pro-jekte, die einen positiven Nutzen religiö-ser Lebensführung nachzuweisen versu-chen. Anträge von Forschern, die auch dieSchattenseiten der Religiosität mit einbe-ziehen, sind weniger willkommen. Aufdiese Weise steuert die Stiftung in denUSA geschickt die öffentliche Ansichtüber Religionsfragen. Entsprechende Arti-kel werden in den anerkannten psycholo-gischen Zeitschriften veröffentlicht. Inzwi-schen gibt es sogar eine Mobiltelefon-Software („Apps“) von einer renommier-ten amerikanischen Psychologie-Professo-rin mit alltäglichen Lernprogrammen zumGlücklichsein. In Europa wird stärker sozialpsycholo-gisch nach den Einflüssen von Hoffnung,Vertrauen und Selbstwirksamkeitserwar-tung auf das psychische Wohlbefinden ge-forscht. Auch die Nebenwirkungen undGegenanzeigen sind deutlicher im Blick,die Frage, wann Optimismus schädlichund Pessimismus hilfreich ist.

Einschätzung

Die Besinnung auf Tugenden steht in guterbiblischer Tradition. Im Brief an die Philip-per empfiehlt Paulus (4,8): „Was wahrhaf-tig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein,was liebenswert, was einen guten Ruf hat,sei es eine Tugend, sei es ein Lob – daraufseid bedacht!“ Die Bibel unterstreichtauch die Macht positiver Überzeugungen:„Alles ist möglich dem, der glaubt“ (Mk9,23). Aus kreuzestheologischer Sichtkommt aber dem menschlichen Scheiternein besonderer Stellenwert zu, sodass jeg-licher Triumphalismus in seine Schrankengewiesen wird. In den Lehren der Neu-geist-Autoren werden christliche Grund-

vorstellungen von Glaube, Gebet oderHeilung zu angeblich unwiderstehlichen„Erfolgs“-Methoden verfälscht. Weil dieErfüllung christlicher Hoffnungen unterdem eschatologischen Vorbehalt steht,verbietet sich naiv-magisches PositivesDenken. Aus biblischer Sicht gehört dieAkzeptanz von Grenzen zum Menschen-sein dazu (Sterblichkeit). Dass ein Lebenvoller Zufriedenheit auch angesichts vonEinschränkungen und Schwächen mög-lich ist, liegt nicht im Blickfeld der Ideolo-gie des Positiven Denkens.Aus psychologischer Sicht hat das PositiveDenken klare Grenzen und kann sogarschaden. In einer neuen Studie (Wood /Perunovic / Lee, 2009) analysierten For-scher Aussagen, die laut einer Reihe vonRatgeberbüchern das Selbstbewusstseinstärken und eine positive Einstellung zumLeben fördern sollen. Daraus wählten siegezielt den Satz „Ich bin eine liebens-werte Person“ aus, weil die Fähigkeit, sichselbst zu lieben, ein wesentlicher Be-standteil eines guten Selbstbewusstseinsist. In einer Reihe von Tests untersuchtensie dann, ob und wie die Aussage dieStimmung und die Gefühle von Freiwilli-gen beeinflusste. Die Auswertung zeigte:Bei den Teilnehmern mit gering ausge-prägtem Selbstbewusstsein verschlech-terte das Aufsagen des Satzes messbar dieStimmung, den Optimismus und die Be-reitschaft, an Aktivitäten teilzunehmen.Leute mit gutem Selbstbewusstsein profi-tierten dagegen zwar leicht von der Auto-suggestion, der Effekt war jedoch nicht be-sonders ausgeprägt. Die Ergebnisse zei-gen, dass gerade diejenigen, die eine Ver-besserung ihres Selbstwertgefühls am nö-tigsten hätten, am wenigsten von derarti-gen Techniken profitierten. Autoren, die behaupten, dass der Menschmittels seiner Vorstellungskraft Einfluss aufsein Unterbewusstsein nehmen und da-durch die Wirklichkeit ändern kann, wer-

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den bis heute gerne gehört, klingt dochdie Vorstellung einer magischen Kraft derGedanken verlockend. Wenn trotz inten-siver Autosuggestion von Zeit zu ZeitMisserfolge, Niederlagen oder Rück-schritte passieren, wird dies als persön-liches Versagen interpretiert und hat häu-fig Selbstvorwürfe und Depressionen zurFolge. Im schlimmsten Fall kann eine sol-che Sichtweise bis zum Realitätsverlustführen. Negative Gefühle haben einewichtige Alarmfunktion. Sie melden sichzu Wort, wenn akuter Handlungsbedarfbesteht, und warnen die Menschen, wennsie wichtige Bedürfnisse und Sehnsüchteübergehen oder sich ihren Belastungs-grenzen nähern. Schlechte Laune hat alsodurchaus ihren Sinn und trägt zur Psycho-hygiene bei, wenn man sie zu deutenweiß.

Literatur

Baier, Karl, Der Beitrag des New Thought, in: ders.,Meditation und Moderne, Bd. 2, Würzburg 2009,429-542

Ehrenreich, Barbara, Smile or Die: Wie die Ideologiedes positiven Denkens die Welt verdummt, Mün-chen 2010

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Grom, Bernhard, Positives Denken, in: LThK, Bd. 8,Freiburg i. Br. 1999, 448

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Hemminger, Hansjörg, „Denk’ dich gesund“ – dieÜberschätzung mentaler Glaubenssätze, in: Hem-pelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuenReligiosität, Gütersloh 22005, 134-136

Hutten, Kurt, Die Neugeist-Bewegung, in: ders., Seher,Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 151997, 406-409

Ludwig, Frieder, Neugeistbewegung, in: RGG4, Bd. 6,Tübingen 2006, 218-220

Reimer, Hans-Diether, Neugeistbewegung, in: RGG3,Bd. 4, Tübingen 1960, 1412-1413

Ruppert, Hans-Jürgen, Positives Denken, in: MD10/1998, 319-320

Scheich, Günter, „Positives Denken“ macht krank,Frankfurt a. M. 1997

Schmid, Georg / Schmid, Georg Otto, Neugeist undChristliche Wissenschaft. in: dies. (Hg.), Kirchen,Sekten, Religionen, Zürich 2003, 199-205

Schneider-Flume, Gunda, Leben ist kostbar. Wider dieTyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002

Schüle, Christian, Optimismus auf Befehl, in: Utsch,Michael (Hg.), Erfolg, Optimismus, Gewinn, EZW-Texte 164, Berlin 2002, 48-60

Schütz, Astrid / Hoge, Lasse, Positives Denken. Vor-teile – Risiken – Alternativen, Stuttgart 2007

Schwertfeger, Bärbel, Der Griff nach der Psyche. Wasumstrittene Persönlichkeitstrainer in Unternehmenanrichten, Frankfurt a. M. 1998

Seligman, Martin, Der Glücks-Faktor. Warum Optimis-ten länger leben, Bergisch Gladbach 2003

Utsch, Michael, Christian Science / Christliche Wis-senschaft, in: MD 10/2008, 394-397

Wood, Joanne V. / Perunovic, W.Q. Elaine / Lee, JohnW., Positive Self-Statements: Power for Some, Perilfor Others, in: Psychological Science 20 (2009),860-866

Michael Utsch

Gesellschaft für kritische PhilosophieNürnberg (Hg.), Aufklärung und Kritik.Zeitschrift für freies Denken und huma-nistische Philosophie, Schwerpunkt Athe-ismus, Heft 3/2010, 304 Seiten, 10,00Euro.

Zu den Hauptaufgaben der „Gesellschaftfür kritische Philosophie“ (GKP, Nürnberg)gehört seit 1994 die Herausgabe der Zeit-schrift „Aufklärung und Kritik. Zeitschriftfür freies Denken und humanistische Phi-losophie“. Hier werden zweimal jährlichBeiträge und Artikel im Sinne des kriti-schen Rationalismus (Karl R. Popper) pu-bliziert. In einer Selbstdarstellung heißtes, man wolle „in einem Zeitalter der Ge-genaufklärung die Fahne der Aufklärung,des kritischen Denkens, des Humanismusund der geistigen Freiheit“ hochhalten.Neben den beiden regulären Heften er-scheinen immer wieder Sonderhefte zuaktuellen Themen (z. B. Islamismus) oderaus besonderem Anlass (z. B. KarlheinzDeschner). Zu den Mitherausgebern derZeitschrift gehören einige bekannte Wis-senschaftler wie Hans Albert, Norbert Hoerster, Ludger Lütkehaus, Peter Singer

BÜCHER

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so neue Gesichtspunkte. Eine beachtens-werte Publikation zeichnet sich ja nichtdadurch aus, dass der Leser sich fortwäh-rend bestätigt fühlt, sondern vielmehr da-durch, dass er Neuigkeiten erfährt. Sohabe ich mit Interesse den kritischen Auf-satz von Hubertus Mynarek über RichardDawkins gelesen. Horst Herrmann wie-derum plädiert für eine „agnostischeSicht“ auf den Atheismus (264ff). Ausge-sprochen interessant ist für außenste-hende Beobachter Joachim Kahls „struktu-rierender Überblick“ über die aktuellenAtheismus-Debatten. Wer eine gute Zu-sammenfassung der Themen der letztenzehn Jahre sucht, dem sei dieser Text drin-gend empfohlen!Was fehlt, ist ein Beitrag, der sich mit demostdeutschen Beliebigkeitsatheismus be-schäftigt. Das verwundert etwas, zumaldieser Atheismus die Gesellschaft nach-haltig prägt. Einige der abgedruckten Textesind inzwischen im Internet (vgl.www.gkpn.de) kostenfrei zugänglich.

Andreas Fincke, Berlin

und Franz M. Wuketits. Somit ist deutlich,dass die Zeitschrift eine eher kirchen- undreligionskritische Position bezieht. Ende September 2010 ist nun das Schwer-punktheft „Atheismus“ erschienen. In Vor-wort erläutert der Herausgeber GerhardEngel, Präsident der Humanistischen Aka-demie Bayern, worin er das besondereProfil des Sonderhefts sieht: „Als Huma-nisten dürfen wir daher ‚dialogischeAtheisten‘ im Sinne von Milan Machovecsein: Für sie sind Religionen nicht nur‚ein belangloses Sammelsurium von Un-sinn‘, sondern Versuche der individuellenund kollektiven Sinngebung sowie derGesamtdeutung[!] der Wirklichkeit, vondenen man auch als Atheist oder Agnosti-ker lernen kann ... Aber ebenso wie wir inder Wissenschaft aus dem Umstand, dasses veraltete Theorien gibt, im allgemeinennicht den Schluss ziehen, dass Wissen-schaft überflüssig ist, kann auch der Nach-weis, dass es in den Religionen veraltete,ungenaue und fehlerhafte Deutungssche-mata gibt, nicht zum Verzicht auf Bestre-bungen nötigen, die traditionellen Aufga-ben der Religion neu zu interpretierenund zu lösen“ (6). Im vorliegenden Heftkommen sehr unterschiedliche Stimmenzu Wort: Atheisten und Religionskritiker(Helmut Fink), aber auch Agnostiker(Horst Herrmann) sowie Religionswissen-schaftler und Theologen (Andreas Feldt-keller).Es würde den Rahmen der Rezensionsprengen, wollte ich hier auf jeden der 22Beiträge eingehen. Deshalb ein eher all-gemeines Urteil: Erfrischend ist, dass nichtnur Vertreter des organisierten Atheismusund der Verbandsfreidenkerei zu Wortkommen, sondern vielfach philosophischgebildete Wissenschaftler. Es liegt auf derHand, dass der Rezensent nicht mit jederPosition einverstanden ist. Das Heft bietetjedoch interessante bzw. anregende Posi-tionen zum Thema Atheismus und eröffnet

Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend2010. Eine pragmatische Generation be-hauptet sich, Fischer Taschenbuch Ver-lag, Frankfurt a. M. 2010, 410 Seiten,16,95 Euro.Wie in allen europäischen Wohlfahrts-staaten ist die Jugend in Deutschland, de-mografisch gesehen, zu einer bedrohtenArt geworden. Grund genug, sich anhandder 16. Shell-Jugendstudie über sie zu in-formieren. Was ihre Ergebnisse angeht, seizuvor ein einschränkendes Wort gesagt:Die soziale Realität lässt sich nicht ein-fach wie eine Datei oder eine Ware abru-fen. Langwierige und für den Laien wenigdurchschaubare Methoden der Datener-hebung gehen voraus, die wiederum dieBewertungen und Präferenzen der Pro-jektmitarbeiter widerspiegeln. Das mag

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einem nun schmecken oder nicht – ver-meiden lässt es sich nicht. In diesem Fallist die Untersuchung stark auf Topthemender öffentlichen Meinung fokussiert, wieetwa Wirtschaftskrise, Globalisierung, Kli-maveränderung, Toleranz, Afghanistan-krieg, Benachteiligung von Unterschich-ten und Zuwanderern. Reiches Datenma-terial zu den Befindlichkeiten, Aktivitätenund Einstellungen deutscher Jugendlicherzwischen 12 und 25 Jahren ist herausge-kommen, die sowohl statistisch-quantita-tiv aus einer repräsentativen Stichprobeherausgefiltert wurden wie durch freieGespräche mit einzelnen Probanden.Wie lauten die hauptsächlichen Resultate?Die gegenwärtige Jugend präsentiert sichüberwiegend als eine positiv eingestellte,leistungs-, bildungs- und bindungsbereite,zufriedene, ideologiefreie Generation, al-lerdings in der sozialen Skala nach untenhin mit abnehmenden Bejahungen. Mate-rielle Werte scheinen wieder mehr an Be-deutung zu gewinnen, sogar die allge-meine Lebenszufriedenheit und das Befür-worten der Globalisierung und der Demo-kratie wurden an ein bestimmtes er-wünschtes oder erreichtes Wohlstandsni-veau gekoppelt. Den großen Institutionen(Parteien, Großunternehmen, Kirchen,Bundesregierungen) wird weiterhin star-kes Misstrauen entgegengebracht, selbstder bestbenoteten Polizei nur ein mittel-großes Vertrauen. (Das Vertrauen in dieWissenschaft oder in die Medien wurdeleider nicht abgefragt.) Die Tagespolitik isteine lebensferne Welt, die auf wenig Inte-resse stößt, wenngleich öffentliche Ange-legenheiten nicht gänzlich außerhalb desjugendlichen Gesichtskreises liegen. „ImZentrum steht der persönliche Erfolg in ei-ner Leistungs- und Konsumgesellschaft.“Die Gegenprobe, inwieweit das Miss-trauen in tatsächlichen Defiziten der (ge-nannten und anderer) Institutionen wur-zelt, war natürlich nicht Teil der Studie,

doch kann sie sich Anspielungen nichtverkneifen. „Angesichts vieler ungelösterpolitischer und sozialer Probleme und ei-ner Tendenz der Machtelite, sich von derbreiten Masse abzukoppeln, hätte einefehlende Skepsis allerdings auch verwun-dert.“ Ja, die Machteliten – wer sind sie?Korrupte Politiker, geldgierige Manager,egoistische Verbandsfunktionäre oder gardas Opus Dei? Wir erfahren es nicht. Ananderer Stelle ist ebenso vage von „denMächtigen in Wirtschaft und Politik“ dieRede, denen sich „Jugendliche ... ausge-liefert sehen“. So stabilisieren sich Vorur-teile. Umso bemerkenswerter ist in die-sem Zusammenhang, wie hoch die Fami-lie bei Jugendlichen im Kurs steht, auchwenn man eine eigene (noch) nicht grün-den kann oder will. Die verbreitete Aus-sage, „dass es heute für alle Menschenverbindliche moralische Regeln gebenmuss, damit die Gesellschaft funktionie-ren kann“, zeugt eher von einer gesundenAlltagssoziologie als von Extremhaltun-gen, die in der Studie nicht auszumachensind. Im Detail müssen natürlich manche Diffe-renzierungen gemacht werden. Der ge-duldige Leser findet sie neben einem Bergvon Zahlen, Korrelationen und Koeffizien-ten. Anregende und aufschlussreiche Pas-sagen sind vermischt mit offen oder unter-schwellig einherspazierenden Werturtei-len, mit Irrtümern über die berühmten Ju-gendstudien Helmut Schelskys aus den1950er Jahren und mit Unverständnis derNachkriegsphase der Bundesrepublik. AmEnde des Buches stehen neben Anmer-kungen zur Methodik etwas altkluge Rat-schläge an Verantwortliche in Politik,Wirtschaft und Pädagogik, wie man esdenn nun richtig machen sollte. Der Themenbereich Religion und Religio-sität wird nicht so ausführlich behandeltwie in der letzten Studie aus dem Jahr2008, weil gravierende Einstellungsverän-

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tesglauben viel ernster ..., die Lebensbe-deutung des Gottesglaubens ... ist sogarnoch deutlich gestiegen“. Zu beobach-tende Abwehrhaltungen gegen Religionlässt der Autor nicht als Intoleranz gelten.„Eher wäre an eine Art allergische Reak-tion auf die kulturelle Besserwisserei derreligiösen Eiferer zu denken, die der reli-giös und kulturell liberalen Mehrheit un-seres Landes zunehmend suspekt ist.“Auch hier bleibt offen, ob es sich um ei-nen Befund handelt oder eine Sprech-blase. Andere Passagen, die Religiositätmit Merkmalen wie Zufriedenheit oderdominanten Normen und Werten verbin-den, sind nicht so emotionsbeladen, alsoempirisch valider.Fazit: Mit dieser Shell-Jugendstudie liegtein gewaltiges Stück Meinungsforschungvor, das jetzt die Jugendsoziologie undReligionspädagogik einzuarbeiten hat.Man darf darauf gespannt sein.

Rainer Waßner, Hamburg

derungen nicht aufgetreten sind. Es bestä-tigt sich die religiöse Dreiteilung unseresLandes: Religion (bzw. Gott) hat für dieLebensführung allenfalls auf dem Territo-rium der alten Bundesrepublik noch einegewisse Bedeutung bei Jugendlichen,wenn auch gemeinhin eine nicht geradestarke; „eine Konfessionsbindung istselbstverständlich, aber die Religiositätsteht oft auf relativ schwachen Füßen“. ImGebiet der ehemaligen DDR leben dage-gen an die drei Viertel der Jugendlichenvöllig außerhalb der christlichen Konfes-sionen. Der Interpret kommentiert: „Esverbleibt die Erkenntnis, dass viele West-deutsche sich eine letzte Rückversiche-rung bei Religion erhalten wollen, wäh-rend viele Ostdeutsche mit diesem Kapitelschon seit längerem abgeschlossen ha-ben.“ Ein Pfarrer wäre demnach so etwaswie ein Versicherungsvertreter, der im Os-ten arbeitslos geworden ist. Ebenso ver-blüfft eine andere Mitteilung: „Interessantist, dass in letzter Zeit Katholiken wegendes Missbrauchsskandals innerhalb ihrerKirche ernsthaft darüber nachdenken, obsie evangelisch werden sollten. Das heißt,sie wollen christlich-konfessionell blei-ben, aber nicht in einem Umfeld, in demMissbräuche von Kindern und Jugendli-chen seit Jahrzehnten geduldet und ver-tuscht wurden“ (ohne Quellenangabe).Müssen wir uns jetzt auf eine Konversi-onswelle vorbereiten? Die dritte religiöseProvinz sind die nicht den beiden großenKonfessionen zugehörigen religiösen Ju-gendlichen. Hier geht es natürlich um denIslam (was die Verfasser nicht deutlichauszusprechen wagen), denn orthodoxeChristen oder Juden sind – statistisch gese-hen – eine zu vernachlässigende Minder-heit. „Religiöse Vitalität ist dagegen beiden Migrantenkulturen zu beobachten,die sich mit ihrer Zuwendung zur Religionimmer weiter von der einheimischen Kul-tur wegbewegen.“ Sie „nehmen den Got-

Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert(Hg.), Fluide Religion. Neue religiöse Be-wegungen im Wandel. Theoretische undempirische Systematisierungen, transcriptVerlag, Bielefeld 2010, 270 Seiten, 27,80Euro.

Das von den ReligionswissenschaftlernLüddeckens und Walthert herausgege-bene Buch befasst sich mit Wandel undWahrnehmung sogenannter Neuer reli-giöser Bewegungen der Gegenwart. Derweithin sich zeigende dynamische Um-schwung von fest abgegrenzten Gemein-schaften zu neuen, unverbindlichen For-men hat Anlass gegeben, sich diesem Phä-nomen zu widmen und unter Auswertungvon Fallstudien eine begriffliche Einord-nung vorzunehmen. In acht Untersuchun-gen, die mehrere Autoren zu diesem Bandbeigetragen haben, werden verschiedene

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Neue religiöse Bewegungen unter histori-schen, empirischen und theoretischen As-pekten charakterisiert, indem mit unter-schiedlicher Schwerpunktsetzung Ge-schichte, Wandel (u. a. von Gemeinschaftzu Bewegung) und gegenwärtige Situationbeleuchtet werden. Dabei sind im Fokus: die Hare-Krishna-Bewegung mit ihrer Öffnung von festenTempelstrukturen zu lokalen Kongregatio-nen und einer veränderten Wahrnehmungim öffentlichen und wissenschaftlichenDiskurs (Frank Neubert, 77-91); die japa-nische New-Age-Gruppe Kofuku no ka-gaku (Wissenschaft vom Glück), die sichals eigentlich stark leiterzentrierte, hierar-chische Gruppierung unter verschiedeneninterreligiösen Bezugspunkten zur indivi-duellen Anknüpfung international auswei-tet (Franz Winter, 93-118); sogenannteesoterische Makler als marktwirtschaft-liche Knotenpunkte einer unorganisierten,nicht durch Grenzen definierten Esoterik-kultur, die als Anbieter ohne eigene spiri-tuelle Autorität eine Vielzahl offener,gleichberechtigter Angebote selektierenund vertreiben (Stefan Rademacher, 119-148); die Bestimmung einer populärenSpiritualität, die keineswegs nur eine Al-ternative zur gesellschaftlichen Konven-tion bietet, sondern selbst gesellschaftlichfest integriert ist und dabei vielfach denBereich des spezifisch Religiösen verlas-sen hat (Hubert Knoblauch, 149-174); dereigene, zeitlich begrenzte Typus der situa-tiven Event-Vergemeinschaftung als Reak-tion auf gesellschaftliche Gemeinschafts-losigkeit, indem im kollektiven ErlebnisGemeinschaft ohne Gemeinschaft gebo-ten wird (Winfried Gebhardt, 175-188);neugermanisch-heidnische Religiosität,die sich mehr und mehr von völkischenIdeologien zum esoterisch-ökologischenBestimmtsein bewegt, germanische Gren-zen in den angelsächsischen Raum über-schreitet und ethnische (sowie politische)

Zugangsgrenzen auflöst (Ann-LaurenceMaréchal, 189-213); die schweizerischeBlack-Metal-Szene als abgeschlosseneGruppe, deren Mitglieder in prinzipiellerAntihaltung (antikommerziell, antichrist-lich, antireligiös) und extremer RadikalitätAbgrenzung als Individualität wahrneh-men und innerhalb eines fluiden Umfel-des deutlich Grenzen ziehen (Anna-Ka-tharina Höpflinger, 215-241); das Interna-tional Christian Fellowship in Zürich, des-sen gemeinschaftliche Bindung aus beton-ter individueller Entscheidung (und Erfah-rung) konstituiert ist (Rafael Walthert, 243-268). Diesen Studien ist ein englischsprachigerBeitrag vorangestellt, der nach einer Defi-nition Neuer religiöser Bewegungen de-ren gesellschaftliche und akademischeRezeption in den vergangenen Jahrzehn-ten vorstellt und einen Rückgang religi-onswissenschaftlicher Studien und For-schungsprojekte konstatiert (Elisabeth Ar-weck, 55-76).Auf den Studien basierend, wird das Buchvon den beiden Herausgebern mit einerEinleitung und Auswertung (9-17,19-53)eröffnet. Das deutliche Wachstum unver-bindlicher (nicht institutionalisierter, zeit-lich begrenzter, „offener“) Angebote desreligiösen Marktes und ein gleichzeitigerRückgang an Interesse und Mitgliedschaftbei vielen neuen Gruppen mit festerenStrukturen zeigen eine Ent-Grenzung, wiesie auch im Selbstverständnis Neuer reli-giöser Bewegungen mit dem Begriff „Spi-ritualität“ intendiert ist. Eine solche Diffusion über Grenzen hin-weg in die Gesamtgesellschaft, währendReligion selbst zu einem Teilbereich ge-sellschaftlichen und individuellen Lebensgeworden ist, lässt diffuse, eher via Nega-tiva zu beschreibende Sozialformen einerpopulären Spiritualität entstehen, was diewissenschaftliche Beschäftigung er-schwert. Diese Beobachtung hat die He-

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rausgeber zum Begriff der „fluiden Reli-gion“ geführt, der dem Werk zum spre-chenden Titel verholfen hat. Leider stehtinnerhalb des Buches selbst diese „theo-retische Systematisierung“ auf der Ebenedes Begriffes etwas allein, da er als sol-cher in den einzelnen Beiträgen nicht auf-genommen ist. Er beschreibt das Phäno-men jedoch treffend.Wenngleich die einzelnen Beiträge in ih-rer Selbstständigkeit aufgrund sich teil-weise wiederholender Begriffsbestimmun-gen und Definitionen dem GesamtwerkEffektivität nehmen, liegt hier eine Unter-suchung vor, die den Zeitindex des spiri-tuellen Marktes erfasst. Dessen Merkmale(Deinstitutionalisierung, Individualisie-rung und Spiritualisierung u. a.) sind nichtnur für den Religionswissenschaftler inte-ressant. Auch der Theologe ist angespro-chen, wenn individualistische Subjektivie-rung der Religion das kirchliche Lebenzum Angebot unter vielen werden lässt.Damit ist auch eine authentische christ-liche Spiritualität herausgefordert, diedoch vom inkarnatorischen Wesen derKirche her nie ohne Form und Gemein-schaft sein kann. Es wäre wünschenswert,wenn Begriff und Thema der fluiden Reli-gion vermehrt in die systematisch- undpraktisch-theologische Reflexion Eingangfänden.

Markus Schmidt, Leipzig

AUTORENDr. Theol. Friedmann Eißler, geb. 1964, Pfarrer,EZW-Referent für Islam und andere nichtchristlicheReligionen, neue religiöse Bewegungen, östlicheSpiritualität, interreligiösen Dialog.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, 1992-2007EZW-Referent für christliche Sondergemeinschaf-ten. Pfarrer der Evangelischen Kirche Berlin-Bran-denburg-schlesische Oberlausitz.

Dr. rer. nat. habil. Hansjörg Hemminger, geb.1948, Weltanschauungsbeauftragter der Evangeli-schen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb. 1953, Pfar-rer, Leiter der EZW, zuständig für Grundsatzfragen,Strömungen des säkularen und religiösen Zeitgeis-tes, pfingstlerische und charismatische Gruppen.

Claudia Knepper, geb. 1973, evangelische Theolo-gin, wissenschaftliche Mitarbeiterin der EZW.

Prof. em. Dr. theol. Georg Schmid, geb. 1940,Pfarrer a. D., em. Titularprofessor im Fach Religi-onswissenschaft an der Universität Zürich, Mitar-beiter der evangelischen Informationsstelle Kirchen– Sekten – Religionen in Rüti, Schweiz.

Markus Schmidt, geb. 1986, Student der evangeli-schen Theologie an der Universität Leipzig, Prakti-kant der EZW im Frühjahr 2010.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologeund Psychotherapeut, EZW-Referent für christlicheSondergemeinschaften, Psychoszene und Sciento-logy.

Dr. phil. Rainer Waßner, geb. 1944, Kultursozio-loge, freier Publizist, Hamburg.

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Christoph RaedelFaszination des EndesTheologie und Fiktion in der „Left Behind“-BuchreiheEZW-Texte 212, Berlin 2010, 52 Seiten

Es ist selbst in den USA eher die Ausnahme,dass dezidiert christliche Literatur die Bestsel-lerlisten der New York Times und anderer sä-kularer Zeitungen stürmt. Zu den Büchern,die das geschafft haben, gehören die von TimLaHaye und Jerry B. Jenkins verfassten Thril-ler der „Left Behind“-Serie (deutscher Titel:Finale). Die Handlung der zwischen 1995und 2004 erschienenen Bände dreht sich umden endzeitlichen Kampf der nach der Entrü-ckung „zurückgelassenen“ Gläubigen. Bevorder EZW-Text ausgewählte Aspekte derBuchreihe interpretiert, bietet er eine Darstel-lung der erweckungstheologischen Bewe-gung des Dispensationalismus, die den Hin-tergrund der zwölfbändigen Serie bildet.

NEUE EZW-TEXTE

Friedmann Eißler (Hg.)Aleviten in DeutschlandGrundlagen, Veränderungsprozesse, PerspektivenEZW-Texte 211, Berlin 2010, 180 Seiten

„Die Geschichte der alevitischen Bewegungin Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte“(Martin Sökefeld). Vor wenigen Jahren nochkaum bekannt, sind die Aleviten inzwischeneuropaweit wohlorganisiert, politisch aktivund gelten als gesellschaftlich gut integriert.Die eigenständigen Züge der religiösen undkulturellen Traditionen treten verstärkt her-vor. Nicht wenige sprechen sogar davon,dass das Alevitentum nicht nur klar vom Is-lam zu unterscheiden sei, sondern außerhalbdes Islam stehe. Der EZW-Text, an dem sich13 Autorinnen und Autoren beteiligt haben,bietet einen Einblick in die Glaubensgrundla-gen und Traditionen. Er widmet sich der Ent-wicklung der alevitischen Bewegung inDeutschland und der kontrovers diskutiertenFrage nach dem Selbstverständnis.

Alle EZW-Texte sind per Abonnement oder im Einzelbezug erhältlich. Wenden Sie sich bei Interesse bitte schrift-lich (EZW, Auguststr. 80, 10117 Berlin), per Fax (030/28395-212) oder per Mail ([email protected]) an uns. Wei-tere Informationen finden Sie unter www.ezw-berlin.de.

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Friedmann Eißler, Ulrike LiebauE-Mail: [email protected]

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Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

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Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

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MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

74. Jahrgang 2/11

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen

In den Armen von Amma,der „göttlichen Mutter“

Bund Freikirchlicher Pfingstgemeindenwird Gastmitglied der ACK

Stichwort: Positives Denken

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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