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Leseprobe Olguín, Sergio Zurück nach Lanús Roman Aus dem Spanischen von Matthias Strobel © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4041 978-3-518-46041-2 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlagball gespielt hatte, ebenjenen Freunden, die ihm einen Job bei Tito verschafft hatten und in diesem Augenblick wahr-scheinlich schon Bescheid wußten. Der Zug fuhr in

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Page 1: Suhrkamp Verlagball gespielt hatte, ebenjenen Freunden, die ihm einen Job bei Tito verschafft hatten und in diesem Augenblick wahr-scheinlich schon Bescheid wußten. Der Zug fuhr in

Leseprobe

Olguín, Sergio

Zurück nach Lanús

Roman

Aus dem Spanischen von Matthias Strobel

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4041

978-3-518-46041-2

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuch 4041

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In Lanffls, einem Vorort von Buenos Aires, wird der junge Franciscoerschossen – angeblich bei einem �berfall auf einen Kiosk. Dochweder seiner Familie noch seinen Freunden scheint daran zu liegen,die Wahrheit �ber den Mord herauszufinden. Nur Adri�n, der letzte,den Francisco vor seinem Tod angerufen hat, will Klarheit: Daf�rkehrt er zum erstenmal nach vielen Jahren zur�ck nach Lanffls, zumOrt seiner Kindheit, und ger�t in einen Strudel aus Ereignissen, die im-mer mehr zum Krimi werden.Spannend und vielschichtig erz�hlt Sergio Olgu�n von einem Ver-

brechen, das nur die Spitze des Eisberges ist, von schmutzigen Deals,korrupten Polizisten und von Jugendfreunden, die nicht immer dassind, was sie zu sein vorgeben.Sergio Olgu�n, geboren 1967 in Buenos Aires, lebt als Autor, Her-

ausgeber von Erz�hlungsb�nden undRedakteur einer Kulturzeitschriftin der argentinischen Hauptstadt. Sein RomanDie Traummannschaft(st 3766; 2006) ist ebenfalls im suhrkamp taschenbuch erschienen.Zur�ck nach Lanffls wird derzeit in Argentinien verfilmt.

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Sergio Olgu�nZur�ck nach Lanffls

RomanAus dem Spanischen von

Matthias Strobel

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem TitelLanffls

bei Grupo Editorial Norma, Buenos Aires.� Sergio S. Olgu�n, 2002

Umschlagfoto: getty images / Howard Kingsworth

Abweichungen der vorliegenden �bersetzungvon der Originalausgabe wurden mit dem Autor abgestimmt.

suhrkamp taschenbuch 4041Deutsche ErstausgabeErste Auflage 2009

� der deutschen AusgabeSuhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der �bersetzung, des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyUmschlag: Gçllner, Michels, Zegarzewski

ISBN 978-3-518-46041-2

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Zur�ck nach Lanffls

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F�r meine SchwesternBetty, Silvia und Alicia

Und meine Freunde,Fans von Independiente

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»Du wirst keine neuen L�nder entdecken,keine anderenMeere. Die Stadt wird dir fol-gen. Du wirst durch dieselben Straßen strei-fen, in denselben Vierteln alt werden. DeinHaar wird weiß in denselben H�usern. Woimmer du hinf�hrst, hier wird deine Reiseenden. Es gibt f�r dich kein Schiff und keineStraße.«

Konstantin Kavafis, ›Die Stadt‹

»Nein, nein, nein, ich bin nicht von hier,ich bin aus Lanffls Ost, Fan von El Porvenir.«

Schlachtruf des Fanclubs von El Porvenir

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Tausend Pesos f�r eine Abtreibung

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Er stand immer so da: gegen eine T�rkante gelehnt, einBein im Zuginneren, das andere draußen schwebend, dieHand gegen die andere Kante gestemmt, damit sich die T�-ren nicht schlossen, den Kopf im feuchten Vorstadtwindvon Gran Buenos Aires. So stand er immer da, aber diesmalaus einem bestimmten Grund. Er hatte sich mit Mariela imZug verabredet und wollte nicht riskieren, von ihr �ber-sehen zu werden. Sie durften keine Zeit verlieren. Marielaund er mußten so schnell wie mçglich in die Stadt, ihrProblem lçsen und dann in der Menschenmenge untertau-chen.

Francisco brauchte einige Stationen, bis er es trotz desWinds genießen konnte, daß die H�user und Brachen soschwindelerregend schnell aus seinem Blickfeld huschten,wie sie eindrangen. In den ersten f�nf Minuten der Fahrtwar er aufgeregt gewesen, hatte kaum Luft bekommen,mit zitternden Beinen dagestanden. Er h�tte sich am lieb-sten einen Moment hingesetzt, zusammengekauert, klein-gemacht in einem Sitzweitab des Fensters, damit ihn keinersehen konnte. Damit ihn Tito,Wilson oder einer der Jungsnicht sehen konnten. Aber er hatte der Versuchung wider-standen, aus Aberglaube: wenn er Angst hatte, w�rde erscheitern; wenn er entschlossen wie ein Filmheld handelte,war ihm der Sieg gewiß.Als der Zug vor der Station Lanffls zu bremsen begann,

saß ihm das, was zwanzig Minuten zuvor passiert war,

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noch in den Knochen. Tito tausend Pesos zu klauen wareine ernste Angelegenheit. Da waren schon Leute f�r weni-ger fertiggemacht worden. Mit jemandem wie ihm legteman sich lieber nicht an. Vor allem dann nicht, wenn ereinem vertraute, die Hand auf die Schulter legte, samstagseinen Hunderter springen ließ, einfach so, und einem sogareine ganze Nacht lang die Lottogelder �berließ,weil er dar-auf baute, daß man gut auf sie aufpassen, tausendmal nach-z�hlen und am n�chsten Morgen in aller Fr�he in seinerKneipe in der Calle Gorriti abliefern w�rde, wo er fr�h-st�ckte und Zeitung las.Tito lebte in zwei Welten. Vor zehn Jahren war er aus La-

nffls weggezogen und hatte sich im Nachbarbezirk Lomasde Zamora niedergelassen. Von Sonntag bis Donnerstagwohnte er in einem großen Haus im Banfieldviertel undtrieb sich in den Kneipen der Gegend herum. Freitags undsamstags kehrte er nach Lanffls zur�ck und traf sich mitden Menschen, denen er wirklich vertraute, weil er sieschon sein Leben lang kannte. Er betrieb weiterhin seineGesch�fte im Viertel, hatte sich aber soweit vergrçßert,daß alle, die zwischen den Bezirken Temperley und Avella-neda Lotto spielten, ihre Eins�tze bei Titos Leuten odereinem seiner Gesch�ftspartner abgeben mußten. Kneipen,Kioske, Zeitungsst�nde, sogar einige Apotheken gehçrtenzu dem Lottoring, in dem Tito sich zum Kçnig aufge-schwungen hatte. Sein kl�gster Schachzug war es gewesen,sich auf das Wettspiel zu beschr�nken und nicht in andereillegale Gesch�fte einzumischen, und innerhalb desWettge-sch�fts aufs Lotto, von Spielhçllen ließ er die Finger. Nurmit einer Autoschieberbande hatte er sich zusammengetan,und auch das nur, weil ihn wichtige Leute dazu gedr�ngt

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hatten und er nicht ablehnen konnte. Zu seinen weiterenTugenden gehçrte die Treue, die er nach oben und unten be-wies, und seine Kompromißlosigkeit gegen�ber jeglichemVerrat. Um letzteres von vornherein auszuschließen, suchteer sich immer Jungs aus dem Viertel, die er von klein aufkannte und vor der T�r seiner ersten Kneipe hatte spielensehen.

Francisco hatte nur noch sechzig Pesos von dem Geld,das er im letzten Monat eingenommen hatte. Aber am Vor-tag hatte Tito ihm tausend Pesos anvertraut, die die Polizeiam Kiosk abholen w�rde. Die Bullen kannten ihn, behan-delten ihn freundlich. Sie nannten ihn Perico. Wenn sie vor-beikamen, nahmen sie immer Zeitungen, ein paar Maga-zine und die tausend Pesos mit.

»Tito sagt, ihr sollt morgen wiederkommen.«Den Bullen schmeckte das gar nicht, sie wollten mit dem

Chef sprechen. Francisco erkl�rte ihnen, daß ein Typ Titomit Falschgeld gelinkt habe und er das Geld nicht so schnellauftreiben kçnne. Es war nicht das erste Mal, daß sich dieZahlung um einen Tag verschob, und jedesmal plustertensich die beiden Bullen deswegen auf. Sie ließen mehr Zeit-schriften als sonst mitgehen und sagten, er solle Tito Be-scheid sagen, daß sie am n�chsten Morgen um neun in derKneipe vorbeikommen und die Kohle abholen w�rden.

»Okay, kein Streß.«Er legte einen Zehner f�r die Fahrt beiseite, so daß noch

f�nfzig Pesos �brigwaren. Er h�tte sie ebenfalls mitnehmenkçnnen, ließ es aber bleiben. Verr�ckterweise legte er sie indie Kasse zu den vierzig Pesos Wechselgeld.

Es war eine große Dummheit gewesen, sich nur die tau-send Pesos zu greifen. Er wußte, daß Mariela kaum ihre

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Fahrkarte zum Bahnhof Constituci�n bezahlen konnte. Erhatte wohl insgeheim gedacht, er w�rde vielleicht Gnadefinden vor Tito oder der Polizei oder dem Schicksal, wenner nur so viel Geld an sich nahm wie unbedingt nçtig.

In Lanffls lief er nicht weniger Gefahr, entdeckt zu wer-den, als in Lomas de Zamora. Schließlich hatte Tito seinGesch�ft in Lanffls aufgezogen, hatte dort den Großteil sei-ner Gefolgsleute. Francisco selbst war aus Lanffls,war einervon Titos Jungs gewesen. Bis zu diesem Vormittag. Als derZug sich der Station n�herte, begann ihn eine innere Ruhezu erf�llen. Eine Ruhe, die noch tiefer wurde, als erMarielaentdeckte, die mit zusammengekniffenen Augen den ein-fahrenden Zug beobachtete. Sie wirkte ernst, aber nicht be-sorgt. Als sich ihre Blicke trafen, wußte sie, daß alles gut-gegangen war, daß Francisco das Geld f�r die Abtreibunghatte beschaffen kçnnen.

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Ein rascher Kuß, eine fl�chtige Ber�hrung, dann nahmensie sich an den H�nden und gingen zurMitte des Waggons.Es hatte nun keinen Sinn mehr, sich halb aus dem Zug zuh�ngen. In Gerli wurde eine Bank frei, und sie setzten sich.Mariela dr�ckte seine Hand. Als sie in Avellaneda anka-men, sp�rte Francisco, daß seine Nervosit�t sich legte: Ti-tos Gestalt verlor ihre Konturen, seine Vertrauensleute, sei-ne Jungs verschwammen zu einer unfçrmigen Masse. Wasals Nachgeschmack oder Alarmzeichen blieb, war eine Un-zufriedenheit, eine Art Pflicht, die er zu erledigen hatte.Worin sie bestand, wußte er nicht, aber er vertraute dar-

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auf, daß er es im Laufe der n�chsten Stunden herausfindenw�rde.

Sie �berquerten den Riachuelo und fuhren in die Stadthinein, in dieses Universum aus Menschen, das genausobuntgemischt war wie in Lanffls, nur unendlichfach multi-pliziert. Er war noch nicht oft im Zentrum gewesen. F�rihn war die Hauptstadt ein fremdes Territorium, das an-deren gehçrte, so wie die Straßen des Viertels, in dem ergeboren und aufgewachsen war, ihm gehçrten. Zweiund-zwanzig Jahre, in denen er an den gleichen Ecken herumge-hangen hatte, auf den gleichen Gehwegen gegangen war,die gleichen Leute begr�ßt und all die kleinen Ver�nderun-gen beobachtet hatte. Das Viertel, in demNachbarn gestor-ben oder weggezogen waren, in dem er mit Freunden Fuß-ball gespielt hatte, ebenjenen Freunden, die ihm einen Jobbei Tito verschafft hatten und in diesem Augenblick wahr-scheinlich schon Bescheid wußten.

Der Zug fuhr in den Bahnhof Constituci�n ein. Sie stie-gen aus und gingen im hçllischen L�rm der anderen Z�geden Bahnsteig entlang, umgeben von dr�ngelnden Men-schen, die sie anrempelten, ohne sich zu entschuldigen,und deren Gemurmel wie das Ger�usch angreifender Ter-miten klang. Sie nahmen denHauptausgang zu dem großenPlatz, auf dem unz�hlige Buslinien zusammenliefen und Ta-xifahrer teilnahmslos auf Kunden warteten. Sie wußten,daß sie den 39er nehmen und an der Ecke Pueyrred�n undMarcelo T. de Alvear aussteigenmußten. Es sei ein braunerBus, hatte man ihm gesagt, der aus einer der vielen Buchtenabfahre. Francisco hatte alles um sich herum vergessen, so-gar Mariela, obwohl sie nach wie vor seine Hand hielt. Erhatte nur eines im Kopf: daß er sich auf unbekanntem,

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feindlichem Terrain bewegte. Trotzdem war es der einzigeOrt, an dem er sich sicher f�hlen konnte.

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Es war nicht das erste Mal, daß Mariela zu Doktor Rosen-thal ging. Sie war schon einmal bei ihm gewesen, vor vier-zehn Tagen, nachdem der Test positiv ausgefallen war. Ro-xana, die Tochter der Frau, bei der Mariela mittwochs undfreitags putzte, hatte ihr geraten, einen Schwangerschafts-test zu machen, als ihre Regel ausblieb. Von ihr hatte sieauch die Adresse und Telefonnummer des Arztes. Marielaw�re es lieb gewesen, wenn Roxana sie zu dem Termin be-gleitet h�tte, aber sie hatte es ihr nicht angeboten, und Ma-rielawar es peinlich gewesen, sie darum zu bitten. Also warsie allein hingegangen. Sie hatte den 37er genommen, warnach f�nfzigmin�tiger Fahrt in der Avenida Callao auf Hç-he von Hausnummer Tausend ausgestiegen und hatte dief�nf Querstraßen bis zur Arztpraxis zu Fuß zur�ckgelegt.Sie hatte sich unbehaglich gef�hlt im Wartesaal, wo eineArzthelferin, die ihr schçn und sexy vorgekommen war, ih-re Daten aufgenommen hatte, ohne sie eines Blickes zuw�r-digen. Bevor sie von zu Hause aufgebrochen war, hatte siegeduscht und ihre bestenKleider angezogen,was aber nichtverhinderte, daß sie sich schmutzig f�hlte im grellen Lichtder Praxis und in Gegenwart dieser imponierenden Frau,die nur ein paar Jahre �lter war als sie.

Der Arzt war ein �lterer Herr mit Glatzenansatz, etwaswortkarg, aber keineswegs unfreundlich. W�hrend er sieuntersuchte,war auch eine Arzthelferin anwesend. Er �ber-

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pr�fte die Schwangerschaft nicht. Wenn der Test positivausgefallen sei, gebe es auch keinen Zweifel, dann sei sieschwanger. Sie sagte, sie wolle abtreiben. Er antwortete,daß ein Schwangerschaftsabbruch wohl�berlegt sein wol-le. Sie sei sich sicher.Was denn ihr Freund dazu sage, fragteer. Er sei sich auch sicher. Der Arzt erkl�rte ihr, daß der Ein-griff nicht riskant sei,weil er alle Hygiene- und Sicherheits-vorschriften einhalte. Tausend Pesos koste die Operation.Tausend Pesos, wiederholte sie leise. Wenn sie sicher sei,solle sie die Arzthelferin um einen Termin in zwei Wochenbitten.Wieder in Lanffls, traf sie sich mit Francisco und weinte,

wie sie noch nie geweint hatte, nicht, als der Test positivausgefallen war, und auch nicht, als sie es ihm gesagt hatte.Jetzt aber weinte sie,weil tausend Pesos eine unerreichbareSumme f�r sie waren und weil sie kein Kindwollte. Er strei-chelte ihr �bers Haar. Genau diese Geste hatte sie ge-braucht. Immer wenn sie das Gef�hl gehabt hatte, in ein tie-fes Loch zu fallen, hatte sie Franciscos Streicheln gerettet.Sie solle diesen Termin ausmachen, sagte er. Er w�rde dietausend Pesos schon auftreiben.

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Sie waren zehn Minuten zu fr�h dran. Die Arzthelferinnahm ihre Daten auf, und Francisco war von dieser Frauebenso fasziniert wieMariela. Es war keine kçrperliche An-ziehung, es war vielmehr ihre Art, in der Welt zu sein, denRaum zu f�llen und sich in ihm zu bewegen, wie es ihr ge-fiel. Diese Frau war der Beweis daf�r, daß es eine Welt

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gab, die Francisco fremd war, eine Gesellschaft, zu der ernie gehçren und �ber die er auch nicht viel erfahren w�rde,es sei denn durch Fernsehsendungen, Fotos in Zeitschriftenoder eine zuf�llige, fl�chtige und unbedeutende Begegnungmit jemandem wie dieser Arzthelferin.

Doktor Rosenthal erwartete sie hinter seinem Schreib-tisch. Er l�chelte sie nicht an, bat sie, Platz zu nehmen, undsprach zehnMinuten mit ihnen. Er werde es nur tun,wennsie beide sich hundertprozentig sicher seien, sagte er zumSchluß.Mariela hielt immer noch Franciscos Hand. Ja, sag-ten sie, sie seien sich sicher. Dann sollten sie jetzt bezahlen,sie werde dann in einen anderen Raum gebracht, in einerStunde habe sie es hinter sich.

Francisco holte das Geld hervor, das er in seiner Hemdta-sche verwahrt hatte. Er z�hlte es, bevor er es demArzt �ber-reichte. Plçtzlich hçrte er Marielas bebende Stimme, dieklang, als k�me sie aus einem tiefen Loch.

»Ichwill nicht abtreiben«, sagte sie, stand auf und st�rm-te zur Verbl�ffung von Francisco undDoktor Rosenthal ausdem Behandlungszimmer.

Sie rannte die Treppen der beiden Stockwerke hinunter,Francisco hinterher. An der Eingangst�r holte er sie ein.

»Ich will nicht.«»Wir machen nichts,was du nicht mçchtest«, sagte Fran-

cisco, der nicht verhehlen konnte, daß ihn ihr Sinneswan-del nervte.

»Ich bin mir einfach nicht sicher.«»Sollen wir noch mal mit dem Doktor sprechen?«»Ich geh da nicht wieder rein.«Francisco sah auf die Uhr: halb zwçlf.Zu sp�t, um das Geld zur�ckzugeben. Bestimmt wuß-

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ten alle l�ngst Bescheid. Die Bullenwaren sicher stinksauer,Tito hatte wahrscheinlich schon das Urteil �ber ihn gespro-chen, und die Jungs waren ausgeschw�rmt und suchten ihnim Viertel: bei ihr zu Hause, in den Kneipen der Gegend,wahrscheinlich sogar in der Umkleidekabine des Clubs. Inseiner Hemdtasche waren tausend Pesos, die er geklauthatte. F�r die Abtreibung brauchte er sie nun nicht mehr,zur�ckgeben konnte er sie auch nicht. Es waren die nutz-losesten, l�stigsten tausend Pesos, die man nur haben konn-te. Am liebsten h�tte er sie verbrannt, irgendwie verschwin-den lassen und mit ihnen alle Sorgen, einschließlich derSchwangerschaft, die ihr Leben aus demLot gebracht hatte.

»Wirst du das Geld zur�ckgeben?«»Zu sp�t.«»Und was machen wir jetzt?«Tausend Pesos: mehr Geld, als sie je besessen hatten, aber

nicht genug, um gl�cklich zu werden. Tausend Pesos, mitdenen sie diese Welt entdecken konnten, von der ihnendie Arzthelferin und diese Praxis mit ihren unz�hligen Ha-logenstrahlern eine Ahnung vermittelt hatten.

Sie konnten nur eines tun.

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Sie waren in der Hauptstadt, also in Sicherheit. Trotzdembrauchten sie Hilfe. In seiner Hemdtasche hatte Franciscodie Telefonnummer eines Freundes aus Kindheitstagen, dener seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Dieser Freundwar der einzigeMensch auf derWelt, der ihnen helfen konn-te. Franciscos Bruder konnte ihm nicht mehr helfen, er hatte

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sich umgebracht oder war w�hrend seines Milit�rdienstesumgekommen. Seine Freunde aus dem Viertel sch�umtenbestimmt vor Wut, denn sein Treuebruch zog sie alle mitrein. Auch Rafael oder Santiago h�tten ihm vielleicht gehol-fen, wenn er gewußt h�tte, wie er sie aufsp�ren kçnnte. ImMoment hatte er jedoch nur Adri�ns Telefonnummer. Erhatte bei dessen Eltern angerufen und erfahren,daß er nichtmehr in Avellanedawohnte, sondern in der Stadt,was er alsweiteres Zeichen daf�r genommen hatte, daß Adri�n seineRettung sein w�rde.

Sie gingen die Marcelo T. de Alvear entlang in RichtungPueyrred�n. An einer Telefonzelle machte Francisco haltund rief Adri�n an. Erst erklang schmalzige Musik, dannAdri�ns Stimme, die dazu aufforderte, eine Nachricht zuhinterlassen.

»Adri�n, ich bin’s, Francisco aus Lanffls. Dein Vater hatmir deine Nummer gegeben. Wenn du kannst, w�rde ichdich gern sehen, es ist dringend. Bin mit meiner Freundinin der Stadt und rufe dich sp�ter noch mal an.«

Er w�rde es in ein paar Stundenwieder versuchen. Bis da-hin war genug Zeit, das Geld auf den Kopf zu hauen.

»Gehen wir da lang«, sagte er und zeigte auf eine Aveni-da mit vielen Gesch�ften.

»Wollen wir das Geld echt ausgeben?«Sie fragte wie ein Kind, dem seine Eltern ein großes Ge-

schenk kaufen wollen. Mariela hatte ein Anrecht auf dasGl�ck, das sie sich mit diesen Scheinen kaufen konnten.

Sie gelangten zur Avenida Santa Fe und gerieten beimAnblick der vielen Leute ins Staunen. �berall volle Bars,leuchtende Schaufenster, schçne Frauen und gutaussehen-de M�nner, die wie auf einem Laufsteg stolzierten. H�tte

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man sie vorher gefragt,wof�r sie tausend �bersch�ssige Pe-sos ausgeben w�rden, w�ren ihnen tausend Dinge in denSinn gekommen, aber dort, an dieser leuchtenden, verhei-ßungsvollen Straßenecke fiel ihnen nichts Konkretes ein.Francisco ersp�hte ein Sportgesch�ft und wollte schon sa-gen, daß er sich gern das Trikot der Nationalmannschaftkaufen w�rde, aber er schwieg lieber, weil er fand, daß erzuerst Mariela etwas schenken sollte. Sie betrachteten dieSchaufenster und verschlangen mit den Augen alles, wassich ihnen pr�sentierte, selbst die f�r sie nutzlosen Sachenwie eine Klimaanlage oder eine Sprungfedermatratze. Siefragte ihn sch�chtern, ob sie sich eine Handtasche kaufend�rfe.

Sie suchte sich eine aus blauem Leder aus, die zu ihrenSlippern paßte, und sagte, sie w�rde sich auch gern ein PaarSchuhe kaufen, aber irgendwo anders. Die Verk�uferin batsie, die Handtasche nicht einzupacken, was merkw�rdigwirkte, da sie nichts dabei hatte, was sie h�tte hineintunkçnnen.

Ein St�ck weiter kam noch ein Sportgesch�ft. Diesmalentschloß sich Francisco einzutreten und bat Mariela, ihnzu begleiten. Hundertmal schon war er vor Schaufensternstehengeblieben, um sich die Trikots anzuschauen, abernie h�tte er sich vorstellen kçnnen, daß er einmal eines w�r-de kaufen kçnnen. Als er das Trikot anprobierte und sichim Spiegel betrachtete, hatte er das Gef�hl, ein gçttlichesLicht senke sich auf ihn herab: Er sah wirklich aus wie einSpieler der Nationalmannschaft. Einen Moment lang warer versucht, auch die kurze Hose dazuzukaufen, �berlegtees sich aber anders. Diesmal klang es nicht merkw�rdig,als er sagte, daß er das Trikot anbehaltenwollte. Er zog sein

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Hemd dar�ber und sp�rte eine besondere W�rme in derBrust. Das Trikot der Nationalmannschaft hatte was Ma-gisches.An einem Kiosk kauften sie importierte Kaugummis und

Bonbons, die in einer Metalldose verpackt waren, dazuPralinen, die Baccio hießen. Mariela suchte sich in einemLaden blaue Schuhe aus, die zur Handtasche paßten, undsteckte ihre Slipper, die zwar alt waren, aber noch eineWei-le durchhalten w�rden, in die Einkaufst�te. Im n�chstenLaden kaufte sie einen Spiegel, Kreolen, an denen kleineMçwen hingen, eine lange smaragdgr�ne Kette und einenebenfalls gr�nen Armreif. Dann betraten sie eine Droge-rie, wo sie f�r ihn ein Aftershave aussuchte, das sie geradeauf einem Werbeplakat gesehen hatte. Darauf hatte einMann, der ihr wie der Inbegriff von Schçnheit erschienenwar, seinen nackten, muskulçsenOberkçrper zur Schau ge-stellt. Sich selbst kaufte sie zwei Lippenstifte, einen rotenund einen dunkelvioletten. Francisco hatte die absurdeIdee, zu den Arzneimitteln zu gehen undRennie zu kaufen.Bei dem,was er alles zu essen gedenke, wolle er vorsorgen,sagte er zur Begr�ndung, dabei war es einfach so, daß ernoch nie eine so große Packung Rennie hatte kaufen kçn-nen.

Sie gingen in einen riesigen Plattenladen, der sich �berzwei Stockwerke erstreckte. Dort stçberten sie alles durchund konnten nicht fassen, daß es auf der Welt so viele Plat-ten gab. In der Elektroabteilung sah sich Francisco Com-puter und Stereoanlagen an. Schließlich fand er einen CD-Player, der zu Marielas Handtasche und Schuhen paßte.Sie kauften ihn, dazu Batterien und drei CDs: ein Albumvon Mick Jagger, auf dem der Song Hard Woman war,

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