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Politiker Nr. 274 | 4. Mai bis 17. Mai 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass. Krach in der Nacht – wie Anwohner Clubs zum Verstummen bringen Zu Besuch im Kinderparlament Klatsch und Propaganda: Gerüchteküche Internet

Surprise Strassenmagazin 274/12

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Surprise Strassenmagazin 274/12

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Page 1: Surprise Strassenmagazin 274/12

Politiker

Nr. 274 | 4. Mai bis 17. Mai 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Zu Besuch im Kinderparlament

Klatsch und Propaganda: Gerüchteküche Internet

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2 SURPRISE 274/12

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Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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EditorialGerüchte

In meiner Schulzeit hörte ich ab und zu den Spruch: «Du musst nicht alles glauben,was in der Zeitung steht.» Die Bemerkung kam meist dann, wenn jemand eine Be-hauptung mit dem Hinweis untermauern wollte, er habe das in diesem oder jenemBlatt gelesen. Bloss weil etwas gedruckt wurde, ist es noch lange nicht wahr, das istauch oder gerade mir als Journalisten bewusst. Gleichwohl ermöglicht es die tradi-tionelle Presse ihrem Publikum, die Glaubwürdigkeit einer Meldung beurteilen zukönnen. Sie hat den Anspruch, Behauptungen mit Fakten zu belegen und lässtunterschiedliche Fachleute und Interessenvertreter zu Wort kommen. Nicht zuletztstehen Qualitätsmedien mit ihrem Namen für die Richtigkeit ihrer Artikel, denn siehaben einen Ruf zu verlieren.

Mit dem Internet braucht es nicht mehr unbedingt herkömmliche Medien um Öf-fentlichkeit herzustellen. Social Media wie Twitter und Facebook ermöglichen es, In-halte aller Art mit der ganzen Welt zu teilen. Insbesondere in Ländern, wo Zensurherrscht, können dadurch auch kritische und unterdrückte Informationen verbreitet werden. Traditionelle Me-dien übernehmen solches Material. In der Berichterstattung über den Arabischen Frühling etwa zeigte dasFernsehen regelmässig Handyfilme vom Ort des Geschehens, oft mit dem Hinweis, diese Bilder seien «angeb-lich heute» aufgenommen worden.

Die Schwierigkeit, Informationen aus dem Internet zu verifizieren, ist die Kehrseite der neuen Medien. Chri-stof Moser erzählt im Artikel ab Seite 14, wie Social Media aus dem Internet eine Gerüchteküche machen. Mitt-lerweile beeinflussen Behauptungen und Mutmassungen aus dem Netz Politik und Wirtschaft. Regierungenund Unternehmen machen sich das zunutze: Im Kampf um Kontrolle und Gewinn werden gezielt Gerüchtegestreut, die von den Massenmedien nicht selten weiterverbreitet werden. Dadurch können Gerüchte Realitätwerden, auch wenn sie ursprünglich falsch waren. Wenn alle Welt glaubt, die Bank of America stehe kurz vordem Kollaps, dann fallen die Kurse – und so wird das grösste Kreditinstitut der USA im Handumdrehen zumSpekulationsobjekt.

Die neue Medienwelt braucht mehr denn je kritische Journalisten, die ihr Material prüfen, bevor sie es in dieWelt hinausposaunen. Und noch mehr verlangt sie mündige Medienkonsumenten, die auch einmal einen Ar-tikel hinterfragen. Der Satz aus meiner Schulzeit passt auch heute: Sie müssen nicht alles glauben, was ge-schrieben steht.

Lesen Sie kritisch!

Reto Aschwanden

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RETO ASCHWANDEN

REDAKTOR

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4 SURPRISE 274/12

Inhalt03 Editorial

Bloss weils geschrieben steht05 Basteln für eine bessere Welt

Glänzend geschützt06 Aufgelesen

Unterschlupf bei der Freundin06 Zugerichtet

Koks im Kübel07 Mit scharf

Krach um die Nacht07 Nachruf

Peter Hässig 08 Porträt

Ganz Ohr 20 Clubsterben

Nachtschwärmer sehen schwarz 22 Le mot noir

Ratten kochen nicht23 Sonic Traces

Die Schweiz als Klangkulisse24 Kulturtipps

Radelnd durch die Weltgeschichte26 Ausgehtipps

Gezeichneter Tod28 Verkäuferporträt

Hauptsache, der Ball läuft29 Projekt Surplus

Eine Chance für alle!30 In eigener Sache

ImpressumINSP

Seit bald 20 Jahren tagt in Luzern mehrmals jährlichdas Kinderparlament. Es wurde nach dem Beitritt derSchweiz zur UNO-Kinderkonvention gegründet – alspraktische Umsetzung der politischen Mitbestim-mung von Kindern. Wir waren an der diesjährigenBudgetsession dabei und wollten wissen: Was bringtKinder dazu, an ihrem freien Nachmittag über Zahlenzu brüten? Und kommt das gut, wenn man Kinder mitpolitischen Rechten ausstattet?

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In Einsiedeln flatterten über Ostern farbige Gebetsfah-nen im Wind. Sie zeigten, dass neben katholischen Pilgern auch andere Leute den Weg ins Klosterdorf gefunden hatten. Junge Exiltibeter der zweiten unddritten Generation trafen sich zum europäischen Ju-gendparlament der Tibeter und diskutierten Strategienzur Befreiung der Heimat. Eine Reportage über jungeMenschen, die sich für ein Land einsetzen, das sienicht kennen und dessen Sprache sie kaum sprechen.

14 Social MediaSchneller als die WirklichkeitDas Internet demokratisiert die Information und istein wichtiges Instrument für Freiheitskämpfer. So se-hen es Onlineoptimisten. Immer stärker aber dienenFacebook, Twitter und Co. als Gerüchteküchen, in de-nen Klatschreporter, aber auch Spekulanten und auto-ritäre Regimes ihr Süppchen kochen. Eine Geschichteüber die Auswirkungen von Gerüchten, die aus demReich des Digitalen in die Wirklichkeit schwappen.

10 MitbestimmungKinder machen Politik

17 ExiltibeterGebetsfahnen im Klosterdorf

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2. Nehmen Sie Ihren runden Velohelm und kleben Sie die Plättchen Reihe für Reihe mit Kontaktkle-ber aneinander. Sparen Sie die Lüftungslöcher aus.

Basteln für eine bessere WeltEs lässt sich einfach schlecht dagegen argumentieren: Ist tatsächlich was drin, lohnt es sich auch, dies mit einer harten Schale zuschützen. Die Rede ist von Schädel, Inhalt und Velohelm. Allein, das damit verbundene Stilproblem war bis heute ungelöst. Denn, seienwir ehrlich: Auch die Calimero-Variante, die nun cool sein soll, sieht irgendwie bekloppt aus. Aber! Mit wenig Aufwand lässt sich die-ser Helm in ein Objekt von hohem Kultfaktor verwandeln. Und Sie bringen die Strasse zum Funkeln!

1. Kaufen Sie Deko-Spiegelplättchen, erhältlich im Internet oder im Baumarkt. Sie brauchen mehre-re Hundert Stück, je nach Grösse der Plättchen – machen Sie eine (grosszügige) Hochrechnung.

3. Get on your bike and … disco!

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AufgelesenNews aus den 90 Strassenmagazinen,die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Obdachlose Frauen

Linz. Obdachlosigkeit ist bei Weitem kein reinmännliches Problem. Bei der Hilfsorganisa-tion Arge spricht man vom Phänomen einer«verdeckten Obdachlosigkeit»: Sie trifft zu-meist Frauen, die aus schwierigen Familien-verhältnissen geflüchtet sind oder als Haus-frauen keinen Beruf gelernt haben. Auch weilsie oft noch für die Kinder sorgen müssen, suchen sie nach dem Verlust der Wohnungbei Angehörigen oder Freundinnen Unter-schlupf – oder gehen gar Zweckbeziehungenein, um nicht auf der Strasse zu landen.

Arbeit für Roma

Hamburg. Bobi ist einer von Tausenden vonRoma, den die Not in den Westen getriebenhat. Doch auch hier finden viele von ihnenkeine Arbeit. Hinz & Kunzt aus Hamburgund fiftyfifty aus Düsseldorf haben be-schlossen, den Roma zu helfen und Verkäu-ferpässe auszustellen, obwohl die Migrantenaus dem Osten für die beiden Obdachlosen-zeitungen eigentlich nicht zur typischenZielgruppe gehören. Zwei Jahre suchte Bobiin Düsseldorf vergeblich nach Arbeit. «End-lich», sagt er nun, «habe ich eine richtige Ar-beit gefunden.»

Benzin über Facebook

Blantyre. Malawi, der Kleinstaat im SüdenAfrikas, leidet seit 2009 an einer Benzin-knappheit. In seiner Not kam Frederick Bval-ani, ein Einwohner der WirtschaftskapitaleBlantyre, auf eine zündende Idee: Anstattdas knappe Benzin auf der Suche nach eineroffenen Tankstelle zu verfahren, gründete ereine Facebook-Gruppe, auf der sich mittler-weile 6000 Mitglieder darüber austauschen,wo der begehrte Saft gerade erhältlich ist.Dies funktioniert so gut, dass Bvalani vonvielen Landsleuten als Held gefeiert wird.

ZugerichtetGrosi auf Abwegen

Manch eine sorgenvolle Seele würde ge-wiss am liebsten von der «Big Mama» in dieArme genommen werden, so mütterlich wirktsie mit ihrem kolossalen Körper. Doch FrauHuber* hat selber Sorgen. Sie ist einsam. Siehat die falschen Freunde. Wissen kann mandas nicht, nur vermuten, wenn man ein paarFakten hört. Über sich selbst sagt sie nur dasNötigste, nicht das Wesentliche.

Frau Nbulungi Huber, 58 Jahre alt, in Ka-merun geboren, durch Heirat österreichischeStaatsbürgerin geworden, Mutter von sechsKindern und Grossmutter von ebenso vielenEnkeln, musste ihren Job als Putzfrau wegenRückenschmerzen aufgeben und bezieht seit-her Sozialhilfe.

Es muss ihr wie ein Fünfer im Lotto vor-gekommen sein, als sie auf einem Spazier-gang rund 70 Gramm Kokain in einem Abfalleimer fand. Zu Hause angekommen,versteckte sie die heisse Ware im Kühl-schrank, in einem leeren Mascarpone-Be-cher, den sie unauffällig zwischen Joghurtund Käse plazierte.

Doch wie bringt man Drogen an denMann? Schliesslich verfügte die Jungdealerinüber keinerlei Geschäftskontakte, Distribu-tionskanäle, lokale Marktkenntnisse. Bis dieorganisatorischen Probleme gelöst waren,griff sie hin und wieder selbst in den Mascar-pone-Becher. «Aber nur um die Schmerzenzu betäuben», rechtfertigt sich Frau Hubervor dem Richter. Für den Auftritt vor Gerichthat sie ihr bestes Kostüm angezogen,schwarz mit goldenen Blumen, dazu eineHandtasche aus Krokodilleder-Imitat, an denFüssen schwarze Ballerinas. «Ich habe zwarein Verbrechen begangen», sagt sie, «aber ich

bin keine Verbrecherin, ich war dumm.» Ver-schämt rückt sie ihre goldene Brille zurecht.

Eine Bekannte öffnete ihr schliesslich dieTüre ins Drogenbusiness. Sie bot ihr als Über-gabeort ihre Wohnung in einer übel beleumde-ten Strasse im Zürcher Kreis 4 an.

Die ersten zwei Deals brachte Frau Hubermit Erfolg über die Bühne. Sie konnte 100 Fran-ken in ihr Portemonnaie stecken. Der dritte Deal, rund acht Gramm, brachte sogar 400Franken ein. Doch die Freude war von kurzerDauer, denn die Polizei nahm den Käuferdraussen auf der Strasse fest, und der führte siedirekt zu Frau Huber. Statt eines Lebens inSaus und Braus brachte ihr der Nebenjob 33Tage Untersuchungshaft ein. Frau Huber – derAnwalt streicht es mehrfach heraus – hat vonBeginn weg ein umfassendes Geständnis gelie-fert. «Die Misere hat mich schwach gemacht»,ergänzt Frau Huber zerknirscht. «Aber es warmir eine Lehre.»

Der Richter ist frühlingsmilde gestimmt. Obsie die Drogen tatsächlich im Abfall gefundenhabe, sei mal dahingestellt. Und wie viel sieletztlich verkauft habe, fünf oder acht Gramm,«das macht den Braten auch nicht mehr feiss,auf gut Züritütsch gesagt». Es bleibt bei dervom Staatsanwalt beantragten 13-monatigenFreiheitsstrafe auf Bewährung sowie einer Busse von 500 Franken. «Halten Sie sich niemehr in dubiosen Wohnungen auf», rät ihr derRichter väterlich. Sie solle sich Freundinnensuchen, die keinen Kontakt zu Drogensüchti-gen pflegten. «Überhaupt: Hände weg von Dro-gen!» Frau Huber nimmt den Tipp dankend an.

* Name geändert

ISABELLA SEEMANN ([email protected])

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

([email protected])

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Nachruf Peter Hässig

Im März ist Peter Hässig verstorben. Er gehör-te ab 1999 zu den bekanntesten Surprise-Ver-käufern in Basel. Lange bot er das Strassenma-gazin am Spalenberg an, doch in den letztenJahren zwang ihn seine Gesundheit immer öf-ter zur Schonung. Peter Hässig hatte kein ein-faches Leben: Physische wie psychische Be-schwerden begleiteten ihn lange Jahre. Erkämpfte dagegen an und litt unter den Ein-schränkungen, denn er hatte trotz seinerSchwierigkeiten ein ausgeprägtes Leistungs-denken. Manchmal wirkte er knurrig undwiderborstig – ein bisschen wie eine Stachel-beere. Aber wie so oft verbarg sich auch hinter

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VON RETO ASCHWANDEN

Seit Kurzem gibt es in meiner Nachbarschaft einen neuen Club. Seit-her höre ich im Schlafzimmer dröhnende Bässe und Besoffene, die aufdem Heimweg noch schnell unter meinen Balkon pissen. Diese Rück-sichtslosigkeit regt mich grausam auf. Soll ich die Polizei rufen undwegen Nachtruhestörung klagen?

Ich bin nicht der Einzige, der sich an Wochenenden diese Frage stellt.Denn in den urbanen Zentren grenzen Büros an Läden und Clubs anWohnungen. Schon immer ergaben sich daraus Nutzungskonflikte,doch in jüngerer Zeit werden diese, wie Sie im Artikel ab Seite 20 lesenkönnen, immer unerbittlicher geführt. In Zürich muss der KonzertclubAbart Ende Jahr schliessen, weil eine neue Überbauung zahlungskräfti-ge Mieter in die Nachbarschaft bringt, die ihre Ruhe wollen. Das Kugl inSt. Gallen steht vor einer ungewissen Zukunft, weil ein einzelner An-wohner – ein Anwalt – mit allen Rechtsmitteln gegen den Club vorgeht.Bereits schliessen musste das Sous Soul in Bern, weil sich eine Nachba-rin gestört fühlte. In Basel werden mehrere Buvetten – temporäre Barsam Rheinbord – mit Beschwerden von Anwohnern bombardiert undselbst das gutbürgerliche Militärmusikfestival Tattoo sieht sich mit derEinsprache eines Anwohnerkomitees konfrontiert.

Nachtruhe ist ein elementares Bedürfnis. Ausgang und Kultur aller-dings auch. Die Kompromissfähigkeit – lange als gutschweizerische Ei-genart gehegt – schwindet, die Anspruchshaltung wächst. Die einenwollen die ganze Nacht Party machen und auch draussen lärmen, dieanderen schlafen, und zwar am liebsten bei offenem Fenster. Interes-santerweise finden sich beide Haltungen gern in ein- und derselben Per-son: Bin ich in Feierlaune, finde ich die Spassbremsen im Nebenhausblöde Bünzlis, wenn ich schlafen möchte, sollen die Maismacher gefäl-ligst Ruhe geben. Alles soll immer genauso sein, wie ich es gern hätte.

NachtlebenDer Schlaf der Selbstgerechten

Dass das nicht geht, ist offensichtlich. Es gibt aber Mitmenschen, dieihre eigenen Bedürfnisse über alles stellen. Die Nachbarin des Sous Soulwohnte schon seit 1997 im selben Bau. Vor vier Jahren zog sie ins Par-terre, denn die Wohnung dort schien ihr die schönste im ganzen Haus.Dass nebenan ein Club liegt, wusste sie, den Lärm aber wollte sie nichtertragen. Weil die Behörden ihren Klagen recht gaben, schaffte es eineeinzelne Person, ein traditionelles Ausgangsziel von Hunderten schlies-sen zu lassen.

Im Affekt denkt man: Soll die Tussi doch aufs Land ziehen, wo höch-stens Kirchenglocken den Schlaf der Selbstgerechten stören. Und dasdortige Jungvolk soll am Wochenende bitteschön bleiben, wo es ist.Denn so sehr der Stadtmensch ein lebendiges Umfeld liebt, das Krakee-len und Kotzen, mit dem die Auswärtigen am Wochenende die Städteheimsuchen, ist nicht das, was er sich unter einem urbanen Lebensge-fühl vorstellt. Dummerweise bringt Fronten bauen keine Lösungen. Hierdie Erholungsbedürftigen, die alle Rechtsmittel ausschöpfen, dort dasPartyvolk, das reklamierende Nachbarn beschimpft und einschüchtert.

Vielleicht bin ich ja ein bisschen naiv. Aber ich werde auch das näch-ste Mal, wenn die Bässe aus dem Club in der Nachbarschaft wummern,nicht die Polizei rufen. Sondern bei Gelegenheit mal vorbeigehen undmit dem Chef ein Bier trinken. Ich erwarte nicht, dass er danach die An-lage abdreht. Aber manchmal schafft ein Gespräch ja gegenseitiges Ver-ständnis. Das wäre ein Anfang. ■

In den Schweizer Innenstädten tobt der Kampf zwischen dem Partyvolk und ruhebedürftigen Anwohnern. Dassture Beharren auf den eigenen Bedürfnissen macht unsere Städte kaputt.

Peters Brummigkeit eine sensible Seele. Er fass -te nur schwer Vertrauen zu anderen Men-schen, doch wenn er jemanden ins Herz ge-schlossen hatte, pflegte er die Freundschaft mitHingabe. In guten Momenten war Peter ein lu-stiger Kerl, der auch über sich selber lachenkonnte und grosszügig Zigaretten verteilte.Und er war ein Geniesser: Unter Surprislernwar seine Liebe zu Schwarzwäldertorten le-gendär. Mit Surprise identifizierte sich Peterstark. 2003 spielte er an der Strassenfussball-WM in Graz mit, später wurde er ins ProgrammSurPlus aufgenommen, in dem regelmässigVerkaufende Ferien- und Krankentaggeld bezie-hen können. Leider zwangen ihn seine fort-schreitenden Krankheiten Anfang Jahr zumRückzug. Nun hat sein Herz zu schlagen auf-gehört. Wir werden Peter vermissen.

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VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND ESTHER MICHEL (BILD)

Es ist Dienstag, später Nachmittag. Die hohen Gebäude rund um dasFernsehstudio Leutschenbach werfen bereits lange Schatten. Eine neueNacht kündigt sich an. Eine Dienstagnacht, in der Tausende von Schlaf-losen der Sendung «nachtwach» lauschen werden. Moderatorin BarbaraBürer nimmt seit fünf Jahren live auf SF 1 und DRS 3 Anrufe von Men-schen entgegen, die ihre geheimsten Wünsche, Sorgen und Erlebnisseanonym mit einem breiten Publikum teilen möchten. An die 1000 ver-schiedene Anekdoten sind in dieser Zeit bereits zusammengekommen.«Man könnte meinen, dass man nach so vielen Gesprächen nicht mehrüberrascht wird, doch das Gegenteil ist der Fall. Keine Sendung verläuftgleich», begründet Bürer ihre ungebrochene Freude an diesem Format,«was sich uns hier offenbart, ist ein Spiegelbild des Schweizer Alltags inall seiner Banalität, aber auch in all seiner Dramatik.» Sie selbst sprichtnicht gerne über sich, sondern hört lieber zu und beobachtet. «Sicher,auch mein Leben ist wie bei jedem Menschen geprägt von Höhen undTiefen, aber es wurde nicht von derartigen Krisen erschüttert.» Ihr Inter-esse am Schicksal anderer gründe nicht zwangsläufig auf eigenen Er-fahrungen, sagt die 57-jährige Rapperswilerin. Es gründet im Interessefür das menschliche Schicksal.

Dass die Moderatorin einst eine der ersten Sportjournalistinnen desLandes war, erstaunt nur auf den ersten Blick. Die engagierte Medien-frau reizte damals in den 80er-Jahren die Herausforderung, in einer vonResultaten geprägten Männerdomäne verstärkt die Menschen zu the-matisieren: «Ich stellte vermehrt auch die Verlierer in den Mittelpunktmeiner Arbeit.» Damit leistete Barbara Bürer Pionierarbeit, denn dankihrem Ansatz kam es in der Schweizer Sportberichterstattung zu einerWende hin zu mehr Hintergrundgeschichten.

Bewegung hat im Leben von Bürer schon immer eine zentrale Rollegespielt. Als Kind wollte sie entweder Tennisspielerin, Schauspielerinoder Sportlehrerin werden. Das Interesse amSport blieb ihr ständiger Begleiter. Und als eis-hockeybegeisterte Rapperswilerin ist sie selbst-verständlich ein Fan der «Lakers». Im Gesprächvollzieht sie gerne wendige Gedankensprünge.Routine, Stillstand und Eintönigkeit sind ihr zuwider, auch im Denken.Sie brauche genügend Freiraum, um sich wohlzufühlen, sagt sie: ähnlichwie eine Katze.

Bevor Bürer 2007 angefragt wurde, ob sie «nachtwach» übernehmenmöchte, arbeitete sie unter anderem für die «Zeit», das «Magazin» undfür Schweizer Radio DRS. 1996 erhielt sie für eine Serie über das Lebeneiner alten Frau im Altersheim den Berner Medienpreis für Lokaljour-nalismus. Der Vorwurf des plumpen Voyeurismus, mit dem die Sendung«nachtwach» auch schon konfrontiert wurde, greift aus Sicht der sensi-blen Moderatorin zu kurz. «Jede journalistische Arbeit, selbst ein ver-gleichsweise nüchternes Wirtschaftsporträt, ist darauf ausgerichtet, dieNeugier des Publikums zu befriedigen», findet Barbara Bürer. Letztend-

PorträtDie NachtwächterinSie begann als Sportjournalistin und präsentierte als Erste nicht nur Resultate, sondern Geschichten. Heuteist Barbara Bürer ganz Ohr, wenn Menschen sich ihre Nöte von der Seele reden.

lich sei der Grad an Respekt, den man seinen Gesprächspartnern ent-gegenbringe, entscheidend für die Qualität. Qualitätsbewusstsein ist dervielseitigen Journalistin auch ausserhalb der Arbeit wichtig. Bürer, diealleine in Rapperswil wohnt, kocht leidenschaftlich gerne, bereitet auchfür sich selbst ab und zu mehrgängige Menüs zu und geniesst dazu ei-nen guten Wein.

Im Gespräch lässt sie eine tiefe Dankbarkeit durchblicken, währendsie von ihren Eltern erzählt, die beide noch leben und sich sehr für dieSendung ihrer Tochter interessieren. Halt findet Barbara Bürer beiFreunden und Familie. Vor allem ihr fünfjähriges Gottenkind lasse sie oftalles um sich herum vergessen. Bürer bemüht sich, nicht darüber nach-zudenken, was andere Menschen nach einer Sendung von ihr denkenkönnten. «Aus diesem Grund vermeide ich es, mich selbst im Internetzu googeln», sagt sie.

Warum so viele Leute das Bedürfnis haben, sich in der Öffentlichkeitmitzuteilen, darüber kann die feingliedrige Moderatorin nur mutmas-sen. «Ich denke, dass ‹nachtwach› ein spezielles Bedürfnis nach Auf-merksamkeit abdeckt, das bei vergleichbaren Angeboten zu kurzkommt», sagt sie, die jedem Anrufenden mit der gleichen unvoreinge-nommenen Haltung begegnet. Ihr aufmerksamer Blick und ihre ange-nehme Stimme ebnen den Weg zu Gesprächen über die ganze Bandbrei-te des Lebens. Auch sie, die erfahrene Journalistin, lernt immer wiederdazu. Dann, wenn Menschen über den Tod reden, darüber auch, wie sievon Angehörigen Abschied nehmen. Und bei «nachtwach» melden sichviele Leute, die Schlimmes durchgemacht haben. Von Selbstmord istmanchmal die Rede, von Missbrauch, Gewalt, Krankheit und Verlust.Mit Blick auf die Sendezeit müsse sie Gespräche auch mal sanft, aberbestimmt abklemmen. Das erfordere Fingerspitzengefühl, aber so seiendie Regeln. «Wenn ich spüre, dass jemand stark aufgewühlt ist, biete ichdemjenigen an, das Gespräch hinter den Kulissen mit einer Psychologinfortzusetzen.» Sie sei übrigens noch nie von einem Anrufer konkret um

Rat gefragt worden. «Das Publikum hat den Zweck der Sendung von An-fang an richtig verstanden. ‹nachtwach› ist kein Therapie-Talk, sonderneine Sendung, in der man eine kleine Sequenz aus seinem Leben er-zählt», hält Barbara Bürer fest.

Und welche Kapitel stehen im Leben der Moderatorin noch an? Viel-leicht ein Buch. Ideen gäbe es genug. Und so oder so möchte BarbaraBürer auch weiterhin «nachtwach»-Geschichten hören. «Manchmalkann man sich sogar richtig in einzelne Stimmen verlieben», lächelt sieund ihre hellen Augen leuchten. Draussen setzt die Dämmerung ein.Nur noch wenige Stunden bis Sendebeginn. Nur noch wenige Stunden,bis die Nachtwächterin all jene in Empfang nehmen wird, die keinenSchlaf finden, während ringsum im Land die Lichter ausgehen. ■

«Jede journalistische Arbeit ist darauf ausgerichtet, dieNeugier des Publikums zu befriedigen.»

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Mara und Livio, das «Präsidenten-Pärchen» des Kinderparlaments.

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Mitbestimmung Kinder machen ernstIm Kinderparlament Luzern kämpfen Kinder für den Erhalt von Spielplätzen, die Förderung des Veloverkehrsund kindergerechte Schwimmbäder. Und gegen das Vorurteil, dass ernsthafte Politik nichts für sie sei.

VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND HANSUELI SCHÄRER (BILDER)

Mittwochnachmittag, 14.20 Uhr, ein Konferenzraum mit Beamer undweissen Kippvorhängen im brandneuen Fussballstadion des FC Luzern.In ein paar Stunden wird hier der FCL, der um den zweiten Platz in derSuper League kämpft, eine Pressekonferenz abhalten. Erstmal sind aberdie Kinder an der Reihe. Ihnen geht es nicht um Spiel, sondern um Po-litik. Sie kämpfen um die Durchsetzung ihrer Rechte.

Heute trifft sich das Kinderparlament der Stadt Luzern (Kipa) zurBudgetsession. Nach und nach treffen die «Kipas», wie sich die Nach-wuchspolitiker selber nennen, ein, begleitet von Eltern, die sich dannwieder verabschieden, oder gemeinsam mit der besten Freundin oderdem Brüderchen. Kleine und schon recht grosse sind darunter – Kindervon acht bis 14 können mitmachen –, Luzern-erdeutsch ist zu hören, natürlich, aber auchHochdeutsch, Albanischdeutsch oder Tami-lischdeutsch. Einige nehmen Platz und wartenganz ruhig, bis es losgeht. Andere üben sichdemonstrativ im Beatboxen oder tuscheln über Fussball («… dä isch imFall FCB-Fän …»). Mara und Livio, beide 13, bilden das Co-Präsidiumund haben bereits hinter den zwei Mikrofonen Platz genommen. Vor ih-nen stehen ein Sparschwein, ein Spielzeug-Bautruck und eine Tisch-bombe, die Symbole für das Budgetteam, das Bauteam und das Fun-team. Daneben sitzt der Plüschaffe, der jeweils demjenigen übergebenwird, der das Wort ergreifen möchte – als Zeichen, dass nun er und nie-mand anders sprechen darf. In der vordersten Reihe haben drei Teenie-Mädchen Platz genommen, eine von ihnen versucht Mara aufzuziehen,indem sie mit den Fingern ein Herz in Richtung «Präsidentenpärchen»andeutet – obwohl doch deren Beziehung eine rein geschäftlich-politi-sche ist.

Pädagogisch wertvolle RechteUm 14.45 klingelt Livio im Stil des Nationalratspräsidenten mit dem

Glöckchen. Es wird augenblicklich still im Raum. Livio heisst die Anwe-senden, rund 50 Kinder, drei Medienleute und einen «Kipa-Götti» ausdem «Erwachsenenparlament» herzlich willkommen und sagt, er freuesich, an einem «so coolen Ort» die heutige Session abhalten zu können.Dann geht es auch gleich zur Sache. Als Erstes verliest Livio Informatio-nen aus dem Präsidium: «Info Budgetsituation: Die SVP hat das aktuelleBudget der Stadt nicht akzeptiert und das Referendum ergriffen. Dasheisst, das Kipa bekommt die 20 000 Franken von der Stadt im Momentnicht. Das Volk stimmt im Mai darüber ab. Wir hoffen, dass die Abstim-mung angenommen wird, bis dahin müssen wir halt ohne das Geld aus-kommen.»

Dann gibt es Informationen aus den verschiedenen Teams, wie dieKommissionen im Kipa heissen. Als Erstes präsentiert Julia (11) vom

Finanzteam die Jahresrechnung. Sie berichtet trocken von Übertrag,Einnahmen und Ausgaben, die Kipas im Saal hören gebannt zu. Als Vi-sualisierung der Budgetrechnung steht ein «Budget-Zug» vor dem Red-nerpult, ein Spielzeugzug aus Holz, dessen Wagen mit den einzelnenBudgetposten beschriftet sind. Darauf liegen unterschiedlich vieleKlötzchen, jedes steht für 500 Franken. Julia, die ihre Haare zu afrika-nischen Zöpfchen geflochten hat, erklärt nach der Session: «Mich inter-essieren Finanzen, ich habe gerne Mathi.» Sie mache beim Kipa mit,«weils cool ist».

Die Bemühungen, Kinder vermehrt in politische Entscheidungen ein-zubeziehen, setzten in der Schweiz Anfang der 90er-Jahre ein. Seit derRatifizierung der UNO-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989 sind dieKantone und Gemeinden verpflichtet, der UNO Bericht über die Schaf-

fung von Partizipationsmöglichkeiten für Kinder zu erstatten. Luzernwar die erste Stadt, die daraufhin ein Kinderparlament einrichtete.Doch: Ist so etwas kindergerecht? Braucht es nicht eher spielerischereFormen? Walter Mathis, Gründer des Kipa, verneint vehement: «Päda-gogisch wertvoll ist es, wenn Kinder verbriefte Rechte haben. Parlamentkommt von parlare, also sprechen; spielen können die Kinder im Kin-dergarten und in der Spielgruppe.»

Tatsächlich erschienen bereits zur ersten Sitzung 1993 rund 400 Teil-nehmer – viermal mehr als erwartet. Bei den Kindern sei die Idee sofortauf grosse Begeisterung gestossen, sagt Mathis. Nicht so bei den Er-wachsenen: Viele hätten Mühe mit den konkreten Rechten gehabt, dieKindern nun schwarz auf weiss zugestanden wurden. Im Falle des Kipaumfassen diese eine Auskunftspflicht seitens der Regierung und der Be-hörden, die Kompetenz, selbständig über das Budget von 20 000 Fran-ken zu verfügen, und das Recht, Postulate zu formulieren, die dann imStadtparlament, dem Grossen Stadtrat, traktandiert und behandelt wer-den müssen.

An der heutigen Budgetsession erhält als Nächstes der SchülerratMoosmatt das Wort. Die Schulhausvertreter eröffnen ihren Antrag miteiner Menschenpyramide – die von den Kipas heftig beklatscht wird.Dann halten zwei Mädchen ein grosses selbstgezeichnetes Plakat mit ei-nem Zirkuszelt hoch. Ein Junge erklärt, in nicht ganz akzentfreiem, abergut verständlichem Schweizerdeutsch, dass sie eine Projektwoche ha-ben und dazu einen Zirkus einladen wollen. Dafür bräuchten sie 500Franken vom Kinderparlament. Co-Präsidentin Mara (13) lässt Rückfra-gen klären und fragt dann das Plenum nach Gegenanträgen, also ob «je-mand mehr oder weniger geben» wolle. Dies ist nicht der Fall. Also wirdzur Abstimmung geschritten: Mara erklärt noch einmal das Prozedere –

«Mich interessieren Finanzen. Ich habe gerne Mathi.»Julia (11)

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wer dafür ist, bleibt sitzen, wer dagegen ist, steht auf –, dann wird ab-gestimmt. Alle bleiben sitzen, das Schulhaus Moosmatt darf sich auf ei-nen Zirkus freuen. Genauso glatt geht auch der nächste Antrag desSchülerrats Wartegg über die Bühne, ein Pausenkiosk mit «Früchten undvor den Ferien etwas Süssem».

Nicht immer werden die Anträge so reibungslos durchgewinkt odereben durchgesessen, erklärt Kipa-Götti Philipp Federer nach der Ses-sion. Der Ex-Grüne, heute parteilose Federer ist der treuste der Göttis,er fehlt bei keiner Session. Die Göttis der anderen Parteien kommenmeist nur als Stimmenzähler an die Wahlses-sion, die SVP hat gar keinen gestellt. Federererläutert, dass manchmal zwei, drei dominan-te Buben die Stimmung zum Kippen bringenkönnten. Es sei auch schon vorgekommen,dass Anträge abgelehnt wurden, weil Einzelnesich fragten, warum die anderen Geld bekommen sollen, aber sie nicht –obwohl sie selber sich gar nicht um ein Projekt bemüht hatten. Stadt-parlamentarier Federer: «Da können die Kinderparlamentarier sein wiedie Erwachsenen.»

Doch heute herrscht grosse Harmonie im Kipa. Auch das Budgetwird – ganz anders als bei den Grossen – einstimmig angenommen,diesmal per Aufstehen und nach hinten gehen. Es folgen weitere Infosaus den Teams: Die Kiz-Reporter werden das Kipa-Magazin, den «Kiz-Blitz», dieses Jahr, wie vom Plenum beschlossen, nur zwei statt drei Malherausgeben, um das Budget zu schonen. Das Bauteam berichtet vonden Fortschritten des Projekts Skaterpark auf dem Schulplatz Maihofund die Stadtdetektive haben auf ihrer Suche nach Kinderunfreundlich-keit in der Stadt den Veloverkehr, das neue Hallenbad und die Aussen-

bäder ins Visier genommen. Stellungnahmen werden ausgearbeitet undTreffen mit Velospezialisten und der Polizei sind vereinbart.

«Saure Zitrone» für die SVPDie politische Einmischung der Kinder kommt insbesondere bei der

SVP Stadt Luzern nicht gut an. Bei den einen heisst es, man habe auf derSuche nach Sparmöglichkeiten den Budgetposten des Kipa gefunden, denman als unnötig erachte. Andere haben sich über Postulate oder «SaureZitronen» geärgert. Letzteres ist der Negativpreis für Kinderunfreundlich-

keit, den das Kipa alljährlich zusammen mit dem positiven Preis, demLollipop, vergibt. Die Polizei hat ihn schon erhalten, weil sie aus Spar-gründen den Verkehrsunterricht reduzierte. Oder eben die SVP im Jahr1999, als Quittung für einen Vorstoss zur Abschaffung des Kipa. Das Kin-derparlament habe zwar «drfür und drwider», meint ein SVP-Vertreter,aber gewisse Entscheidungen seien für Erwachsene nicht nachvollzieh-bar und es scheine ihm, da seien die Kinder einfach schlecht geführt.

Genau das, die Steuerung von Entscheiden, sei eben nicht im Sinneder Institution Kipa, sagt Miriam Scammacca, die Leiterin des LuzernerKinderparlaments, bestimmt: «Ich zeige den Kindern manchmal auf,welche Konsequenzen etwas haben kann, aber die Entscheidungenüberlasse ich ihnen.» So kam es auch, dass die SVP die saure Zitrone2007 gleich zum zweiten Mal verliehen bekam, diesmal für die Schäf-

«Ich finde Budgets wichtig. Mir gefällt, dass man vieleIdeen einbringen und Geld für Sinnvolles einsetzen kann.»

Adrian («8¾»)

«Man kann den Clown machen, jonglieren, zaubern …» Schülerrätinnen werben für einen Beitrag an ihren Schulzirkus.

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chenkampagne. Scammacca liess für einmal doch deutlich durch -blicken, dass sie es für keine gute Idee hält, den Preis zweimal an dieseAdresse zu vergeben. Die Kipas blieben hart: In der Debatte wurde ar-gumentiert, dass ja der Grund ein anderer sei und der Preis zudem die-ses Mal nicht an die SVP Luzern, sondern an die SVP Schweiz ginge.

Zum Schluss der heutigen Session kommt ein Anliegen auf den Tisch,das ganz offensichtlich den Nerv der Kinderparlamentarier trifft. Aus derElefantenrunde, dem Gremium, das sich aus Vertretern aller Teams zu-sammensetzt, bringt Mara folgenden Antrag ein: «Letztes Jahr sagtenuns zwei Kinder, dass im Schulhaus Geissen-stein eine kaputte Rutsche nicht ersetzt wordenist. Wir haben die Stadtgärtnerei gefragt undsie sagten uns, sie könnten nichts machen,weil ihnen das Budget gekürzt worden sei. Wirfinden: Gute Spiel- und Pausenplätze sind besonders wichtig, die Stadtsollte dort nicht sparen.» Mara fordert die Kipas auf, in Sechsergruppendarüber zu diskutieren. Sofort kommt Bewegung in den Saal, einige ran-geln miteinander, der Lärmpegel steigt. Doch nach und nach finden dieGruppen zusammen und nach einer knappen Viertelstunde präsentiertje ein Vertreter die Ergebnisse. Die Voten sind eindeutig: Spielplätze sindwichtig, hier muss man sich für Kinderfreundlichkeit einsetzen. Der Ent-scheid für das Postulat fällt einstimmig. Damit macht das Kipa zumzwölften Mal in seiner knapp 20-jährigen Geschichte von diesem RechtGebrauch. Scammacca betont, dass die Kipas mit dem machtvollen In-strument des Postulats sparsam umgehen und es in der Regel erst in letz-ter Instanz einsetzen. Nach rund eineinhalb Stunden ist die heutige Ses-sion beendet und es geht hinauf in die VIP-Lounge zum grossen Oster-spiel, einem Postenlauf durch die Zuschauerränge des Stadions.

Kipa-Leiterin Scammacca, Gründer Mathis und Götti Federer sagenalle, dass in ihren Augen Kinder nicht grundsätzlich anders politisierenals Erwachsene. Mathis meint, sie seien weder konsensorientierter nochsozialer, «auch sie verfolgen eigene Interessen». Doch alle drei betonen,dass Kinder etwas spontaner politisieren, da sie noch nicht partei- undinteressengebunden sind wie die Erwachsenen. Scammacca erklärt,dass sie nicht über «Erwachsenenpolitik» debattieren, sondern über dieDinge, die in ihrem Alltag wichtig sind: Schulweg, Grünflächen, Verkehrusw. Dies ergebe zwar manchmal automatisch eine Nähe zu grünen An-

liegen, doch von ihren Ansichten her sei das ganze politische Spektrumvertreten – bis hin zur SVP. So kandidierte der ehemalige Kipa-Co-Prä-sident Vincenz Zinner letztes Jahr auf der Liste der Jungen SVP Luzernfür den Nationalrat.

Und die Pläne des aktuellen «Präsidentenpärchens»? Mara, seit derersten Klasse beim Kipa dabei, fünf Jahre lang Mitglied der Elefanten-runde und nun im zweiten Jahr Co-Präsidentin, meint, sie wolle «ehernicht» in der Politik bleiben: «Ich habe das Gefühl, dass es bei den Er-wachsenen völlig anders ist, dass es um andere Themen geht.» LiviosAntwort dagegen kommt wie aus der Pistole geschossen: «Ja, sicher, aufjeden Fall!» Für eine Partei hat er sich noch nicht entschieden, er weissnur, dass es keine linke sein wird: «Mir sind Themen wie Ökologie schonauch wichtig, aber einfach nicht so extrem.» Ob er Bundesrat werdenwolle? «Warum nicht? Auf jeden Fall etwas Hohes.» ■

«So muss ich den Mittwochnachmittag nicht vor demFernseher verbringen.» Jessica (10)

Einigkeit in der Gruppendiskussion: Für den Erhalt von Spielplätzen muss die Stadt Geld in die Hand nehmen.

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Social Media Wenn die NetzgemeindezwitschertFacebook und Twitter werden zu Kampfzonen der Informationsgesellschaft. Sekundenschnell verbreitensich Gerüchte via Social Media rund um die Welt. Damit werden Revolutionen gestartet, Wirtschaftskriegegeführt – und manchmal überholt das Internet die Wirklichkeit.

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VON CHRISTOF MOSER

Die Nachricht, die keine war, startete ihre Weltkarriere am 27. Fe-bruar 2011 und platzte mitten in die Unruhen im Mittelmeerraum. DerSicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte aufgrund der anhaltendenGewalt in Libyen gleichentags einstimmig Sanktionen gegen das Regimevon Muammar al-Gadhafi beschlossen. In Tunesien musste Minister-präsident Mohamed Ghannouchi nach heftigen Protesten gegen seineÜbergangsregierung zurücktreten. Wer als Diktator in diesen Tagennoch in Amt und Unwürden war, bekam es langsam mit der Angst zutun. Das war der fruchtbare Boden, auf den die angeblichen «BreakingNews» fielen, die in diesen Tagen seltsamste Blüten trieben.

Der saudische König Abdullah bin Abdul Aziz al-Saud wolle für 150Milliarden Dollar Facebook kaufen und das Social-Media-Portal dann so-gleich vom Netz nehmen, um Unruhen in seinem Land zu verhindern,zwitscherte die Website Dawnwire.com. Nicht ohne Hinweis, dass essich dabei um eine Jux-Meldung handle – was allerdings alle übersahen.Innert Stunden wurde die Nachricht 25000 Mal via Facebook geteilt,3000 Twitter-Nachrichten thematisierten die angebliche Konterrevolu-tion der Öl-Diktatur im persischen Golf. Als dann auch etablierte Me-dien in Ägypten, Libyen und Tunesien die Meldung prominent auf ihrenWebsites platzierten und selbst US-amerikanische Journalisten Face-book mit Anfragen eindeckten, sah sich der Google-Manager und in-zwischen weltweit bekannte ägyptische Revolutionsaktivist Wael Gho-nim, der hinter dem Jux steckte, genötigt, die Nachricht zu korrigieren.Auf Twitter schrieb er: «Einige Journalisten brauchen ernsthaften Nach-hilfeunterricht.»

Information als SchnellfeuerwaffeSelbst jene, die professionell mit Informationen umgehen, Journalis -

ten also, sind der wachsenden Informationsflut im Internet kaum nochgewachsen. Was ist Nachricht, was Gerücht? Via Facebook und Twitterverbreitet sich jede Meldung, ob wahr oder falsch, in Sekundenschnel-le rund um den Globus. Eher selten ist der Hin-weis, dass es sich bei einer Nachricht um einenJux handelt, in der Internetfachsprache «Ho-ax» genannt, dessen ungeprüfte Weiterverbrei-tung Journalisten dann gerne mit Zeitnot ent-schuldigen, die letztlich aber simpler Aus-druck von Unprofessionalität ist. Häufiger sindgezielte Desinformationen. Bewusst gestreute Falschmeldungen warenschon vor dem Internet Feinde des Journalismus. Neu ist jedoch derenrasante Verbreitung ohne Zutun etablierter Massenmedien. Dass auchmit Gerüchten in Social Media Politik gemacht werden kann, zeigte sichjüngst in einer Affäre, die den chinesischen Machtzirkel der kommunis -tischen Partei durchgewirbelt hat.

«Putschgerüchte: China verschärft Internetzensur», meldeten dieinternationalen Medien Ende März. Während dreier Tage konnten die300 Millionen Nutzer des Kurznachrichtendiensts «Weibo», die täglich200 Millionen Nachrichten durchs abgeschottete chinesische Internet ja-gen und immer mit staatlicher Zensur rechnen müssen, nur noch ein-geschränkt kommunizieren. «Weibo» ist die chinesische Konkurrenz zuTwitter, das in China ebenso wie Facebook und Youtube gesperrt ist, und«Weibo» ist noch mehr Nachrichtenkanal als sein westliches Pendant:Anders als in den auf 140 Zeichen beschränkten Twitter-Nachrichtenlässt sich mit den chinesischen Schriftzeichen bei «Weibo» drei- bis

sechsmal so viel schreiben. Umso aufmerksamer liest der Staat mit. Am27. März begannen die chinesischen Behörden damit, 210 000 «Weibo»-Tweets zu löschen, die verbreitet hatten, in der Hauptstadt Peking seienMilitärfahrzeuge aufgefahren. Von einem Putsch war die Rede. SechsPersonen wurden festgenommen, 41 Websites geschlossen. Ein Behör-denvertreter liess verlauten, die Gerüchte seien «bösartige Tumore». DieBlogger schlugen zurück: «Das Gerücht von gestern ist die Wahrheit vonheute.»

Mit Gerüchten 2.0 in den WirtschaftskriegHintergrund der Putschmeldungen war der Sturz des Spitzenpoliti-

kers Bo Xilai und der «dringende Mordverdacht» gegen dessen Frau, diein der rasanten Entwicklung der chinesischen Internetöffentlichkeit einneues Kapitel aufgeschlagen haben. Noch während die BehördenPutschgerüchte zensierten, sickerten auf «Weibo» plötzlich Details desMachtkampfs in der kommunistischen Führung durch, die allesamtden aufstrebenden Funktionär Xilai, der ein Gegenspieler des PremiersWen Jiabao ist, in ein schlechtes Licht rückten. Chinesische Bloggervermuten dahinter eine offensive Gegenstrategie der Behörden: Statt ei-nen letztlich aussichtslosen Kampf gegen die Putschgerüchte zu füh-ren, streut der Staat selber gezielt Indiskretionen. «Alles ist von offi-zieller Seite gesteuert», schreibt der bekannte chinesische Blogger Mi-chael Anti auf seiner Website. Die chinesische Führung zensiere dasInternet nicht nur, sie nutze es auch, um die öffentliche Meinung zu be-einflussen. Die Regierung eröffne dafür eigene «Weibo»-Konten und en-gagierte Firmen, zu deren Dienstleistung gehörte, Propaganda zu ver-breiten. «Wenn es in China mal ein Fenster der Meinungsfreiheit gibt,dann ist das Absicht», schreibt Anti. Wer heute im chinesischen Webnach dem abgesetzten Xilai sucht, stösst kaum auf Ergebnisse: Es gibtihn offiziell nicht mehr.

Auch in der Wirtschaft werden gezielte Falschmeldungen eingesetzt,und wie in der Politik können sie dank Social Media heute ungeahntesPotenzial entfalten. Gerüchte bewegen die Börsenkurse, entscheiden

über Gewinne oder Verluste – auch das war schon immer so. Als imSommer 2010 mitten in der Finanzkrise via SMS, Facebook und Twitterdas Gerücht gezwitschert wurde, «zuverlässige Quellen» würden be-richten, dass die Banco Comercial Portugês (BCP) kurz vor dem Zu-sammenbruch stehe und die Nationalbank eingreifen müsse, zeigtesich, wie schnell daraus im Internetzeitalter ernste Probleme entstehenkönnen. Der Börsenkurs des Finanzinstituts sackte ab, die Portugiesenbegannen, ihr Geld von den Konten abzuziehen. Das Gerücht war draufund dran, sich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu entwickeln.Die Bank reagierte mit einer Strafanzeige gegen Unbekannt, Finanzmi-nister Teixeira dos Santos bezeichnete die Streuung der Gerüchte als«kriminelle Handlung», die der Wirtschaft des Landes insgesamt Scha-den zufüge.

Welche Hebelkräfte sich im Internet in einer Wirtschaftswelt ent -wickeln können, in denen die Märkte sekundenschnell und höchst vo-latil auf Nachrichten reagieren, zeigt das Beispiel des US-Bloggers und

Am Morgen bloggt einer, die Bank of America brauche200 Milliarden, am Mittag bringt ein Finanzsender dieMeldung – und dann stürzen die Kurse ab.

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früheren Bankenanalysten Henry Blodget, der an einem Dienstagmor-gen im Sommer 2011 in seinem Blog die Nachricht verbreitete, die Bankof America brauche 200 Milliarden Dollar frisches Kapital, sonst droheder Kollaps. Am Mittag lief die Meldung bereits über den FinanzsenderBloomberg-TV. Die Aktienkurse stürzten ab, Spekulant Warren Buffettstieg als Retter ein, sorgte dafür, dass seine Finanzspritze publik wur-de – und verdiente damit am ersten Tag eine Milliarde. Die Bank hattedie Spekulationen vergeblich zurückgewiesen.

Internetexperten und Juristen stellen eine rasante Zunahme von so-genanntem «Wettbewerbs-Mobbing» im Internet fest, Meldungen also,die nur das Ziel haben, auf sozialen Netzwerken und Videoplattformenwie Youtube Konkurrenten zu schädigen. Eswerden diffamierende Gerüchte über die Pro-duktequalität gestreut, Facebook-Gruppen er-öffnet – alles mit der Absicht, unwahre und ge-schäftsschädigende Nachrichten zu verbreitenoder eben: abzukassieren. Banken sind be-sonders angreifbar, und kleine Firmen könnendamit ruiniert werden. Aber der Kapitalismus wäre nicht der Kapita-lismus, gäbe es nicht Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, Ge-rüchte zu streuen, und andere Firmen, die anbieten, sie zu bekämpfen.

In der GerüchtekücheIm Kampf gegen derartige Falschmeldungen ist der Grat zwischen be-

rechtigten und propagandistischen Gegenmassnahmen äusserst schmal.In der Schweiz sind Online-Trendmonitoring-Firmen, die im Auftrag ih-rer Kunden im Internet Gerüchte aufspüren und auch gleich bekämpfen,eine gerade erst entstehende Branche. Im englischen Sprachraum sind

sie bereits weit verbreitet. Gerne werden sie damit beauftragt, in Forenund Social-Media-Portalen berechtigte Klagen von Kunden nachträglichzu schönen oder Kritik von Natur- und Menschenrechtsorganisationenan problematischem Profitgebaren als Gerüchte zu diffamieren. Was istNachricht, was Gerücht, was Gegengerücht?

In der Welt des People-Journalismus, der über Stars und Sternchenberichtet, ist dieser Unterschied längst nicht mehr feststellbar. Vier Tagevor Weihnachten 2011 ging die Falschmeldung um die Welt, US-RockstarJon Bon Jovi sei gestorben. Als auch Medien über seinen Tod zu speku-lieren begannen, meldete sich der Sänger auf seiner Facebook-Seite miteinem Foto, das ihn vor einem Weihnachtsbaum zeigte. In den Händen

hielt er ein Schild, auf dem geschrieben stand: «Der Himmel hat einegrosse Ähnlichkeit mit New Jersey. Seid versichert: Jon lebt und es gehtihm gut.» Von der Wirklichkeit bestätigt wurde dagegen die Meldungdes US-amerikanischen Klatschportals TMZ.com zum Tod Michael Jack-sons. TMZ.com hat das Verbreiten von Gerüchten zu seinem Geschäfts-modell gemacht hat und bietet Informanten «Top-Honorare» für die neusten Geschichten. Im Falle von Michael Jackson führte dies dazu,dass die Welt exklusiv auf diesem Portal von dessen Tod erfuhr – Minu-ten, bevor der King of Pop offiziellen Angaben gemäss tatsächlich totwar. Manchmal ist das Internet schneller als die Wirklichkeit. ■

China zensiert das Internet nicht nur, sondernstreut über spezialisierte Propagandisten auchgezielt Gerüchte.

Dead or alive? Jon Bon Jovi wurde in Blogs für tot erklärt, erfreut sich aber bester Gesundheit.

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Exiltibeter Für die Freiheit derfremden HeimatRund 4000 Tibeter leben in der Schweiz, die jüngste Generation kennt ihr Heimatland meistnur aus Erzählungen. Dennoch wehren sich viele von ihnen gegen die Unterdrückung durchChina. Über Ostern trafen sie sich in Einsiedeln.

VON MANUELA DONATI (TEXT) UND ROLAND SOLDI (BILDER)

Die farbigen Gebetsfahnen flattern im Wind und heben sich deutlichvom verschneiten Grau des Osterwochenendes ab. Sie sind von Weitemsichtbar und das erste Anzeichen, dass sich die jungen Tibeter Europasin Einsiedeln treffen. Der in der Schweiz gegründete «Verein Tibeter Ju-

gend in Europa (VTJE)» hat zum zweiten Mal zum europäischen Ju-gendparlament der Tibeter gerufen – 120 junge Menschen zwischen 16und 40 Jahren sind aus der Schweiz, Frankreich, Norwegen und ande-ren europäischen Ländern angereist, um gemeinsam einen «action plan»zu verabschieden. Mit diesem wollen sie sich über nationale Grenzenhinaus gemeinsam für ein freies Tibet einsetzen.

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Eine von ihnen ist Norzin-Lhamo Dotschung. Die 24-jährige Jura-Stu-dentin aus dem aargauischen Turgi ist die Präsidentin des VTJE und lei-tet das Organisationskomitee des Jugendparlaments. Sie ist Schweiz-Ti-beterin der dritten Generation. Ihre Muttersprache ist Schweizer-deutsch, Tibetisch spricht sie nur rudimentär. Das Land, aus dem ihreGrosseltern flüchteten, kennt sie nur aus wenigen Erzählungen –Sprachbarrieren und schmerzliche Erinnerungen erschweren einen Aus-tausch. Um zu ihren Wurzeln zu finden, schrieb sie ihre Maturaarbeitüber die Flucht ihres Grossvaters. Dennoch, Norzin-Lhamo Dotschungspricht von einem starken Bezug zu Tibet. «Schon als kleines Kind ha-ben mir meine Eltern gesagt, dass wir uns im freien Westen für unsereLandsleute einsetzen müssen», sagt sie. Wie viele andere junge Tibeterbegleitete sie ihre Familie schon von Klein auf zu Demonstrationen undTibetertreffen – selbst im Verein aktiv zu wer-den, war der nächste logische Schritt. Norzin-Lhamo Dotschung findet: «Solange Tibet vonChina besetzt ist, solange China die Men-schenrechte verletzt, solange sollte sich jederTibeter für sein Land einsetzen.» Mit dieserMotivation widmet sie all ihre Freizeit, die ne-ben dem Studium und dem 20-Prozent-Job in einer Anwaltskanzleinoch bleibt, ihrem Ursprungsland: «Andere sind im Fussballklub, ichhabe den Tibeterverein.» Ausserdem stehen beim VTJE nicht nur Sit-zungen auf dem Programm, sondern auch viele soziale Aktivitäten wieBenefizkonzerte, Sportanlässe und ein Tibetischsprachkurs. Diese sol-len den jungen Tibetern in der Schweiz den Austausch und das Ken-nenlernen erleichtern – und gleichzeitig werden so auch Kultur und Tra-ditionen erhalten.

In den Gängen des Einsiedler Jugend-Bildungszentrums herrscht eifriges Gewusel: 120 junge Tibeter warten auf die nächste Plenumssit-zung. Viele tragen traditionelle Kleidung, die Männer ein Hemd aus fest-lichem Stoff oder eine Art Kuttenkleid, die Frauen eine farbige Bluse un-ter einem farbigen bodenlangen Schürzenrock. Dazu tragen sie ganzselbstverständlich lackierte Fingernägel, die neusten Smartphones so-wie modische Schuhe, Handtaschen und Frisuren. Gesprochen wird einGemisch aus Schweizerdeutsch, Tibetisch und Englisch.

Bestens vernetztWährend die meisten ihrer europäischen Freunde, Arbeits- und Stu-

dienkollegen das verlängerte Wochenende geniessen, vielleicht feiernoder einfach faulenzen, beschäftigen sich die jungen Tibeter mit ernsten

Themen. Zum Beispiel, wie an das 100-Jahr-Jubiläum der Unabhängig-keitserklärung des 13. Dalai Lama erinnert werden soll. Oder wie dieWahl des nächsten chinesischen Staatspräsidenten beeinflusst werdenkann. «Für uns ist das normal, Ostern an einem Tibeteranlass zu ver-bringen», sagt Rigzin Yangshuktsang, ebenfalls Vorstandsmitglied imVTJE. Diesen Termin infrage zu stellen, ist für sie kein Thema. Noch ei-nen Schritt weiter geht Pema Yoko: Die britische Tibeterin ist extra fürdas Jugendparlament aus London angereist. Für sie ist Einsiedeln «der

«China lässt keine unabhängigen Journalistennach Tibet einreisen. Doch auch in Tibet gibt esmittlerweile Internet und Smartphones.»

«Junge bringen neue Ideen.» Thubten Wangchen vom tibetischen Exilparlament.

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perfekte Ort, sich auszutauschen und zusammen multilaterale Strate-gien zu planen». Thubten Wangchen, Mitglied des tibetischen Parla-ments im Exil, freut sich über das grosse Engagement der jungen Gene-ration. Mit seiner Präsenz will er sie unterstützen und dem Jugendpar-lament einen offiziellen Charakter geben. «Die jungen Tibeter bringenneue Ideen. Es ist grossartig, wenn wir diese mit unseren Traditionenverbinden und uns so für unsere Heimat einsetzen können.»

In der Tat, an Ideen mangelt es den jungen Tibetern nicht. Dabei fälltbesonders auf, wie oft die Worte «Youtube», «Facebook» und «Twitter»fallen. Die junge Generation ist bestens vernetzt und nutzt die sozialenMedien, um in Kontakt zu bleiben und europaweite Kampagnen zu pla-nen. Da dem Internet keine Grenzen gesetzt sind, fällt nun auch derKontakt nach Tibet leichter. «China lässt keine unabhängigen Journali-sten nach Tibet einreisen. Früher war es deshalb schwieriger, an Infor-mationen zu kommen», sagt Norzin-Lhamo Dotschung: «Doch auch inTibet gibt es mittlerweile Internet und Smartphones.»

Osterschokolade im KörbchenGenauso wichtig wie das politische Networking ist der soziale

Aspekt des Jugendparlaments. So sind auch viele Tibeter der älterenGeneration nach Einsiedeln gekommen. Sie tauschen in der LobbyNeuig keiten aus – vom viel zu schnell erwachsen gewordenen Sohn biszu traurigen Geschehnissen aus Tibet – und sind stolz, dass sich ihreKinder um die Politik von Morgen kümmern. Manche von ihnen setzensich als Beobachter in die Plenumssitzung, andere lassen sich von ihremNachwuchs alles genau erzählen. Unter ihnen ist auch Lhakpa Sigrist.In einem typisch asiatischen, geflochtenen Körbchen hat sie Osterscho-kolade mitgebracht – ein weiteres kleines Zeichen, wie einfach die Ti-

Tibet und die Schweiz1950 wurde Tibet von China besetzt. Seitdem herrschen Willkür, Fol-ter sowie politische, religiöse und kulturelle Unterdrückung. 1959musste Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, nach Dharamsala in In-dien flüchten, wo seither der Sitz der tibetischen Exilregierung ist.1989 wurde der Dalai Lama für seinen gewaltlosen Widerstand mitdem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 2011 hat der Dalai Lama sei-ne politischen Kompetenzen der demokratisch gewählten Führung imExil übertragen. Er ist aber weiterhin das spirituelle Oberhaupt derTibeter.Die Schweiz war Anfang der 60er-Jahre eines der ersten westlichenLänder, das in grösserem Umfang tibetische Flüchtlinge aufnahm.Heute leben hierzulande rund 4000 Tibeter – die grösste tibetischeGemeinde in Europa. Viele von ihnen besitzen den Schweizer Pass.In Rikon im Kanton Zürich wurde 1968 das erste tibetische Kloster imWesten eröffnet. Der 1970 gegründete Verein Tibeter Jugend in Euro-pa (VTJE ) hat seinen Sitz in Zürich und zählt heute 400 Mitglieder.Er ist die grösste tibetische Jugendorganisation in Europa. Sie setztsich mit politischen Kampagnen, Aktionen und Debatten für ihre An-liegen ein. Auch Kontaktpflege und Erhaltung der tibetischen Spracheunter den Mitgliedern gehören zu ihren Zielen.

www.vtje.org

beter in zwei Welten leben können. In der Kaffeerunde mit ihren Freun-dinnen erzählt sie, wie viel es ihr bedeute, dass ihr 19-jähriger Sohn Chi-me am Jugendparlament teilnimmt. Bisher kam er eher selten an De-monstrationen und tibetische Anlässe mit und Lhakpa Sigrist wusste:«Das muss er selbst entscheiden, zwingen kann ich ihn nicht.» Dochnun will sich Chime Sigrist mehr für sein Land einsetzen, und das nichtnur, weil er sich immer mehr für Politik interessiert: «Die Selbstver-brennungen in Tibet haben mich schockiert», sagt er. «In Ägypten brachdie Revolution aus, nachdem sich ein Mann angezündet hatte. Dass sichin Tibet immer mehr Menschen das Leben nehmen und auf der politi-schen Ebene nichts passiert, ist tragisch.»

Grosses Thema SelbstverbrennungenDie vielen Selbstverbrennungen sind für viele Tibeter im Exil ein

grosses Thema. Seit 2009 haben sich mehr als 30 Personen auf dieseWeise das Leben genommen – ein letzter verzweifelter Protest gegendie Unterdrückung durch China. Friedliche Proteste der Tibeter würdenvon den Chinesen mit Gewalt beendet, die Lage sei ähnlich angespanntwie vor den Olympischen Spielen 2008, erzählt Norzin-Lhamo Dot-schung. «Die Selbstverbrennungen sind ein Zeichen dafür, dass derinternationale Druck auf China erhöht werden muss und dass die chi-nesische Regierung ihre Tibet-Politik ändern muss.» So tragisch dieSelbstverbrennungen sind, sie zeigen, wie existenziell das Thema im-mer noch ist: «Es waren vor allem junge Leute, die sich auf diese Weisegeopfert haben. Das beweist, dass auch die Generation der jungen Tibeter in China, die nur die Herrschaft der Chinesen kennt, weiter fürein freies Tibet kämpfen will.»

Sonntagabend, 18 Uhr. Das offizielle Programm des Jugendparla-ments ist vorbei. Norzin-Lhamo Dotschung hat eben die letzten Worteder Abschlussrede gesprochen. Bevor alle wieder in verschiedene Teileder Schweiz und Europas aufbrechen, wird gemeinsam gegessen undauch ein bisschen gefeiert. Norzin-Lhamo Dotschung ist erschöpft, aberzufrieden. Sie freut sich auf den freien Ostermontag. Doch lange ruhenwird sie nicht. Sie wurde von ihren Vereinsmitgliedern für eine neueAmtsperiode gewählt: In den nächsten zwei Jahren ist sie die Vizeprä-sidentin des VTJE. Und für die vielen kleinen Schritte in Richtung freiesTibet braucht es viele kleine und grosse Taten, die geplant, organisiertund durchgeführt werden wollen. ■

Tibeterverein statt Fussballklub: Norzin-Lhamo Dotschung.

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Clubsterben Gute Nacht, NachtlebenBars und Clubs in den Städten kommen immer mehr unter Druck. Auf der einen Seite stehtdas Partyvolk, auf der anderen klagen Anwohner über Dreck und Lärm. Und parallel zu denNutzungskonflikten verdrängt der Kommerz zunehmend die Kultur.

VON RAHEL BUCHER

Seit letztem Sommer ist in Bern der Begriff Clubsterben in aller Mun-de. Damals drohte der Musikclub Sous-Soul seine Türen zu schliessen –zermürbt vom Clinch mit Behörden und einzelnen Anwohnern. Ende2011 ging der Traditionsclub dann tatsächlich zu. Ein Eklat, aber dochnur ein erstes Ausrufezeichen in der laufenden Auseinandersetzung umNachtleben und Clubkultur.

Im Berner Nachtleben brodelt es schon lange. Das Zusammenspielvon Anwohnern, Clubs und Partygängern ist alles andere als harmo-nisch. Vor allem in der Innenstadt kommt es zunehmend zu Konflikten.Auch beim Wasserwerk-Club im Berner Mattequartier haben Lärmbe-schwerden von Anwohnern zur Senkung der Lärmgrenzwerte geführt –auf eine Lautstärke, die laut Clubbetreibern keinen Konzertbetriebmehr ermöglicht. Auch sind die Behörden bei der Erteilung von Bewil-ligungen für verlängerte Öffnungszeiten und Fumoirs strikter gewor-

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den. Das bekamen etwa die Veranstalter der Partys im Kornhausforumzu spüren.

Der Hauptkonflikt liegt in den unterschiedlichen Interessen von Club-betreibern und Partygängern auf der einen und von Anwohnern auf deranderen Seite. Auf der Pinwand der Facebook-Initiative «Figg di FrouMüller», welche sich als Reaktion auf die Entwicklungen in Bern gebildethat, heisst es über die Clubgegner: «Sie ziehen in die Stadt, in die urba-nen Zentren. Sie ziehen neben deine Lieblingsbar, neben deinen Lieb-lingsclub, neben das Konzertlokal, wo immer die geilsten Bands spielen.Schon bald beginnen sie damit, sich zu beschweren. (…) Und weil dieEntscheidungsträger in den Behörden eben auch Meier, Bigler, usw. heis-sen, bekommen die Kläger recht! (…)» Das Statement zeigt: Die Ent-scheidungen der Behörden werden als einseitig wahrgenommen: für dieAnwohner und gegen die Kulturplattformen. Beim Sous-Soul reichte dieKlage einer einzigen Anwohnerin, dass es sichim Club ausgetanzt hatte. Ähnliche Erfahrun-gen musste der Club Bonsoir machen. DieLärmklage wurde dort auch dann noch weiter-verfolgt, als der betroffene Kläger und Anwoh-ner längst aus der Liegenschaft ausgezogen war. Berner Clubbetreiberkritisieren die Bewilligungspraxis der Behörden als willkürlich und un-durchsichtig. «Am schwierigsten ist für die Clubs die Rechtsunsicherheit.Insbesondere wenn es um die Lärmproblematik geht, fehlt es an klarenRichtlinien», sagt Diego Dahinden, Betreiber des Kapitel, einem Restau-rant-Club, der erst Ende letztes Jahr seine Türen öffnete und damit einGegenbeispiel zum Clubsterben darstellt.

Zwischen Museum und HalligalliDie Politik wehrt sich gegen die Vorwürfe. Der Berner Gemeinderat

Reto Nause (CVP) rechtfertigte das behördliche Vorgehen in einemInterview der Zeitung «Der Bund»: «Das Umweltrecht hält fest, dass je-der Anwohner ein Lärmbeschwerderecht hat. Ob er sich über Kir-chenglocken beschwert oder zu laute Musik, spielt keine Rolle.» DasAnliegen einer lebendigen Club- und Barlandschaft in der Innenstadtwird auch von Jungparteien unterstützt. So schlossen sich junge Poli-tiker von links bis rechts im Verein Nachtleben Bern zusammen undverlangten vom Gemeinderat ein «klares Bekenntnis zu einem haupt-stadtwürdigen, attraktiven Nachtleben». Anfang Dezember 2011 wur-de schliesslich die Petition «Pro Nachtleben Bern» – mit über 10 000Unterschriften – eingereicht. Sie fordert von der Stadt «transparenteRahmenbedingungen und klar definierte Auflagen». Im Stadtrat (demBerner Parlament) sind die Interessenkonflikte zwischen Anwohner-schaft und Partygängern schon seit Längerem ein Thema. Er diskutiertnun seit bald zwei Jahren über ein «Konzept Nightlife». Darin sollenunter anderem bestimmte Zonen und vor allem eindeutige Rahmen-bedingungen für das Nachtleben benannt werden. Doch der Gemeinde-rat, also die Regierung, gibt sich zögerlich. Stadtpräsident AlexanderTschäppät (SP) vertritt die Haltung, dass ein Konzept die konkretenProbleme der einzelnen Nachtlokale nicht lösen könne. GemeinderatReto Nause dagegen sieht insbesondere aus stadtplanerischer SichtHandlungsbedarf: «Wir prüfen derzeit, ob es möglich ist, den Ausgangin Berns Stadtplanung einzubeziehen: Denkbar sind Gewerbezonennach dem Vorbild des Bahnhofs oder des Wankdorfs, in denen Clubsrelativ ungestört und wenig störend wirtschaften können.» Mit diesemVorschlag kann Diego Dahinden nicht besonders viel anfangen. «Damitwürde man eher Halligalli- und Trinkzonen im Stile der Aarbergergas-se (berüchtigte Ausgehmeile in der Altstadt, Red.) schaffen», befürch-tet er. Viel wichtiger findet er, dass die Innenstadt als Ganzes lebendigbleibt und nicht zu einer Shoppingmeile oder zu einem Museum verkommt.

Nutzungskonflikte zwischen Partygängern und Anwohnern gibt esnicht nur in Bern. In St. Gallen etwa kämpft der Kugl Club ums Überle-ben und in Zürich steht der Club Abart, in dem vor allem Konzerte statt-

finden, kurz vor dem Aus. Während in St. Gallen ein Konflikt zwischenNachbarschaft und Nachtschwärmern schwelt, steht hinter der Schlies-sung des Abart ein weiterer Grund für die Verdrängung des Nachtlebensaus den Stadtzentren: die Gentrifizierung, die Aufwertung von einst ver-nachlässigten oder industriell genutzten Stadtteilen. So fällt das Abartder Aufwertung rund um das Einkaufs zentrum Sihlcity zum Opfer. Ne-ben dem Club wird ein neuer Wohn- und Büroblock für eine kaufkräf -tige Kundschaft eröffnet. Auch Petzi, der Verband Schweizer Musik-clubs, hat sich in die Diskussion eingeschaltet. Ende 2011 hiess es in einer Medienmitteilung: «Wir plädieren nicht für ein bedingungslosesClubleben in der Stadt, sondern für ein friedliches Nebeneinander vonKultur, Wohnen und Arbeit. Hierzu ist es notwendig, dass die Clubkul-tur als wichtiges Puzzleteil in der Entwicklung der urbanen Gegendenakzeptiert und gefördert und nicht wie jetzt an den Rand gedrängt

wird.» An der Branchenmesse «M4Music» präsentierte Petzi Ende Märzdie Dis kussion «Clubsterben oder alles Schall und Rauch». Wortmel-dungen aus dem Publikum machten klar: Um einen Club nachbar-schaftsverträglich zu gestalten, muss für den Lärmschutz richtig Geld indie Hand genommen werden.

Die Clubkultur ist ihrer Natur gemäss in stetem Wandel. Was heuteder letzte Schrei ist, kann morgen schon passé sein. Manche Lokalemüssen schliessen, andere eröffnen neu, so wie das Kapitel in Bern.Müsste also statt von Clubsterben nicht eher von einer Veränderung derClubkultur gesprochen werden? Denn neben klagenden Nachbarn gibtes eine weitere, oft weniger beachtete Tendenz, die die Clubkultur be-droht. Der Kommerz. Diego Dahinden: «Mit der Aufwertung der Stadt-zentren geht eine Kommerzialisierung der Clubs einher. AlternativeProjekte haben es dadurch immer schwieriger.» Noch deutlicher sagt esOliver Zemp, Besitzer des Abart: «Von Clubsterben kann keine Redesein. Es geht viel zu, es geht viel auf.» Doch auch er spricht davon, dassalternative Clubs aufgrund der Kommerzialisierung und des Einheits-breis in der Clublandschaft zugrunde gehen.

Gesucht: Freiraum in der InnenstadtEine Reaktion auf diese Veränderungen sind die illegalen Partys, wel-

che in den letzten Jahren zugenommen haben. Sie zeigen, dass auf-grund der zunehmenden Regulierung das Bedürfnis nach Freiräumensteigt. Gerade der Partybereich macht deutlich: Je mehr Druck entsteht,desto stärker wird der Rückzug in den unkontrollierbaren Freiraum. InZürich gipfelte die Forderung nach Freiräumen im vergangenen Spät-sommer in Krawallen in der Innenstadt. Kürzlich haben die Zürcher Be-hörden darauf reagiert und eine sogenannte «Jugendbewilligung» lan-ciert. Damit sollen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahrenniederschwellig an eine Bewilligung rankommen und legal feiern kön-nen. Diego Dahinden sieht das nicht als ideale Lösung, sondern viel-mehr als Strategie oder «gute Marketingkampagne für Zürich». Denn mitder vermeintlich liberalen Bewilligungspraxis werde eine noch klarereTrennung von legalen und illegalen Partys und Veranstaltungen ge-schaffen. «Alle Veranstaltungen, die nicht regelkonform ablaufen, wer-den dadurch noch stärker kriminalisiert», sagt er.

Wahrscheinlich kann man das Bedürfnis nach Freiraum nie umfas-send befriedigen. Denn hinter jeder behördlichen Erlaubnis steht letzt-lich ein Kontrollsystem, das dem Freiraum seinen Charakter raubt. Da-bei besteht zwischen Konsumclubs ohne Anspruch und unbewilligtenPartys am Waldrand ein weites Feld, das als Freiraum genutzt werdenkönnte. Doch dafür bräuchte es statt Geld und Vorschriften Fantasie undeinen Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren des städtischenRaumes. ■

Je mehr die Partyszene unter Druck gerät, desto stärkerwird der Rückzug in den unkontrollierbaren Freiraum.

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laute Zahnlücke den Kopf. «Zeig mal her», leseich parallel. «Fische, das geht auch.» «Aber Fi-sche können gar nicht kochen!» «Aber sie fres-sen kleine Zahnlücken», knurre ich. «Dasweiss doch jeder. Warum gehst du nicht insMeer? Das Wasser ist toll!» «Ich will aber nichtins Wasser!» «Okay dann bauen wir eine Sand-burg.» «Nein!» «Gut, worüber willst du sonstreden?», gebe ich mein Buch nun auf. «Weissnicht, über die Ratte?», schlägt die kleineZahnlücke vor. «Warum Menschen sterben»,entscheide ich. «Das machen wir doch imnächsten Jahr!» «Das ist eigentlich wie Rata-touille.»

«Wie wars am Strand?», will meine Freun-din Marie später wissen. «Die psychologischwertvollen Themen haben wir durch», sehe ichmüde zur Zahnlücke. «Ja, und morgen sterbeich mit dem Föhn und der toten Frau wie einPomme frite!»

DELIA LENOIR

[email protected]

ILLUSTRATION: IRENE MEIER

([email protected])

Kürzlich am Strand. «Ratten kochen nicht!»,baut sich eine vorlaute Zahnlücke vor mir auf.«Warum denn nicht?», ramme ich den Sonnen-schirm in den Sand: «Ratten können viele Din-ge.» «Aber nicht kochen!» «Okay, dann Sand-wiches schmieren?», überlege ich. «Nein!»«Häschen, das ist ein Trickfilm, okay? Da kön-nen Ratten eben kochen.» «Meine Mutter sagt,Ratatouille ist was zum Essen!» «Hilfst du mirmal mit dem Sonnenschirm?», versuche ich esmit Ruhe und Frieden.

«Meine Mutter kocht besser!», fläzt sich dieZahnlücke auf ihr Handtuch. «Das weiss ichsogar ganz genau!» «Sie kocht fantastisch», öff-ne ich mein Buch. «Mindestens so gut wie die-se Ratte.» «Aber das steht nicht auf ihrer Lis -te!», wedelt die Zahnlücke mit einem Zettel.«Sind das die Themen, über die wir reden dür-fen?», greife ich danach. «Dann lass mal sehn.

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Le mot noirRatatouille

Ratatouille! Alles im grünen Bereich!», sinkeich wieder in mein Buch. «Warum sterbenMenschen eigentlich?», will die Zahnlückeweiter wissen. «Ich bin sicher, dieses Themabehandeln wir nächstes Jahr», wedle ich ab-wesend mit der Hand. «Aber wir können überdie toten Elefanten reden, wenn du willst?»«Nicht schon wieder. Was liest du denn da?»,lässt die Zahnlücke nicht locker. «Einen Krimi:Mord und ziemlich spannend.» «Wo sie Frauenin Stücke sägen?» «Und die Teile dann frittie-ren, ja», versuche ich zu lesen. «Sie frittierensie, wie die Pommes frites?» «Mhm.» «Tut dasnicht weh?» «Mhm, vorher ist es schlimmer.»«Wenn sie sie schneiden, meinst du!» «Mit derAxt zerhacken oder einen Föhn in die volle Ba-dewanne werfen.» «Axt steht da nicht drauf»,sucht die Zahnlücke mit dem Finger die Listeab. «Unter dem Stichwort Krimi vielleicht?»,frage ich. «Nein.» «Dann Ratatouille!» «Das istda drauf.» «Alles bestens», lese ich weiter.

«Willst du nicht schwimmen gehen?»«Nein.» «Vielleicht begegnest du dem WeissenHai?» «Ist das was Gutes?» «Unbedingt», macheich auf optimistisch. «Nicht viele haben denbisher überlebt. Du könntest einer von ihnensein.» «Bin ich dann ein Pomme frite?», bleibtdie Zahnlücke skeptisch. «Nur, wenn du denFöhn mitnimmst.» «Aber wir haben keinenFöhn da, oder?» «Wir packen ihn morgen ein»,lese ich. «Das heisst, wenn er auf der Listesteht.» «Nein, da ist kein F», schüttelt die vor-

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Sonic TracesWie tönt die Schweiz?

VON SARAH STÄHLI

Was bedeutet es heute, Musiker in der Schweiz zu sein? Wie wichtigist die lokale Verankerung? Der Berner Musiker und Labelbetreiber Re-verend Beat-Man beantwortet diese Fragen so: «Wir Schweizer sind einraues Bergvolk. Und wir müssen sehr gut sein, um die Leute dort untenin den Städten zu beeindrucken. Diesen Kampfinstinkt habe ich in mir:Ich komme aus einer kleinen Stadt und werde euch etwas zeigen, dasihr noch nie gehört habt», so der «Voodoo-Rhythm»-Trash-Blueser.

Beat-Man ist einer von rund 40 Porträtierten, die im Projekt «SonicTraces: From Switzerland» des Berner Musik- und Kulturvermittlungs-netzwerks Norient zu Wort kommen. Die «akustischen Loipen derSchweiz» führten den Musikethnologen Thomas Burkhalter, den Video-künstler Michael Spahr und den Musikproduzenten Simon Grab zurückin ihre Heimat – nachdem sie in ihrem Projekt «Sonic Traces: From theArab World» nach neuer Musik im Nahen Osten geforscht und Musikerzu ihrer Verfassung in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung be-fragt hatten. «Jetzt übertragen wir diese Fragestellung auf die Schweizund überprüfen damit gleichzeitig unserer Arbeitsweise», so Burkhalter.

In Performances vermengen die drei Norient-Netzwerker die Füllean Interviews, Sounds, Filmaufnahmen und Visuals jeden Abend neulive zu einer audiovisuellen Fallstudie: «Das Resultat ist eine Art Live-Dokumentarfilm,» umschreibt es Grab. Die Performances sind jedochnur ein Teil des interdisziplinären Projekts. Online soll fortlaufend einKatalog von Porträts Schweizer Musiker entstehen, zudem sind Pod-casts und Sendungen auf dem alternativen Berner Lokalradio RaBe inPlanung.

Auf ihrer Reise durch den Schweizer Musikdschungel besuchtenBurkhalter, Spahr und Grab verschwitzte Clubs genauso wie das Eidge-nössische Jodlerfest in Interlaken oder die Zürcher Tonhalle. Und holtenneben dem DJ Bit-Tuner und den elektronischen KammermusikantenTim & Puma Mimi auch den Komponisten Ruedi Häusermann oderWebstuhl-Musikerin Stini Arn vor die Kamera. «Bei der Auswahl derporträtierten Musiker und ihrer Musik haben wir versucht, Perlen ausallen Genres der letzten zehn Jahre herauszupicken,» sagt Burkhalter.Ein facettenreicher Einblick in die Befindlichkeit Schweizer Musikschaf-fender: Der experimentelle Appenzeller Jodler Noldi Alder befürchteteine «Touristisierung» der Volksmusik, der Zürcher Soundtüftler undSchlagzeuger Simon Berz empört sich über die ungerechte Verteilungder Fördergelder – «Was das Opernhaus für Förderung erhält und wasexperimentelle Musik erhält, steht in keinem Verhältnis» – während Cyrill Schläpfer, Regisseur des Musikfilms «UR-Musig», den Klang einerKuhglocke in den Bergen jederzeit einem künstlich fabrizierten Klangvorzieht.

«Fragen zur schweizerischen Identität als Musiker wurden nicht sel-ten erst mal energisch abgelehnt», so Burkhalter: «Die meisten Musikersehen sich in erster Linie als Musiker und nicht als Schweizer Musiker.Und das Ziel ist so oder so, auch international erfolgreich zu sein.» No-rient, dass sei immer auch ein Abenteuer, betont Spahr: «Unsere Exkur-sionen stecken voller Überraschungen: Dann sitzt man plötzlich in derAgglo beim zehnten Kafi fertig mit dem Schwyzerörgeliquartett Mosi-buebä», erinnert sich der Videokünstler. «Volksmusik war mir langefremd. Ich fühlte mich manchem Musiker aus dem arabischen Raum nä-her als einem Jodler aus der Schweiz.» Die Vielseitigkeit der SchweizerVolksmusik sei dann auch eine der grössten Überraschungen gewesen.Interessant sei auch gewesen, dass sich die meisten Volksmusiker alsHobbymusiker bezeichneten: «An erster Stelle nannten sie immer ihrengelernten Beruf und dann erst die Musik.» Andreas Ryser, Kopf desElektroduos Filewile, hingegen beklagt sich, dass er vom Steueramt so-eben zum Hobbymusiker degradiert wurde. Zu Wort kommen auch Mu-siker mit Migrationshintergrund.

«Wir wollen mit Sonic Traces weder Werbung machen noch in dieSwissness-Ecke gedrängt werden», sagt Grab. «Im besten Fall wollen wirKlischees dekonstruieren und vor allem die Musik sprechen lassen.» Eineindeutiges Klangbild der Schweiz lasse sich erst recht nicht finden:«Und wenn, dann ein ausgefranstes, eines, das lottert, aber ein sehr dy-namisches.» ■

Live-Daten: www.norient.com

Perlen aus allen Genres: Sonic Traces sammelt Schweizer Klänge.

Drei Berner durchforsten im Projekt «Sonic Traces: From Switzerland» den Schweizer Musikdschungel – undspüren Blues-Prediger, Jodler und den faszinierenden Klang der Kuhglocke auf.

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Kulturtipps

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BuchRadlerlatein

In 50 Cartoons spürt der Zeichner Christophe Badoux mit Au-genzwinkern den Freuden und Nöten der Generation Bike nach.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Wer glaubt, das Glück der Erde liege auf dem Rücken der Pferde, hat ei-ne wesentliche technische Entwicklung verschlafen. Denn längst hat dermoderne Mensch Abschied von den Pferdestärken genommen (wennauch nicht von den PS), sich auf die eigene Muskelkraft besonnen unddem Drahtesel verschrieben. Immerhin: Der Sattel ist geblieben und ver-eint so das Paradies der Vergangenheit mit dem Nirwana der Gegenwart.Einer, der sich mit kenntnisreichem Blick der Generation Bike widmet,ist der Cartoonist Christophe Badoux. Seit 2004 hält er seine Eindrückeund Erkenntnisse im Schweizer Velojournal zeichnerisch fest, mit kla-ren Linien, die sich am Stil des belgischen Comicmeisters Hergé orien-tieren. Dabei gelingt es Badoux, in ein bis maximal vier Bildern Kurz-und Kürzestgeschichten zu erzählen, die nicht nur schräg und witzig,sondern auch erhellend sind. Badoux hat ein feines Gespür für die Nöte und zugleich den Aberwitzder radelnden Bevölkerung, die er mit Augenzwinkern auf Rahmen undFelgen prüft: zerknautschte und zum Kunstobjekt mutierte Sturzvelos,Hightechbikes mit einer Batterie in der Grösse eines Einfamilienhauses,Falträder, die in die Hosentasche passen, oder Kinder auf Holzlaufrol-lern, die auf der «Tour de bébé» den «Windelschatten» suchen. Höhe-punkte bietet auch die humorvolle «Geschichte des Fahrrads». Da hatGottvater Zeus eine Affäre mit einer Velo-Kentaurin, das Steinzeitgeniescheitert an der noch fehlenden Erfindung des Rades, Hannibals Ele-fanten rollen auf Zweirädern über die Alpen und das berühmte «Hous-ton, we have a problem!» bekommt beim Aufpumpen des Moonbikes ei-ne ganz neue Bedeutung.Zu Beginn liefert Badoux für alle patriotischen RadlerInnen noch gleichdas passende Equipment: So hat etwa das helvetische Velo ein gelüfte-tes Bankgeheimnis im Pneu, das deutsche Fahrrad eine Hartz-4-Gang-schaltung, das französische Bicyclette eine zentralistische Achse, dasösterreichische Radl eine Mozart-Klingel und das englische Bicycle eininseltaugliches Nebelrücklicht. Solches und mehr hat Badoux nun in einem Büchlein zusammengefasst,bestes Radlerlatein, das allen VelölerInnen ans Herz gelegt sei – nichtnur, wenn die Speichen blank liegen.Christophe Badoux: «Per Fahrrad durch die Galaxis.»

Edition Moderne 2012. 18.00 CHF.

DVDWurzelsuche im Mückenschwarm

Ein französischer Arzt gerät in den Sog einer Entwicklungshilfeabsurder Art, die immer mythischere Dimensionen annimmt.

VON PATRICK BÜHLER

Der deutsche Arzt Dr. Ebbo (Pierre Bokma) leitet ein Schlafkrankheits-projekt in Afrika. Dafür bekommt er Gelder von der europäischenUnion. Seine Frau (Jenny Schily) hat genug von den Jahren in Afrikaund zieht mit ihrer Tochter zurück nach Deutschland. Ebbo bleibt zu-rück und entscheidet sich gegen Ehe, Familie und sein Heimatland, wel-ches ihm fremd geworden ist. Jahre später soll ein junger französischerArzt (Jean-Christophe Folly) mit kongolesischen Wurzeln das Entwick-lungsprojekt von Ebbo evaluieren und versucht, in Kontakt mit ihm zutreten. Mit existenziellen Folgen für beide.Was macht der afrikanische Kontinent aus Menschen, welche aus einemeuropäischen Kulturkreis kommen und aus unterschiedlichen Motivenmehr oder weniger eigennützig helfen wollen? Dieser Frage geht UlrichKöhlers («Montag kommen die Fenster») Film in unaufgeregten-ruhigenBildern nach. So stösst auch der junge französische Arzt an die Grenzenseiner physischen Belastbarkeit durch Krankheit, Hitze und Mücken -schwärme; er muss sich schlussendlich fragen, ob das Land, wo seineWurzeln sind, ihm nicht zu fremd ist, um sich dort zurechtzufinden. Dass gerade ein einziger Patient von der ominösen Schlafkrankheit be-fallen ist, macht die Evaluation des Entwicklungsprojekts unbedeutend.Der Rest dreht sich um die medizinische Vorsorge, damit ein absurdesGesundheitsprojekt am Laufen gehalten wird. Ebbo versucht sich seitJahren mithilfe von europäischen Entwicklungshilfegeldern ganz derafrikanischen Lebensweise zu verschreiben und Wurzeln zu schlagen.Er hat nach der Trennung von seiner Familie nun eine afrikanische Fraumit Kind und versteht sich mit deren Verwandten trotzdem nicht sorecht. In letzter Konsequenz bleibt nebst der Abreise zurück RichtungEuropa nur eine radikale Transformation, die eine mythische Dimensionannimmt und dem Film ein grandioses Ende beschert.«Schlafkrankheit» wurde in Berlin 2011 mit dem Silbernen Bären für diebeste Regie ausgezeichnet, lief in der Schweiz aber nie im Kino. EinSchicksal, das er mit vielen Festivalerfolgen teilt.Ulrich Köhler: «Schlafkrankheit» (Deutschland/Frankreich/Niederlande 2011),

mit Pierre Bokma, Jean-Christophe Folly, Hippolyte Girardot u. a., OV und Deutsch,

deutsche Untertitel, Extras: Interview mit Ulrich Köhler

www.schlafkrankheit-derfilm.de

Ein Blick in die deutsche Mittelstandsseele. Von Kamerun aus.Da hat wohl ein Ausserirdischer die Luft abgelassen.B

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Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

werden?

Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

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Grenzenlos GmbH, Binningen

projectway GmbH, Köniz

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Velo-Oase Bestgen, Baar

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Otterbach

fast4meter, storytelling, Bern

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Brockenstube des Reformierten Frauenvereins

Aesch-Pfeffingen

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

Migros Zürich, Kulturprozent

Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

Weingut Rütihof, Uerikon

AnyWeb AG, Zürich

Niederer, Kraft & Frey, Zürich

Musikschule archemusia, Basel

Paulus-Akademie Zürich

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Thommen ASIC-Design, Zürich

BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

homegate AG, Adliswil

ratatat – freies Kreativteam

Kaiser Software GmbH, Bern

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AusstellungTür zum Universum

Zwölf Künstlerinnen öffnen für das Projekt «Die Zwölfen» nach-einander ihre Haustüren. Gut gehütete Privatsphäre verwandeltsich temporär in öffentlichen Kunstraum.

VON MONIKA BETTSCHEN

Wer die Tür zu einer Wohnung durchschreitet, betritt mehr als eine An-sammlung funktionaler Räume. Möbel, Bilder und Haushaltsgegenstän-de bilden einen ganz eigenen Kosmos, in dem Häuslichkeit immer wie-der neu definiert wird. Einblick in zwölf solche Wohnwelten gewährtdas Kunstprojekt «Die Zwölfen» seit Anfang Jahr im Grossraum Bern. Je-weils am ersten Sonntag eines Monats öffnet eine von zwölf Künstle-rinnen ihre Privaträume und zeigt ihre persönliche Interpretation desBegriffs «Wohnen». Am Projekt sind ausschliesslich Frauen beteiligt. «Beim Thema Wohnentreten Frauen besonders stark als Gestalterinnen hervor», begründet Ini -tiantin Cécile Keller diesen Ansatz. In den unterschiedlichen Positionenwird ein kunstvolles, monumentales Eintauchen in verschiedene Le-bensentwürfe ermöglicht. Abseits der etablierten Kunsträume mutierendie Wohnungen zu Offspaces, in denen die Besucher ihre eigenen Vor-stellungen des Begriffs Zuhause hinterfragen können. «Die Objekte in ei-ner Wohnung erzeugen eine spezielle Stimmung und die Wechselwir-kung zwischen ihnen und der Bewohnerin ist besonders spannend», soKeller. Für sie als ehemalige Tänzerin ist die künstlerische Ausein-andersetzung mit raumgreifenden Figuren zentral. «Wohnungen sindkeine neutralen Rückzugsorte, sondern gestaltbare Räume», findet Cé-cile Keller. In den Monaten Mai und Juni öffnen Rosmarie Reber und Barbara Thü-ler ihre Türen. «Eine wichtige Frage bei diesem Projekt ist, wie viel ichin meinem Zuhause von mir preisgeben möchte», sagt Reber. Sie wirdim Juni mit «Dimensioni nuovi» Objekte und eine Installations-Perfor-mance zeigen, in denen ihre Faszination für Fäden und dünne Gegen-stände wie Spaghetti oder Zahnstocher spielerisch zum Ausdruckkommt. Barbara Thüler, die ihre Besucher Anfang Mai empfängt, the-matisiert die zunehmende Durchlässigkeit des eigenen Heims für Arbeitund Pflichten. Ihre Installation «Heimarbeit» besteht aus To-do-Listen,die den täglichen Kampf gegen Pendenzen veranschaulichen.6. Mai: Barbara Thüler, Tessenbergstrasse 29, 2505 Biel, 12 Uhr bis 24 Uhr.

3. Juni: Rosmarie Reber, Allmendstrasse 14, 3014 Bern, 12 Uhr bis 24 Uhr.

Weitere Auskünfte zu allen Daten und Ausstellungsorten erteilt Cécile Keller:

Tel.: 031 372 44 18, [email protected].

Nahrhaftes Nisten zwischen Kulturgütern.

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Ausgehtipps

Der Tod spielt Golf.

BaselArbeitsloser Sense-mann

Ob durch Kriege oder Umweltverschmutzung –der Mensch hat dem Tod die Arbeit abgenom-men. Was der Gevatter jetzt tut in seiner freienZeit? Martial Leiter weiss die Antwort: Der Todspielt Golf, und nebenher ist er auf Friedens-mission, denn sein Job hat ihm Spass gemacht,und er hätte ihn gerne zurück. Das Cartoon-museum Basel lädt zur Werkschau des Lau-sanner Zeichners, der seit 1974 das politischeGeschehen in Zeitungen wie der «Neuen Zür-cher Zeitung», der «Weltwoche» oder der «Wo-chenzeitung» bildlich kommentiert und auchals freier Künstler internationale Anerkennungerlangt hat. Ein grossformatiger, zeitgenössi-scher Totentanz, der eigens für das Museumgeschaffen wurde, gibt einen Einblick ins ak-tuelle Schaffen des eigenwilligen und politischengagierten Zeichners. (mek) «Martial Leiter. Totentanz und Weltenlauf – satirische

Zeichnungen», noch bis zum 17. Juni zu sehen im

Cartoonmuseum Basel. www.cartoonmuseum.ch

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Interpretierte Tradition: Corin Curschellas.

Auf TourFolk auf rumantsch

Seit Jahren schon widmet sich ein überschau-bares Grüppchen Schweizer Musiker der Er-kundung und Neuinterpretation traditionellenLiedgutes. Zu den profiliertesten Sängerinnendieses Genres zählt die Bündnerin Corin Cur-schellas. Auf «La Grischa» interpretiert sie be-reits zum dritten Mal rätoromanische Volkslie-der. Gemeinsam mit Albin Brun an Sax undFlöten, Kontrabassist Claudio Strebel und Pa-tricia Draeger (Akkordeon und Schwyzerörge-li) arrangiert sie die Stücke zu einer Art Kam-mer-Folk-Jazz. Meist klingt das recht lüpfig,doch auch die Wehmut, die oft die Musik ausden Alpen durchzieht, schwingt hier mit. Cur-schellas bestätigt sich als sachkundige undlustvolle Musikerin, die das Traditionelle amLeben hält, in dem sie es neu interpretiert. Vi-va la Grischa! (ash) Sa, 5. Mai, 21 Uhr, Parterre, Basel;

Di, 8. und Do, 10. Mai, 20.30 Uhr, Klibühni, Chur;

Sa, 12. Mai, 20.30 Uhr Altes Zeughaus, Herisau;

So, 13. Mai 19.30 Uhr, La Cappella, Bern.

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Tito würde Radio X hören.

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BaselIdentitätssuche im Netz

Wie manifestiert sich der Zusammenbruch ei-nes Vielvölkerstaats in den neuen Medien?Was bleibt übrig an gemeinsamer Identität?Mit diesen Fragen befasst sich die junge Künst-lerin Aleksandra Domanovic, geboren in Jugo-slawien, Studium in Slowenien, heute wohn-haft in Berlin. «From yu to me» heisst ihre ak-tuelle Ausstellung, gemeint damit ist die Neu-gründung der Republik Montenegro, symboli-siert durch den Wechsel der Internetdomain.yu für Jugoslawien zu .me für Montenegro.Ein grosser Teil von Domanovics Kunst pas-siert im Internet – was aber nicht heisst, dasses sich nicht auch lohnen würde, ihre Skulp -turen und Videoarbeiten in der Kunsthalle anzuschauen. Zumal diese mit einem Audio-führer zu besichtigen sind, der von vier Mit -arbeitern der Balkansendung «x-tokva» des Jugend- und Kulturradiosenders Radio X ge-staltet wurde und mittels poetischen Texten,musikalischer Begleitung und inszenierten Di-alogen einen ungewöhnlichen Zugang zurAusstellung ermöglicht. (fer) «Aleksandra Domanovic – From yu to me»

Kunstausstellung mit Audioführer «Lautstark 4 – Kunst,

sprechen, hören», noch bis zum 27. Mai,

Kunsthalle Basel. aleksandradomanovic.com

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GDann doch lieber akustisch: Bastler und Schürmann im Duett.

ZürichBasteln und Singen

Seit Jahren schon verzaubert der Winterthurer Liedermacher Jan Bast-ler, der eigentlich Thomas Neumeyer heisst, sein Publikum mit süss-sauren Liebesballaden und scharfzüngigen Wortspielereien in Hoch-und Zürichdeutsch. Wieso eigentlich Bastler? Naja: Im Mai wird er mitMichel Schürmann auftreten, dem «Maa ohni Chopf, doch mit vielHerz», das heisst bei der Hälfte der Lieder. Diese wird Lorenzo Demen-ga, der Perkussionist von Lina Button, am Cajon begleiten. Auch die«Trötengirls» werden dabei sein, aber nur bei ein paar Liedern und dannohne den ohne Kopf. Eigentlich würde ja noch Noah Bastler zur Bandgehören, der ist aber diesmal nicht dabei, weshalb die Lieder Jan ge-mäss «halbe halbe Bastlersongs» sind. Zu viel Gebastel? Nun, der Nameist Programm und die Lieder in jedem Fall hörenswert. (fer) Jan Bastler und Michel Schürmann, Fr, 11. Mai, 20 Uhr, Kafi FürDich, Zürich;

Jan Bastler, Eigenmann und Marianne Feder, Sa, 12. Mai, 20 Uhr,

Zentrum Karl der Grosse, Zürich. www.bastelraum.ch

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Annetzen oder Arschbombe, jedem das Seine.

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Verschwommene Erinnerung oder Verblendung? Hirngespinst vielleicht.

ZürichZwischen Hirnfasern

«Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen unddie Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren»: So plastisch hateinst Georg Büchner die Hirnfunktionen beschrieben. In Boris Nikitins«Universal Exports» hacken sich nun drei Personen in ihre Schädel undsuchen dort nach dem authentischen Gefühl. Dies innerhalb des The-mas «Erinnern!», mit dem sich die Gessnerallee zurzeit beschäftigt. Sobeginnen in «In my Room: Die Geschichte von Julie» Erinnerungen aneine Liebesnacht zu verschwimmen und auch Salome Schneebeli er-innert und vergisst. Im «Chefsessel», der für einige Monate von Künst-lern besetzt wird. (dif) «Universal Exports»: Sa, 12. und So, 13. Mai, jeweils 20 Uhr

«In my room::Die Geschichte von Julie»: 04./11., 05./12., 07./14. Mai (jeweils Teil 1/2)

und weitere Spieldaten, unterschiedliche Uhrzeiten. www.gessnerallee.ch

SchweizweitIn die Badehose!

Freunde des Wassers, es ist wieder soweit: Die Gartenbadsaison beginnt.Natürlich werden jetzt einige etwas von Fleischschau und verpisstemWasser nuscheln … Wir aber empfehlen, den Freibaddünkel abzulegenund mit Strandtuch und Sonnenhut loszuziehen. Brechen Sie zeitig auf,suchen Sie sich den schönsten Platz aus – und machen Sie den erstenMorgenschwumm des Jahres: Die Morgensonne lässt das Wasser glit-zern, der Himmel ist tiefblau mit weissen Wolken, die Wiese ist knatsch-grün. Und wenn Sie untertauchen, wird sich Ihre Kopfhaut zusammen-ziehen, wie sie es einen Winter lang nicht mehr gemacht hat. (mek) Die Gartenbäder in Basel und Bern sind seit Anfang Mai geöffnet, die Zürcher Bäder

sowie das Strandbad Lido in Luzern öffnen am 12. Mai. www.badi-info.ch

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Ich habe erst vor ein paar Wochen bei Surprise angefangen. MeinBruder Andreas hat mich dazu animiert. Er verkauft das Heft bereits seitein paar Monaten vor der Markthalle. Ich bin oft bei ihm in Burgdorf zuBesuch. Von dort kommen wir meist zusammen nach Bern und arbei-ten ein paar Stunden. Mein Platz ist oben an der Spitalgasse vor einemKleiderladen, aber wenn Andreas nicht da ist, gehe ich auch ab und zuan seinen Platz, weil es dort meistens besser läuft.

Momentan habe ich noch meine Wohnung in Heerbrugg im St.GallerRheintal, überlege mir aber, in die Nähe meines Bruders zu ziehen. Wirstammen ursprünglich aus der Ostschweiz. Ihn hat es schon vor einpaar Jahren in den Kanton Bern verschlagen, und ich finde, vielleicht tä-te mir ein Ortswechsel auch gut. Da ich eine hundertprozentige IV-Ren-te habe aufgrund meiner angeschlagenen Schulter, komme ich leicht inVersuchung, auf der faulen Haut zu liegen. Mit Surprise habe ich jetztwieder die Gelegenheit, einer Arbeit nachzugehen, unter Leuten zu seinund gleichzeitig noch einen Zustupf zu verdienen.

Für was ich einen Teil dieses Extra-Geldes einsetze, weiss ich schon:Borussia Dortmund, meine grösste Leidenschaft. Sie haben gerade denMeistertitel verteidigt. Als sie letztes Jahr deutscher Fussballmeisterwurden, bin ich nach Dortmund gereist. Ich war zwar nicht einer derüber 80 000 Zuschauer im gigantischen Signal-Iduna-Stadion, dafür warich in einer Halle vorne dran. Dort wurde das Finalspiel übertragen undder Meistertitel anschliessend kräftig gefeiert. Für dieses Erlebnis habeich zwei Monate vorher angefangen, Geld beiseitezulegen. An allem ha-be ich gespart, bin kaum mehr weggegangen und habe sogar wenigergegessen, damit ich mir die Reise und alles Drumherum, Fanartikel undso, leisten konnte.

Hier in der Schweiz bin ich ein treuer Fan des FC St. Gallen. So wiees aussieht, steigen sie wieder in die Super League auf. Dass sie malwirklich gute Zeiten hatten, davon weiss ich nur aus Erzählungen mei-ner Mutter. Aber egal, ich gehe trotzdem regelmässig ins Stadion,manchmal auch mit Andreas, wenn er mich in der Ostschweiz besucht.Zusammen sind wir bei Surprise jetzt auch in den Strassenfussball ein-gestiegen. Wir haben früher beide Fussball gespielt, aber Strassenfuss-ball, das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein anderes Paar Schuhe!Und nicht nur die Schuhe sind anders, auch die Regeln, die Geschwin-digkeit, die Spielerzahl. Bis jetzt gefällt es mir voll gut und ich freuemich schon auf die kommenden Turniere.

Ich bin froh, dass jetzt wieder einiges läuft in meinem Leben. MeineJugend war ein Hin und Her. Wir sind zuerst von der Ostschweiz nachLuzern gezogen, dann ein paar Jahre später wieder zurück. Nach die-sem erneuten Umzug konnte ich mich nicht in die neue Klasse integrie-

David Breu (26) ist seit ein paar Wochen Surprise-Verkäufer in Bern. Den grossen Fussballfan sieht man die-se Saison nicht nur als Zuschauer des FC St.Gallen und von Borussia Dortmund, sondern auch als aktivenFussballer im Surprise Strassensport.

BIL

D:

IMO

Verkäuferporträt«Borussia Dortmund ist meinegrösste Leidenschaft»

ren und habe nur Mist gebaut. Mit zwölf bin ich schliesslich in ein Heimgekommen. Nach der Schule habe ich in einem Blindenheim eine Haus-wart-Lehre angefangen. Doch der Chef kickte mich nach sechs Monatenwegen einer Lappalie raus. Ich habe danach einige Zeit als Hilfsarbeiterauf dem Bau gearbeitet. Doch dann habe ich mir dort die Schulter ka-putt gemacht und wurde arbeitsunfähig. Mit 21 kam der IV-Entscheid:100 Prozent arbeitsunfähig.

Das stimmt aber eigentlich nicht, denn ich kann ja arbeiten. NebenSurprise verkaufen gäbe es noch andere Tätigkeiten, die ich gerne aus-üben würde. Zum Beispiel würde es mir gefallen, in einer Brockenstubezu arbeiten. Das Wichtigste ist, dass ich nichts Schweres heben mussbei der Arbeit. Aber schauen wir mal, wie es weitergeht. Momentan ver-kaufe ich Surprise, und das gefällt mir bis jetzt.» ■

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Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hat-ten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben undihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf desStrassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. IhrAlltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neueSelbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Ver-dienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkau-fende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Pro-gramm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Ver-antwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für dieWelt und den Arbeitsmarkt zu werden.

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Impressum

HerausgeberVerein Surprise, Postfach, 4003 Baselwww.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9–12 Uhr, Mo–DoT +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected]äftsführungPaola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) AnzeigenverkaufT +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 [email protected] T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99Reto Aschwanden (Nummernverant wortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost [email protected]ändige Mitarbeittexakt.ch (Korrektorat), Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher ZimmerMitarbeitende dieser AusgabeMonika Bettschen, Rahel Bucher, Patrick Bühler, Manuela Donati, Esther Michel, Christof Moser, Isabel Mosimann, Hansueli Schärer, Roland Soldi, Sarah Stähli Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, BaselDruck AVD GoldachAuflage15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrMarketing, Fundraising T +41 61 564 90 61

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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird vonder Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

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Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozi-ale Institution. Die Geschäfte werden von derStrassenmagazin Surprise GmbH geführt, dievom gemeinnützigen Verein StrassenmagazinSurprise kontrolliert wird. Surprise ist führen-des Mitglied des Internationalen Netzwerkesder Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glas-gow, Schottland. Derzeit gehören dem Ver-band über 100 Strassenzeitungen in 40 Län-dern an.

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