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Nr. 234 | 24. September bis 7. Oktober 2010 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass. Erdbeben, Überschwemmungen, Bergstürze: Ein Katastrophenhelfer erzählt Alternativkultur – die Flaggschiffe von einst sind satt und fett Ausnahmetalente Künstler mit einer Behinderung etablieren sich

Surprise Strassenmagazin 234/10

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Surprise Strassenmagazin 234/10

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Nr. 234 | 24. September bis 7. Oktober 2010 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Alternativkultur – die Flaggschiffe von einst sind satt und fett

AusnahmetalenteKünstler mit einer Behinderung etablieren sich

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Macht stark.

www.strassenmagazin.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99

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Titelbild: Esther Michel. Models: Matthias Grandjean, Lorraine Meier und Peter Keller vom Zürcher Theater Hora.

Inhalt04 Editorial

Etablierte Kunst04 Leserbriefe

Verherrlichter Luxus05 Basteln für eine bessere Welt

Gute-Laune-Herbst-Armada 06 Aufgelesen

Tod mit Folgen06 Zugerichtet

Ein Integrationstipp vom Richter07 mit scharf!

Jung, zornig und bewegt07 Erwin

… und die heissen Felgen08 Porträt

Bodenständiger Schutzengel16 Katastrophenhilfe

Die Moral zählt22 Le mot noir

Die grosse Flut 23 Ausstellung

Die unbekannten Wesen 24 Kulturtipps

Nick Caves erlösendes Fegefeuer26 Ausgehtipps

Poesie und Plexiglas28 Verkäuferporträt

«Hier ist mein Paradiesli»29 Projekt Surplus

Chance für alle!Starverkäufer

30 In eigener SacheImpressumINSP

Velo fahren ist gut für die Gesundheit, die Um-welt – und die Integration. Das haben sich ProVelo Bern und die Gemeinde Ostermundigen ge-sagt und den ersten Velofahr-Kurs für erwach-sene Migranten auf die Beine gestellt. Ein Erfolg: Josephine (siehe Bild) hat bereits ein paar Meterlupenreine Velofahrt hinter sich. Und das zweiStunden, nachdem sie sich zum ersten Mal imLeben auf einen Sattel geschwungen hat.

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Kaserne, Rote Fabrik, Reitschule – alle haben wir sieder 80er-Jahre-Bewegung zu verdanken. Was aberist aus den einstigen Orten des Widerstands gewor-den? Die Basler Kaserne und die Zürcher Fabrik sindsubventionierte Kulturbetriebe, die dieses Jahr bravihren 30. Geburtstag feiern. Nur über der etwas jüngeren Reitschule flattert noch ab und zu die Anar-chistenfahne.

13 Kunst Von der Nische ins Rampenlicht

Sie veranstalten Konzerte, feiern Premierenund geben dabei immer das Beste: BehinderteKünstler unterscheiden sich in ihren Ambi-tionen nicht von nicht-behinderten Kollegen.Chöre und Ensembles, in denen Menschen miteiner Behinderung Kunst machen, haben sichaus ihrem Nischendasein gelöst und präsen-tieren sich immer zahlreicher einem breitenPublikum.

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10 KulturzentrenA wie Anarchie, B wie Bünzli

20 IntegrationEin Balanceakt

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Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20,

Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt,

die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

EditorialEtablierte Kunst

Darf ich vorstellen – Lorraine Meier an derUkulele, Matthias Grandjean an der Trompeteund Peter Keller an der Ziehharmonika. Unse-re Cover-Models sind allerdings keine Musiker,wie man meinen könnte, sondern Schauspie-ler. Als wir die Ensemble-Mitglieder des Zür-cher Theater Hora angefragt haben, ob sie Lusthätten, fürs Surprise-Titelblatt zu posieren,waren sie gleich dabei. Nur einen Termin zufinden war nicht ganz einfach. Schliesslichaber durften wir die Hora-Leute im aargaui-schen Wislikofen besuchen, wo sie gerade ei-nen Kunstagogikkurs für Sozialpädagogen ga-ben, Thema: Wie kann man mit Menschen miteiner geistigen Behinderung Theater machen?Die drei haben ihre Kaffeepause geopfert undzwischen zwei Lektionen ein Ständchen gehal-ten. Kurzerhand, kein Problem. Schliesslichbeherrschen alle mehrere Instrumente. Denn,so wird erklärt: Als Schauspieler müsse maneben vielseitig sein.Dass Menschen mit einer Behinderung Kunstmachen, ist nicht neu – das Künstlerkollektiv«Die Regierung» etwa feiert dieses Jahr ihr 20-jähriges Bestehen. Dass Künstler mit einerBehinderung in der Öffentlichkeit wahrgenom-men werden, allerdings schon: Derzeit etablie-ren sich immer mehr Projekte von und mit behinderten Menschen. Michael Gasser hatden Boom unter die Lupe genommen und fest-gestellt: Zwar hat sich unsere Gesellschaft inden letzten Jahren geöffnet und Vorurteilegegenüber Behinderten abgebaut. Kunst aberbleibt Kunst und so gilt: Im Rampenlicht stehtman nicht, weil man behindert, sondern weilman begabt ist. Mehr dazu ab Seite 13.Ebenfalls etabliert haben sich drei alternativeSchweizer Kulturzentren: Die Kaserne Basel,die Rote Fabrik in Zürich und die Berner Reit-schule. Die von der 80er-Jahre-Bewegung ge-gründeten Orte des Widerstands gegen Aus-beutung und Unterdrückung haben sich längstzu subventionierten, wohl programmiertenKulturbetrieben gewandelt. Ab Seite 10 blicktRedaktor Reto Aschwanden zurück in eineZeit, in der noch nicht jeder Bünzli im Restau-rant «Ziegel oh Lac» der «Roten» getafelt hat.

Wir wünschen eine gute Lektüre, herzlich

Mena Kost

Nr. 231 «Fettes Feindbild – Wie Dicke dis-kriminiert werden»

Innere Werte Ich lese Surprise seit vielen Jahren und schät-ze die gut recherchierten Artikel sehr. Dankefür den Artikel: «Übergewicht – Schwer ge-täuscht!» Sie sprechen mir aus dem Herzen.Ich selber bin zwar in der sogenannten Norm,aber es tut mir immer weh, wenn abschätzigeBemerkungen über Menschen mit Überge-wicht gemacht werden. Ich wünsche mir vonder Gesellschaft, dass mehr auf die innerenWerte geachtet wird als auf die von den Mode-strömungen vorgegebenen Äusserlichkeiten.Sigrid Lüber, per E-Mail

Verherrlichter LuxusDa meine Frau das Strassenmagazin Surpriseregelmässig nach Hause bringt, habe ich be-gonnen, es ebenfalls zu lesen. Zuerst mit Skep-sis, die Artikel wichen oft von meinen Ansich-ten ab. In letzter Zeit stelle ich aber fest, dassdas Blatt inhaltlich stark zugelegt hat, einzelneBeiträge las ich mit Interesse sogar zweimal.Das Porträt «Der Gastgeber» passt allerdingsnicht wirklich zu Surprise. Da wird der Inha-ber eines Luxushotels der obersten Klasse aufeine Art verherrlicht, die ich nicht verstehenkann! Dafür spricht mir der Artikel zum The-ma Übergewicht aus dem Herzen. Als Betrof-fener kann ich mitreden. Als übergewichtigerMann steht man oft im Schatten normalge-wichtiger Zeitgenossen, immer mit der unter-schwelligen Beurteilung: «Der soll aufhören zufressen …» Dabei muss ich als insulinpflichti-ger Diabetiker eine strenge Diät einhalten. Nurist es leider so, dass mit Insulin gut eingestell-

te Diabetiker fast immer übergewichtig sind;denn Insulin reguliert nicht nur den Zucker-Haushalt im Körper, es ist unglücklicherweiseauch ein hervorragender Fett-Bildner. Hugo Enz, per E-Mail

Vollendete RundungenZum Thema Übergewicht schickte uns MoritzJeckelmann aus Bern folgendes Gedicht, das ernicht ironisch verstanden haben will:

oh, ihr strahlenden göttinnen, ihr gewichtigen olympier

lasst euch bewundern, eure vollendeten rundungeneure sanften bewegungen

eure schönheit ist die schönheit der erdeist die schönheit aphroditesist die schönheit apollos.

Bio-GemüseIm letzten Surprise wurde ein spannendesInterview zum Thema Ernährungs- und Kauf-verhalten abgedruckt. Im Abschnitt über Ver-tragslandwirtschaft als Alternative zu Gemüseaus Massenproduktion wurden leider nur An-gebote aus dem Raum Zürich erwähnt, obwohlauch andere Teile der Schweiz ähnliche Projek-te kennen. So liefert beispielsweise der Birs-mattehof in Therwil seit vielen Jahren direkt anKonsumentinnen und Konsumenten in Baselund in Bern versorgt der Verein «soliTerre» seitetwas mehr als einem Jahr seine Mitglieder mitBio-Gemüse.Markus Hurschler, per E-Mail

Leserbriefe«Als Übergewichtiger steht man im Schattennormalgewichtiger Zeitgenossen.»

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MENA KOST,

REDAKTORIN

In eigener Sache:Aus technischen Gründen wurde in der letzten Surprise-Ausgabe die Kolumne «Wörter von Pörtner» nicht gedruckt. Wir bitten Sie, dieses Missgeschick zu entschuldigen. Natürlich wol-len wir Ihnen den Text von Stephan Pörtner nicht vorenthalten und werden ihn deshalb in dernächsten Nummer publizieren.

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Basteln für eine bessere WeltDie Blätter fallen von den Bäumen, die Früchte des Sommers werden braun … Aber Trübsal blasen, nur weil der Herbst beginnt? Nichtmit uns. Aus den bunten Blättern und dem Fallobst basteln wir uns eine Gute-Laune-Herbst-Armada!

Stecken Sie gut zusammenpassende Früchte mit Holzspiessen oder Zahnsto-

chern aneinander. Dann versehen Sie die Obst-Männchen und -Tierchen mit

Hosen und Röcken aus Federn und farbigen Blättern.

Für die Herbst-Armada können Sie alles verwenden, was Sie auf dem herbst-

lichen Waldboden finden: Blätter, Obst, Nüsse, Gräser, Federn, Beeren oder

Ästchen.

Für Gesicht, Arme und Beine können Sie Beeren, Ästchen und Nüsse verwenden.

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AufgelesenNews aus den 90 Strassenmagazinen,die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Starthilfe

München. Sozialpsychologie-Professor Hei-ner Keupp über den gesellschaftlichen Um-gang mit psychisch kranken Menschen: «Oftwerden psychisch Kranke als ‹verrückt› be-zeichnet. Dieser Begriff transportiert ein anschauliches Bild: Menschen, die so be-zeichnet werden, verrücken unsere Norma-litätserwartungen. Das kann beunruhigenoder faszinieren, auf jeden Fall aber hat die-se Bezeichnung eine fatale Wirkung: Je-mand wird damit de facto ausgegrenzt. Dasist fast so, als ob man einem Menschen denBürgerstatus aberkennen würde – und ofterfolgt ja genau das.»

Arm und allein

Kiel. Arm sein heisst nicht nur, materielleNot zu leiden – vielen von Armut Betroffenenfällt es auch schwer, einen Lebenspartner zufinden. Und zwar deshalb: Wo Menschen inArmut abrutschen, bricht oft auch das bis-herige soziale Umfeld weg. Der Arbeitsplatzetwa ist einer der wichtigsten Partnerschafts-märkte. Auch Kulturveranstaltungen, auf de-nen man jemanden kennen lernen könnte,sind zu teuer. Wer von Hartz IV lebt, schlepptzudem oft einen Haufen Probleme mit sichrum, die den Alltag bestimmen – für neue Be-ziehungen eine schwere Hypothek.

Tod mit Folgen

Hannover. Sechs Monate nach dem eisigenTod eines obdachlosen Mannes auf einerBank in der hannoverschen Eilenriede hatdie Stadt nun endlich reagiert: 25000 Eurostellt Hannover zur Verfügung, damit imnächsten Winter gezielter Hilfe angebotenwerden kann. Bisher gab es nur zwei Sozial-arbeiter, die – unter anderem – für die Ob-dachlosen der Stadt zuständig waren. Künf-tig werden sie von zwei Kollegen unterstützt,die in der kalten Jahreszeit den Auftrag ha-ben, Wohnungslose von der Strasse in siche-re Unterkünfte zu bringen.

ZugerichtetLeichtgemacht

Die Rolle des Helden in einem Bollywood-Schinken wäre Kamal D.* wie auf den Leibgeschneidert: Sein dunkles Haupt erhoben,schreitet er in den Gerichtssaal, Triumph im Blick, die Nase kühn. Unmännlich wirktan diesem Mann nur sein zu einem kläg-lichen Mäuseschwänzchen gebundenesHaar. Gleichwohl kann er nicht der Mannsein, von dem die Damen träumen. Herr Ka-mal musste seine Residenz mit dem Unter-suchungsgefängnis tauschen, weil er seineFrau öfter grün und blau geschlagen habe.Doch darum geht es beim Berufungsverfah-ren vor dem Obergericht nicht. Die erste In-stanz hatte ihn des gewerbsmässigen Be-trugs und der Nötigung schuldig gesprochenund zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahrenverurteilt. Der 47-jährige Iraker schüttelt seinHaupt. «Die Einvernahme verlief nicht kor-rekt», rügt er den Staatsanwalt vor den dreiOberrichtern auf Arabisch. «Er drohte mir,natürlich ausserhalb des Protokolls, dass ichzehn Jahre ins Gefängnis müsse, wenn ichnicht geständig sei.» Schockierend sei das, erwähne sich in einem Unrechtsstaat.

Vor zwölf Jahren ist Kamal aus dem Irak indie Schweiz geflüchtet, weil er aus der Armeedesertiert und als Schiit verfolgt worden sei.Er beantragte Asyl, holte seine Frau nach,und erhielt eine vorläufige Aufenthaltserlaub-nis. Regulärer Tätigkeit konnte Herr Kamalnichts abgewinnen. Lieber kassierte er vonder Asylorganisation; im Laufe von sechsJahren und fünf Monaten waren es 236 815Franken und 95 Rappen. Untätig war er frei-lich nicht. Der Geschäftsmann mit abgebro-chenem Veterinärstudium zog nebenher mit

seinem Bruder einen Auto- und Ersatzteilhan-del in den Nahen Osten auf, gewährte grosszü-gig Darlehen gegen Zinsen und führte überStrohmänner eine Bar. Zum Schein liess er sichda anstellen – ohne Bezahlung –, damit die Asy-lorganisation nichts merkt. Sie merkte nichts.

Nicht nur im Krimi, auch im wirklichen Le-ben spielt Kommissar Zufall manchmal seineRolle. Einer der Strohmänner, der von Kamal130 000 Franken geliehen hatte, zeigte ihn an,weil er ihm gedroht hätte, seine Frau und seineKinder zu töten. Der Polizist stutzte und unter-nahm ein paar Nachforschungen. Trotz fehlen-der Einnahmen lebte Herr Kamal auf grossemFusse. Sein Fuhrpark bestand aus mehrerenOpel, drei Mercedes Benz, einem Chevrolet, ei-nem Toyota und sogar einem Ferrari Mondial.Der Fall des Bonvivants ging als einer der bis-lang grössten Fälle von Sozialhilfebetrug in dieGeschichte ein. Die Deals bestreitet Kamalnicht, doch sagt er, dass er quasi leer ausge-gangen und das ganze Geld in die Tasche sei-nes Bruders geflossen sei. Sein Verdienst beliefsich auf höchstens 10 000 Franken in sechs Jah-ren. Das Gericht bestraft den Mann lediglichmit einer bedingten Strafe von 14 Monaten.Hart ins Gericht geht es stattdessen mit den Sozialbehörden. Die Asylorganisation habe esihm mangels Kontrollen leichtgemacht, sie zubetrügen.

Vom Richter erhält Kamal D. noch einen In-tegrationstipp auf den Weg. Ob es wirklich er-folgversprechend sei, auf diese Art und Weisemit den Schweizer Behörden umzugehen.«Überlegen Sie sich das mal.»

* persönliche Angaben geändert

ISABELLA SEEMANN ([email protected])

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

([email protected])

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ERWIN …und die heissen Felgen VON THEISS

VON FRED LAUENER

1980 war die Revolution in vollem Gange. In Zürich brannte es beimOpernhaus, in Bern wurde das alte Tramdepot beim Bärengraben be-setzt und wir Jugendlichen in Basel hatten am 1. Mai eben Queen Eli-zabeth der Zweiten eingeheizt, welche samt Gefolge die Gartenbauaus-stellung «Grün 80» besuchen wollte. Vizedirektor der Ausstellung warKurt «Aeschbi» Aeschbacher, ihn fanden wir damals noch nicht so toll.

Wir waren jung, zornig und bewegt, und als es hiess, ein paar Leutevom Basler Stadttheater hätten diesem den Rücken gekehrt und seiennun auf dem Weg zu uns, um in der alten Kaserne mitten in der Stadteinen selbstverwalteten Kulturbetrieb zu eröffnen, war das eine guteNachricht. Ein Kulturzentrum mit denselben oder mindestens ähnlichenIdealen, wie wir sie selber vertraten – Selbstverwaltung, absolute Mit-bestimmung, Multikulti und Null Kommerz –, gab es damals noch nichtin der Schweiz. Den Initianten begegneten wir zwar mit Skepsis, dennbei Häuserbesetzungen und den Strassenkämpfen mit der Polizei, in«der Bewegig» also, hatten sie sich nie besonders hervorgetan. Schön-geister halt, die wir eigentlich nicht mochten. Aber wir gaben ihnen eine Chance. Wir waren überzeugt, dass wir im Notfall selber dafür sorgen würden, dass der Punk im Dorf blieb, sollten die Kasernenheinisihre Versprechen nicht einlösen.

Denkste. 1980 lief die erste Veranstaltung und schon im Jahr daraufgab es die erste Subvention von Papa Staat. Dieser war uns ungeheuerund deshalb war klar: die Kasernenfunktionäre hatten sich kaufen las-sen, fertig lustig Alternativkultur. Wir fühlten uns verraten, uns einervielversprechenden Kampfbahn beraubt. Jetzt waren wir wieder die ein-zigen, die wussten, wie gute Kultur zu sein hatte: nämlich politisch und

zwar revolutionär und von unseren Gnaden abgesegnet. Einige von uns,und viele die nach uns kamen, finden das heute immer noch.

Die Kaserne ist längst der Revolution entkommen, von der sie nie einTeil war. In vielen Facetten ist sie aber auch heute noch, was sie immerwar: Kein anderer Kulturort lässt seine Besucherinnen und Besucher sonahe an sich herankommen und stiftet damit so viele Emotionen. Emo-tionen der Vertraulichkeit, der Freude, aber auch Reibung und manch-mal Frust. Die Kaserne ist streitbar geblieben und lässt niemanden kalt.Insofern hat sie auch ihre frühen Ideale bis heute hochgehalten. Dasssich die Kaserne regelmässig mehr mit sich selbst als mit ihrem Auftragbefassen muss, ist der Preis dafür. Er ist es wert. Denn kein anderer Kul-turbetrieb in der Nordwestschweiz hat in den letzten 30 Jahren so vielzur sozialen und kulturellen Sozialisierung von jungen Menschen bei-getragen wie die Kaserne Basel.

Und was ist aus der Bewegung der Anfänge geworden? Nun, nichtwenige von uns sind heute selber da, wo Entwicklungen gesteuert, Ent-scheide gefällt und auch Subventionen gesprochen werden. Der Ball istzurück bei uns. Wir haben es in der Hand und sind gut beraten, dafürzu sorgen, dass die kreative Revolte weitergeht. ■

Siehe auch Seite 10: «Allerlei Alternativen»

AlternativkulturDer Revolution entkommenDas Hauptverdienst der vor 30 Jahren als Alternativkultur-Tempel gestarteten «Kulturwerkstatt» Kaserne Basel sind nicht ihre Produktionen und Veranstaltungen, sondern ihr Beitrag an die kulturelle Sozialisationganzer Generationen. Der Surprise-Geschäftsführer erinnert sich.

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VON STEFAN MICHEL (TEXT) UND RUBEN HOLLINGER (BILD)

Samstagmorgen um sechs Uhr. Hansruedi Keusen liegt noch im Bett,als auf seinem Mobiltelefon eine Alarmmeldung eingeht. Die Lütschi-nen bei Grindelwald führt Hochwasser. Der Geologe setzt sich an denComputer und ruft die Werte der Messstationen im Gebiet ab. Er über-legt sich, warum das Wasser gestiegen ist und ob der Gletschersee auszulaufen droht – nicht, weil er entscheiden muss, was zu tun ist,sondern weil er eine Antwort parat haben will, falls ihn die Grindel-waldner Behörden anrufen, die er berät. Die Ursache ist schnell gefun-den: Starker Regen hat den Bach anschwellen lassen. Kein Steinschlag,kein Felssturz – kein Grund zur Sorge.

Man ruft ihn oft, wenn ein Berg in Bewegung gerät, den 69-jährigenBerner, verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Wenn Fels-brocken Menschen, Häuser, Strassen oder Bahnlinien bedrohen, willman von ihm wissen, wann die Steine kommen, wo, und wie viele essein werden. «Wenn jemand ein geologisches Problem hat, dann zeigeich ihm einen Weg, wie er damit umgehen kann», beschreibt er seineTätigkeit, ruhig wie ein Berg, sachlich wie ein Wissenschaftler, der sichseiner Sache sicher ist.

Felsen, die abzubrechen drohen, kann man sprengen, Steinschlagdurch Schutzwälle ablenken. In gewissen Gebieten empfiehlt Keusenein totales Bauverbot. Wer all das nicht will, muss den brüchigen Bergbeobachten. Rund um die Uhr. In der Firma Geotest, die er bis vor Kur-zem geleitet hat, gehen die Daten von rund 50 Berggebieten in derSchweiz ein. Selber nimmt er nur noch wenige Mandate an, zum Bei-spiel in der Gemeinde Grindelwald.

«Früher sah man das, was vom Berg kam, als höhere Gewalt an. Vie-le Menschen, die seit Generationen in den Bergen wohnen, halten esheute noch so», hat der Spezialist für geologische Gefahren beobachtet.Für ihn sind Bergstürze und Steinschläge einrein natürliches Phänomen: «Unsere Bergtälersind übersteil. Dass sie sich verflachen, ist einvöllig nachvollziehbarer Vorgang und hatnichts mit dem lieben Gott zu tun, der unsstrafen will.» Ob er selber religiös sei? Für den Rationalisten eine Frage, die mit seiner Arbeit nichts zu tun hat. «Aber sicher, ich respek-tiere die kirchlichen Instanzen, gehe aber nicht jede Woche in den Gottesdienst.»

Begonnen hatte seine Auseinandersetzung mit Naturrisiken im Wal-liser Dorf Randa. Nach einem ersten Bergsturz im Frühling 1991 batman ihn um seine Einschätzung. Er installierte Messgeräte im Gebietund stellte fest, wie sich das Gestein Tag für Tag schneller bewegte.Schon bald wusste Keusen, dass der nächste, viel gewaltigere Bergsturzunmittelbar bevorstand. Die Dorfbewohner im prognostizierten Ein-zugsgebiet räumten ihre Häuser, viele waren skeptisch. Ein altes Ehe-paar musste aus seinem Haus getragen werden. «Am Mittwoch war ich

PorträtDer FelsenleserGeologe Hansruedi Keusen prognostiziert mit wissenschaftlichen Methoden Bergstürze, Steinschläge undMurgänge. Nicht alle sind ihm dafür dankbar. Einige aber nennen ihn einen Schutzengel.

beim Gemeindepräsidenten. Er glaubte mir nicht, dass der Bergkommt.» Am Donnerstag donnerten 20 Millionen Kubikmeter Gesteinins Tal, verschütteten 24 Häuser, aber keine Menschen. «Dass ich einensolchen grossen Bergsturz, der statistisch nur alle 50 Jahre vorkommt,so genau vermessen und miterleben durfte, war für mich ein absoluterGlücksfall und auch irrsinnig faszinierend. Gleichzeitig ist er für die Be-troffenen absolut schrecklich», bringt er seine Empfindungen auf denPunkt. Seit 20 Jahren verschickt Geotest häufig Bilder zu Naturgefah-ren als Neujahrskarten.

Bevor es zur Katastrophe kommt, neigen viele Menschen dazu, dieGefahr zu negieren, auch wenn sie offensichtlich ist. «Das ist diemenschliche Natur», ist Keusen überzeugt, «man glaubt nicht, dass eseinen selber trifft.» So muss er immer wieder Menschen davon über-zeugen, dass Unheil droht. «Die Bergler sind sicher, dass sie ihr Gebir-ge besser kennen als dieser Unterländer aus Bern», weiss er, der ambi-tionierte Bergsteiger, der auf einem halben Dutzend Viertausender gestanden hat. Noch schwerer wiegt, dass die Schutzmassnahmen et-was kosten oder Land und Häuser entwerten. Wenn aus Bauland einGefahrengebiet wird, auf dem nicht mehr gebaut werden darf, ist es miteinem Schlag praktisch wertlos. «Es gibt Leute in Strassenbauämtern,die sagen: Solang wir keinen Geologen beiziehen, haben wir kein Pro-blem. Dann ist es einfach Schicksal, wenn etwas runterkommt.»

Andere verlassen sich auf seine Prognosen, etwa jene Frau in Grin-delwald, deren altes Haus in einem potenziellen Rutschgebiet steht. Siebezeichnet Keusen als ihren Schutzengel. Auch die Betreiber derSphynx, dem Gebäude auf dem Jungfraujoch, bauen auf seine geologi-sche Analyse. Mit dieser Verantwortung, wie auch mit dem Druck derSkeptiker, muss Keusen leben. «Ich habe keine schlaflosen Nächte des-wegen», versichert er. Das Wichtigste für ihn: «Ich hatte noch nie einenSchaden wegen einer Fehlprognose.»

Die Natur bestimmt auch Keusens Freizeit. Bergsteigen und Sport-klettern in den Alpen, mehrtägige Trekkingtouren durch unbesiedelteGebiete in Kanada oder Skandinavien sowie Segeln auf dem Neuen-burgersee und dem Meer sind seine grossen Leidenschaften. Längstkönnte er den Ruhestand geniessen. «Aber dann kann ich doch wiedernicht Nein sagen.» Etwa bei jener Anfrage aus China, aus einer Bergre-gion, deren Situation ähnlich ist wie jene Grindelwalds: «Das ist ein-fach so interessant.» Immerhin, die 50 Gebiete, deren Daten bei Geotesteinlaufen, beobachten andere, jüngere Geologen. In der Kaffeepausekommt einer von ihnen auf Keusen zu: «Du musst nachher schnellschauen kommen: Da ist mehr abgebrochen, als wir gedacht haben.»Keusens Rat ist nach wie vor gefragt. ■

«Dass ich den Bergsturz von Randa miterlebenkonnte, war ein absoluter Glücksfall.»

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Die Basler Kaserne und die Rote Fabrik in Zürich feiern Jubiläen. In Bern entscheidet das Stimmvolk über denFortbestand der Reitschule. Während sie um ihre Existenz kämpft, suchen Kaserne und Rote Fabrik ihren Platzin der Mitte der Gesellschaft.

KulturzentrenAllerlei Alternativen

nach Tabula rasa. Im Pressetext wurde die Schliessung angekündigt – mitArgumenten, die rechtsbürgerliche Kreise seit Jahren gegen das Kultur-zentrum am Zürichsee vorbringen. Das war provokativ und witzig ge-meint. Doch der Schuss ging nach hinten los: Wem nichts Originellereseinfällt, als ausgelutschte Feindbilder umzudrehen, dem kommt wirklichnichts mehr in den Sinn. Dann bleibt nur das Wiederkäuen einer liebge-wonnenen Selbstverklärung, wie im Text zum Jubiläum: Als «konstanterUnruheherd» wird die Rote Fabrik da beschrieben – Ironie oder Wunsch-denken? Nein, unruhig ist die Fabrik in Zürich-Wollishofen längst nichtmehr. 2010 ist die «Rote» ein Mehrspartenhaus mit einem guten und ge-legentlich gut besuchten Theater- und Musikprogramm. Das Konzeptbü-ro präsentiert immer wieder schlaue Veranstaltungen im Spannungsfeldvon Politik, Kultur und Stadtentwicklung, operiert allerdings in einer Nische – genau wie die Vielzahl von Künstlern und Arbeitsgruppen, diein ihren Ateliers auf dem weitläufigen Areal vor sich hin werkeln. Undim Restaurant «Ziegel oh Lac» lässt sich gut, gesund und günstig tafeln,was insbesondere in der warmen Jahreszeit unter freiem Himmel undmit ebensolchem Blick auf den See ausgesprochen angenehme Abend-stunden ermöglicht. Auch wenn die Fundi-Fraktion mäkelt, es gebe fürVeganer immer nur Spaghetti Napoli.

Die Rote Fabrik teilt das Schicksal anderer Kulturzentren, die auf derStrasse erkämpft wurden. 1980 diente das Areal als Materiallager undZürich war eine kulturelle Wüste. Zumindest für Menschen, die verzerr-te Gitarren Orchesterwerken vorzogen. Stadtpräsident Sigi Widmer bezeichnete Rockmusik als Lärm, das Opernhaus hingegen sollte einen60-Millionen-Kredit erhalten. Nach einem Konzert von Bob Marley imHallenstadion eskalierte die Situation. Bei den Opernhauskrawallen gin-gen Demonstranten und Polizei mit ungekannter Vehemenz aufeinanderlos. In der Folge entstand das Autonome Jugendzentrum (AJZ), das aller-dings keine zwei Jahre später abgerissen wurde. Die Rote Fabrik aber, dieebenfalls zu den Errungenschaften der 80er-Bewegung zählt, überdauer-te die Jahre, vom Stimmvolk an der Urne mehrfach abgesegnet und vonder Stadt mit mittlerweile 2,4 Millionen jährlich subventioniert.

Bis in die 90er-Jahre fungierte die Fabrik als Mutterschiff für eine gan-ze Generation von Kreativen und Geschäftstüchtigen: Viele, die heute alsKünstler, Klubbetreiber oder Gastronomen aktiv und zum Teil durchaus

erfolgreich sind, starteten einst in Wollishofen. Auch die freie Theater-szene und die unabhängige Rock-, Hip-Hop-, Elektro- und Jazzszene fan-den und finden bis heute in der Roten eine Heimat. Impulse gehen vonden Aktivitäten hinter den Backsteinmauern heute aber kaum noch aus.

Die Fabrik ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Vieles, was imheutigen Nachtleben selbstverständlich ist, fand damals in der Roten Fa-brik erstmals Platz. Dann eroberte die Subkultur Feuilleton und Trend-setter. Heute buhlen unzählige Bars, Klubs und Theater um die Gunstvon Künstler und Publikum – und viele von ihnen an zentraler Lage.Ähnlich wie der «Sedel» in Luzern, liegt die Rote Fabrik am Stadtrand.

VON RETO ASCHWANDEN

Schön langweiligAnfang September feierte die Kaserne in Basel ihr 30-jähriges Beste-

hen. Im Zentrum stand die «Zeitmaschine»: 30 Kurzperformances, diesich je einem Jahr von 1980 bis heute widmeten. Der Blick zurück gehörtzu jedem Jubiläum. Von einem Kulturbetrieb dürften aber auch Zu-kunftsperspektiven erwartet werden. Die Kaserne wurde dem BaslerEstablishment vor 30 Jahren in harten Konfrontationen mit der Staatsge-walt als alternatives Kulturzentrum abgerungen. Mittlerweile ist sie Teildes Basler Kulturkuchens und ein bisschen zu oft mit sich selbst be-schäftigt: In den letzten Jahren stand die Kaserne immer wieder am Abgrund. Finanzielle Schieflagen wechselten sich ab mit internen Inter-essenkonflikten zwischen Theater- und Musikfraktion. Häufige Füh-rungswechsel sorgten für zusätzliche Unruhe. Mehrfach musste die Poli-tik eingreifen, und zwar über die 1,6 Millionen Franken hinaus, mit denen die beiden Basel den Betrieb subventionieren.

Eigentlich wären die Voraussetzungen ideal. Das Areal ist «eine Perlegenau im Zentrum der metropolitanen Region Basel» (Thomas Kessler,Leiter Kantons- und Stadtentwicklung Basel-Stadt). Doch die ehemaligenArmeegebäude, die das Gelände ummanteln, werden von zahlreichenprivaten und öffentlichen Mietern genutzt, die je ihre eigenen Interessenverfolgen. Zum Jubiläum veranstaltete die «Basler Zeitung» einen Run-den Tisch zu Zustand und Zukunft der Kaserne mit verschiedenen Ver-anstaltern und Politikern. Es wurde ein langes Gespräch, doch die kul-turelle Bedeutung des Betriebs oder künftige Nutzungsmöglichkeiten bildeten bloss Randthemen. Stattdessen wurde lang und breit über einenallfälligen Ab- beziehungsweise Durchbruch des Kopfgebäudes debat-tiert, durch den das Gelände zum Rhein hin geöffnet würde. Dagegenäusserte sich der Veranstalter des Basel Tattoo, der um die passende Kulisse für sein Militärmusikfestival fürchtet.

Das ist symptomatisch für die Art und Weise, wie in Basel mit Kulturabseits bourgeoiser Traditionen umgegangen wird. Man hätte zwar gernein grosses Angebot, am liebsten mit überregionaler Ausstrahlung. Wennes aber an die Umsetzung geht, fehlt es an Geld, verschiedene Interes-sengruppen kochen ihr eigenes Süppchen und zudem sollte sich mög-lichst jeder Anwohner ab zehn Uhr abends sei-nes Schönheitsschlafes sicher sein können.Deshalb wird die Kaserne weiterhin ein Ortbleiben, der in lauen Nächten ein lauschigesAmbiente für geselliges Beisammensein bietet.Hinter den Mauern finden beachtliche, aber wenig beachtete Theater-aufführungen statt. Ab und zu gibt es auch Konzerte. Doch weil die Pro-grammverantwortlichen seit 2008 mehrfach wechselten, wird das an sichvorhandene Potenzial für mittelgrosse Rock- und Pop-Gigs in Basel we-der qualitativ noch quantitativ ausgeschöpft. Es ist schön auf dem Kaser-nenareal. Aber auch ein bisschen langweilig.

Das Mutterschiff «Achtung: Zukunft! – 30 Jahre sind genug», lautete die Überschrift

zum Jubiläum der Roten Fabrik in Zürich Mitte September. Das klang

Impulse gehen von den Aktivitäten hinter den Back-steinmauern schon seit Jahren kaum noch aus.

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Ihre alternativen Höhenflüge hat die Rote Fabrik hinter sich.

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Und wenn allein zwischen Hauptbahnhof und Hardbrücke Dutzendevon In-Lokalen locken, hat es die alte Tante in Wollishofen schwer.

Zudem vollzieht sich in jedem Betrieb, der zur Institution wird, eineEntwicklung hin zum nachhaltigeren und unspektakuläreren Schaffen.Die heutigen Zürcher Hausbesetzer und Untergrund-Aktivisten höhnenüber «die tote Fabrik mit ihren verbeamteten Programmverwaltern». Dasist unfair gegenüber den Leuten, die die Fabrik nach wie vor basisdemo-kratisch und mit Herzblut betreiben. Aber auch das Privileg einer nach-gewachsenen Generation, die in der Fabrik, wo kaum jemand unter 30arbeitet, keine Heimat mehr findet.

Die Fahne der AnarchieDas Schmuddelkind unter den Kulturzentren der Deutschschweiz

bleibt die Reitschule in Bern. Und zwar nicht, weil sie gemäss Zeitrech-nung ab der Besetzung 1987 jünger ist als Fabrik und Kaserne. Da reistman mit Bildern von Parlamentsbetrieb, Marzilibad und Bärengraben imKopf in die Bundeshauptstadt und bei der Bahnhofseinfahrt fällt derBlick auf diesen zugesprayten Kasten. Zu Zeiten der Wohlgroth-Be-setzung in den frühen Neunzigern, begrüsste Zürich die Zugreisenden ähnlich, in Bern ist dieZeit stehengeblieben. Oder – wenn es um dieReitschule geht – in einem Kreislauf gefangen.Am 26. September müssen die Stimmberech-tigten sage und schreibe zum fünften Mal über eine Vorlage abstimmen,die das Betreiberkollektiv vertreiben will. Anschliessend soll das Gelän-de an den Meistbietenden veräussert werden. Für ein Einkaufszentrumvielleicht. Oder ein Schwimmbad allenfalls.

Bis heute polarisiert die Reitschule die Stadt. Den einen gilt sie alsSchandfleck und Hort linksextremer Chaoten, andere betrachten sie alsBastion egalitärer Kultur und Politik. Immer wieder kommt es zu Schar-mützeln mit der Polizei, wenn auch nicht mehr so grob wie noch vor einpaar Jahren. 2003 titulierte der damalige Berner Polizeidirektor Kurt Was-serfallen Anti-WEF-Demonstranten als «Terroristen der übelsten Sorte»und die Reitschule als «konspiratives Zentrum». Heute redet bei den Be-

hörden niemand mehr so, trotzdem kommt es im Umfeld der Reitschuleimmer wieder zu Zwischenfällen: Demonstranten kämpfen vom Arealaus gegen die Polizei und dann ist da auch noch die Drogenszene. Alsdas Gassenzimmer in die Nachbarschaft der Reitschule verlegt wurde,entstanden bald Probleme mit den Dealern auf dem Vorplatz, die in derReitschule Schutz vor Razzien suchten. Manche meinen, die Stadt hättediese Entwicklung bewusst gesteuert, um die Reitschule in Misskredit zubringen. Als die Zustände unhaltbar wurden, brachen die Betreiber nachkontroversen internen Debatten gleich mehrere Tabus, indem man sichöffentlich von Gewalt distanzierte, Türkontrollen einführte und externeSicherheitsdienste engagierte.

Heutzutage lässt sich im Reitschul-Restaurant gemütlich essen undtrinken. Kino, Theater und Konzerte sind unverzichtbare Bestandteiledes städtischen Kulturangebots. Und doch riecht es auch 2010 ab und zunach Gefahr. Militanz ist zwar nicht an der Tagesordnung, im Gegensatzzur Kaserne und der Roten Fabrik aber doch nicht nur in Geschichtenvon früher lebendig. Das ist gut so. Denn ursprünglich ging es beimKampf um Kulturzentren nicht um kuschelige Lokale, wo sich jeder gut-

mütige Bünzli wohlfühlen soll. Sondern um selbstverwaltete Orte desWiderstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Klingt nach Anar-cho-Romantik. Tatsächlich aber hat dieses Anliegen nichts an Aktualitäteingebüsst. In einer Zeit des durchkommerzialisierten Lifestyle-Nachtle-bens, in der die Ausgrenzung im städtischen Alltag abends mit anderenMitteln fortgesetzt wird, sind unkommerzielle Angebote und Anlaufstel-len notwendiger denn je. Die Kaserne und die Rote Fabrik schwimmenim Mainstream ihrer rot-grün regierten Städte. Die Reitschule aber funk-tioniert bis heute – und nicht nur ihrem Selbstverständnis nach – als Alternative. Und manchmal flattert noch immer die Fahne der Anarchis-ten über dem Dachstock. ■

Das Ambiente in der Reitschule wirkt auch heutemanchmal noch gefährlich. Und das ist gut so.

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… weht über der Berner Reitschule noch immer die Anarchisten-Fahne.Während das Establishment in der Kaserne Basel kuschelt …

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Lange haben Kunst- und Kulturprojekte mit behinderten Menschen ein Schattendasein geführt, doch nunplötzlich wachsen und boomen sie. Zu altgedienten Theaterfestivals und Musiktruppen gesellen sich rasantund scheinbar unablässig neue Unternehmungen. Von diversen Chorprojekten bis hin zu Schauspielaus-bildungen – was die Frage aufwirft, ob es nicht schon bald zu einer Übersättigung kommt.

Kunst Begabt und behindert

ge negative Zuschrift habe der Kundendienst des Schweizer Fernsehenserhalten, erklärt Toni Wachter, Redaktionsleiter «Üsi Badi», auf Anfrage.«Die qualitative Bewertung der Sendung war so hoch, wie wir es nurwenige Male erlebt haben.» Er betont zudem, dass man sich sehr wohlum eine Nachbetreuung der Mitwirkenden gekümmert habe. Via arwo,einer Behindertenorganisation aus Wettingen. «Wir haben aus dem Umfeld der Beteiligten zudem erfahren, dass die Sendereihe ihremSelbstbewusstsein sehr gutgetan hat.»

Auch Kurt Schumacher outet sich als Fan von «Üsi Badi». Schuma-cher singt beim Zürcher «Beschwerdechor». Er, der unter der Vormund-schaft seiner Schwester steht, hat sich alle sieben Folgen der Serie an-geschaut. Schade sei es, dass sie vorbei sei, meint er. Momentan denkter vor allem an die kommenden Auftritte mit seinem Chor. Und hätte ereinen Wunsch offen, dann würde er mit ihm gerne im deutschen Pri-vatsender RTL auftreten. Endlich selber mal über den Bildschirm flim-

VON MICHAEL GASSER

«Üsi Badi» ist vom Bildschirm verschwunden. Die siebenteilige TV-Doku stellte sechs Menschen mit geistiger Behinderung in den Mittel-punkt. Sie verbrachten den vergangenen Sommer in einer Badi, halfendem Bademeister, bewirteten Gäste, unterstützten den Kioskbetrieb.Und wurden bei ihrem Tun von Kameras des Schweizer Fernsehens be-obachtet. Jetzt, da das TV-Rampenlicht seinen Fokus bereits wieder wo-andershin gerichtet hat, sind die Beteiligten zurück an ihren Wohnorten,die sicher weniger Glamour versprühen als die Fernsehwelt. Business asusual halt. Das ging den Teilnehmerinnen und Teilnehmer von beinahevergessenen Shows wie «Big Brother» ja nicht anders. Man hatte seine15 Minuten Ruhm. Da kann sich keiner beklagen. Oder doch? Leise Vorbehalte gegenüber «Üsi Badi» äussern einige, doch abgrundtiefSchlechtes will niemand über die Beinahe-Soap sagen. Bloss eine einzi-

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das Projekt nicht vor Ort vorstellen. Der direkte Kontakt zu Institutio-nen und zu Menschen mit Behinderung erwies sich als Muss. Ein beschwerlicher und vor allem langwieriger Weg. «Aber wir waren wildentschlossen», sagt Gerber. Ihre Anstrengungen waren von Erfolg gekrönt. In viel Freiwilligenarbeit und mit finanzieller Unterstützungvon Sponsoren brachten sie gut 20 Sängerinnen und Sänger zusam-

men. Und gewannen zudem die Musikerin Sibylle Aeberli, die mannicht zuletzt von der Kindermusikband Schtärneföifi her kennt, alsChorleiterin. Die Musikerin ist Feuer und Flamme für ihre Aufgabe und sagt «Ohne Beschwerdechor? Das kann ich mir also gar nicht mehrvorstellen.»

Eine Aussage, die spätestens dann Sinn ergibt, wenn man bei einerder wöchentlichen Proben in Oerlikon vorbeischaut. Dem zu Beginnfröhlichen Geschnatter gebietet Debora Gerber schnell Einhalt. Schliess-lich gilt es ernst und der nächste Auftritt steht bald bevor. «Heute wol-len wir unser Lied mindestens einmal singen, damit wirs dann auchwirklich können», sagt sie mit Nachdruck. Der von Aeberli verfassteSong fasst die Beschwerden der Sängerinnen und Sänger zusammen,verschafft sich Luft über nervenden Fluglärm, störende Schwestern, denzu geringen Lohn oder schneidet die Furcht vor der nächsten Niederla-ge des FCZ an. Alltagsprobleme, aber deswegen nicht ohne Gewicht. ImGegenteil. Auch wenn nicht alle gleich herzhaft oder konzentriert mit-singen, spürt man doch, dass alle in diesem Moment hier sein wollen.Und nirgendwo anders. Zwischendurch brechen die Emotionen durch.Beim nächsten Event, so der Plan, will man vor dem eigentlichen Auf-tritt noch einzeln an den Bühnenrand treten, um dem Publikum seineaktuellste Beschwerde vorzutragen. Als Kurt Schumacher sich bei derProbe darüber empört, dass das Hilfswerk World Vision nicht alle seineVersprechungen hält, versagt ihm die Stimme. Nach einer Pause gehtswieder besser. Noch einmal wird das von Aeberli mit der Gitarre ange-stimmte Beschwerdelied durchexerziert. Der sehbehinderte René Jeker,der sich darüber echauffiert, dass die Leute nicht aufstehen, wenn er mitseinem weissen Stock das Tram betritt, reckt dabei seine Faust be-sonders energisch in die Höhe. Nach einer guten Stunde folgen zumSchluss noch die Anweisungen, wie, wo und wann man sich für denAuftritt in Bern einzufinden hat. Nicht alles ist Arbeit. Bevor alle wiederihrer Wege ziehen, beschliessen einige, am nächsten Tag das Konzertvon «Die Regierung» zu besuchen. Das seit über 20 Jahren bestehendeOstschweizer Künstlerkollektiv hat auch fünf behinderte Menschen inseinen Reihen. Sein Credo lautet: «Behinderung kann eine besondereForm von Begabung sein.» Muss aber nicht.

mern, auch einmal das Rampenlicht auf sich spüren. Der Beschwerde-chor steht mit seinen Aktivitäten alles andere als allein auf weiter Flur:Behinderte Menschen in künstlerische Projekte einzubeziehen, dasscheint mittlerweile schon fast zu einer Modeerscheinung geworden zusein. Da könnte sich manch einer dazu verleitet sehen, es auch einmaldamit zu versuchen. Das muss per se nicht schlecht sein, doch durchdiese Entwicklung steigt auch die Miss-brauchsgefahr. Der gilt es vorzubeugen: «Diekünstlerische Arbeit mit behinderten Men-schen erfordert ein hohes Mass an Respekt undehrliche Lust auf wirklich inklusives Zu-sammenarbeiten», sagt etwa Sibylle Ott, künstlerische Leiterin vonWildwuchs, dem alle zwei Jahre in Basel stattfindenden «Kulturfestivalfür Solche und Andere». Laut ihr sind nicht zuletzt die Erfahrung unddas Wissen gefragt, dass Behinderung künstlerisches Talent nicht be-hindert.

Dampf ablassenDessen sind sich auch die Macherinnen des zürcherischen Be-

schwerdechors bewusst. Debora Gerber, Nora Lechmann und MarionFleisch, allesamt in sozialen Berufen tätig, haben im März 2010 den Ve-rein Rührwerk gegründet, sein Zweck: «Die Unterstützung und Förde-rung gemeinnütziger Bestrebungen aller Art, insbesondere zugunstender Integration und Chancengleichheit von sozial benachteiligten Men-schen; die transkulturelle Öffnung und Stärkung der Solidarität zwi-schen den Generationen; die Förderung von Kunst und Kultur.» GrosseWorte. Solche, die denjenigen, die nicht selbst im Sozialkuchen stecken,auf Anhieb nicht allzu viel sagen. Fleisch erklärt, es sei ihnen wichtig,dass alle Mitwirkenden ein Mitspracherecht beim Beschwerdechor hät-ten. «Unser Ziel ist nicht zuletzt, dass Menschen mit und ohne Behin-derung zusammenkommen, sich begegnen und sich kennen lernen.»

Die Macherinnen sind «mega-stolz auf die Eigendynamik, die unserkleines Projekt inzwischen entwickelt hat.» Der Auftakt war allerdingsharziger als gedacht. Zunächst hätten die drei jungen Frauen die finni-schen Gründer des weltweit agierenden Beschwerdechors kontaktiert.Ursprungsidee der beiden skandinavischen Künstler war es, die grosseEnergiemenge zu nutzen, die Menschen verpuffen, wenn sie sich – wasja die meisten tun – wieder mal über etwas beklagen: Wer über seineSorgen singt, lässt überschüssigen Dampf ab. Und im Chorverband solldas noch besser funktionieren.

Die Zürcherinnen wurden Teil der Beschwerdechor-Bewegung, nah-men das Konzept auf, versahen es jedoch mit einem Dreh. Eben: Bei ih-nen sollten Menschen sowohl mit als auch ohne kognitive Beeinträch-tigung mitwirken. Nächster Schritt war das eigentliche Sammeln vonBeschwerden. Sie hätten dazu diverse soziale Institutionen angeschrie-ben, aber bald einmal feststellen müssen, dass nichts geht, wenn sie

«Der Arbeitsmarkt für Schauspieler mit einer Behinde-rung ist nicht gross. Aber wir wollen ihn aufmischen.»

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Wie auch Giancarlo Marinucci, Geschäftsführer beim Zürcher Thea-ter Hora, weiss. «Wir setzen da an, wo behinderte Menschen ihre Stär-ken haben», erklärt er. Das einer Stiftung angegliederte Theater Hora istseit über 20 Jahren im Geschäft und hat seine Aktivitäten zunehmenddiversifiziert. Heute bezeichnet man sich stolz als «Kompetenzzentrumfür Menschen mit einer geistigen Behinderung». Zum Angebot gehörenTheater- und Musikproduktionen und seit 2009 gibts auch eine zwei-jährige Schauspielausbildung, die mit einem Zertifikat abgeschlossenwerden kann. «Zugegeben, der Arbeitsmarkt für Schauspieler mit einerBehinderung ist nicht sehr gross, aber wir wollen ihn aufmischen», sagtMarinucci. Dabei helfen soll auch das angegliederte und noch sehr jun-ge internationale Theaterfestival Okkupation, das in ähnlichen Gewäs-sern fischt wie Wildwuchs, weshalb es nicht weiter überrascht, dass diebeiden Festivals planen, künftig enger zusammenzuarbeiten.

Unverblümter Anspruch«Uns geht es darum, gute Produktionen auf die Beine zu stellen. Auf

einen Mitleidsbonus verzichten wir.» Aus Sicht von Marinucci gibt esnoch viel zu wenig Kulturprojekte, die behinderte Menschen einbezie-hen. Eine Modeströmung kann er nicht erkennen, allenfalls eine gewis-se Massierung. «Aber am diesjährigen Theaterspektakel wurde in die-sem Bereich kein einziges Stück aufgeführt», kritisiert Marinucci. Undfügt an: «Wir machen so lange weiter, bis die Schweizer KulturhäuserAufführungen mit behinderten Menschen in ihren regulären Spielplanaufnehmen.» Ein unverblümter Anspruch. Einer, den man vor 20 Jahrenwohl so noch nicht zu hören bekommen hätte.

Doch die Gesellschaft hat sich verändert, geöffnet. Selbst wenn vielenoch nie mit einem Menschen mit Behinderung Kontakt hatten, so sinddiese doch viel häufiger in unserem Alltag präsent. Sie werden nicht

Der Zürcher Beschwerdechor: Auch wenn nicht alle gleich konzentriert mitsingen – man spürt, dass alle in diesem Moment hier sein wollen.

mehr versteckt, sie wollen auch nicht mehr versteckt werden, sondernam Leben teilnehmen. Und ihre Rechte einfordern. Gerade weil sie im-mer sichtbarer und gegenwärtiger werden, sind Begegnungen zwischenMenschen mit und ohne Behinderung zunehmend ungezwungener, nor-maler. Die Distanz schwindet und das gegenseitige Verständnis steigt.Nicht immer und überall, aber insgesamt eben schon. Deswegen wirdes auch immer mehr Projekte, Konzerte oder Theaterstücke geben, beidenen behinderte Menschen mit von der Partie sind. Nicht, weil sie ei-ne Behinderung haben, sondern weil sie eine Begabung haben. Quasials negativen Nebeneffekt wird es jedoch zu zunehmend schlechtenoder gar bedenklichen Beispielen kommen. So wie im regulären Kultur-bereich auch. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es halt vielschneller heikel wird, wenns um Menschen mit Behinderung geht. Ge-fragt sind Respekt und Ernsthaftigkeit.

Natürlich wird auch das Fernsehen sein Interesse an behindertenMenschen nicht verlieren. Was in letzter Konsequenz nichts als richtigist. Zwar sei kein Folgeprojekt zu «Üsi Badi» geplant, so FernsehmannToni Wachter, doch auf Herbst respektive Winter sei eine weitere Sen-dung mit Menschen mit Behinderung geplant. Allerdings mit völlig anderem Konzept. «Das Gefäss hat jedoch ebenfalls zum Ziel, das Ver-ständnis zu verbessern und dabei zu helfen, Vorurteile gegenüber be-hinderten Menschen abzubauen. Damit im Umgang mit ihnen mehrNormalität erreicht werden kann.» Klingt gut. So weit. ■

Zürcher Beschwerdechor: www.verein-ruehrwerk.ch

Wildwuchs: www.wildwuchs.ch

Theater Hora: www.hora.ch

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Überschwemmungen, Erdbeben, Grossunfälle: Katastrophen bringen Menschen in Extremsituationen und machen sie zur Schicksalsgemeinschaft. Ein Gespräch mit Arzt und Katastrophenhelfer Ernst Michel über Opfer und Helfer – und den Drahtseilakt auf den feinen Seilen ihrer Psyche.

Katastrophenhilfe «Die Moral ist entscheidend»

Balance scheint ein wichtiges Stichwort zu sein. Eindeutig. Jene des Individuums, jene der ganzen Gruppe und auch jene der Angehörigen der Verschütteten, die oben sind und bangen.Das optimale Zusammenspiel der verschiedenen involvierten Gruppenist ein sehr hoher Anspruch und scheint in diesem Fall schnell gut ge-klappt zu haben.

Bei der Schweizerischen Katastrophenhilfe (SKH) gehören Sie zu einem Team von sechs Leuten, die in Katastrophenfällen die Rettungskräfte psychologisch und medizinisch betreuen. Wie mussman sich das vorstellen: Sind Sie allzeit auf Stand-by?Passiert etwas, entscheidet die Direktion für Entwicklung und Zu-sammenarbeit (Deza), ob es einen Einsatz gibt. Toni Frisch, der Direk-tor, bestimmt in Absprache mit seinem Expertenteam, ob die ganze Rettungskette mit etwa 100 Leuten ausrückt; mit Rettungsteams, Press-luftbohrer, Suchhunden und so weiter. Oder ob kleinere Teams gehen,etwa Wasser- oder Hygienespezialisten. Wir sind tatsächlich auf Stand-by, immer bereit, innert zwölf Stunden in Kloten zu sein. Dort gibt es einen Raum bei den Terminals, wo man Kleider und Ausrüstung be-kommt und dann sitzt man schon im Flieger.

Ohne Vorbereitung?Das Briefing erfolgt vor Ort durch den Einsatzleiter. Als Gruppe bereitetman sich schon vor. Man bespricht, was war – etwa in Haiti. Es gibtRapporte, man tauscht sich fachlich und menschlich aus. Aber im Prin-

zip muss man einfach sehr schnell sein. Man ist fünf, sechs Tage im Ka-tastrophengebiet. Wenn es um die Rettung von Menschen geht, mussrasch gehandelt werden. Mit jedem Tag, der vergeht, macht ein Einsatzweniger Sinn. Meine Gruppe ist da für die Leute, die retten, die mit Tod,Hilflosigkeit und verzweifelten Angehörigen konfrontiert sind. Diese Bil-der gilt es aufzufangen. Darauf kann man sich nur bedingt vorbereiten.Gefragt sind Flexibilität und Improvisationsbereitschaft. Man weissauch nie, wie der nächste Einsatz sein wird. Wird er an einem sehr kal-ten oder heissen Ort sein? Ist es eine Überschwemmung, ein Erdbeben?Was ist es für ein Gebiet, wie gross die Gruppe? Ich glaube, es wärefalsch, sich in dem Sinne vorzubereiten.

Das klingt, als wäre zu viel Vorbereitung gar kontraproduktiv.Es ist viel wichtiger, einige Grundsätze zu kennen und zu beachten. Etwa, dass man seine Rolle schnell findet. Als Ansprechpartner, der prä-sent ist, sich aber nicht aufdrängt – kurzum die Balance zwischen Nähe und Distanz. Ein zweiter Grundsatz ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Esgeht nicht um Therapie, sondern man will dem Einzelnen ermöglichen,dass er mit sich weiterfahren kann, oder dass man als Team weiterar-beiten kann.

VON YVONNE KUNZ (TEXT) UND SIMON SCHWAB (BILDER)

In Chile harren 33 verschüttete Bergleute in 700 Metern Tiefe ausund hoffen auf Rettung. Nun konnte man lesen, dass einer der Ver-schütteten Zahnschmerzen hat. Können in solchen Momenten auchrelativ banale Dinge die Situation entscheidend beeinflussen? Dort unten herrschen ja wortwörtlich höllische Bedingungen, da kannfür eine Gruppe alles zur immensen Belastung werden. Ein, zwei Leutekönnten ein Ungleichgewicht verursachen. Man muss unbedingt versu-chen, die Gruppe in der Balance zu halten.

Unmittelbar nach dem Unglück waren die Bergarbeiter völlig aufsich selbst gestellt. Offenbar konnten sie gut damit umgehen. Sie scheinen sich sehr gut organisiert zu haben. Sie wählten einen Lei-ter. Eine Hierarchie ist in einer solchen Situation von entscheidenderWichtigkeit. Da kann man keine Abstimmungen durchführen, es musseinen Anführer geben, der akzeptiert wird und der bestimmt, was zutun ist.

Unterdessen werden die Leute von oben betreut. Was kann man fürsie tun?Es gibt ein Psychologenteam, das die Gruppe coacht. Das Wenige, wasman hört, beeindruckt mich. Als man Kontakt herstellen konnte, sahman: Die sind ungepflegt. Also hat man sie mit den nötigen Dingen versorgt und sie zur Körperpflege aufgefordert. Sie werden angewiesen,wie sie die Arbeiten verteilen sollen. Sie wer-den angehalten, mittels Änderungen der Hel-ligkeit des elektrischen Lichtes Tag und Nachtzu simulieren. Ausserdem haben sie sich ein-gerichtet: Es gibt einen Raum zum Essen, einen Raum zum Schlafen. Und, das ist faszinierend, einen Raum zumWeinen, zum Alleinsein, um seine Wut und Verzweiflung rauszulassen,damit dies nicht in der Gruppe geschieht.

Hat diese Gruppe in Bezug auf die Konstellation einfach Glück? Esgibt doch sicher Menschen, die so etwas nicht aushalten?In diesem Fall sind es ja Leute, die vorsätzlich jeden Tag unter der Erdearbeiten. Um das auszuhalten, muss man schon mal speziell sein. Dasbringt eine gewisse Selektion. Sie oder ich würden es dort unten selbstohne Unglück nicht lange aushalten – mir reichten vier Stunden im«Höllloch» (200 Meter lange Höhle im Muotathal, Anm. d. Red.).

Welche Bedeutung hat in einer solchen Situation die Hoffnung?Moral ist wichtig. Man scheint genau darauf zu achten, welche Infor-mationen zu den Bergleuten gelangen. Wenn sie hörten, dass ihr Ar-beitgeber ihre Löhne nicht mehr bezahlt, weil sie nicht mehr arbeiten,wäre das furchtbar demoralisierend. Das ist gutgemeinte Zensur. Es gehtdarum, ihnen nicht alle Hoffnung zu nehmen, aber auch nicht falscheHoffnungen zu schüren, indem man etwa sagt: Ihr seid bald wiederoben. Diese Balance ist eine hohe Kunst.

«Mit jedem Tag, der vergeht, macht ein Einsatzweniger Sinn.»

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sammenbraut. Alles war sehr instabil. Offiziell war der Bürgerkrieg ja zuEnde, aber es gab immer noch Scharmützel.

Was erzählten die UNO-Beobachter nach ihrer Befreiung?Das Wichtigste sei für sie gewesen, dass sie immer zusammen waren.

Welche Hilfe konnten Sie ihnen geben? Ich machte ihnen das Angebot, zu mir zu kommen – und sie nutzten es,jeder auf seine Art. Einen einheimischen UNO-Mitarbeiter habe ichnach Hause gefahren, der wollte einfach zu seinen Leuten. Er konntenicht Auto fahren, dazu war er noch zu schockiert und aufgewühlt. Eswar wichtig, dass jemand da war, der ihn fuhr und zuhörte.

Gibt es universelle Regeln für die Verarbeitung von solchen trauma-tischen Erfahrungen?Diese Frage hätte man wohl vor fünf bis zehn Jahren noch ziemlich an-ders beantwortet. Man glaubte noch an generelle Regeln. Zum Beispielwar die Konfrontation Standard. Nach dem Attentat in Luxor oder demFlugzeugabsturz in Halifax sorgte man dafür, dass die Angehörigen denOrt des Geschehens besuchten. Man hat gesehen, dass dies für einenTeil der Leute hilfreich war bei der Verarbeitung, bei den anderen ver-stärkte es den Schmerz. Heute ist man da flexibler, individualisierter.

Sie haben in einem Spital in Ghana gearbeitet – auch unter ver-gleichsweise extremen Bedingungen. Wie haben Sie das erlebt? Was mich nachhaltig beeindruckte, ist, wie man gewisse medizinischeFähigkeiten entwickelt. Dort war es das Sehen, das Spüren. Hier in derSchweiz macht man schnell im Labor ein Röntgenbild. In Afrika sitzenam Morgen 100 Leute im Ambulatorium und man sieht schnell: Bei demoder der muss ich besonders aufpassen, ihnen geht es besonders

Wollen die Retter überhaupt betreut werden? Das ist individuell verschieden. Es kommt sehr darauf an, wie es vor Ortläuft. Läuft es gut, kann man etwas bewirken und Menschenleben ret-ten. Schwieriger wird es, wenn man merkt: Die Hoffnungen schwinden,man ist zu spät, wir können niemanden retten.

Die Stimmung in den Teams ist also sehr fragil. Nicht grundsätzlich, aber eben sehr abhängig davon, was man antrifft.In Haiti, so berichteten mir Leute vom Roten Kreuz, sei es sehr schwie-rig gewesen – noch nie hätten sie solche Zerstörung gesehen. Die Ein-sätze erfolgen im Allgemeinen unter harten Bedingungen und bergenviel Konfliktpotenzial. Etwa, wenn die Leute an der Front vorwärts ma-chen wollen und es dann im Hintergrund harzt – es müssen ja immerzahlreiche Hilfstruppen aus der ganzen Welt koordiniert werden.

Sie waren für die UNO zum Ende des Bürgerkrieges in Tadschikis-tan. Was haben Sie dort vorgefunden?Die Schweiz übernahm damals den medizinischen Dienst für das UNO-Personal. Jeweils zwei Ärzte und eine Krankenschwester. Jemand warin der Hauptstadt im fixen Ambulatorium und jemand im Pamirgebirge,wo man mit dem Auto patrouillierte und in den verschiedenen UNO-Sta-tionen nach den Leuten sah. Man schloss sich spontan zu Gruppen zu-sammen, vor Ort und je nach Bedarf. Das Team sah anders aus, je nachdem, ob es sich um einen Autounfall handelte oder eine Durchfallepi-demie.

Haben Sie dabei Extremsituationen erlebt?Das Happigste war eine Geiselhaft von mehreren Tagen von sechs UNO-Beobachtern, die ausgeschwärmt waren, um zu kontrollieren, ob esWaffenverschiebungen gibt oder Hinweise darauf, dass sich etwas zu-

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«Es gibt Momente, die sich stark einprägen. Etwa wenn ein Kind an Masern stirbt.» Ernst Michel, Mitglied der Schweizer Katastrophenhilfe.

Ärgert sie das?Ja, das ärgert mich. Ich denke, es lenkt die Aufmerksamkeit und letzt-lich auch die Geldströme falsch. Man ist relativ rasch bereit, viel Geldzu sprechen für Notfall-Expeditionen und diese haben – relativ gese-hen – wenig Erfolg. Bei der langfristigen Hilfe, die eigentlich billiger ist,hat man sehr viel weniger Echo. Das ist sehr schade. Die chilenischenArbeiter sind halt einfach interessanter für die Medien.

Auch für den Leser. Der Gedanke läuft mit: Wie würde ich reagieren? Ganz schwierig zu sagen, denn letztlich ist es unvorstellbar, 700 Meterunter dem Boden gefangen zu sein. Die Reaktionen würden unter-schiedlich ausfallen. Potenziell kann man aber davon ausgehen, dasswir an einer Aufgabe wachsen. Kräfte, von denen man nicht wusste,kommen zum Vorschein.

So oder so. So oder so. In Afrika gibt es praktisch keine Suizide. Wenn man dort er-zählt, dass sich in Europa viele Leute umbringen, weil sie keine Zukunftmehr sehen, gucken einen die Menschen nur gross an. Das zeigt mirauch: In der Not, in der Armut, da kommen ganz andere Strategien zumVorschein, um zu überleben. ■

schlecht. Das kann man in der Schweiz nicht lernen, weil wir eine an-dere Art Medizin machen. Es hat mich fasziniert, wie man diese Sen-sorien bei sich verkümmern lassen kann – oder eben trainieren.

Haben die Einsätze Sie traumatisiert? Haben Sie Dinge gesehen, diebis heute an Ihnen nagen? Es gibt schon Bilder, die sich einprägen. Kinder etwa, die an Masernsterben. Oder Starrkrampfpatienten, die krampfen und es gibt nichts,was man für sie tun kann. Als Mediziner hat mich beeindruckt, dass esdiese Krankheiten wirklich gibt. Und wie geschwächt die Körper vielerMenschen aufgrund der Unterernährung sind.

Sie schildern dies sehr kühl aus der Sicht des faszinierten Medizi-ners. Nimmt Sie der Anblick des menschlichen Schmerzes nichtfurchtbar mit?Es gilt ihn auszuhalten. Es ist schwierig, nicht allzu distanziert zu wir-ken, aber überidentifizieren darf man sich auch nicht – denn dann kannman gar nichts mehr machen. Man muss sich immer wieder sagen: Ichbin in einer andern Welt. Punkt. Häufig ist es einfacher, an einem sol-chen Ort zu sein und zu arbeiten, als nur zuzuschauen, etwa wenn Siein einem solchen Gebiet reisen – auch wenn man weniger sieht vomElend.

Katastrophen bedeuten Zerstörung und Tod auf einen Schlag: Dasliefert auch wahnsinnig gute Headlines. Sie sind – zynisch gesehen –ein Spektakel. Das stimmt natürlich. Und das Spektakel ist schnell vorbei. Über Haitiredet heute keiner mehr. Dabei läuft dort eigentlich erst jetzt die ent-scheidende Hilfe, nicht in den ersten fünf Tagen.

Zur Person:Ernst Michel, 55, ist Allgemeinpraktiker in Bern. Neben der eigenenPraxis ist er verantwortlich für den allgemeinen medizinischen Dienstan der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern und Mitglied derSchweizerischen Katastrophenhilfe SKH.

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Sie haben ihren ganzen Mut zusammengenommen – und sind zum ersten Mal im Leben aufein Velo gestiegen. Zu Besuch beim schweizweit ersten Velo-Kurs für erwachsene Migrantin-nen und Migranten in Ostermundigen.

Integration «Maria Santa, ich fahre!»

Zum zweiten Mal treffen sich heute die Teilnehmerinnen und Teil-nehmer des «Velofahrkurses für Migranten» auf dem Gelände des Schul-hauses Bernstasse. Der Kurs wird gemeinsam von Pro Velo Bern und derGemeinde Ostermundigen angeboten und ist schweizweit der erste Ve-lo-Kurs für Erwachsene, der sich speziell an Migranten richtet. Falls ersich als Erfolg herausstellt, soll er nächstes Jahr wiederholt werden.«Andere Gemeinden haben ihr Interesse bereits signalisiert. Vielleichtkönnen wir ja etwas anstossen», hofft Jürg Hebeisen von der GemeindeOstermundigen. Er ist ebenfalls vor Ort und hält nach der Frau vom Ro-ten Kreuz Ausschau, die während des Kurses auf die Kinder der Teil-nehmerinnen aufpassen soll. «Viele Zugewanderte können nicht Velofahren und sind deshalb oft mit dem Auto unterwegs. Mit diesem Kurswollen wir den Langsamverkehr fördern.» Ausserdem mache Velo fah-ren Spass und sei gesund, ruft er noch, während er einer verspätetenTeilnehmerin mit Kinderwagen entgegenspurtet.

VON MENA KOST (TEXT) UND ANNETTE BOUTELLIER (BILD)

Die Spätsommersonne scheint grell an diesem Nachmittag. Sie lässtden Asphaltboden des Ostermundiger Pausenplatzes mehr weiss wir-ken als schwarz und treibt alle in den Schatten. Unter einem Vordachstehen 13 Frauen und ein Mann unterschiedlichster Herkunft. Was dieFrauen aus Äthiopien, Aserbaidschan, Bangladesh, Kolumbien, Kame-run, Osteuropa und der Mann aus Spanien gemeinsam haben, ist derVelohelm auf dem Kopf und die signalrote Weste von Pro Velo Bern.Nur Josephines schwarzes Haar ist noch unbehelmt: Die 40-jährige Ka-merunerin blickt angestrengt in die Ferne, während ihr jemand vonHinten einen Velohelm überstülpt und am Verschluss herumfingert.Dann macht es Klick, Josephine schüttelt prüfend den Kopf: Er sitzt.«Très bien!», sagt Josephin laut und tapfer. Und leise: «Oioioi, ich habeAngst, dass ich falle.»

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«Bravooo!! Sehr gut, Marica fährt!» Tatsächlich: Marica mit den silber-nen Turnschuhen tritt als erste in die Pedale, sitzt gerade im Sattel undsteuert ausbalanciert auf Lehrerin Bollinger zu. Alle sind begeistert, eswird geklatscht, Marica ruft: «Maria Santa, ich kann Velo fahren!»

Die Schatten werden langsam länger, der Asphaltboden nimmt wie-der ein gewohntes Grauschwarz an. Am Rand des Pausenplatzes habensich ein paar Kinder versammelt, die den Velofahr-Versuchen der Er-wachsenen staunend zusehen. «Wir sind gekommen, weil wir gehörthaben, dass hier was los ist», erklärt ein Kleiner mit Mountainbike, derGeld für die Überschwemmungsopfer in Pakistan sammelt. Er steigt aufsVelo und dreht selbstsicher eine Runde. «Also ehrlich, Velo fahren kannich 1000 Mal besser als die Erwachsenen.» Noch hat er recht. Aber lan-ge wird er seinen Vorsprung nicht halten können. Unterdessen habenfast alle einige Meter lupenreine Velofahrt hinter sich. Gestürzt ist nie-mand, man ist zufrieden. «Grandios», sagt Lehrerin Bollinger zu denFortschritten ihrer Schülerinnen – auch wenn für sie anderes im Vorder-grund steht: «Diese Frauen haben genug Probleme im Alltag. Bei unssollen sie Spass haben, Leute kennen lernen und mobil werden.»

Josephine nimmt den Velohelm ab und schüttelt ihr Haar zurecht.«Das nenne ich Sport», erklärt sie und klopft sich auf die Oberschenkel.Meghla aus Bangladesh gesellt sich zu ihr und zeigt ihr eine Schürfungan der Hand, die sie sich vergangene Woche bei einem Sturz zugezogenhat: «Oioioi», sagt Josephin und nickt anerkennend: «Sport eben! Arme,Beine, Hüfte, man trainiert einfach alles.» Dann ziehen die beiden Frau-en – heute noch zu Fuss – gemeinsam von dannen. ■

Josephine wird sich heute zum ersten Malauf ein Velo setzen. Die Lektion vergangeneWoche hat sie verpasst. Erst durch einen Be-richt in der Lokalzeitung über den ersten Kurs-tag wurde sie auf das Angebot aufmerksam: «Ein interessanter Artikel.Danach habe ich mir gesagt: Josephine, Velo fahren ist gut für die Ge-sundheit und gut für die Integration. Allez hop.»

Josephine ist vor drei Jahren aus Kamerun in die Schweiz gekom-men, heute lebt sie mit ihrem Mann, einem Schweizer, in der Nähe vonBern: «Alle hier können Velo fahren – mein Mann, meine Freundin, mei-ne Nachbarin. Wenn ich mit ihnen Ausflüge machen will, muss ich esauch lernen.» Sie lässt den Ständer von einem der 14 parkierten Kurs-velos hochschnappen. «Anfang der Siebzigerjahre gab es in Kamerunauch viele Fahrräder, meine Mutter hat damals eines besessen.» Jose-phine im knallblauen Kleid schiebt ihr Damenrad vorsichtig in die Mit-te des Schulhofplatzes, dann zuckt sie mit den Achseln: «Als ich dannins Alter kam, in dem Kinder Velo fahren lernen, wurden kaum mehrFahrräder importiert und das meiner Mutter ging kaputt.»

Der auf sechs Lektionen angelegte Kurs hat ein ehrgeiziges Ziel: DieTeilnehmer sollen – möglichst auch im Verkehr – sicher Velo fahren kön-nen. Auch ein Theorienachmittag, geleitet von der Kantonspolizei, istdeshalb geplant. Und damit die Neulenker nach Kursende nicht ohneÜbungsgerät dastehen, kann, wer will, sein Kursvelo für rund 150 Fran-ken erstehen. Das gefällt Josephine. Sie mustert ihr Fahrrad kritisch,dann nickt sie zustimmend: «Fast schon gekauft.»

Zuerst aber wird aufgewärmt: Die Velofahr-Lehrerin, Andrea Bollin-ger von Pro Velo Bern, machts vor: Hüpfen, Arme schütteln, Hüftenkreisen lassen. «Und?», fragt sie, «locker?» Wie zum Beweis, nimmt eineblau behelmte Dame aus Kolumbien Frau Bollingers Hand und führt mitihr ein kleines Ringeltänzchen vor.

Nachdem die Bremsen besprochen sind – Vorderbremse? Hinter-bremse? –, steigen die ersten mit dem rechten Bein vorsichtig übersOberrohr und setzen sich zögerlich auf den Sattel. Man erkennt: Ein Ba-lanceakt. «Wer seit Jahren Velo fährt, kann sich nicht in einen Anfängerhineinversetzen», erklärt Lehrerin Bollinger. Für Erwachsene sei es vielschwieriger, Velo fahren zu lernen, als für Kinder. «Erwachsene habenmehr Blockaden im Kopf und sind weniger draufgängerisch.» Was abernicht heissen solle, dass ihre Schülerinnen keinen Pepp hätten: «MeineFrauen sind ehrgeizig, die möchten das jetzt wirklich lernen. Und Eu-genio natürlich auch.» Der einzige Herr der Gruppe ist schon gut inFahrt. Der Sattel seines Velos ist so weit wie möglich heruntergestellt,die Pedale sind abgeschraubt und auf den Gepäckträger geklemmt. Heu-te lernt man nämlich nicht mehr mit Stützrädern Velo fahren: Wie beieinem «Like a bike» – das sind diese Laufvelos für Kinder ohne Pedale –gibt Eugenio mit den Füssen an und zieht so im Laufschritt seinen er-sten Kreis auf dem geräumigen Schulhausplatz. Der 48-Jährige ist be-reits mit neun Jahren von Spanien in die Schweiz gezogen. «Damals hates zu Hause geheissen: Eugenio, ein Velo liegt nicht drin. Du läufst zurSchule», erzählt er. Später, als Erwachsener, habe er die Idee dann ausden Augen verloren. «Aber besser spät als nie», sagt er, setzt zur zwei-ten Runde an und fügt sich gekonnt in die Damenparade ein. Eugeniofindet es übrigens nicht unangenehm, der einzige Mann der Gruppe zusein. Im Gegenteil, er findet das: «Wunderbar!»

«Velo fahren ist cool»Dass sich mehr Frauen als Männer angemeldet haben, erstaunt vom

Organisationsteam niemanden: «Männer schämen sich mehr, etwasnicht zu können, als Frauen», sagt Pro Velo Bern-Geschäftsführerin Anita Wenger, während sie die ersten Fahrversuche – unterdessen mitmontierten Pedalen – kritisch beobachtet. Zudem sei der Stellenwert desVelos in den Herkunftsländern der meisten Teilnehmenden sehr gering:Dort fahre nur Fahrrad, wer sich kein Auto leisten könne. Hier sei daszum Glück anders: «In der Schweiz ist Velo fahren cool.» Und dann:

«Zu Hause hat es geheissen: Eugenio, ein Velo liegtnicht drin. Du läufst zur Schule.»

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gefunden. War ein schönes Blumenfeld!» «Hof-fentlich habt ihr sie verloren», hält sich Maga-ly am Kühlschrank fest. «Magaly!» «Was? Ichbin müde und jetzt noch in den Keller! Werweiss, was wir da finden!» «Paul», murmle ich,«können wir uns drauf einigen, dass wir dieHand irgendwann mit den Spare Ribbs gegrillthaben?» «Nein! Und fürs Protokoll: Den Krieghättet ihr nie überlebt!»

Am nächsten Tag scheppert in der Küchedas Telefon. «Die Lebensversicherung fragt, obsie Paul abbuchen soll!», bellt Onkel Hervédurch das Telefon. «Den nicht, aber wir suchennoch immer diese Hand», schenke ich gerädertKaffee ein. «Welche Hand?» «Die ähm Handähm Bremse! … Bremse!», fuchtelt Paul mitden Hanteln vor meinem Gesicht. «Oh, deineHandbremse! Die liegt in der Garage! Wolltenur was testen!» «Du hast meine Bremse ausmeinem Auto ausgebaut?», frage ich in die to-te Leitung. Magaly und ich sehen uns an.«Okay!», wehre ich sauer ab. «Du kümmerstdich um die Hand und die Hanteln. Ich um dieBremse und diese Scheissflut!»

DELIA LENOIR

[email protected]

ILLUSTRATION: IRENE MEIER

([email protected])

Letzthin am Strand in Frankreich. Wir ste-hen an der Mole und sehen zu, wie das Meerkommt. «Du weißt doch, was man über diegrosse Flut sagt!», ruft Magaly mir zu. Aber ichwinke nur ab. «Pures Gerede.» «Dass sie dasUnheil an Land schwemmt!»

«Hast du meine Tasche gesehen?», trotte ichspäter in die Küche. «Auf der Couch!», nu-schelt Magaly, in eine E-Mail vertieft. «Dachteich auch.» «Sieh auf der Couch nach», stemmtPaul ungerührt seine Hanteln. «Sind die fürdeine 102 nicht ein bisschen schwer?», frageich zurück. Aber Paul trainiert ungerührt wei-ter. «Wo ist der Fisch?», öffne ich den Kühl-schrank. «Wo ist mein Bikini?», will Magalywissen. «Er hängt nicht im Bad.» «Paul? DerFisch?», frage ich. «Seit ihr den Grill von denAlliierten entsorgt habt, kocht ihr alleine!» Ma-galy klappt ihren Laptop zu. «Was?» «Ich bin

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Le mot noirDie grosse Flut

gestern Nacht aufgewacht. Da war so ein Jam-mern.» «Paul schnarcht, dass sich die Balkenbiegen», atme ich auf. «Nein», zischt Magaly inmeine Richtung. «Ich glaube, hier spukt es.»«Okay», winke ich ab. «Du findest den Fischund ich den Bikini.»

In dieser Nacht höre ich ein Jammern undstehe auf. «Paul? Hast du dir das Genick ge-brochen?» «Lass es spuken und leg dich gefäl-ligst ins Bett!», hadert Paul im Wohnzimmermit einem Vorhang. «Damit ich in Ruhe diesenRing suchen kann!» «Welchen Ring?», bin ichverwirrt. «Der von Henrys Frau!», schnapptPaul beleidigt ein. «Saphir … Fünf Karat! …Toller Schliff!» «Reden wir von dem Henry, derangeblich mit Kaiserin Josephine was hatte?»«Natürlich hatte der was mit Josephine, aberseine Frau hatte das falsch verstanden … unddann kam es zu diesem kleinen Handgemen-ge.» «Ich ähm versteh nicht.» «Ich glaube, erwill den Ring mit ins Grab nehmen», zieht Ma-galy müde den Morgenrock zu. «Damit ihr aufdem Deckel herumreitet wie auf einem eurerKoffern?», wird Paul jetzt sauer. «Ich wollteden Ring nur finden bevor ich ins Gras beisse,d’accord!» «Und jemand was merkt! Laut Hen-rys Überlieferung müsste am Ring nämlichnoch eine ähm … Hand dran sein.» «Einewas?!» «Seht ihr? Dafür habt ihr Onkel Paul!»

«Und warum suchen wir die Hand in derKüche?», öffne ich zwei Stunden später denOfen. «Da hatte damals der Showdown statt

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Ausstellung Die unbekannten Wesen

VON MICHAEL GASSER

Grosseltern sind unbekannte Wesen. Überdie groben Lebenslinien von Oma und Opaweiss man zwar meist Bescheid, aber der gros-se Rest liegt im Dunkel der Vergangenheit be-graben. Wie haben sie sich nochmals kennengelernt? Was waren eigentlich ihre Lebens-träume? War Grosi vor Grosspapi in jemand anderes verliebt? Mats Staub widmet sich mitseinem Erinnerungsbüro, einem Kunstprojekt,genau solchen Fragen. Der in Basel wohnhafteBerner wurde zur Idee inspiriert durch das«abenteuerliche Leben» seiner Grosseltern, diesich in Afrika begegneten. «Ich wollte ihrer Geschichte nachgehen und merkte, dass sichda viele Lücken auftun», sagt Staub. Er habebegonnen, sich in seinem Bekanntenkreis um-zuhören. Das Thema hatte ihn gepackt undseither nicht mehr losgelassen. Der Dramaturgund Künstler begann, Menschen ausführlichzu ihren Grosseltern zu befragen. Bis dato hater über 80 Interviews geführt. 50 davon sindnun in die Ausstellung «Meine Grosseltern –Geschichten zur Erinnerung» im Berner Mu-seum für Kommunikation eingeflossen.

Es sei ein Thema, das niemanden kaltlasse,erklärt Barbara Kreyenbühl, Leiterin Marketingund Kommunikation des Hauses. Auch sie ha-be dank der Ausstellung prompt wieder inten-siver an ihre eigenen Grosseltern gedacht. Undsich erinnert, wie sie bei ihnen Traktor fahrendurfte, das erste Glas Wein trank und sich als«Queen der Guetslibüchs» fühlte. Womit sicheine der Absichten der Ausstellung auch gleichenthüllt: «Es sollen Erinnerungen ausgelöstwerden», bestätigt Kreyenbühl. Aber ohne je-den didaktischen Anspruch. Die Ausstellungbeschränkt sich auf einen Raum. Dominiertwird dieser von geblümelten Sitzkissen, dievon ausrangierten Sofas aus Omas Tagen stam-men. Daneben stehen Kuben und auf ihnen Fo-tos aus vergangenen Zeiten – von der kess indie Kamera guckenden Dame auf einem Motor-rad bis hin zum viel Eiseskälte ausstrahlendenHerrn in einer Uniform aus dem Zweiten Welt-krieg. Der Zeitstrahl an der Wand hilft, dasGanze chronologisch einzuordnen. Ausgestat-tet mit einem iPod, kann man sich durch dieLebensfragmente von 200 Menschen hören.

14 Stunden lang. So erzählt Enkelin Regula (33)von ihrem «Lozärner Grosi», davon, wie derArzt sich während der Spanischen Grippe nichtum das 1916 geborene Mädchen kümmernwollte, sondern lieber um ihre Brüder. Denndas «Meitschi» würde ja ohnehin sterben. Doches überlebte. Im Gegensatz zu ihren Brüdern.

Man vernimmt von bösen Stiefmüttern,Trinksucht und auch einigen wenigen guten Taten. Es ist ein tiefes Eintauchen in fremde Leben, die einem zwar immer ein gehörigesStück fremd bleiben, aber gleichzeitig sehrgreifbar werden und neugierig auf weitereSchicksale machen. Wer sich durch diverse derGeschichten lauscht, wird unweigerlich daranerinnert, dass die bittere Armut bis vor weni-gen Jahrzehnten die Schweiz fest im Griff hat-te. Über seinen Grossvater Tädi weiss Roland(36) nicht allzu viel, sein Vater habe nicht gernüber ihn gesprochen. Er habe jedenfalls in ärm-lichen Verhältnissen gelebt. «Aus dem Bauchheraus würde ich auch sagen, er war ein Trin-ker. Und ein Filou.»

Bei den Erzählungen über den nach Argenti-nien ausgewanderten Juan (*1890), der seine

Frau mit der Syphilis ansteckte, oder von OpaJacob (*1910), der seine beiden Söhne imFronturlaub zeugte, fällt auf, wie sehr imHintergrund grosse Themen wie Immigration/Emigration oder der Zweite Weltkrieg mit-schwingen. «Ich habe bei dieser Arbeit auch realisiert, wie viele Leute damals in die Schweizflüchteten und wie sehr ihre Leben davon be-einflusst wurden», erklärt Mats Staub. Ein er-wünschter Nebeneffekt. In erster Linie macheneinem die auf Deutsch, Französisch und Eng-lisch erzählten Geschichten aber bewusst, wieschampar wenig man eigentlich über seine ei-genen Grosseltern weiss. «Meine Grosseltern –Geschichten zur Erinnerung» weckt die Neugierund stachelt an, den eigenen Wurzeln auf dieSpur zu gehen. ■

Ausstellung: Museum für Kommunikation, Bern:

«Meine Grosseltern – Geschichten zur Erinnerung»,

noch bis 10. Oktober.

Buch zum Thema: Mats Staub: «Meine Grosseltern»,

Edition Patrick Frey (2010).

Und wie waren Ihre Grosseltern in jungen Jahren so?

Ihr Bild hat man genau im Kopf, aber wer sind oder waren eigentlich die eigenen Grosseltern? Eine Antwort aufdiese Frage will die Ausstellung «Meine Grosseltern – Geschichten zur Erinnerung» nicht bieten. Vielmehr lässtsie 50 Enkelinnen und Enkel zu Worte kommen. Unkommentiert.

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MusikZotteln und Zoten

Lust, Frust und Religion bilden die klebrige Schlacke, die NickCave auf «Grinderman 2» abfackelt – sein erlösendes Fegefeuer.

VON OLIVIER JOLIAT

Nick Caves Grinderman-Truppe, zur Hälfte mit beeindruckendem Zottel-bart versehen, vernichtet alles, was sich ihr in den Weg stellt. In Godzil-la-Format und ausgestattet mit Laser-Blick stapfen sie durch das Videoder Single «Heathen Child» und beschützen das unschuldige Heiden-Mädchen in der Badewanne vor der weltlichen Begierde, personifiziertim mystischen Wolfsmann. Doch gegen die Fleischeslust helfen wederReligion, Ehemann noch Regierung. Am wenigsten aber Nick Caveselbst.Er selbst ist der lüsterne Wolfsmann. Er ist aber auch Gott Suchender,verheiratet, und eine Umfrage in seiner Heimat ergab, dass die Australiervon allen Musikern am liebsten ihn als Premierminister sähen. Er ist Beschützer und zugleich Bedrohung der jugendlichen Unschuld: Diese explosive Mischung befeuert auch das zweite Grinderman-Album. DerErstling war für Cave nach dem Überschreiten der Fünfzig-Jahre-Grenzeein Ventil für seine Midlife-Crisis. Auch «Grinderman 2» lebt von der wir-ren Energie der Verzweiflung. Der minimalistische Rock von «Worm Ta-mer» oder «When My Baby Comes» ist manisch und obszön wie die vorLust und Frust triefenden Texte.Sorgen muss man sich um Cave trotzdem nicht. Sein Hang zum hoch-schrauben von Dramen und seine Flirts mit dem Wahnsinn haben bereitsseine erste Band The Birthday Party wie auch The Bad Seeds geprägt.Drei der Bad Seeds machen auch den Grinderman-Spass mit. Genau: denSpass. Denn so bitter-böse und verzweifelt die Songs wirken, sie steckenvoller Humor. Durch das Hadern mit dem Alter finden sie zurück zum ju-gendlichen Leichtsinn. So präsentieren gesetzte Herren, die sonst in fei-nen Anzügen spielen, im oben genannten Video plötzlich den blankenHintern. Später feuern sie auch noch aus eben diesem. Das will man garnicht sehen. Damit irritieren sie Altersgenossen wie Jungspunde. Cave &Co sind wieder beim Punk. Die verschworene Truppe zelebriert ihn auchan Presseterminen und Konzerten. Das Rüpeln ist für die Ü-50 Punks be-freiend. Dann kann man es auch wieder ruhiger angehen lassen wie et-wa im abschliessend wunderschönen «Palaces of Montezuma».Auch dem Video-Mädchen passiert übrigens nichts. Gegen die Unschuldder Jugend kommen die verdorbenen Alten nicht an. Aber sie zeigen,dass Rebellion altersunabhängig unglaublich gut ist und gut tut.Grinderman, «Grinderman 2», Mute/MV. Konzerte: 4. Oktober, 20.30 Uhr, Les Docks,

Lausanne; 5. Oktober, 20 Uhr, Volkshaus, Zürich.

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Väter, passt auf eure Töchter auf – die Herren von Grinderman sind im Anzug.

Kulturtipps

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BuchAlles zähltWer hätte gedacht, dass Zahlen so unterhaltsam sein können?Toni Jordan gelingt dieses Kunststück mit ihrem Romanerstling,einer rundum witzigen und originellen Liebeskomödie.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Stufen, Schritte, Bananen, Augenfalten, Unterwäsche … Seit ihrem ach-ten Lebensjahr zählt Grace Lisa Vandenberg. Unaufhörlich. Alles, wassie sieht, was sie in die Hand nimmt, was sie einkauft oder einordnet.Selbst die Buchstaben ihres Namens (19), die Borsten ihrer Zahnbürste(1768) oder die Mohnkörner auf dem Orangenkuchen in ihrem Stamm-café. Die Zahlen sind das Gerüst ihres Lebens. Ohne sie wäre sie orien-tierungslos, die Welt eine endlose Leere. Nur in ihren Träumen ist Gra-ce frei von Zahlen und Zwängen.Dann begegnet sie Seamus Joseph O'Reilly (19 Buchstaben!). Und mitder Liebe erwacht die Lust auf das Leben. Für Seamus ist sie bereit, sicheiner Therapie zu unterziehen. Doch durch die Psychopharmaka verliertsie ihren Humor, wird dick und schizophren. Alles, was an ihr be-sonders ist, verpufft im Medikationsnebel. Erst als ihre Mutter in ein Altersheim abgeschoben werden soll, erkennt sie, was sie sich antut, indem sie dem Konformitätsdruck nachgibt. Da endlich nimmt sie ihrLeben selbst in die Hand und richtet es für sich und ihre Mutter so ein,dass sie ohne Selbstaufgabe existieren können.Die Geschichte von Grace Lisa Vandenberg hätte eine klinisch-drögeFallstudie werden können, doch die australische Autorin Toni Jordan hatdaraus eine witzig-weise Lebens- und Liebeskomödie gemacht, die vonder ersten bis zur letzten Seite unterhält, ohne an der Oberfläche zu blei-ben. Die Gruppentherapien mit den Keimphobikern sind kabarettisti-sche Kabinettstücke, Witz und Selbstironie bewahren die Leiden undNöte der Protagonistin vor dem Abdriften in den Betroffenheitskitsch.In ihrem ersten Roman bricht Toni Jordan nicht nur eine Lanze für denWert der Individualität, sondern entwickelt darüber hinaus eine eigen-willige und berührende Philosophie der Achtsamkeit. Das Leben, sagtGrace Lisa Vandenberg, besteht nicht nur aus Höhepunkten. Zum Lebengehören auch tausend winzige Ereignisse. Alltäglichkeiten. ScheinbarBelangloses. Zähne putzen, Brote schmieren, auf den Bus warten. Jederdieser Augenblicke ist es wert, beachtet und gezählt zu werden. Werdies nicht tut, könnte sein ganzes Leben verpassen.Toni Jordan: Tausend kleine Schritte. Roman. Piper 2009. CHF 28.90.

Wie viele sinds? Grace Lisa Vandenberg

hätte die Orangen längstens gezählt.

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Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

werden?

Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3,

Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel

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Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag.

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Coop Genossenschaft, Basel

AnyWeb AG, Zürich

Velo-Oase Bestgen, Baar

Schweizerisches Tropen- und Public Health-

Institut, Basel

Niederer, Kraft & Frey, Zürich

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Kaiser Software GmbH, Bern

Responsability Social Investments AG, Zürich

chefs on fire GmbH, Basel

Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

Scherrer & Partner GmbH, Basel

TYDAC AG, Bern

KIBAG Strassen- und Tiefbau

OTTO’S AG, Sursee

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Canoo Engineering AG, Basel

Lehner + Tomaselli AG, Zunzgen

fast4meter, storytelling, Bern

Brother (Schweiz) AG, Baden

Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

IBZ Industrie AG, Adliswil

Zeix AG, Zürich

Zürcher Kantonalbank, Zürich

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DVDGeld oder Leben

Sie erhalten ein Päckchen. Darin befindet sich ein Kästchen miteinem roten Knopf. Drücken Sie ihn innerhalb der nächsten 24 Stunden, geschehen zwei Dinge: Jemand, den Sie nicht kennen, wird sterben. Und Sie bekommen eine Million Dollar inbar – steuerfrei. Was werden Sie tun?

VON PRIMO MAZZONI

Vor dieser Frage stehen Norma und Arthur Lewis (Cameron Diaz undJames Marsden). Irgendwie wollen sie ja das seltsame Angebot, das ih-nen der freundliche, leicht unheimliche Herr Steward (wunderbar:Frank Langella) unterbreitet, nicht annehmen. Aber die Geldsorgen pla-gen das glücklich verheiratete Paar doch sehr. Besonders jetzt, da Arthurdie erwartete Beförderung bei der NASA, und damit die Teilnahme ander Erforschung des Mars, nicht bekommen hat, und damit der weitereBesuch einer Privatschule für den Sohn infrage gestellt wird.«The Box» ist Richard Kellys Umsetzung einer Kurzgeschichte von Richard Matheson, aus dessen Feder unter anderem das mehrfach ver-filmte «I am Legend» stammt. Der Film gerät in der ersten Stunde zu ei-nem herrlich-gruseligen Schreckmümpfeli. Fast wähnt man sich in derguten alten, computereffektlosen Zeit einer Episode der «Twilight»-Serie.Leider mixt Kelly dann gar zu viel eigene Zutaten bei. Neben dem mo-ralischen Dilemma dreht sich einiges auch um die – reale – Marsmissionder NASA in den 1970er-Jahren und um einen mysteriösen Kult, dazukommen ein Touch Unheimlich- und Rätselhaftigkeit à la David Lynchund viel Nasenbluten. Aber warum? Das Nasenbluten wird zwar irgend-wie erklärt, ansonsten bleibt vieles ein Rätsel oder blosse Anspielungauf Horrorklassiker der 70er-Jahre, was zur eigentlich einfachen Aus-gangslage nichts beiträgt, ausser alles unnötig aufzublasen.Kein Wunder, kommt nach «Donnie Darko» und «Southland Tales» auchKellys dritter Film in Folge nur ins Heimkino. Trotz des seltsamenDurcheinanders wird «The Box» allerdings nie langweilig, und ist somitdurchaus einen herbstlichen Abend zu zweit auf dem Sofa wert.The Box (USA 2009). Englisch oder Deutsch; deutsche Untertitel. Mit Extras.

Erschienen bei Ascot-Elite. www.thebox-movie.com

Kann das Ehepaar Lewis dem unmoralischen Angebot widerstehen?

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Zwischen Ankunft und Abschied: Pierre und die Fliege.

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Basel Die Wetterschau

Das Wetter ist in allen Lebenslagen ein was-serdichtes Gesprächsthema und nirgends sonstgibt es so viele selbst ernannte Experten undMeinungen. Und die Diskussionen sind oft sohitzig wie der klimawandelbedingte Tempera-turanstieg. Schön, wenn dann einmal Faktenund Thesen anschaulich nach vier Bereichenund mit Hilfe von 250 Exponaten ausgestelltund erklärt werden. Von furchterregendenWettermachern über Glasflaschen als CO2-For-schungsinstrumente bis zu Teilen der Glet-scherleiter zur Konkordiahütte – damit könnenSie beim nächsten Small-Talk über das Wetterpunkten. (juk)Ausstellung «2° – das Wetter, der Mensch und sein

Klima», noch bis zum 20. Februar 2011, Kunstfreilager

Dreispitz, Basel. Infos zu Veranstaltungen und

Öffnungszeiten: www.2grad.chWas er wohl vom Wetter hält?

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— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 —

Winterthur Fragile WeltPauline und Pierre – das sind die Kinder des inBrüssel lebenden Schweizer Fotografen Hu-gues de Wurstemberger. Ihrer unbefangenenWahrnehmung ist der Fotokünstler gefolgt undhat eine fragile Welt entdeckt: In ihr haben Bilder eine grössere Bedeutung als Worte und Magie gilt mehr als Vernunft. Seine 60Schwarzweiss-Fotografien sind damit mehr alsein Familienalbum: Sie sind eine Meditationüber Flüchtigkeit und Dauer, Nähe und Dis-tanz, Ankunft und Abschied. Pauline und Pierre – das ist eine Reise dahin, wo das Ver-gangene so real erscheint wie die Zukunft unddie Fiktion so wahr ist wie die Fakten. (mek)«Pauline & Pierre – Hugues de Wurstemberger»,

2. Oktober 2010 bis 13. Februar 2011, Fotostiftung

Schweiz, Winterthur. www.fotostiftung.ch

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Luzern Poesie und Plexiglas

Das einzige Schweizer Festival für gesprochene Literatur, das Woerdz inLuzern, widmet sich dieses Jahr den Klassikern: Die Autoren TimoBrunke, Michael Stauffer und Michael Lentz tragen Texte von Schiller,Rilke, Baudelaire und Wagner vor. Neben Poetry Slams, Buchpräsenta-tionen und der Textbox – eine schalldichte Kabine, in der Poetinnen undPoeten hinter Plexiglas vor dem Mikro stehen, während das Publikumihren Texten Kopfhörer an Kopfhörer lauscht – bietet sich die Gelegen-heit, Eugen Gomringer, den Vater der Konkreten Poesie, live auf derBühne zu erleben. Der 85-Jährige liest gemeinsam mit seiner TochterNora: Die Lyrik und Sprechdichtungen der Performancekünstlerin tref-fen so auf die Sonette des Vaters. (mek)«Woerdz – die Klassiker», Spoken-Words-Festival, Fr, 24. und Sa, 25. September,

Théâtre La Fourmi, Luzern. Detailprogramm:

www.lafourmi.ch/veranstaltungen/literatur Es gilt das gesprochene Wort – am Woerdz-Festival in Luzern.

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Beim letzten Gebot findet sich sicher auch dafür ein Käufer.

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Bern Drei, zwei, eins, deinsIhr Qualitäts-Saxophon steht schon seit 20 Jahren unberührt in der Ecke und das antiquarische Bügeleisen fängt Staub: Wohin damit? Mitseelenlosen Online-Auktionsplattformen können Sie nichts anfangen.Sie möchten aber trotzdem ein Wörtchen mitreden beim Besitzerwech-sel Ihres Noch-Eigentums, weshalb auch die Brockenstube nicht in Frage kommt. An der Auktion im Foyer International der Dampfzentra-le können Sie Ihre guten Stücke persönlich deponieren und auch nochden Mindestpreis, der dafür geboten werden soll, angeben. Dann gehtsSchlag auf Schlag und die Raritäten, Kunstwerkte oder Kultobjektewechseln ihre Besitzer. Vielleicht finden Sie ja Ersatz für das Bügel-eisen.(juk)«Das letzte Gebot», Auktion, Di, 5.Oktober, 20.20 Uhr, Foyer International,

Dampfzentrale, Bern. Anmeldung auf Facebook mit Foto, kurzem Beschrieb des

Objekts und Angabe des Mindestpreises oder am Abend vor Ort von

18.30 bis 20 Uhr. www.dasletztegebot.ch

Die Stiftung Cerebral hilft in der ganzen Schweiz Kindern wie Pascal und deren Familien. Zum Beispiel mit Mass-nahmen zur Förderung der Mobilität. Dazu brauchen wir Ihre Spende, ein Legat oder Unternehmen, die einzelne Projekte fi nanzieren. Helfen Sie uns zu helfen.

Schweizerische Stiftung für das cerebral gelähmte KindErlachstrasse 14, Postfach 8262, 3001 Bern, Telefon 031 308 15 15, PC 80-48-4, www.cerebral.ch

Spenden Sie, damit Pascal dabei sein kann.

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Verkäuferporträt«Hier ist mein Paradiesli»

AUFGEZEICHNET VON MANUELA DONATI

«Sechs Tage in der Woche stehe ich hier vor der Migros Wollishofenin Zürich und verkaufe das Surprise-Magazin. Ich sage immer, hier istmein Paradiesli. Hier kenne ich alles und hier habe ich alles, was ichbrauche. An dieser Strasse bin ich aufgewachsen, mein Elternhaus undmeinen ehemaligen Kindergarten kann ich von hier aus sehen. Da wojetzt die Migros ist, war früher eine Gärtnerei. Die Strasse war nur halbso breit, überhaupt, alles hatte einen viel dörflicheren Charakter. Meinedrei Geschwister sind aus Wollishofen weggezogen, aber ich wollte im-mer hier bleiben. Viele Leute, die hier einkaufen, kannten mich schonals Kind. Zwei ehemalige Lehrer kommen immer noch regelmässig vor-bei. Es ist schön, dass ich hier so viele kenne, es kommt immer wiederjemand, der einen Schwatz halten will oder mit mir einen Kaffee trinkt.

Brauche ich einen Tapetenwechsel, fahre ich aus Wollishofen raus.Zum Beispiel an die Bahnhofstrasse. Gleich beim Hauptbahnhof habeich ein Stammcafé, dort treffe ich mich mit anderen Stammgästen undwir plaudern über Gott und die Welt und schauen den Passanten zu.Manchmal fahre ich auch an den Bürkliplatz oder ans Bellvue. Dort set-ze ich mich hin und schaue auf den See, oder mache eine kleine Schiff-fahrt. Ich mag es, auf den See zu schauen. Auch vor meinem Haus hates einen Platz, von dem man einen wunderschönen Blick über Zürichund den See hat. Dort setzte ich mich abends hin, um mich ein bisschenzu erholen. Oder ich höre Musik. Ländler, klassische Musik oderMarschmusik, das gefällt mir. Nach dem Tod meiner Eltern habe ich ih-re Plattensammlung übernommen, dazu habe ich noch eine ganzeSchublade voller CDs und Kassetten. Ich kann mich also nicht übermangelnde Musikauswahl beklagen. Früher habe ich in der Quartier-musik ‹Harmonie Wollishofen› Saxophon gespielt. Jetzt komme ich lei-der nicht mehr so viel dazu, selbst zu spielen, doch wenn der Verein einKonzert gibt, dann gehe ich meistens hin.

Ich mag die Natur und bin gerne draussen, das war schon immer so.Deshalb wollte ich als Jugendlicher lange Bauer werden. Die Arbeit mitden Tieren, die verschiedenen Aufgaben auf einem Bauernhof, dasLandleben, das hätte mir schon gefallen. Aber das Technische, Maschi-nelle interessierte mich eben auch. Mein Vater war Feinmechaniker,mein Grossvater hatte ein Taxiunternehmen, Technik und Maschinenwaren bei uns halt allgegenwärtig. Als mir mein Vater beibrachte, wieich ein Velo flicken konnte, war das ein Schlüsselerlebnis für mich. Ichhatte mir lange eines gewünscht, und eines Tages sagte er mir: ‹Wännnöd mithilfsch, gits au keis Velo›. Dann zeigte er mir, wie ich es repa-rieren konnte, solange, bis ich seine Hilfe nicht mehr benötigte. Ichmachte dann eine Lehre als Automechaniker, und von meinem erstenrichtigen Lehrgeld kaufte ich mir ein Rennvelo mit Ausrüstung, Schu-hen, Hosen, was halt so dazugehört. Und von da an war ich immer mitdem Velo unterwegs, den Zürisee hinauf, oder an den Ägerisee im Kan-

Für Richard Zünd schliesst sich ein Kreis: Heute verkauft der 56-Jährige an der Strasse, an der schon sein Elternhaus stand, Surprise. Der Wollishofer mit Herz und Seele hat in seinem Quartier alles, was er sichwünscht: Leute für einen Schwatz und Seesicht.

ton Zug, wo meine Eltern früher immer mit uns Kindern in die Feriengingen. Es freut mich besonders, dass mein Sohn jetzt dort ganz in derNähe als Landwirt arbeitet. Er hat das gemacht, was ich gerne wollte.

Gleich nach der Lehre habe ich zur VBZ gewechselt, 26 Jahre langwar ich für alles zuständig, was die Trams betraf. Meine Arbeit war kör-perlich sehr anstrengend, ich musste viele schwere Sachen heben, ichhatte deswegen mehrere Leistenbrüche und Rücken-Operationen. Vordrei Jahren hatte ich meinen gesundheitlichen Tiefpunkt: Wegen Venenverschlüssen wurde mein Herz nicht mehr richtig mit Blut ver-sorgt und ich musste in ein künstliches Koma gesetzt werden. Ich wardem Tod nahe. Aber ich habe nicht aufgegeben! Ich habe halt einfacheinen langsameren Rhythmus, ich mache eines ums andere. Solange dasnoch geht, bin ich zufrieden. Denn ich habe hier ja alles, in meinem Paradiesli.» ■

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Surprise kümmert sich um Menschen, die we-niger Glück im Leben hatten als andere. Men-schen, die sich aber wieder aufgerappelt habenund ihr Leben in die eigenen Hände nehmenwollen. Mit dem Verkauf des Strassenmaga-zins Surprise überwinden sie ihre soziale Iso-lation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wie-der einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstach-tung und erarbeiten sich aus eigener Kraft ei-nen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassen-verkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-

ber. Das verdient Respekt und Unterstützung.Regelmässige Verkaufende werden von Sur -prise-Sozialarbeiterinnen be treut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehörtauch, dass sie von Surprise nach bestandenerProbezeit einen ordentlichen Arbeits vertrag er-halten. Mit der festen Anstellung übernehmendie Surprise-Verkaufenden mehr Verantwor-tung; eine wesentliche Voraussetzung dafür,wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarktzu werden.

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1 Jahr: 8000 Franken 1/2 Jahr: 4000 Franken 1/4 Jahr: 2000 Franken 1 Monat: 700 Franken

Ja, ich werde Götti/Gotte von:

Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, [email protected], PC-Konto 12-551455-3

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Jovanka RoggerZürich

Eine Chance für alle!Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte

Starverkäufer

BIL

D:

ZV

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Erika Knopf aus Birmensdorf ZH nominiertRolf Rohr als Starverkäufer: «Seit meine vierKinder so gross sind, dass sie die Mama nichtmehr regelmässig den ganzen Tag brauchen,nehme ich mir ab und zu die Freiheit, michauszuklinken: Da gehört ein Marktbesuch amBürkliplatz dazu. Dort steht immer Ralf Rohr.Der Mann ist so fröhlich und aufgestellt. Erhat immer ein gutes Wort und wünscht mireinen guten Tag. Ob die Sonne scheint odernicht.»

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer!Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, wel-

chen Verkäufer Sie an dieser Stelle sehen möchten:

Strassenmagazin Surprise, Redaktion,

Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel,

F +41+61 564 90 99, [email protected]

Tatjana Georgievska, BaselPeter Hässig, BaselRené Senn, ZürichMarika Jonuzi, BaselJela Veraguth, ZürichKurt Brügger, Basel

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus:

Marlise Haas, BaselWolfgang Kreibich, BaselPeter Gamma, BaselAnja Uehlinger, BadenMarlies Dietiker, Olten

Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit dieChance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.

Bob EkoeviKoulekpatoBasel

Fatima Keranovic Baselland

Andreas Ammann Bern

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30 SURPRISE 234/10

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24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– )(Verpackung und Versand bietenStrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Gönner-Abo für CHF 260.–

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Impressum

HerausgeberStrassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel,www.strassenmagazin.chGeschäftsführung T +41 61 564 90 63Fred Lauener, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Öffnungszeiten SekretariatMo–Do 9–12 Uhr, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected] T +41 61 564 90 70Reto Aschwanden (verantwortlich), Julia Konstantinidis,Mena Kost, Thomas Oehler (Sekretariat)[email protected] MitarbeitAnnette Boutellier, Manuela Donati, Andrea Ganz, Michael Gasser, Ruben Hollinger, Olivier Joliat, YvonneKunz, Delia Lenoir, Primo Mazzoni, Irene Meier, EstherMichel, Stefan Michel, Simon Schwab, Isabella Seemann,Udo Theiss, Priska Wenger, Christopher ZimmerKorrektorat Alexander JungoGestaltungWOMM Werbeagentur AG, BaselDruckAVD GoldachAuflage29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrAnzeigenverkauf T +41 76 325 10 [email protected]

Marketing T +41 61 564 90 61Theres BurgdorferVertrieb T +41 61 564 90 81Smadah Lévy (Leitung)Vertrieb Zürich T +41 44 242 72 11Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, Mobile +41 79 636 46 12 [email protected] Bern T +41 31 332 53 93Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, Mobile +41 79 389 78 [email protected] und Förderung T +41 61 564 90 51Rita Erni Chor/Kultur T +41 61 564 90 40Paloma SelmaStrassensport T +41 61 564 90 10Lavinia Biert Trägerverein Strassen magazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird vonder Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Post-sendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeich-nete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag vonCHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehendeBeträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oderdem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozi-ale Institution. Die Geschäfte werden von derStrassenmagazin Surprise GmbH geführt, dievom gemeinnützigen Verein StrassenmagazinSurprise kontrolliert wird. Surprise ist führen-des Mitglied des Internationalen Netzwerkesder Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glas-gow, Schottland. Derzeit gehören dem Ver-band über 100 Strassenzeitungen in 40 Län-dern an.

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*gemäss MACH Basic 2008-2.

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Seite bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, [email protected]

Macht Sommerlaune! Grosses Strandtuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100%handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Zin der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig:vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

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HerrenCHF 25.–

S M L XL

Dazu passend: Sommerlich leichtes T-Shirt,100% Baumwolle, für Grossund Klein.

DamenCHF 25.–

M

CHF 20.–XS S

(auch für Kinder)

Alle Preise exkl. Versandkosten.

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

*gemäss MACH Basic 2008-2.

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Ist gut. Kaufen!Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache.Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50

neon-orange schwarz

Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.–

rot blau schwarz

Surprise Rucksäcke(32 x 40 cm); CHF 89.–

schwarz rot

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Kein Tag ohne Not und Elend. Jetzt spenden: redcross.ch

Schweizerisches Rotes Kreuz, Rainmattstrasse 10, 3001 Bern, Tel. 031 387 71 11, [email protected], www.redcross.ch, Postkonto 30-9700-0

Das SRK braucht Ihre Spende. Das Schweizerische Rote Kreuz hilft weltweit, wo die Not am grössten ist, zum Beispiel in Kambodscha. Dazu brauchen wir Ihre Spende. Unser Engagement in der Schweiz und in über 30 Ländern finden Sie auf unserer Website. Helfen auch Sie, Not und Elend zu lindern. Unterstützen Sie das Schweizerische Rote Kreuz mit einer Spende auf das Postkonto 30-9700-0, online unter www.redcross.ch oder rufen Sie uns an: 031 387 71 11.

Freiwillige des SRK erklären, wie mit einfachen Mitteln die Hygiene verbessert wird.

Um Krankheiten vorzu-beugen, pro duziert und verteilt das SRK Wasserfilter.

Rotkreuz-Freiwillige zeigen, wie im Notfall erste Hilfe geleistet werden kann.

Das Rote Kreuz berät Schwangere und junge Mütter in der Säuglingspflege.

Rotkreuz-Freiwillige machen Schulen sicher vor Überschwemmungen.

Schweizerisches Rotes Kreuz, Rainmattstrasse 10, 3001 Bern, Tel. 031 387 71 11, [email protected], www.redcross.ch, Postkonto 30-9700-0