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Liebe Leserin, lieber Leser Vor Jahrzehnten, als sich gewisse Jazz- freunde und -gegner noch in den Haaren lagen, hörte man oft, Jazz sei nur Rhyth- mus. Glücklicherweise ist heute mit solch pauschalen Fehlurteilen nicht mehr zu rechnen. Der Jazz konnte tausendfach zeigen, dass der Rhythmus bei ihm zwar eine deutliche Rolle spielt, sich jedoch differenziert verwoben mit Melodien und Harmonien zu einer Musik entwickelte, die sich mit der Zeit einen angemessenen Platz in der Musikkultur der Welt erobert hat. Als unser Redaktionsteam sich entschlos- sen hatte, die Inhalte der nächsten Jazz- letter-Ausgaben auf die drei Teile des Orchesters zu fokussieren, war bald klar, dass wir mit «Focus on Rhythm Section» beginnen würden. In der nächsten Nummer folgt der 2. Teil über Rhythm Section im Modern Jazz ab etwa 1945. In weiteren Ausgaben wollen wir dann die Brass Section und später die Saxophone Section ins Zentrum rücken. Doch wir wollen die Inhalte keineswegs nur auf diese Themen beschränken. Interviews mit Senioren, die mit dem Jazz eng verbunden waren oder es jetzt noch sind, wurden bereits zur Tradition. Das interessante Gespräch, zu dem Fredy Bühler, der erste Präsident unserer Organisation, die damals noch «Pro Jazz Schweiz» hiess, René Bondt und Fernand Schlumpf nach Glarus einge- laden hat, ist ein Beispiel für einen Beitrag, der für uns in seiner Art von grosser Bedeu- tung ist. Das ist unsere Ausgabe 40! Doch auch heute gilt das Gleiche wie beim Start im November 2000: Wir wollen helfen, Jazz und Blues als Kulturfaktoren unserer Zeit richtig zu positionieren. Herzlich 1 Nr.40, Dezember 2017 jazzletter EDITORIAL swissjazzorama Inhalt 2 Seite des Vorstandes / Aus dem Archiv 3–4 Focus on Rhythm Section 5 Berry Peritz und Coleman Hawkins Born 1917:Thelonious Monk 6–7 Drumming with Goodman 8–9 Interview mit Fredy Bühler (Jazz in Glarus) 10 John Chilton / In memoriam: Fats Domino 11 Soultrane (Zum 50. Todestag von Coltrane) 12 Aus dem Archiv / In memoriam Born 1917: John Lee Hooker / Impressum Im Jazz lässt sich ein Orchester in drei Teile ordnen. Erstens gibt es die Rhythmusgruppe, meistens englisch Rhythm Section genannt, dann zweitens die Brass Section mit den Trompeten und Posaunen (Trombonen) und schliesslich die Reed Section mit den Saxo- fonen und (evtl.) Klarinetten. Die Rhythm Section erzeugt den im Jazz sehr wichtigen Grundrhythmus und die harmonische Grund- struktur. Das rein Rhythmische kommt vom Schlagzeug. Zur Grundrhythmusmarkierung leisten aber das Piano, der Bass (früher die Tuba) sowie eventuell die Gitarre (früher das Banjo) einen Beitrag, neben ihrer Funktion, für das harmonische Grundgerüst der Musik zu sorgen. Im Jazz sind Grundrhythmus und harmonische Grundstruktur unerlässliche Ordnungsfaktoren, an denen sich der melodische und harmonische Verlauf der Musik orientiert. Aus dem Artikel Focus on Rhythm Section auf Seite 3 geht hervor, dass in den ersten Jahren des Jazz dieser Teil einer Band nur aus einem einfachen Schlagzeug und einem stark perkussiv gespielten Klavier bestand und dass die Rhythm Section später durch die Tuba und das Banjo erweitert wurde. Im Swingjazz etablierte sich bald einmal die Besetzung Schlagzeug, Bass, Gitarre und Piano. Ein typisches Beispiel: die All American Rhythm Section des Basie-Orchesters (vgl. Bild). Selbstverständlich funktioniert eine solche Rhythm Section oder ein Teil davon auch ausgezeichnet als eigenständige Band. Man denke nur an die vielen Piano-Trios mit Bass und Gitarre oder mit Bass und Schlag- zeug. Keines wurde berühmter als das- jenige des Pianisten Oscar Peterson. J.T.S. Focus on Count Basie’s All American Rhythm Section: Walter Page, Bass Freddie Green, Gitarre Jo Jones, Schlagzeug Count Basie, Piano Rhythm Section Namen und Geschichten Teil 1: ca.1900 –1945

swissjazzorama jazzletter · 2020. 8. 22. · Banjo und Tuba.Allmählich wurde die Tuba vom Kontrabass abgelöst. Zum Beispiel im Fletcher Henderson Orchester durch John Kirby (1908–1952)

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Page 1: swissjazzorama jazzletter · 2020. 8. 22. · Banjo und Tuba.Allmählich wurde die Tuba vom Kontrabass abgelöst. Zum Beispiel im Fletcher Henderson Orchester durch John Kirby (1908–1952)

Liebe Leserin, lieber Leser

Vor Jahrzehnten, als sich gewisse Jazz-freunde und -gegner noch in den Haarenlagen, hörte man oft, Jazz sei nur Rhyth-mus. Glücklicherweise ist heute mit solchpauschalen Fehlurteilen nicht mehr zurechnen. Der Jazz konnte tausendfachzeigen, dass der Rhythmus bei ihm zwareine deutliche Rolle spielt, sich jedochdifferenziert verwoben mit Melodien undHarmonien zu einer Musik entwickelte, diesich mit der Zeit einen angemessenen Platz in der Musikkultur der Welt erobert hat.

Als unser Redaktionsteam sich entschlos-sen hatte, die Inhalte der nächsten Jazz-letter-Ausgaben auf die drei Teile desOrchesters zu fokussieren, war bald klar,dass wir mit «Focus on Rhythm Section»beginnen würden. In der nächsten Nummerfolgt der 2. Teil über Rhythm Section imModern Jazz ab etwa 1945.

In weiteren Ausgaben wollen wir dann dieBrass Section und später die SaxophoneSection ins Zentrum rücken. Doch wirwollen die Inhalte keineswegs nur aufdiese Themen beschränken. Interviews mitSenioren, die mit dem Jazz eng verbundenwaren oder es jetzt noch sind, wurdenbereits zur Tradition. Das interessanteGespräch, zu dem Fredy Bühler, der erstePräsident unserer Organisation, die damalsnoch «Pro Jazz Schweiz» hiess, René Bondtund Fernand Schlumpf nach Glarus einge-laden hat, ist ein Beispiel für einen Beitrag,der für uns in seiner Art von grosser Bedeu-tung ist.

Das ist unsere Ausgabe 40! Doch auchheute gilt das Gleiche wie beim Start imNovember 2000: Wir wollen helfen, Jazzund Blues als Kulturfaktoren unserer Zeitrichtig zu positionieren.

Herzlich

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Nr. 40, Dezember 2017

jazzletter

EDITORIAL

swissjazzorama

Inhalt2 Seite des Vorstandes / Aus dem Archiv 3–4 Focus on Rhythm Section5 Berry Peritz und Coleman Hawkins

Born 1917: Thelonious Monk 6–7 Drumming with Goodman8–9 Interview mit Fredy Bühler (Jazz in Glarus)

10 John Chilton / In memoriam: Fats Domino 11 Soultrane (Zum 50. Todestag von Coltrane)12 Aus dem Archiv / In memoriam

Born 1917: John Lee Hooker / Impressum

Im Jazz lässt sich ein Orchester in drei Teileordnen. Erstens gibt es die Rhythmusgruppe,meistens englisch Rhythm Section genannt,dann zweitens die Brass Section mit denTrompeten und Posaunen (Trombonen) undschliesslich die Reed Section mit den Saxo-fonen und (evtl.) Klarinetten. Die RhythmSection erzeugt den im Jazz sehr wichtigenGrundrhythmus und die harmonische Grund-struktur. Das rein Rhythmische kommt vomSchlagzeug. Zur Grundrhythmusmarkierungleisten aber das Piano, der Bass (früher dieTuba) sowie eventuell die Gitarre (früher dasBanjo) einen Beitrag, neben ihrer Funktion,für das harmonische Grundgerüst der Musikzu sorgen. Im Jazz sind Grundrhythmus undharmonische Grundstruktur unerlässlicheOrdnungsfaktoren, an denen sich der melodische und harmonische Verlauf der

Musik orientiert. Aus dem Artikel Focus onRhythm Section auf Seite 3 geht hervor,dass in den ersten Jahren des Jazz dieserTeil einer Band nur aus einem einfachenSchlagzeug und einem stark perkussivgespielten Klavier bestand und dass dieRhythm Section später durch die Tuba unddas Banjo erweitert wurde. Im Swingjazzetablierte sich bald einmal die BesetzungSchlagzeug, Bass, Gitarre und Piano. Eintypisches Beispiel: die All American RhythmSection des Basie-Orchesters (vgl. Bild).Selbstverständlich funktioniert eine solcheRhythm Section oder ein Teil davon auchausgezeichnet als eigenständige Band. Mandenke nur an die vielen Piano-Trios mitBass und Gitarre oder mit Bass und Schlag-zeug. Keines wurde berühmter als das-jenige des Pianisten Oscar Peterson. J.T.S.

Focus on

Count Basie’s All American Rhythm Section:Walter Page, Bass Freddie Green, Gitarre Jo Jones, Schlagzeug Count Basie, Piano

RhythmSection

Namen und Geschichten Teil 1: ca.1900 –1945

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Besuch im Jazzinstitut Darmstadt

Vom 13. bis 14. April besuchten Bruno Gut(Vorstandsmitglied und Leiter des RessortsPrintmedien) und Hans Peter Künzle (Ge-schäftsleiter) das Jazzinstitut in Darmstadt(D). Das Jazzinstitut ist in einem barockenJagdschloss untergebracht, dem BessungerKavaliershaus (gebaut 1709 – 1725). Derhistorische Gewölbekeller unter dem Jazz-institut ist Veranstaltungsort für Konzerteund Vorträge.

Das Treffen war für uns sehr informativ,wir wurden von Doris Schröder und ArntWeidler kompetent durch das Archiv ge-führt, anschliessend hatten wir Gelegenheit,bei einem längeren Gespräch mehr überihre Sammel-Praxis bzw. -Philosophie zu erfahren. Auch konnten sie viele unsererFragen kompetent beantworten. Das Jazz-institut Darmstadt beherbergt Europasgrösste Jazzsammlung und wie im swiss-jazzorama werden vor allem Bücher, Zeit-schriften, Tonträger, Fotos und Plakate ar-chiviert. Neben jeder Menge an Informati-onen zur Geschichte des Jazz spielen dieaktuellen Entwicklungen eine grosse Rolle.

Das Jazzinstitut Darmstadt definiert seineArbeit wie folgt: Wir versuchen einen Brü-ckenschlag zwischen Wissenschaft undPraxis, zwischen Serviceleistung für einevon der ehrenamtlichen Arbeit Vieler leben-den Musik und einer sorgfältigen Doku-mentation musikalischer Entwicklungen,zwischen regionaler Kulturarbeit und internationalem Diskurs. Wir arbeiten nicht im sprichwörtlichen Elfenbeinturm.Besucher sind gern gesehen, und jede Frage wird ernst genommen.

Das Jazzinstitut ist ein Kulturinstitut derStadt Darmstadt. Somit ist die Finanzierungvon Infrastruktur und Liegenschaft durchdie Stadt geregelt, ebenso die Vollzeit-stellen von den tragenden Mitarbeitern:– Dr. Wolfram Knauer, Institutsleiter,

Musikwissenschaftler, Herausgeber und Autor von Jazzliteratur.

– Doris Schröder, studierte Kunst-geschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften.

– Arnt Weidler, studierte Soziologie, Politik-wissenschaft. Er war Konzertveranstalter.

Neben den festangestellten Mitarbeiternarchivieren etwa fünf Leute ehrenamtlich inden Bereichen Tonträger, Filme und Plakate.

Treffen der europäischen Jazzarchive in Amsterdam

Vom 31. August bis 3. September 2017fand in Amsterdam die Rhythm ChangesConference statt. Diese Jahrestagungbehandelt jeweils eine breite Palette vonThemen der internationalen Jazzforschung.Es gab mehrere prominente Redner undPanel-Diskussionen.

Im Rahmen der Rhythm Changes Confe-rence gab es dieses Jahr erstmals auch eine Kick-off-Veranstaltung für europäischeJazzarchive. Das Treffen fand statt aufInitiative von Wolfram Knauer, JazzinstitutDarmstadt, Paul Gompes, Dutch Jazz Archives und Francesco Martinelli, SienaJazz Archive. Eingeladen waren alle wichti-gen europäischen Jazzarchive. Hans PeterKünzle nahm für das swissjazzorama teil.Bei dieser Kick-off-Veranstaltung ging es in erster Linie darum, die vielfältigenJazzarchive und deren Aufbau und Träger-schaften kennenzulernen, aber auch umeinen Erfahrungsaustausch, z.B. zur Digi-talisierung von Archivalien.

Es zeigte sich, dass die Jazzarchive relativjung und extrem bunt bezüglich Grösse,Organisation und Praktiken, aber im Ge-gensatz zu den Musikethnologischen Archi-ven leider wenig etabliert sind.

Nach diesem ersten Treffen wurde be-schlossen, eine Dachorganisation der euro-päischen Jazzarchive ins Leben zu rufenund mit jährlichen Meetings und gemein-samen Projekten eine fruchtbare Zusam-menarbeit zu lancieren. Die Mitgliedschaftin einer europäischen Dachorganisationsoll den Jazzarchiven zudem helfen, sichgegenüber den eigenen Behörden zu pro-filieren.

Für das swissjazzorama war es wichtig, beidiesem «Treffen der ersten Stunde» dabeigewesen zu sein. So konnten wir auf posi-tive Weise auf uns aufmerksam machen.

Freundliche Grüsse Hans Peter Künzle

Das swissjazzorama und internationale Kontakte

DIE SEITE DER GESCHÄFTSLEITUNG AUS DEM ARCHIV

Unseren Donatoren sei ein grosser Dankausgesprochen. Über viele Ecken ist es inder ganzen Schweiz bekannt geworden,dass es in Uster ein Schweizer Archiv gibtdas «JAZZ» sammelt. Und so müssen wirdafür sorgen, dass unsere Crew-Freunde in allen Landesteilen, sich um angesagteSchenkungen bemühen.

Das trifft für die Region Basel wie auch fürdie Region Bern und die Bündner Herrschaftzu, wo beim «Abholen» ein Besuch ineinem der bekannten Weingüter fast einePflicht ist. Die Donatoren aus Zürich könnenwir selber von Uster aus betreuen. Wenn es sich aber um eine komplette Sammlungvon Vinylplatten handelt, muss der Umfanggenau berechnet werden, damit wir nichtzweimal mit einem Transit-Lieferwagen die Fahrt nach Zürich machen müssen,um eine «tolle» Sammlung (Helveticas* inbegriffen), nach Uster zu dislozieren.Da wir Crew-Mitglieder schon ältere Jahr-gänge haben, fahre ich doch lieber in dieBündner Herrschaft, um einen Harass Plat-ten abzuholen, als in Zürich 7000 LPs zuverladen und sie in Uster wieder aus-zuladen. Mein Rücken ist mir dankbar, undden Leistenbruch habe ich gerade operiert.

Trotzdem: Es ist eine Riesenfreude, all dieseDonationen auszusortieren und dabei dieHelveticas* bevorzugt zu behandeln. Dazuwerden Vorstand und Crew demnächsteinen Grundsatzentscheid fällen, dassprimär Sammlungen mit Helveticas* zubevorzugen sind. Kommt dazu, dass sichunsere Gestelle füllen und immer mehrVinylplatten im Secondhand-Shop landen.Und diesen Shop gilt es ja auch zu leerenresp. die günstigen Verkäufe anzukurbelnund über das Web anzubieten.

Langsam mache ich mir Gedanken, wo dann meine Sammlung einmal hingeht,denn dafür haben wir doch das Archivgegründet. Muss ich jetzt schon zuerst alleHelveticas* aussortieren und die geliebtenUSA-Tonträger einem «Scheich» aus Katarübergeben, der erst jetzt Lust auf Jazz bekommen hat? Kennen Sie einen? Danngeben Sie uns bitte seine E-Mail-Adresse.

Beste Grüsse Fernand Schlumpf

Gedanken eines Jazzfans,Musikers und Vorstandsmit-glieds des swissjazzorama

* Anmerkung der Redaktion: Helveticas betrifftJazz, der einen Bezug zur Schweiz hat. Das istwichtig! Aber alles, was ein hiesiger Jazzfan je gesammelt hat, hat nur schon deshalb einenBezug zur Schweiz, auch der internationale Jazz.

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Namen und GeschichtenTeil 1: ca.1900 –1945

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Marching Brass Bands in der Frühzeit des Jazz in New Orleans

Diese spielten eine Art Marschmusik mitJazzeinschlag. Es gab zwar bereits Schlag-zeuge, die von einer Person bedient werdenkonnten. Aus naheliegenden Gründen muss-ten Trommel und Pauke aber getrennt ge-spielt werden. Die Rhythm Section einer Brass Band bestand also meistens aus derkleinen Trommel, der grossen Trommel(Pauke) und der Tuba.

Original Dixieland Jazzband (1917)

In dieser Formation gab es schon eine klareTrennung zwischen den Melodie-Instrumen-ten und der Rhythm Section. Diese bestandaus den zwei Instrumenten Piano und Drums.

King Oliver's Creole Jazz Band (1923)

Bei den ersten Aufnahmen der Creole JazzBand am 6. April 1923 sassen in der RhythmSection Lil Hardin (Piano), Bill Johnson(Banjo) und Baby Dodds (Drums). Dabei warkeine Tuba. Baby Dodds (1898 –1959) wareiner der ersten namhaften Drummer im NewOrleans Jazz. Auf seinen Namen werden wirwieder stossen.

Louis Armstrong and his Hot Five (1925)

Bei den Aufnahmen zu den Hot Five waren in der Rhythm Section auch nur zwei Per-sonen: Lil Hardin (Piano) und Johnny St. Cyr(Banjo). Es war kein Schlagzeug dabei! In der vergrösserten Band Louis Armstrongand his Hot Seven (1927) war die RhythmSection mit Lil Hardin (Piano), Johnny St. Cyr(Banjo), Pete Briggs (Tuba) und Baby Dodds(Drums) besetzt.

Louis Armstrongs Bands aus den Jahren 1928/29

hatten diverse Namen und waren komplettneu besetzt. In der Band, unter dem NamenLouis Armstrong and his Savoy BallroomFive, waren in der Rhythm Section Earl Hines(Piano), Mancy Carr (Banjo) und Zutty Sing-leton (1898–1975 / Drums). Immer noch war das Banjo ein wichtiges Instrument.Der grösste Gewinn in der Besetzung war derZuzug von Earl Hines (1903–1983). Dieserwar neben der Arbeit in der Rhythm Sectionauch ein wichtiger Solist. Die Einspielung des West End Blues war eine Sensation und wird heute noch als Meilenstein in derJazzgeschichte angesehen. Auf einigen Auf-nahmen im Jahr 1929 war auch der hervor-

ragende Gitarrist Lonnie Johnson(1899–1970) bei Louis Armstrong.

Fletcher Henderson’s Orchestra war eine der wichtigen frühen Big Bands.

Diese machte die ersten Aufnahmen1924/25. Dabei war auch Louis Armstrong.In der Rhythm Section sassen FletcherHenderson (Piano/Leader), Charlie Dixon(Banjo), Ralph Escudero (Tuba) und KaiserMarshall (1899–1948 / Drums). ZurRhythm Section gehörten immer nochBanjo und Tuba. Allmählich wurde die Tubavom Kontrabass abgelöst. Zum Beispiel im Fletcher Henderson Orchester durchJohn Kirby (1908–1952). Kirby war beiFletcher Henderson von 1930–1933 und1935/36. Er spielte bei seinem erstenMitwirken bei Schallplattenaufnahmennoch die Tuba, wechselte aber sehr baldzum Kontrabass. Suksessive wurde auchdas Banjo durch die Gitarre ersetzt.Ein Drummer, der bei sehr vielen Formatio-nen in der Rhythm Section sass, z.B. 1936bei Fletcher Henderson, war der vielseitigeSidney Catlett (1910–1951).

Bands des Chicago Style

Im Chicago der 1920er Jahre gab es vielejunge Musiker, die gebannt in den Lokalensassen, in denen die Musiker aus NewOrleans spielten. Bald versuchten diesejungen Leute den Musikern aus New Orleans nachzueifern. Ein neuer Jazzstilentstand, der den Namen Chicago Stylebekam. Man sollte diese Musik nicht mit dem Dixieland Jazz von früher ver-wechseln. Musiker des Chicago Stylewaren unter vielen anderen: Bix Beider-becke (tp), Jimmy McPartland (tp), FrankTeschemacher (cl), Bud Freeman (ts), EddieCondon (g), Gene Krupa (dm) und derjunge Benny Goodman (cl). Von GeneKrupa (1909–1973) und Benny Good-man (1909–1986) wird später noch dieRede sein. Zu einer Rhythm Section imChicago Style gehörten Piano, Bass, Gitar-re und Schlagzeug, Der Chicago Stylewurde später vom Swing abgelöst.

Swing Big Bands der 1930er Jahre

Zu einer Rythm Section im Swing gehörendie Instrumente Piano, Gitarre, Bass und

Bezogen auf die Instrumente, die in den Rhythm Sections des Jazz Verwendungfinden, wäre die Geschichte schnell erzählt. Von Anfang an waren es meistens Piano,Banjo, Tuba und Schlagzeug oder ein Teil davon. Es brauchte aber einige Zeit bis sich im Chicago Style und seinem Nachfolger, dem Swing, so etwas wie eine defini-tive Kombination von Instrumenten ergab, die für viele Combos und Big Bandspraktikabel war. Es waren dies: Piano, Bass, Schlagzeug und Gitarre. In diesem 1.Teil verfolgen wir den Weg dahin an einigen wenigen Beispielen. Walter Abry

Jelly Roll Morton’s Red Hot Peppers wareine wichtige Band des New Orleans Jazz.Sie war aktiv von 1926–1930. In der RhyhmSection sassen Johnny St. Cyr (bj) oder BudScott (g, bj), John Lindsey (b) und AndrewHilaire oder Baby Dodds (dm). Jelly RollMorton (ca.1885–1941) war Pianist, Sänger,Komponist, und Bandleader und einer dereinflussreichsten Jazzmusiker seiner Zeit.1939 machte er Aufnahmen mit SidneyBechet, die zum Besten gehören, was imNew Orleans Revival präsentiert wurde.

Focus onRhythmSection

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Schlagzeug. Wegweisend für den Swing der Big Bands (aber auch für die SwingCombos) war die All American RhythmSection (1934–1948) des Count BasieOrchesters, (vgl. Titelbild). Die Musikerwaren Count Basie (Piano), Freddie Green(Gitarre), Walter Page (Bass) und Jo Jones(1911–1985 / Drums). Die All AmericanRhythm Section war im Swing für langeZeit das Mass aller Dinge.An dieser Stelle sind 3 Bands aus KansasCity zu erwähnen. Walter Page gründete dieWalter Page Blue Devils, die in den späten1920er und frühen 1930er Jahren bekanntwurde und die dann zunächst in der wich-tigen Pionier-Swingband von Bennie Motenund später in der Big Band von Count Basieaufgingen. Walter Page (1900 –1957 /Bass). Bennie Moten (1894 –1935 / Pianistund Bandleader). Count Basie (1904 –1984/ Pianist, Organist, Komponist und bedeu-tender Bandleader).Die Big Bands der Swingära, zu denen auchdie Orchester von Benny Goodman, ArtieShaw, Jimmy und Tommy Dorsey und an-dere gehörten, haben sich für etwa 10Jahre, von Mitte 1930 bis Mitte 1940, ander Spitze des Jazz in den USA etabliert.Das war die Zeit in der Jazz und Pop prak-tisch identisch waren.Erwähnt werden soll auch das JimmyLunceford Orchester, das eine hervor-ragende Big Band war. Sie wurde in derzweiten Hälfte der 20er Jahre gegründetund löste 1934 Cab Calloway als Hausbandim bekannten Cotton Club ab.In dieser Band sassen hervorragendeRhythm-Musiker wie z.B. der SchlagzeugerJimmy Crawford (1910–1980) und derGitarrist Eddie Durham (1906–1987).Durham experimentierte schon vor demspäter erwähnten Charlie Christian mit derelektrischen Gitarre.

Das Duke Ellington Orchester

war in den ganzen Jahren seines langenBestehens, immer ein Sonderfall. DreiRhythm-Musiker möchten wir erwähnen:Sonny Greer (1895–1942 / Drums) gehörtelange zum Orchester. Einer seiner Nach-folger war der brillante Sam Woodyard(1925–1988). Der dritte Musiker war der fürdas Bassspiel sehr einflussreiche JimmyBlanton (1918–1942). Er verstarb imjugendlichen Alter von nur 24 Jahren.

Benny Goodmans kleine Swing Combos(Trios und Quartette)

Versuche für solche kleine Besetzungen gabes schon früher, z.B. das Johnny Dodds Trioin den frühen 1920er Jahren. Gross lancierthat diese Art von Besetzung ab 1936 aberBenny Goodman mit seinem Trio und Quar-tett. Das waren auch wichtige Formationenfür die Überwindung der Rassenschranken,

spielten doch afroamerikanische und weisse Musiker zusammen.Das Benny Goodman Trio bestand ausBenny Goodman (Klarinette), Teddy Wilson(Piano) und Gene Krupa (Drums). Für dasQuartett stiess Lionel Hampton (Vibrafon)dazu. 1938 ersetzte am Schlagzeug DaveTough (1907–1948) Gene Krupa. Nochetwas später spielte im Quartett der schonbei Fletcher Henderson erwähnte JohnKirby Bass. Lionel Hampton sass dann amSchlagzeug. Bei diesen zwei Formationenstellt sich die Frage, wer ist Begleiter und wer ist Solist. Man könnte sagen, allesind Solisten, denn sie ergänzen sich in einmaliger Art. Der Journalist und AutorJames Lincoln Collier sagt in seinem Buch*:Der Erfolg des Goodman Trios und Quar-tetts war Voraussetzung für Aufnahmen,die Meilensteine der Jazzgeschichte wur-den: die Kansas City Six und andere Grup-pen um Lester Young, Einspielungen fürBlue Note, Commodore und Dutzende an-derer kleiner Labels, die ersten Jahre derBebopper. Natürlich wäre von diesem Material viel auch ohne Goodmans Beispielproduziert worden, Die frühen Goodman-Aufnahmen aber wiesen diesem small-band-Jazz den Weg. Und nebenbei gehören sie zu den besten Platten der Jazz-geschichte.In den späten 1930er Jahren löste die elektrische die akustische Gitarre in derRhythm Section ab. Der wichtigste dafürverantwortliche Musiker war Charlie Christian (1916–1942), der leider auchsehr jung verstarb. Charlie Christian war fürBenny Goodman sehr wichtig, als er seineCombo, ab etwa 1940 in wechselnderBesetzung, zum Benny Goodman Sextetterweiterte. ‘Manchmal sassen in diesemSextett sieben oder acht Musiker’. ImZentrum war einer davon Charlie Christian.

Schwierigkeiten der Swing Big Bands

In der ersten Hälfte der 1940er Jahrekamen etliche Swing Big Bands in Schwie-rigkeiten. Viele Musiker wurden in die US-Army eigezogen und fehlten den

Orchestern. Der Record Ban (Plattenauf-nahmeverbot) von 1942 entzog ihnen dieMöglichkeit für Aufnahmensitzungen unddamit finanzielle Mittel. Mitte der 1940erJahre war der Höhepunkt der «Dance» BigBands überschritten. Ausserdem warenjunge Musiker daran, den Jazz umzukrem-peln. Diese junge Musikergeneration erar-beitete einen neuen Sound, der bald denNamen Bebop bekam.

Ausklang

Nach 1945 gab es zwar weiterhin Swing Big Bands. Die Orchester von Count Basie,Duke Ellington, Lionel Hampton und anderespielten noch viele Jahre lang. Gelegentlichorganisierte auch Benny Goodman für kurze Zeit wieder eine Big Band, z.B.1958für die Weltausstellung in Brüssel. Auch im Nachkriegs-Deutschland gab es einigeneue Swing Big Bands, die jahrelang aktivwaren (z.B. Kurt Edelhagen und Paul Kuhn).Die Swingmusik lebt in vielen Variantenweiter und hat bis heute ihren Platz nebendem Modern Jazz und anderen Musikrich-tungen sowie der Musik des New OrleansRevival. Dieses lebte in den späten 1930erJahren auf und war für lange Zeit beiAmateur- und Profimusikern sowie einembreiten Publikum beliebt.Im Modern Jazz gibt es neue Möglichkeitenfür die Rhythm Section und speziell fürSchlagzeuger. Diesen 2. Teil können Sie imnächsten Jazzletter lesen.

In diesen Jahren gab es auch in derSchweiz schon viel Jazz. Lesen Sie dazuauf Seite 5 die Episode über die Zu-sammenarbeit des Schweizers BerryPeritz (dm) mit Coleman Hawkins.

* James Lincoln Collier:Benny Goodman King of Swing Hannibal Verlag, A-3423 St. Andrä-Wördern, 1992

Chick Webb (1905–1939) war ein US-ameri-kanischer Drummer und Bandleader desSwing. Er gilt als Vorbild für viele grosseDrummer nach ihm. Als Big Band Leader war er der «König des Savoy», da er imSavoy Ballroom in Harlem immer die BandBattles mit anderen berühmten Big Bandsgewann. Er begeisterte die Zuhörer mitperfekten Arrangements, die z.B. von BennyCarter oder Edgar Sampson stammten.Zwischen 1933 und 1935 war der BassistJohn Kirby Mitglied seiner Rhythm Section.Die professionelle Gesangskarriere von EllaFitzgerald begann bei Chick Webb. Nachseinem frühen Tod übernahm Ella Fitzgeraldfür kurze Zeit das Orchester, das unter demNamen Ella Fitzgerald And Her FamousOrchestra auftrat.

Alle Namen in diesem Beitrag finden Sie auf Schellack- und Vinylplatten, und auf CDs, sowie in Büchern, Zeitschriften und Zeitungsartikeln im Archiv des swissjazzorama.

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Im Kaffee Matter in Engelberg war imWinter 1935/1936 kein geringerer der grosse Solist bei Berry Peritz als ColemanHawkins, der damals nicht nur den Ruf desbesten Jazz-Tenorsaxofonisten der Welthatte, sondern es höchstwahrscheinlichauch war. Er kam via Holland von Londonher, wo er Starsolist des grossen Orchestersvon Jack Hylton war.

In einem Interview mit Berry Peritz im Juli1997, dessen Inhalt Otto Flückiger weit-gehend festgehalten hat, macht der Band-leader und Drummer seine Erinnerungen anHawk wieder lebendig: «Hawkins war einunerhörter Typ, mit einem fantastischen,vollen Ton auf dem Instrument. Einmaligauch, wenn er am Klavier seine Akkordedrückte. Er spielte nicht technisch, dafüraber harmonisch sehr gut. Er sah imposantaus, war stets gut angezogen. Wenn erBody and Soul spielte, kamen einigenLeuten fast die Tränen».

Zur Dokumentation dieses kleinen Kapitelsder Schweizer Jazzgeschichte ist eine LPunserer Sammlung von besonderem Wert:Coleman Hawkins, Original 1936–1938Recordings (swissjazzorama LP-14769).Eine Reihe von Duett- und Trioaufnahmenmit dem Pianisten Freddy Johnson gebenHawkins die Gelegenheit zu zeigen, welchgrossartiger Improvisator er ist. Mit vierTiteln ist die Schweizer Band The Berry'splus Coleman Hawkins vertreten. Beson-ders hörenswert ist der Tiger Rag: Die Bandmit dem Pianisten Ernest Berner (Vater von

André Berner, Amateur Jazzfestival Zürich)mit dem Alt- (Ernst Höllerhagen) und zweiTenor-Saxofonisten (Hugo Peritz und Omerde Cock) hat lediglich Begleitfunktion.Hawkins variert das Thema, ohne es imersten Chorus vorzustellen, in fulminanterWeise. Eine Uptempo-Nummer mit einemBerry am Schlagzeug, der souverän demon-striert, dass er auch bei so hohen Tempiimstande war, einen Solisten mit seinemstimulierenden Beat anzufeuern.

Trotz vieler Qualitäten des SchlagzeugersBerry Peritz sucht man seinen Namen ver-gebens im zweibändigen rororo-Jazzlexi-kon. Hingegen unterliess es der berühmtefranzösische Jazzkritiker Hugues Panassiénicht, Berry mit einem kurzen Text 1944 insein Jazzmusiker-Verzeichnis aufzunehmen.

Bevor Berry mit seinem Bruder Hugo dieBand The Berry's gründete, spielte er ab1934 im Orchester des Schweizer Pianistenund Komponisten Walter Baumgartner. ImJahre 1939 wurde er weg von seiner eige-nen Gruppe von Fred Böhler für Auftritte im Modetheater der LandesausstellungZürich engagiert. 1947 schied Hugo Peritzals Partner seines Bruders aus, und Berryübernahm die Leitung der erfolgreichenBand, die er erst 1955 auflöste. Seine letz-ten Jahre verbrachte er in seinem Apparte-ment im Zürcher Seefeld, wo er am 11. Feb-ruar 2000 verstarb. Place à la danse hiessBerrys Devise. Guter Jazz als gute Tanzmu-sik. Das war seine Erfüllung, und damithatte er Erfolg über Jahrzehnte hinweg.

Ein kleines Stück Schweizer Jazzgeschichte

Berry Peritz und ColemanHawkins in EngelbergDie Swingband The Berry's des Drummers Berry Peritz spielte in den Dreissiger und Vierzigerjahren immer wieder während der Wintersaison im Palace-HotelGstaad zum Tanze auf. Doch was die Schweizer Jazzgeschichte betrifft, ist Engel-berg viel wichtiger als Gstaad. Jimmy T. Schmid

The Berry’s 1936. (von links): Ernest Berner, Billy ToffelColeman Hawkins, Berry Peritz, Omer de Cock, Jack Trommer

Thelonious MonkMisterioso

Thelonious Monk (1917–1982) war wie dieBlues-Legende John Lee Hooker (vgl. Seite12) ein äusserst einflussreicher Einzelgän-ger. Beide hatten jedoch trotz ihres Einflus-ses keine direkten musikalische Erben; siewaren/sind wichtige Inspirationsquellen.

Monk nahm in den frühen 1940er Jahrenan den wegweisenden Jam Sessions imHarlemer Minton's Playhouse teil. ImGegensatz zu anderen «Mintonians» wieCharlie Parker oder Dizzy Gillespie wurdeMonks epochale Bedeutung als Pianist undKomponist erst in den 1950er Jahren durchseine Prestige- und Riverside-Aufnahmenbreiter (an)erkannt. Noch heute befassensich Musiker und Musikerinnen, nicht nurim Bereich des Jazz, mit dem Klavierstil,den rhythmischen wie harmonischenKonzeptionen und den wunderbarenKompositionen (Misterioso, Blue Monk,Straight No Chaser usw.) dieser gelindegesagt eigenwilligen Genius of ModernMusic (Titel zweier Blue-Note-Alben). Trotzseines in der damaligen Zeit vielfach alsextrem empfunden Modernismus lassensich in Monks Musik durchaus auch Be-züge zur Tradition (Harlem Stride, Ellington,Blues) erkennen. Albert Stolz

Wie John Coltrane (vgl. Seite 11) hatauch Monk in der Schweiz diskogra-fische Spuren hinterlassen. Mit seinemjeweiligen Quartett am 21. Mai 1961 in Bern (Jazz Up, JU 326) und 1966 in Genf. Mit den Giants of Jazz (Gillespie, Sonny Stitt, Art Blakey u.a.)entstand am 12. November 1972 eineStudio-Aufnahme unter dem gleichenNamen (Concord Jazz GW 3004/CCD43004). Alle diese Aufnahmen findetman im Archiv des swissjazzorama.

BORN 1917

«Born 1917» auch Dizzy Gillespie.Ihm haben wir im Jazzletter 36/2016 einen grösseren Beitrag gewidmet.

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Bei einer Durchsicht der Besetzungslistenüber die Jahre hinweg fällt auf, dass sichdie hohen Qualitätsansprüche Goodmansauch auf die Wahl des bestgeeignetstenSchlagzeugers auswirkten. Zählt man dieverschiedenen Drummer, die mit Goodmangespielt haben, manche nur kurz, einigeüber Wochen oder sogar Jahre hinweg,kommt man bei Russel D. Connor auf 77 Namen. Darunter grosse Meister desJazzschlagzeugs wie Gene Krupa oder SidCatlett, aber auch Musiker, von denen kaumjemand gehört hat. Ob mit den Stöckenoder mit den Besen, einigen die sich durchihre Zusammenarbeit mit Goodman einenPlatz in der Jazzgeschichte erspielt haben,wollen wir hier ein paar Zeilen widmen.

Bevor wir näher auf Goodmans Drummereingehen, zuerst einige Worte zu ihmselbst. Benjamin David Goodman wuchs in Chicago als Spross einer kinderreichenjüdischen Familie auf. Da waren zwölfKinder, acht Buben und vier Mädchen. Mitzehn Jahren erhielt Benny, wie er fortangenannt wurde, den ersten Klarinetten-unterricht, und zwar beim Deutschen FranzSchoepp, einem ehemaligen Klarinettistendes Chicago Symphony Orchestra. ZuSchoepps Schülern gehörten noch weitereBoys, die sich später als Jazzmusiker einenNamen machten: Buster Bailey und JimmyNoone. Benny und Buster sollen unter derAufsicht ihres strengen Lehrers mancheshübsche Duett gespielt haben. Begeistertvom Klarinettisten Ted Lewis, einem lusti-gen Leiter eines damals bekannten Tanz-

orchesters, imitierte er dessen Soli undspielte sie immer wieder. Quasi Bennyserste jazz-musikalischen Übungen. Bereitsanfangs der Zwanzigerjahre begann er mitlokalen Amateurbands aufzutreten undfreundete sich mit einer Gruppe von jungenChicagoer Jazzmusikern an, die ihn baldüberredeten, Berufsmusiker zu werden.

Benny bei Ben

Als Benny als Freelancer mit der einen oderanderen Band spielte, wurde der Schlag-zeuger und Bandleader Ben Pollack (1903 –1971) auf den jungen Klarinettisten auf-merksam und engagierte ihn in seineneugebildete Band, mit der er schon imSeptember 1926 einige Platten einspielte.Posaune spielte kein geringerer als GlennMiller, die Tuba Bennys Bruder Harry. FürBenny war das Engagement bei Pollacknicht nur des Geldes wegen von Bedeu-tung, auch musikalisch konnte er profitie-ren. Der Drummer Ben Pollack war durch-aus nicht nur ein reiner Rhythmiker. Er hatteein gutes Gespür für effektvolle Arrange-ments und einen sicheren Instinkt beimVerpflichten junger vielversprechenderMusiker, darunter waren so erstklassigeSolisten wie Jack Teagarden und Bud Free-man. Schon bei Pollack war es Goodmangelungen, seine Soli in eigener Art zu gestalten, natürlich auch inspiriert vonschwarzen Klarinettisten wie Johnny Doddsoder Jimmy Noone. Dazu war er ein vonFranz Schoepp trainierter guter Notenleser.Deshalb gab es für ihn keine Probleme, ge-legentlich bei anderen Gruppen, ausserhalbder Pollack-Band, einzusteigen, z.B. bei dendamals beliebten Five Pennies des Trom-peters Red Nicols. Dort sass Gene Krupa amSchlagzeug. Krupa gehörte zum engerenKreis junger Chicagoer Jazzmusiker.

Gene Krupa

Krupas Freundschaft mit Goodman wurdeenger, als dieser nach all den Jahren mitBen Pollack und als Freelancer im Herbst1934 beschloss, zusammen mit seinemBruder Harry am Bass eine eigene Swing-band zu gründen. Swing war hauptsächlich

eine Art Tanzmusik, die bei der Jugenddieser Jahre eine grosse Begeisterung aus-löste. Nach einigen Versuchen mit anderenDrummern war klar: Der Platz hinter demSchlagzeug der Goodman Band gehörtekeinem anderen als Gene Krupa. Krupaspielte zweifelsohne eine zentrale Rolle beiden Bemühungen Goodmans als Orchester-leiter. Seine musikalischen Fähigkeiten,seine Liebe zum Jazz und sein Enthusias-mus fürs Ganze machten ihn für Goodmanzum wertvollen Weggefährten. Ein abso-luter Höhepunkt für Goodman und seineMitmusiker war das Konzert in der CarnegieHall in New York vom 16. Januar 1938.Zum ersten Mal war es einem echtenJazzensemble gelungen, die konsequenteAusrichtung der Programme auf die Klassikzu durchbrechen. Die Big Band (14 Musikerund die Sängerin Martha Tilton), das Trio (er selbst an der Klarinette, Teddy Wilsonam Piano und Krupa am Schlagzeug) undvor allem auch das durch Lionel Hamptonam Vibrafon zum Quartett erweiterte Triowurde mit frenetischem Applaus bedacht.Des Drummers Beitrag zum grossen Erfolgwar erheblich. Besonders was er in denschnellen Quartett-Nummern im Wechsel-spiel mit den Melodieinstrumenten bot, wargeradezu sensationell. Nun gab's aber aucheine Kehrseite der Medaille: Goodmanmerkte oft, dass ihm Gene Krupa die Schaustahl. Das Publikum reagierte auf Krupas Soli und Einwürfe mit viel Sonderapplaus.Dies führte zu ernsten Spannungen, so dass sich Goodman entschloss, trotz dengrossen Qualitäten seines Drummers dieseStelle neu zu besetzen. Ohne ein grossesZeremoniell verliess Gene Krupa die Bandam 3. März 1938.

Dave Tough

Nach einem kurzen Zwischenspiel mitLionel Hampton, der ohne weiteres vomVibrafon zum Schlagzeug wechseln konnte,gab es bereits am 25. März Trioaufnahmenmit Dave Tough (1907–1948). Tough wareiner der gefragtesten Drummer seiner Zeit,der bereits mit Erfolg im Orchester vonTommy Dorsey gespielt hatte und später beiArtie Shaw und Woody Herman am Schlag-

Drumming with GOODMAN

Wer wissen möchte, was Benny Goodman (1909–1986) als Klarinettist und Band-leader alles produziert hat, nimmt am besten das grosse Verzeichnis mit all seinenKonzerten und Plattenaufnahmen von D. Russel Connor* zur Hand. Es erschien zweiJahre nach Goodmans Tod unter dem Titel Benny Goodman. Listen to His Legacyund informiert darüber, wann, wo und mit wem er welche Titel gespielt hat.Für einen Goodman-Fan eine Fülle wissenswerter Informationen. Jeder Musiker,und somit auch jeder Drummer, der bei Goodman seinen Beitrag zum Gelingen des orchestralen Ganzen geleistet hat, ist bei Connor aufgeführt. Jimmy T. Schmid

Gene Krupa (1909–1973)

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zeug sass. Mit seinem subtilen High Hat-Stil, weitgehend ähnlich dem von Jo Jonesbei Count Basie, war Tough eine Art Gegen-pol zu Krupa. In Sachen Solo und mitEinwürfen war Tough eher zurückhaltend.Sein Spiel glich einer rhythmischen Palette,mit der er für jeden Tutti-Chorus, für jedenSolisten die passende Klangfarbe bereit-hielt. Musikalisch war alles in Ordnung,doch gelegentliche Übertreibungen beimAlkoholkonsum wirkten sich verminderndauf seine Zuverlässigkeit aus. Manchmalerschien er zu spät zu Proben oder Auf-tritten. Das passte überhaupt nicht zurBerufsauffassung von Goodman, der vonseinen Musikern Disziplin in jeder Hinsichtverlangte. Als Tough Ende Oktober 1938einen ersten Auftritt im New Yorker HotelWaldorf-Astoria verpasste, wurde er ent-lassen. Erneut musste kurzfristig LionelHampton als Schlagzeuger einspringen.Der Bruch mit Dave Tough war keineswegsendgültig. Als Goodman am 13. März 1941mit seinem berühmten Septett mit CootieWilliams und Charlie Christian A SmoothOne und Good enough to keep aufnahm(später hiess die Nummer Airmail Special),wer sass am Schlagzeug? Dave Tough.Er spielte eben so gut, dass Goodman ihntrotz seiner gelegentlichen Eskapadenwieder in seine Pläne integrierte und mitihm eine Reihe von Big Band- und Septett-Aufnahmen produzierte, bevor er sichentschloss, Sidney ‘Big Sid’ Cartlett, denafroamerikanischen Spitzendrummer, zuengagieren.

Sidney Catlett

Sid Catlett war neben Chick Webb einer derwichtigsten Swingschlagzeuger der Dreis-siger- und frühen Vierzigerjahre. Auch inBebop-Gruppen konnte der grossgewach-sene ‘Big Sid’, wie man ihn nannte, mitErfolg mithalten. Er nahm am Übergangvom Swing zum Bebop aktiv teil. Im Juni1941 war er zum ersten Mal mit BennyGoodman für Aufnahmen im Studio, undscheinbar lief alles rund. Doch am 21. Okto-ber 1941 gibts Aufnahmen mit dem BG-Orchester ohne Schlagzeug. Ein aufsehen-erregendes Ereignis!

Der Autor D. Russel Connor berichtet:Als bekannt wurde, dass Benny ohne SidCatlett in New York aufnahm, spekuliertedie Musikpresse, Benny sei enttäuscht vonCatlett,er habe ihn durch Jo Jones ersetzt,der aber leider keine Arbeitslizenz für N.Y.besässe. Die Gewerkschaftsbeamten hättenihm verboten, mit Benny aufzunehmen.Einige Jahre später, als man Goodman fragte, weshalb Catlett diesen Aufnahme-termin verpasst habe, sagte er, er habeMühe, sich an diesen Aufnahmetermin zuerinnern, Catlett sei halt wahrscheinlichkrank gewesen. Doch wie lief es wirklich?Passten Goodman die vielen Füller undAkzente des berühmten Schlagzeugersnicht, die er auch dann spontan einsetzte,wenn sie vom Arrangement nicht vorgese-hen waren? Wohl kaum. Schon eher lag esan den Nummern, die damals Eddie Sauterschrieb und die um einiges schwierigerwaren als das leicht Dahinfliessende, dasaus der Feder von Fletcher Henderson kam.Sauter hingegen lieferte nicht die Musik,die Catlett bei Goodman erwartet hatte.So kam es einmal mehr zu Unstimmigkeitenzwischen Benny und seinem Mann amSchlagzeug.

Weitere Schlagzeug-Koryphäen mit B.G.

Obwohl der vorgesehene Platz für diesenArtikel keine grossen Berichte über weitereGoodman-Drummer zulässt, wollen wirnoch auf drei besonders auffällige Meisterihres Faches hinweisen.Die virtuosen US-Swingdrummer bilden einViereck. Drei Ecken sind besetzt mit ChickWebb, Gene Krupa und Buddy Rich, der nur zweimal aushilfsweise bei Goodmaneingesprungen war. An der vierten Ecke istLouie Bellson (1924–2009). Bellsons Tech-nik war verblüffend, doch er verstand esauch, Solisten in sehr einfühlender Weise zu begleiten. Er war einer der ersten, diemit 2 Pauken spielten.Hier Mel Lewis (1929–1990) nicht zuerwähnen, wäre so etwas wie eine Unter-lassungssünde. Lewis sass im wahrschein-lich besten Jazzensemble, das Goodmanjemals zusammengestellt hatte. Joe New-man, Phil Woods, Zoot Sims und weitere

hochrangige Solisten waren dabei, alsGoodman im Sommer 1962 auf seineRusslandtournee als Kulturgesandter derUSA ging. Kein Schlagzeuger hätte hierbesser gepasst als Mel Lewis. Jeder Effekt-hascherei abhold, ganzheitlich im Dienstder Musik spielend, war Lewis ein einzig-artiger Ausnahmekönner.

Erfreulich ist es, dass wir diesen Blick aufdie Goodman Drummer mit der Erwähnungdes Schweizers Charly Antolini (*1937)abschliessen können. Er gilt zu Recht alseiner der besten Schlagzeuger Europas, dersich ohne weiteres mit den amerikanischenMeistern des Faches messen kann. ImNovember 1980 stellte Goodmans Freund,der St. Galler Kurt Müller, für den Klarinet-tisten eine Rhythm Section für einige Kon-zerte in Europa zusammen. Seine Wahl fielauch auf Charly Antolini. Sein stimulieren-des Spiel mit Stöcken und Besen triebGoodman zu Hochleistungen an.

Benny Goodman war durch und durch einPerfektionist. Davon zeugt alles, was ergeschaffen hat. Im Jazz und in der Klassik.Mit Goodman gespielt zu haben, war fürjeden Jazzdrummer eine Auszeichnung.

In unserem Archiv sind von all den hier erwähnten Musikern vieleAufnahmen vorhanden.

* D. Russel ConnorBenny Goodman. Listen to His Legacy.Studies in Jazz, No. 6, London, 1988

Dave Tough (1907–1948) Sid Catlett (1910–1951) Louie Bellson (1924–2009)

Charly Antolini, CH (*24.05.1937)

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Fredy Bühler ist, auf eine Kurzformelgebracht, etwa so zu umschreiben:Alter 79, Treuhänder von Beruf, Jazz-musiker und -kenner aus Leidenschaft.Aber da gibt es noch manches mehr zu erzählen…Ich war Treuhänder – und bin es mit redu-ziertem Pensum im Umfang von etwa zweiBürostunden täglich immer noch. Vor fünf-zehn Jahren habe ich meine Firma verkauft,die heute ihren Sitz in Oberurnen hat.Online bin ich nach wie vor mit ihr verbun-den und betreue in Glarus einige Kunden,die nicht umziehen wollten. Mein GlarnerBüro habe ich übrigens laufend miss-braucht für meine Sammlerhobbys. Ich wareiner der ersten Computer-Nutzer im Kan-ton, mühte mich in den digitalen Anfängenum 1970 noch mit fest verdrahteten, nichtmit geschriebenen Programmen ab. Inzwi-schen befindet sich in meinem Bürobaueine grosse Kollektion von Computern ausden vergangenen 45 Jahren. Angegliedertist eine ins 19. Jahrhundert zurückgreifendeSammlung von Schreib- und Rechnungs-maschinen. Hinzu kommt ein Fundus mitalten Tonbandgeräten. Am gleichen Orthüte ich einen Schatz aus alten Landkar-ten. Und weil ich mich 2011 – 150 Jahrenach dem Brand von Glarus – in meinerdamaligen Funktion als Präsident desHistorischen Vereins im Kanton intensiv mit jenem zerstörenden Ereignis befasste,entstand auch eine Sammlung mit altenFotos und Stichen von den Brandstätten.Ich bin halt ein Sammler, unfähig, etwasfortzuwerfen.

Begeistertes Landvolk

Wenn wir uns in Deinem Haus nebendem Glarner Landsgemeindeplatzspontan umschauen, dann drängt sichdas Thema Jazz nicht zwingend insBlickfeld. Wir entdecken Modelleisen-bahnen, Münzen, bildende Kunst,gleich mehrere Bibliotheken. Wo findetder Jazz seinen Platz?Da müssen wir ein paar Jahrzehnte zurück-blättern. Ich wuchs in Zürich auf, nicht weitweg von Eddy Jegge, dem Trompeter derlegendären Tremble Kids. Er infizierte michmit dem Virus Jazz, ich lernte ebenfalls

Trompete und Kornett zu spielen. Eddybesass ein beeindruckendes Gerät, nämlichein Grammofon mit zwei Tonarmen, dieeinen beinahe stereomässigen Sounderzeugten. Mit dem mageren Sackgeld einepräsentable eigene Plattensammlung anzu-legen, war für mich als Handelsschülerunmöglich. Heute muss ich dazu stehen:Die Versuchung war gelegentlich über-gross, in der Stadt das eine oder anderebegehrte Stück auf nicht eben legale Weisemitlaufen zu lassen…

Fandest Du Gleichgesinnte?Bei der unkonventionellen Plattenbeschaf-fung durchaus. Musikalisch erreichte michaus Glarus – wo ich gelegentlich bei denGrosseltern in den Ferien war – 1956 dieEinladung, mich einer neu zu gründendenlokalen Band anzuschliessen. Darauf liessich mich ein und begegnete hier in Glarusdem Schlagzeuger Peter Leuzinger unddem Pianisten Rolf Rohmer. Gemeinsamfassten wir den kühnen Entschluss, mitschweizweit bekannten Leuten wir RenéBorel, Mario Schneeberger und Alex Ballyin der Glarner Provinz ein Konzert anzuset-zen für das jazzferne Landvolk. Und frechwie wir waren, reservierten wir den Saal im Glarnerhof, im imposantesten Hotel desKantonshauptorts. Das Unterfangen wurdeein totaler Erfolg. Wir erkannten: Das Glar-nerland war reif für den Jazz. Wir erlebteneine regelrechte Bandgründerzeit. Auch

wurde ein Jazzkeller im Trümpy-Discounteingerichtet, wo sich in der Folge Jazzpromi-nenz aus der ganzen Schweiz vorstellte.

Woran lag es, dass ausgerechnet dasgebirgige Glarnerland in den fünfzigerJahren zum Jazz-Mekka mutierte undjahrzehntelang eine inspirierende Szenemit prächtigem Musikernachwuchsblieb? Am berühmten Föhn wird's wohlnicht gelegen haben…Für die Zündung waren Fremde verantwort-lich, aber es gab vor Ort eine erstaunlicheZuhörerbereitsschaft. Gleichzeitig fielen die Anfänge der Glarner Jazzära zusammenmit dem Ende traditioneller Jazzclubs in derStadt Zürich. Dort aktive Musiker warenausgesprochen froh, bei uns willkommen zusein. Nach unserem erfolgreichen Startan-lass bereicherten die sogenannten Nuits deJazz den Glarner Konzertkalender – insge-samt zehn Veranstaltungen, die der JazzclubGlarus im Abstand von einem oder mehre-ren Jahren auf die Schützenhaus-Bühnebrachte. Dort fand auch internationale Pro-minenz den Weg zu uns – von ChampionJack Dupree, Albert Nicholas und Sir CharlesThompson über Dollar Brand bis zu BennyBailey. Das hatte Folgen für die lokaleJazzszene, die mehr und mehr aufblühte.Und die sich mit anderen musikalischenBereichen paarte: Ganz am Anfang spielteJakob Kobelt, damals bekannt als Organistund Chorleiter, manchmal Cello-Bass inunserer Band, sein Sohn Johannes brilliertean der Klarinette. Bald ging Johi eigeneWege und gründete die Glarona Jazz Tigers,später sein Quartett Johannes Kobelt.Posaunist Jost Trümpy fand den Weg ausParis zurück ins Glarnerland, aus Amerikastiess Saxofonist Sämi Trümpy zur lokalenSzene.

Erneuerungsgeist

Kulturell machte das Glarnerland imausgehenden 20. Jahrhundert nicht nur auf musikalischem Gebiet, sondernauch in den Bereichen bildende Kunstund Literatur auf sich aufmerksam. Dasspricht für eine erstaunliche mentaleOffenheit in der engen Talschaft…Die Glarner leben zwar in einem engen Tal,haben aber immer Wege zur Aussenweltgesucht und gefunden. Die einst blühendeGlarner Textilindustrie betrieb in Anconaeinen eigenen Hafen und lieferte ihreErzeugnisse via Italien nach Übersee. In denUSA zeugen Ortsnamen wie New Glarus,New Elm, New Bilten von der Präsenz deskleinen Glarner Volks in der Fremde. In der

Als Fridolin zu swingen begann Zu Besuch bei unserem Gründerpräsidenten Fredy Bühler in Glarus

Ort: Zaunplatz in Glarus, landläufig bekannt als Landsgemeindeplatz. Zeit: Gegen-wart. Fernand Schlumpf und René Bondt haben sich mit Fredy Bühler verabredet und sind beeindruckt vom Empfang in einem ehrwürdigen Haus, das mehr Museum alsWohnstätte zu sein scheint. Der Gastgeber war und ist Jazzmusiker und Jazzfan, aberauch Sponsor und Sammler mit enorm breitem Interessenhorizont. Der gebürtigeZürcher war mitverantwortlich dafür, dass im engen Berg- und Talkanton der Jazz um die Mitte der fünfziger Jahre spektakulär aufblühte.

Fredy Bühler, Jazzmusiker (tp, dm), Jazzfan,Sponsor, Sammler und erster Präsident von Pro Jazz Schweiz, des Vorgängervereinsdes swissjazzorama.

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modernen Malerei verfügte Glarus durchausüber eine eigene Inspirationsquelle. Und dieParallele dazu liefern Glarner im modernenJazz, allen voran Shasimosa Tütü, diverseJazzCoalitions und natürlich Pianist FelixStüssi, der in Montreal lebt und heute inKanada zu den führenden Musikern zählt.

Haben die pfiffigen Glarner besondere Gene?Originalität geht ihnen gewiss nicht ab. InGlarus entstand 1864 das erste Fabrikgesetzder Schweiz. Glarus verfügte über die ersteAHV landesweit, war der erste Kanton mitStimmrechtsalter 16 und hat in jüngster Ver-gangenheit eine Gemeindefusion grösstenStils durchgezogen. Erneuerungsgeist isttatsächlich bei uns lebendig…

…und hält auch Senioren jung. Duerreichst 2018 die Achtzig-Jahr-Markeund bist nach wie vor musikalisch aktiv.Ich spiele heute bei den Happy Lakers, dassind Leute, die alle eine bestimmte Bezie-hung zum Begriff «See» haben. Das jüngsteMitglied ist 73-jährig. Angetrieben werdenwir alten Herren aber von einer jungenSängerin! Musikalisch sind wir im Main-stream unterwegs: im moderneren Swing,im Bebop, im Bossanova.

Begonnen hast Du Deine musikalischeKarriere als Trompeter, später wurdestDu Drummer. Wie kam's zum Umsatteln?Als Schlagzeuger Peter Leuzinger das Glar-nerland verliess und ins Zürcher Oberlandübersiedelte, verlor unsere frühe Band denRhythmiker. Dies war der Hauptgrund für den Wechsel. Ausserdem war ich als Trom-peter permanent auf das Dixieland-Formatfixiert, was mir mehr und mehr missfiel. AlteJazznummern spiele ich nach wie vor gerne,aber die müssen nicht nach Dixieland tönen.

Musikalisch fühlte ich mich früh in einemStilraster zuhause, der mit dem Swing be-ginnt und mit dem Hardbop à la Art Blakeyeinen Höhepunkt erreicht. Mehr als zehnJahre spielte ich in der Glarona Big Bandund später mit den Capri(c)horns. Und mit Sämi Trümpy habe ich vier Jahrzehntelang gemeinsam in den verschiedenenJazzCoalitions musiziert. In dieser langenZeitspanne entwickelte sich eine Art Urver-trauen, das allfällige Hörverluste bei zuneh-mendem Alter durch tiefe gegenseitigeVertrautheit ersetzte.

Neben Deinem aktiven Wirken als Musiker und Mitorganisator in der Glarner Jazzszene waren auch Deinemonetären Möglichkeiten gefragt:Bei Veranstaltungen trugst Du nichtselten das finanzielle Risiko…Ja, beispielsweise bei jenem – geglückten –Experiment, das unter dem Titel Reisen inden Jazz realisiert wurde. Es handelte sichum Konzerte, die jeweils am ersten Sams-tag pro Kalendermonat im City Keller Glarus stattfanden und einen denkbar brei-ten Fächer abdeckten. Ausser mir wusstejeweils niemand, wer auftreten würde. DasSpektrum reichte vom Solopianisten überKleinformationen bis zur Big Band, vomDixieland bis zum ausgeflipptesten NewJazz, vom Nobody bis zum Promi. Nocheinen Schritt weiter in experimentellerRichtung ging im Glarnerland das Kom-mithée fuehr Müsick, das in den vergan-genen Jahrzehnten über 300 Konzerteveranstaltet hat.

Nationaler Schulterschluss

Fredy, Du hast nicht nur im Glarner-land, sondern auch landesweit für denJazz Stimmung gemacht. 1989 wurdest

Du erster Präsident des damals neugegründeten Vereins von Pro JazzSchweiz, der später zum swissjazz-orama mutierte. Wie kam es dazu?Die Anfänge sind weit vor 1989 zu veror-ten. Nach dem Ende der Neuen SchweizerJazz Föderation strebten der BaselbieterOtto Flückiger, der Schaffhauser Ernst‘Fats’ Bührer, der Glarner Heinrich Baum-gartner und weitere namhafte SchweizerJazzfreunde eine landesweite Kooperationund Vernetzung an. Das Ergebnis war dieGründung von Pro Jazz Schweiz, derenZweck darin bestand, an einem zentralenOrt wichtige Materialien über Vergangen-heit und Gegenwart der helvetischenJazzszene zusammenzutragen. Pro JazzSchweiz erweiterte das Flückiger-Archivund organisierte unter anderem einigewegweisende Wanderausstellungen.(Vgl. JazzLetter 31 vom August 2014)

In welcher Form hütet der SammlerFredy Bühler seine eigenen tönendenSchätze?Mein privates Tonträgerarchiv deckt prak-tisch alles Wesentliche über den Jazz in derZeit von 1918 bis zur Jahrtausendwendeab. Bei der Jazzliteratur gibt es – nebeneinigen unabdingbaren Standardwerkenauf Englisch – einen deutschsprachigenSchwerpunkt. Daneben existiert ein strengchronologisch gegliedertes Dokumenten-archiv in Papierform. Meine Präferenz imJazz lässt sich mit drei Begriffen umschrei-ben: Swing, Humor und zitierende Bezüge.Zwei dieser Elemente vermisse ich bei denheutigen Absolventen von Jazzschulen.

Unsere digitale Gegenwart macht mit wenigen Klicks fast alles aus dertönenden Geschichte des Jazz verfüg-bar. Sammlerfleiss wird scheinbarüberflüssig. Wie gehst Du damit um?Als die Compact Disc aufkam mit frühenJazz-Aufnahmen ohne jedes Neben-geräusch, begann ich am Nutzen der digi-talen Tonträger-Technologie zu zweifeln.Und ich blieb damit nicht allein: Heuteverlangt ein wachsender Teil der Jazz-liebhaber wieder Vinyl-Schallplatten. Ichbin weissgott ein Computer-Fan und binmir bewusst, dass man den technischenFortschritt in der Musikdistribution nichtaufhalten kann, aber ich ziehe analogaufbereiteten alten Jazz der klinischen CD-Variante vor.

Mit diesem tröstlichen Blick zurück auf eine ältere, überlebenswerte Form der Jazzrezeption möchten wir diesesGespräch beenden. Besten Dank, lieberFredy, für Deine Ausführungen und DeineGastfreundschaft.

Nostalgische Foto aus der Zeit, als der Jazz ins Glarnerland kam. An der Trompete Fredy Bühler.

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John Chilton – Trompeterund Autor, 1932–2016

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IN MEMORIAM

John Chilton war Trompeter, Bandleader undoft geehrter Jazz-Autor. Als während HitlersBombenterror Kinder wie er aus Londonaufs Land evakuiert wurden, ermunterte ihnsein Gastgeber, Kornett spielen zu lernen.Damals hörte er am Radio auch zum erstenMal Jazz: Sidney Bechet. Dieser «verzau-berte» ihn völlig, wie er sich später erin-nerte. Damit begann seine lebenslangeLiebe für den Jazz. Bis ihn die RAF (Royal Air Force) rekrutierte, hatte er in mehrerenkaufmännischen Jobs gearbeitet und einJugendorchester gegründet. Die RAF ermög-lichte ihm eine musikalische Weiterbildung.Doch schien ihm die Karriere eines Tanz-orchesterchefs in den fünfziger Jahren nichtsehr aussichtsreich. Er übernahm eine Archivarbeit beim Daily Telegraph. Bei der Tournee von Louis Armstrong 1956 in England traf er ‘Satchmo’ persönlich – ein Schlüsselerlebnis für den 24-jährigenFan! Zwei Jahre danach gründete er seineerste professionelle Band.

Ende 1958 wechselte er zu Bruce Turner'sJump Band. Es war die konfliktreiche Pe-riode zwischen den Traditionalisten («moldyfigs») und den Modernisten. Turner meis-terte die Kluft so elegant, dass er bei An-hängern beider Seiten Erfolge hatte. MitUnterbrüchen blieb Chilton der Jump Bandvier Jahre treu. Die längste Pause nutzte erals Trompeter eines Schiffsorchesters füreine Weltkreuzfahrt. Inzwischen verheiratetund auf ein regelmässiges Salär angewie-sen, wechselte er zur Swinging Blue JeansBand. Nach 3 Jahren hatte er genung vom Pop und startete wieder eine eigeneBand, die John Chilton's Swing Kings.Diese begleitete oft amerikanische Besucherauf ihren Tourneen, so etwa Buck Clayton,Ben Webster, Bill Coleman, Charlie Shaversund Earl Hines.

1967 eröffnete seine Frau Teresa denBloomsbury Bookshop. Jazz-Literatur wardie Spezialität. Einer der Kunden war

Graham Greene, der daraufhin eine seinerRomanfiguren ‘Chilton' taufte. Johnserstes Werk war die Armstrong-Biografie,gemeinsam verfasst mit Max Jones. Alsnächstes erschien das unentbehrlicheNachschlagewerk Who's Who of Jazz –Storyville to Swing Street. Während dennächsten 40 Jahren folgten weitere Meis-terwerke über Coleman Hawkins, LouisJordan, Sidney Bechet, Red Allen, RoyEldridge, Billie Holiday, McKinney's CottonPickers, Crosby's Bob Cats und seine Auto-biografie Hot Jazz, Warm Feet. ZahlreicheArtikel, Cover-Texte und über ein Dutzendeigene Kompositionen ergänzen das Bildeines hochtalentierten Schreibers, Kennersund Musikers – alles vereint in einer derliebenswürdigsten Persönlichkeiten, die ichje getroffen habe.

Ab 1974 und für die nächsten 28 Jahre tratJohn mit seinen Feetwarmers mit WallyFawkes (cl) und dem exzentrischen Kaba-rettisten/Sänger George Melly auf. DieTourneen führten fast durch die ganzeWelt; die Band publizierte 8 LPs und hattezeitweise auf BBC-TV eine eigene Show.Erst ab 2002 nahm es John etwas ruhiger.Zur Bedingung machte er, dass er nichtmehr ausserhalb der Reichweite der roten Londoner Busse auftreten musste.Zwei Jahre vor ihm verstarb seine GattinTeresa. Ihre drei Kinder leben in England,wobei einer seiner Söhne ihm zum Daily Telegraph folgte, dessen Kultur-redaktion er leitet.

Chilton war einer der besten Freundeund der intensivsten Korrespondentenvon Johnny Simmen, einem der be-deutendsten Schweizer Kenner und Förderer des Jazz. Der Nachlass vonJohnny Simmen ist im Archiv des swissjazzorama erfasst und abgelegt.

Konrad Korsunsky

Antoine Dominique‘Fats’ DominoThe Fat Man

Am 24. Oktober verstarb im Alter von 89Jahren der berühmte kreolische Sänger,Pianist und Songwriter Fats Domino, nebenLouis Armstrong wohl der bekanntesteSohn von New Orleans.

New Orleans war nicht nur eine berühmteJazz-Stadt: In den 1950er Jahren errang die Crescent City musikalisch erneut Weltgeltung, diesmal als Brutstätte einerspezifischen Art von Rhythm'n'Blues (FatsDomino, Smiley Lewis, g oder ProfessorLonghair, p). Diese Musik basiert auf einemeinmaligen Mix von Blues, Boogie Woogie,Cajun Music, karibische Rhythmen undNew Orleans Jazz (u.a. dessen reiche Klaviertradition, die bis auf Jelly Roll Morton und seine des öftern verwende-ten afrokubanischen Rhythmen (Spanish Tinge) zurückgeht). Der Einfluss diesesRhythm'n'Blues à la New Orleans übteeinen beträchtlichen Einfluss aufRock'n'Roll, Rock, Soul und Funk aus.Obwohl Dominos Musik als Rock'n'Rollvermarktet wurde, fühlte sich Domino zeitlebens als Rhythm'n'Blues-Musiker.

Bereits seine erste Nummer The Fat Man,die Domino 1949 zusammen mit seinemAlter Ego, dem Arrangeur, Bandleader,Produzenten und Ex-Lunceford-TrompeterDave Bartholomew, schrieb und aufnahm,wurde ein Hit. Die lange Zusammenarbeitmit Bartholomew brachte eine ganze Reihe von berühmten Songs hervor: BlueMonday, I Hear You Knockin' , Walking toNew Orleans, Let the Four Wind Blow usw.Auch nach seiner kreativsten Periode (von1949–1962 beim Label Imperial) blieb Fats Domino bis zu seinem Hinschied einsehr erfolgreicher Musiker. Man denke nur an das grossartige Konzert, das Domino/ Bartholomew 1987 am JazzfestivalBern gaben. So long, Fats! Albert Stolz

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Vor 50 Jahren, am 17. Juli 1967, ver-starb die Jazzlegende John Coltrane im Alter von 41 Jahren. Nur wenigeMusiker in der Geschichte des Jazzerreichten diese Bedeutung und übteneinen so grossen Einfluss aus wiedieser afroamerikanische Tenor- undSopransaxofonist. Ganz gleich, ob mansich nun von seiner Musik beeinflussenlässt oder sich von ihr abgrenzt.

Der leider dieses Jahr verstorbene bekanntedeutsche Musikwissenschaftler und Musi-ker Ekkehart Jost (vgl. Jazzletter Nr. 39)fasste Coltranes Werdegang in den folgen-den prägnanten Sätzen zusammen: «1965bekam die Entwicklung des Free Jazz eineneue zentrale Figur und damit einen neuenstilistischen Mittelpunkt. John Coltrane,der sich durch den Rhythm and Blues vonEarl Bostic, Hard Bop, Miles Davis' Modal-Konzept und seine eigenen harmonischenAbenteuer (Giant Steps) gearbeitet hatte,stiess zu der jungen Generation der Free-Musiker. Dieser Schritt hatte nicht nur weit-reichende musikalische Konsequenzen,sondern auch symbolischen Wert: Coltrane,der etablierte Künstler, zeigte seine Soli-darität mit einer Gruppe sozial unterprivi-legierter junger Musiker der New YorkerSzene.»*

1955–56 wurde John Coltrane als Mitglieddes stilbildenden ersten Quintetts des Trompeters Miles Davis bekannt. Nacheinem für Coltrane musikalische Entwick-lung äusserst wichtigen «Intermezzo» imQuartett des Pianisten Thelonious Monkkehrte er 1958 ins neu gegründete legen-däre Miles Davis Sextet zurück. Mit diesemSextett beteiligte er sich massgeblich aneinem der berühmtesten und meistverkauf-ten Jazz-Alben: Kind of Blue (Columbia,1957).** Während jener Zeit produziertevor allem das Label Prestige zahlreichePlatten mit Coltrane als Leader oder Side-man. Und Blue Note veröffentliche 1957mit Coltranes Album Blue Train eine derbesten Hard-Bop-Aufnahmen.

Seit dem Vertrag mit dem Label Atlantic(Giant Steps, 1959, vgl. Jost) etablierte sichColtrane endgültig als bedeutender Leader.Mit den Atlantic-Aufnahmen My FavoriteThings und Olé (1960/61) führte er, wiekurz zuvor Steve Lacy, das seit SidneyBechet vernachlässigte Sopransaxofonwieder als ein dem Alt- und Tenorsaxofongleichwertiges Hauptinstrument ein.

Die Impulse-Jahre (1961–67) stellen denHöhepunkt von Coltranes bereits zuvoreindrücklichem Schaffen dar, wobei ihm der

Plattenboss Bob Thiele völlig freie Handliess. Auf die klassischen Quartett-undQuintett-Aufnahmen (McCoy Tyner (p),Jimmy Garrison (b), Elvin Jones (dm) und imQuintett noch Eric Dolphy, as, fl, b-cl) folg-ten ab 1965 die mit dem Album Ascensioneingeleiteten letzten «Free-Jahre». NachOrnette Colemans (as) Doppel-Quartett-Aufnahme Free Jazz (1960) stellt Coltraneswuchtiges und energiegeladenes OpusAscension ein weiteres bedeutendes Mani-fest des Free Jazz dar. Auf dieser Aufnahmegesellten sich zum bald danach aufgelöstenQuartett noch wichtige Musiker des FreeJazz wie Archie Shepp und Pharoah Sanders(ts), Marion Brown und John Tchicai (as)oder der «Oldtimer» Freddie Hubbard (tp).In seinen allerletzten Lebensjahren brachder traditionsbewusste Coltrane weitge-hend mit den geltenden Konventionen,die er schon zuvor stark erweitert und auf-geweicht hatte. Gute Beispiele für diesefortschreitende Verschmelzung von Tradi-tion und Avantgarde stellen Rogers' undHammersteins Song My Favorite Things

oder Coltranes eigene Ballade Naima dar,die Coltrane zwischen 1960–67 oft auf-genommen und zunehmend freier inter-pretiert hatte. Elemente afrikanischer und(fern)östlicher Musikgattungen fandenimmer mehr Berücksichtigung in seinenStücken und seinen langen, in jederHinsicht «grenzenlosen» Improvisationen,zum Beispiel in Africa/Brass (1961), AfroBlue (1963) sowie India (1961/63). Bereitsdie Titel etlicher Alben wie A Love Suprime(1964), Ascension oder kurz vor seinem Tod Interstellar Space (1967, Duo mitRashied Ali, dm) verweisen auf die an keine bestimmte Religion gebundene spirituelle Dimension seiner Musik, wasjedoch Coltrane nicht daran hinderte,auch auf die sozio-politische Lage zureagieren. Die getragen gehaltene Auf-nahme Alabama (1963) zum Beispiel ent-stand als Antwort auf einen Brandanschlagdes Ku Klux Klan auf eine schwarze Kirchein Birmingham, Alabama.

Wie dies schon bei Musikern vom Formateines Louis Armstrong, Duke Ellington, mitdem Coltrane 1962 eine Platte einspielte,oder Charlie Parker der Fall war, begrenztesich ebenfalls Coltranes Einfluss nicht«nur» auf seine Instrumente und den Jazz;auch seine epochale Bedeutung wirdausserhalb der Jazzwelt wahrgenommen.

Albert Stolz

SOULTRANE

* Vgl. Free Jazz, in: Enzyklopädie des Jazz (Hg.Barry Kernfeld), Bern, München, Wien 1993

** Am 8. April 1960 trat John Coltrane mitdem Miles Davis Quintet im Kongress-haus Zürich auf. Der Radio-Mitschnittdieses Konzerts wurde auf den LabelnJazz Unlimited und TCB veröffentlicht:Miles Davis Quintet Live in Zürich 1960,JUCD 2031 und auf TCB 02312 (SwissRadio Days 31). Beide CDs findet manneben vielem mehr von John Coltrane im Archiv des swissjazzorama. Am 18.November 1962 gab John Coltrane mitseinem klassischen Quartett (vgl. Artikel)im Zürcher Volkshaus ein Konzert.

Chasin' the TrainUnter diesem Titel erschien am 14. Aprildieses Jahres ein vom erfolgreichen amerika-nischen Autor und Regisseur John Schein-feld produzierter Dokumentarfilm über JohnColtrane. Zur Verwirklichung dieses Filmshaben verschiedene bekannte Musiker undPersönlichkeiten beigetragen, so etwa BillClinton, Coltranes Sohn Ravi, Jimmy Heath,Wynton Marsalis, Sonny Rollins, Wayne Shorter, McCoy Tyner, der Coltrane-BiografLewis Porter und der afroamerikanischeSchauspieler Denzel Washington.

Wie die in letzter Zeit veröffentlichten Filmeüber Chet Baker (von Robert Budreau), MilesDavis (Don Cheadie) oder Lee Morgan (Kas-per Collin, auch Autor eines Films über AlbertAyler) wird es wohl auch Chasin' the Trainnicht in unsere Kinos schaffen.Vielleicht wer-den einige dieser Filme eines Tages auf DVDveröffentlicht. Lediglich Etienne Comars Spiel-film Django über Django Reinhardt währendder Nazi-Besetzung von Paris und Frankreich,wird in mehreren Kinos gezeigt. as

Page 12: swissjazzorama jazzletter · 2020. 8. 22. · Banjo und Tuba.Allmählich wurde die Tuba vom Kontrabass abgelöst. Zum Beispiel im Fletcher Henderson Orchester durch John Kirby (1908–1952)

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Der Jazzletter erscheint 2–3 x jährlichRedaktion: Jimmy T. Schmid (J.T.S.) Layout: Walter Abry (WA)Copyright: swissjazzoramaAckerstrasse 45, 8610 Uster Tel. +41(0)44 940 19 [email protected] www.jazzorama.chContact pour la Suisse romande:VakantContato per la Svizzera italiana: Nicolas GillietTel. 079 428 97 65, [email protected] dieser Nummer:Heinz Abler (ha), Walter Abry (WA), René Bondt,Andrea Engi, Bruno Gut, Konrad Korsunsky,Hans Peter Künzle, Klaus Naegeli,Fernand Schlumpf (fs), Jimmy T. Schmid (J.T.S.),Irène Spieler, Albert Stolz (as)

IMPRESSUM

IN MEMORIAM

Roger Wendell ‘Buck’ HillUS-amerikanischer Tenorsaxofonist des Hard Bop, 13.2.1927–20.3.2017Buck Hill musste lange warten, bis er zwischen1978 und 2006 ein gutes Duzend teilweise hoch-karätig besetzte Alben als Leader aufnehmenkonnte (vor allem auf den Labeln Steeple Chaseund Muse). Seinen Lebensunterhalt bestritt erüber 30 Jahre lang als Briefträger. Nach getanerArbeit trat er vor allem als lokale Grösse (aberwas für eine!) in den Klubs seiner HeimatstadtWashington D.C. auf. Auf einigen Aufnahmenvon Charlie Byrd (1958/59), Shirley Horn(1989–1995) oder Shirley Scott (1991) hört mandiesen ausgezeichneten afroamerikanischenTenorsaxofonisten zudem als Sideman. as

Chuck LoebUS-amerikanischer Gitarrist des Rock/Fusion Jazz7.12.1955 – 31.7.2017Loeb nahm Unterricht u.a. bei Jim Hall und PatMetheny und studierte an der Berklee School ofMusic in Boston. Er war ein überaus geschätzter,geschmackvoll agierender Sideman und wirktebei Stan Getz und Chico Hamilton, sowie vorallem in den Fusion Gruppen Steps Ahead undFourplay mit. Auch in Europa war Loeb in derGruppe Metro mit Mitch Forman und WolfgangHaffner unterwegs. Er war zudem Musikprodu-zent und lebte zuletzt in Spanien. ha

Mike HennesseyBritischer Pianist und Jazzpublizist25.2.1928 – 16.8.2017Hennessey schuf sich vor allem als Fachpublizistin zahlreichen einschlägigen Periodika (z.B. Bill-board) und als Autor von Biografien einenNamen. So beschrieb er das Leben von KennyClarke (Klook: The Story of Kenny Clarke) oderJohnny Griffin (The Little Giant: The Story ofJohnny Griffin). Er machte sich stark für dieUrheberrechte von Musikschaffenden und tratauch als Pianist in der Begleitung von NathanDavis, Johnny Griffin oder Ronnie Scott inErscheinung. ha

John AbercrombieUS-amerikanischer Gitarrist des Modern Jazz16.12.1944 – 22.8.2017Abercrombie steuerte seine Karriere durch dieStürme des Rock/Fusion Jazz in die ruhigenGewässer einer eher kammermusikartigenÄsthetik. Wie etwa Kollege Ralph Towner orien-tierte er sich offenbar an Idealen des PianistenBill Evans, dessen Stücke er des öfteren imProgramm hatte. Abercrombies Spiel zeichnetesich durch ein sicheres Gefühl für melodischeEleganz aus. Unzählige Tonträger dokumentierensein Schaffen, jedoch mögen sich die Zuhören-den vor allem an seiner umfangreichen Hinter-lassenschaft beim Label ECM erfreuen. ha

John Lee HookerBoogie Chillen

BORN 1917

John Lee Hooker (1917–2001) gehört mitMusikern wie Muddy Waters, T-BoneWalker oder B.B. King zu den «Gründer-vätern» des modernen Nachkriegs-Blues.Vor allem seine auf rockigen Boogie-Rhythmen basierenden Aufnahmen (seit1948 mit Boogie Chillen (Nr. 1 in dendamaligen schwarzen Charts), House RentBoogie usw.) übten besonders auf dieenglische und amerikanischen Rockszeneeinen schlichtweg gewaltigen Einfluss auf,der auch heute noch spür-, resp. hörbar ist.John Lee Hooker wird jedoch auch für seinelangsamen stimmungsgeladenen Deep-Blues-Nummern wie I'm in the Moododer Hobo Blues geschätzt. In der letztenDekade seines Lebens wurde Hooker mitAlben wie The Healer, auf denen Rock- und Popgrössen mitwirkten, zum inter-nationalen Star. as

Ausführlichere Angaben über John Lee Hookers Werdegang und Musikfindet man im Jazzletter Nr.4:www.jazzorama.ch unter dem Stich-wort «Medien».

AUS DEM ARCHIV

BücherDie gute Nachricht zuerst: Im Jahr 2017 sind imSJO neu hinzu gekommen: Über 90 (neunzig!)Bücher. Die schlechte: immer noch ist keineAusleihe möglich. Lesen und allfällige Kopiendaraus ziehen, bitte nur in den Räumen des SJOan der Ackerstrasse 45 in Uster. Wir haben leidernicht den administrativen Apparat, den Ausleih-verkehr zu bewältigen. Gemäss unserem Selbst-verständnis als nationales schweizerisches Jazz-archiv wollen wir eine gut dotierte, aktuell ge-haltene Jazz-Bibliothek führen. Die Neuzugängesind mehrheitlich Bücher, die nach 2000 erschie-nen sind. Man mag einwenden, dass früher oderspäter auch die jetzt noch neueren, jüngerenPublikationen über Jazz und angrenzende Be-reiche bei uns als Donationen landen werden.Darauf sollten wir uns aber nicht verlassen.Aber natürlich ist auch jedes Buch willkommen,von dem sich der Besitzer trennen kann.Dazu Suchtipps: Ich empfehle, gelegentlich dieErfassungskonventionen anzuschauen unterAnleitungen (rechts oben im Suchbildschirm).Für Benutzer sind besonders die Felder GENREund THEMA nützlich. Es gibt weit mehr als nurBiografien zu entdecken! Das Feld SIGNATURentschlüsselt auch die Geheimnisse der Ordnungder Aufstellung. Der erste Satz, wenn ich einemBesucher die Bibliothek zeige, lautet jeweils:«Es handelt sich hier um eine Magazinbibliothek,das heisst die Bücher sind NICHT systematischaufgereiht.» Die Suche über die Website archivdaten.jazzorama.ch ist unabdingbar!Von den 90 neuen sind zehn sogenannte Helve-tica, also Bücher, die in irgendeinem Zusammen-hang mit der Schweiz stehen. Z.B. Der vergesse-ne König des Blues: Tampa Red von RichardKoechli. Sammy Rimington: A Life in Pictures,1957–2007, Fotos, Szenen, Faksimiles, Schweiz-Tourneen und -konzerte mit einem Beitrag vonEduard Keller. Jazz in Willisau: Wie NiklausTroxler den Free Jazz nach Willisau brachte vonMeinrad Buholzer. Und: Dieses unbändige Gefühlder Freiheit: Iréne Schweizer – Jazz, Avantgar-de, Politik von Christian Broecking – ein Buch,das mir besonders am Herzen liegt. «ChristianBroecking», heisst es im Covertext des Buches«hat eine der ungewöhnlichsten Musikerinnen-biografien der europäischen Nachkriegszeitrekonstruiert.» Dass ihm dies mit sorgfältigenHintergrundrecherchen und Zeitzeugeninterviewsso ungemein lebendig gelungen ist, ist einVerdienst an sich. Sein Buch handelt von IrèneSchweizer, tatsächlich aber beschreibt es eineganz spezifische Perspektive der Entwicklungimprovisierter Musik in Europa seit den 1960erJahren. Und ist damit weit mehr als eine Bio-graphie. (Wolfram Knauer).Weiter empfehle ich: Schaffhauser Jazzgespräche(Reihentitel). Fashion and Jazz: Dress, Identityand Subcultural Improvisation Dresscode vonJazzmusikern und -orchestern. Ethel Waters:Stormy Weather, Sängerin und Schauspielerin.Und How the Apollo Theater Shaped AmericanEntertainment.Neben der aktuellen Literatur reichen unsereBestände weit ins letzte Jahrhundert zurück.Unter den zwei «ältesten» Büchern sind Sous lesigne du Jazz von Stephane Manier und So ThisIs Jazz, 1926 (reprint 1978). Laut Verzeichnis istdas älteste ein Buch, das zurzeit leider fehlt(mindestens seit November 2016), aus dem Jahr1910 mit dem Titel «NODOG». Vermutlich ist dieJahreszahl ein Schreibfehler. Falls jemand etwasweiss über den Verbleib dieses Exemplars, bin ichdankbar – und ich bin auch auf der Suche nach

Chet Baker von Bill Moody, sowie nach neunweiteren Büchern: Frauen im kulturellen Lebenvon Isabel Morf, Sing me a swing song and letme dance: Ella Fitzgerald von Jim Haskins,Chicago Documentary: Portrait of a Jazz Era vonFrederic Ramsey Jr, Jazz Story von Yvan Ischer,Histoire générale du jazz von André Coeuroy,De la vie et du jazz von Charles Delaunay,Gray Wardell 1921–1955 von Dieter Salemann,Let the Good Times Roll: The Story of LouisJordan and His Music von John Chilton.

Bruno Gut