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24 MMW-Fortschr. Med. Sonderheft 3 / 2012 (154. Jg.) AKTUELLE MEDIZIN KONGRESSBERICHTE AKTUELLE MEDIZIN KONGRESSBERICHTE 24 Neue Herzinfarkt-Leitlinie Was neu ist und wo die größten Defizite bestehen Wo besteht Verbesserungspotenzial in der Herzinfarkttherapie? Der künftige DGK-Präsident Prof. Christian Hamm nennt folgende Punkte: STEMI-Patienten noch schneller in eine Klinik mit Akut-PCI bringen, häufiger Bivalirudin als Ge- rinnungshemmer einsetzen, statt Clopidogrel Prasugrel oder Ticagrelor verord- nen, und konsequent hoch dosierte Statine geben. _ Die kürzlich überarbeiteten und auf www.escardio.org publizierten neuen Leitlinien der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zur Herzinfarkt- therapie (STEMI) sind keine Revolu- tion, enthalten aber einige bemerkens- werte Änderungen, berichtete Prof. Christian Hamm, Kerkhoff Klinik in Bad Nauheim und Medizinische Klinik I der Universität Gießen, auf der Herbst- tagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Prähospitale Versorgung In der Notfallversorgung kommt es v. a. auf zwei Dinge an: Schnelle Herzinfarkt- diagnose und schnellstmöglicher Trans- port in eine Klinik mit PCI-Bereitschaft. „Die Krankenhaus-Sterblichkeit von STEMI-Patienten liegt in einer Klinik mit Akut-PCI bei 4–6%, in einer Klinik ohne Akut-PI bei 14–16%“, veranschau- lichte Hamm. Deshalb müssen flächen- deckend STEMI-Netzwerke mit PCI- Bereitschaft zur Verfügung stehen, die eine rasche Wiedereröffnung des In- farktgefäßes gewährleisten. Die Infarkt- diagnose sollte zehn Minuten nach Ein- treffen des Notarztes stehen, die Akut- PCI spätestens nach 60–90 Minuten er- folgen. Wenn die Akut-PCI nicht inner- halb von 120 Minuten durchführbar ist, sollte eine Lyse binnen 30 Minuten er- folgen. „Das aber sollte eine Ausnahme bleiben“, forderte Hamm. Das Katheterlabor muss vom Notarzt umgehend informiert werden, der Pati- ent muss dort ohne Umweg hingebracht werden. Ärzte, die mit Infarktpatienten wiederholt ein falsches Krankenhaus an- Herzinfarkt? Schnellstmöglich in eine Klinik mit PCI-Bereitschaft! © Shutterstock fahren, sollten keinen Notdienst mehr leisten, so Hamm. Aufgewertet in den neuen Leitlinien wurde die prähospitale Echokardiogra- fie, um differenzialdiagnostisch Lun- genembolie und Perikarderguss abzu- klären. Dies darf aber nicht zu Verzöge- rungen führen, betonte Hamm. Absolut indiziert ist die Gabe von ASS, in Deutschland häufig und sinn- vollerweise als Aspisol®-Infusion verab- reicht. Hier aber reicht die halbe Dosis von 250 mg/d bei Weitem aus. Auf kei- nen Fall indiziert ist die Gabe von Clopi- dogrel im Notarztwagen. Bis das wirkt, vergehen drei Stunden. Man erreicht die Wirkung wesentlich schneller, wenn in der Klinik Ticagrelor oder Prasugrel eingesetzt werden. Sinnvolle Akutmaß- nahmen sind ferner Analgetika, ggf. An- tiemetika, sowie die Gabe von 4000– 5000 Einheiten Heparin. Maßnahmen in der Klinik In der Klinik sind 15-Elektroden-EKG, Blutproben, kontinuierliches Monito- ring und sofortige Einleitung der Reper- fusion Pflicht, sofern die Symptomatik weniger als zwölf Stunden besteht. Neu ist die Empfehlung, bei entsprechender Erfahrung möglichst einen radialen Zu- gang für den Katheter zu wählen. Neu ist ferner, bei hoher Thrombuslast eine Thrombusaspiration durchzuführen. Alle Herzinfarktpatienten sollten mit zwei Plättchenhemmern behandelt wer- den. Als Partner für ASS wird heute Ti- cagrelor oder Prasugrel empfohlen, wo- bei letzteres bei Patienten mit TIA- oder Schlaganfallanamnese gar nicht, bei Pa- tienten über 75 Jahre oder unter 60 kg Körpergewicht nicht in voller Dosis ge- geben werden sollte. Prasugrel und Ti- cagrelor sind bei STEMI als gleichwertig zu betrachten, sagte Hamm. Unterlegen ist Clopidogrel und sollte nur bei Kon- traindikationen gegen die beiden po- tenteren Thrombozytenhemmer einge- setzt werden. Diese neue Empfehlung wird bei über 50% der Infarktpatienten noch nicht umgesetzt, so Hamm. Bei geeig-

Was neu ist und wo die größten Defizite bestehen

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24 MMW-Fortschr. Med. Sonderheft 3 / 2012 (154. Jg.)

AKTUELLE MEDIZIN–KONGRESSBERICHTEAKTUELLE MEDIZIN–KONGRESSBERICHTE

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Neue Herzinfarkt-Leitlinie

Was neu ist und wo die größten Defizite bestehenWo besteht Verbesserungspotenzial in der Herzinfarkttherapie? Der künftige DGK-Präsident Prof. Christian Hamm nennt folgende Punkte: STEMI-Patienten noch schneller in eine Klinik mit Akut-PCI bringen, häufiger Bivalirudin als Ge-rinnungshemmer einsetzen, statt Clopidogrel Prasugrel oder Ticagrelor verord-nen, und konsequent hoch dosierte Statine geben.

_ Die kürzlich überarbeiteten und auf www.escardio.org publizierten neuen Leitlinien der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zur Herzinfarkt­therapie (STEMI) sind keine Revolu­tion, enthalten aber einige bemerkens­werte Änderungen, berichtete Prof. Christian Hamm, Kerkhoff Klinik in Bad Nauheim und Medizinische Klinik I der Universität Gießen, auf der Herbst­tagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.

Prähospitale VersorgungIn der Notfallversorgung kommt es v. a. auf zwei Dinge an: Schnelle Herzinfarkt­diagnose und schnellstmöglicher Trans­port in eine Klinik mit PCI­Bereitschaft. „Die Krankenhaus­Sterblichkeit von STEMI­Patienten liegt in einer Klinik mit Akut­PCI bei 4–6%, in einer Klinik ohne Akut­PI bei 14–16%“, veranschau­lichte Hamm. Deshalb müssen flächen­deckend STEMI­Netzwerke mit PCI­Bereitschaft zur Verfügung stehen, die eine rasche Wiedereröffnung des In­farktgefäßes gewährleisten. Die Infarkt­diagnose sollte zehn Minuten nach Ein­treffen des Notarztes stehen, die Akut­PCI spätestens nach 60–90 Minuten er­folgen. Wenn die Akut­PCI nicht inner­halb von 120 Minuten durchführbar ist, sollte eine Lyse binnen 30 Minuten er­folgen. „Das aber sollte eine Ausnahme bleiben“, forderte Hamm.

Das Katheterlabor muss vom Notarzt umgehend informiert werden, der Pati­ent muss dort ohne Umweg hingebracht werden. Ärzte, die mit Infarktpatienten wiederholt ein falsches Krankenhaus an­ Herzinfarkt? Schnellstmöglich in eine Klinik mit PCI-Bereitschaft!

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fahren, sollten keinen Notdienst mehr leisten, so Hamm.

Aufgewertet in den neuen Leitlinien wurde die prähospitale Echokardiogra­fie, um differenzialdiagnostisch Lun­genembolie und Perikarderguss abzu­klären. Dies darf aber nicht zu Verzöge­rungen führen, betonte Hamm.

Absolut indiziert ist die Gabe von ASS, in Deutschland häufig und sinn­vollerweise als Aspisol®­Infusion verab­reicht. Hier aber reicht die halbe Dosis von 250 mg/d bei Weitem aus. Auf kei­nen Fall indiziert ist die Gabe von Clopi­dogrel im Notarztwagen. Bis das wirkt, vergehen drei Stunden. Man erreicht die Wirkung wesentlich schneller, wenn in der Klinik Ticagrelor oder Prasugrel eingesetzt werden. Sinnvolle Akutmaß­nahmen sind ferner Analgetika, ggf. An­tiemetika, sowie die Gabe von 4000– 5000 Einheiten Heparin.

Maßnahmen in der KlinikIn der Klinik sind 15­Elektroden­EKG, Blutproben, kontinuierliches Monito­ring und sofortige Einleitung der Reper­fusion Pflicht, sofern die Symptomatik weniger als zwölf Stunden besteht. Neu ist die Empfehlung, bei entsprechender Erfahrung möglichst einen radialen Zu­gang für den Katheter zu wählen. Neu ist ferner, bei hoher Thrombuslast eine Thrombusaspiration durchzuführen.

Alle Herzinfarktpatienten sollten mit zwei Plättchenhemmern behandelt wer­den. Als Partner für ASS wird heute Ti­cagrelor oder Prasugrel empfohlen, wo­bei letzteres bei Patienten mit TIA­ oder Schlaganfallanamnese gar nicht, bei Pa­tienten über 75 Jahre oder unter 60 kg Körpergewicht nicht in voller Dosis ge­geben werden sollte. Prasugrel und Ti­cagrelor sind bei STEMI als gleichwertig zu betrachten, sagte Hamm. Unterlegen ist Clopidogrel und sollte nur bei Kon­traindikationen gegen die beiden po­tenteren Thrombozytenhemmer einge­setzt werden.

Diese neue Empfehlung wird bei über 50% der Infarktpatienten noch nicht umgesetzt, so Hamm. Bei geeig­

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neten Patienten mit niedrigem Blu­tungsrisiko, die ASS plus Clopidogrel erhalten, kann eine niedrig dosierte Therapie mit zusätzlich Rivaroxaban er­wogen werden.

Im Rahmen der primären PCI muss ein injizierbares Antikoagulans einge­setzt werden. Mittel der Wahl ist Bivali­rudin. Dieses erhalten bisher jedoch we­niger als 10% der Patienten, offenbar aufgrund des hohen Preises. Alterna­tiven sind Enoxaparin mit oder ohne GPIIb/IIIa­Inhibitoren sowie unfraktio­niertes Heparin.

Sofern keine Kontraindikationen für eine langfristige duale plättchenhem­mende Therapie bestehen, sollte immer ein medikamentenbeschichteter Stent eingesetzt werden. Behandelt werden sollte in der Akutsituation nur die für den Infarkt verantwortliche Koronarlä­sion, nicht aber alle weiteren Läsionen, die das Koronarangiogramm eventuell zeigt.

Neue Empfehlungen bestehen bei Pa­tienten mit Herzstillstand. Gemäß Leitli­nie sollten die Patienten nach der Reani­mation mit Hypothermie behandelt und bei Infarktverdacht schnellstmöglich an­giografiert werden. Im kardiogenen Schock ist die intraaortale Ballonpumpe verzichtbar. Sie bringt keinen Vorteil, so das Ergebnis einer kürzlich publizierten großen Studie aus Deutschland.

An der deutschen Realität vorbei geht die neue Leitlinienempfehlung, die

eine frühe Entlassung von STEMI­Pati­enten nach 72 Stunden nahelegen. Dies gilt als vernünftige Option (IIb B­Emp­fehlung), aber die Kliniken in Deutsch­land würden wegen der kurzen Liegezeit finanzielle Abschläge hinnehmen müs­sen, erläuterte Hamm. Immerhin: Einige Kliniken entlassen Infarktpatienten zu­weilen bereits nach vier Tagen. Üblich sind aber noch sieben bis acht Tage.

Nachsorge und Sekundärprävention Betablocker sind etwas herabgestuft wor­den. Bei Patienten mit LV­Dysfunktion oder Herzinsuffizienz bleiben sie, sofern nicht kontraindiziert, Pflicht (IA­Emp­fehlung), bei allen anderen Patienten be­steht nur mehr eine IIaB­Empfehlung.

Statine hingegen wurden aufgewer­tet: Unabhängig vom Cholesterinwert sollten alle Patienten früh nach statio­närer Aufnahme hoch dosierte Statine erhalten (IA­Empfehlung). Diese sollten vom Hausarzt möglichst weiterverord­net werden: Als LDL­Cholesterin­Ziel­wert sechs Wochen nach Herzinfarkt gilt ein LDL­Wert < 70 mg/dl (IIaC­Emp­fehlung).

Bei allen Infarktpatienten mit Pump­schwäche, Diabetes oder Vorderwandin­farkt ist eine frühzeitige und langfristige ACE­Hemmer­Therapie indiziert (IA­Empfehlung). Alternativ kann ein AT1­Blocker gegeben werden. Für alle ande­ren Patienten ist die ACE­Hemmer­The­rapie eine gute Option (IIa­Empfehlung). Bei einer EF < 40%, Herzinsuffizienz oder bei Diabetes wird ein Aldosteron­antagonist empfohlen, z. B. Eplerenon (IB). Kontraindikationen dafür sind Nie­renschwäche oder Hyperkaliämie.

Die duale Plättchenhemmung sollte zwölf Monate durchgeführt werden. Nach BMS­Einlage gilt ein Monat, nach DES­Positionierung sechs Monate als Minimum.

Absolute Basis bleibt natürlich eine Änderung des Lebensstil mit gesunder Ernährung, Gewichtsregulierung, Be­wegung, Stressreduktion und – beson­ders wichtig – Rauchverzicht.

Dr. meD. Dirk einecke ■

■ Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und Jahrestagung der Arbeitsgrup-pe Rhythmologie, Hamburg, 11.–13. 10. 2012

Herzinfarkt: Rasche Reperfusion senkt die Sterblichkeit.

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