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Kognitionswissenschaft - Ihre Perspektive auf Lernen und Lehren mit Technologien

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Kapitel des L3T Lehrbuch (http://l3t.eu)

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2  —  Lehrbuch  für  Lernen  und  Lehren  mit  Technologien  (L3T)

1. Einleitung

In diesem Kapitel werden die Auswirkungen, die zen-trale Fragestellungen und Konzepte der Kognitions-wissenschaft auf unser Verstehen von Lehr-Lernpro-zessen und die Verwendung von Lerntechnologien,untersucht.

Die Kognitionswissenschaft ist keine wissen-schaftliche Disziplin im herkömmlichen Sinne,sondern ein immer noch recht junges interdiszipli-näres Forschungsfeld, in dem unterschiedliche Dis-ziplinen gemeinsam Antworten auf Fragen zur Ko-gnition – Wahrnehmung, Denken und Handeln –suchen, die sie aus Ihrer Perspektive und mit ihrenMethoden allein nicht zufriedenstellend beantwortenkönnen. In gewisser Weise stellt sich die Kognitions-wissenschaft Fragen, die sich Philosophen seit jeherstellen und versucht diese mit Mitteln der Psycho-logie, Linguistik, Neurowissenschaft, Biologie und In-formatik zu beantworten, wobei letzterer in der Ent-stehungsgeschichte dieses Forschungsfelds wegen derdamals neuen Methode der Computersimulation einebesondere Rolle zukommt.

Warum lohnt es sich, sich in einem so anwen-dungsbezogenen Feld, wie „Lehren und Lernen mitTechnologien“ überhaupt, mit Fragen und Kon-zepten aus der Grundlagenforschung auseinan-derzusetzen? Wir sehen drei Gründe: ▸ Aus vielen Modellen der kognitionswissenschaft-

lichen Grundlagenforschung ist Kognitionstechnikgeworden, mit der wir im Alltag ständig konfron-tiert sind.

▸ Lehrende und Lernende (und natürlich auch De-signer/innen von Lerntechnologien) haben not-wendigerweise ein Konzept von Kognition undeine „Theorie“ wie sie „funktioniert“. Die Frageist lediglich, wie bewusst und reflektiert diese per-sönliche „Theorie“ ist und damit, ob sie zur Re-flexion über die eigene Praxis dienen kann.

▸ Unsere Konzepte von Kognition haben eine Aus-wirkung auf die Vorstellung was Lernen ist undwas gelernt wird – und damit auf unseren Wis-sensbegriff. Hier sehen wir eine Nahtstelle zu Er-gebnissen der Bildungsforschung, die zeigen, dassunser Wissensbegriff Lernstrategien beeinflusst.

Dieses Kapitel orientiert sich in seinem Aufbau anden Phasen der Kognitionswissenschaft seit ihrerEntstehung. Diese ideengeschichtliche Betrachtungist notwendig, um konkrete Implikationen auf ak-tuelle Fragen des Lernen und Lehrens, des Wissensund zu Lerntechnologien abzuleiten. Ziel dieses Ka-pitels ist es zu zeigen, wie Konzepte aus der kogni-tionswissenschaftlichen GrundlagenforschungEingang in die Alltagssprache, in unser Denken überLernprozesse und Wissen, und letztlich in Techno-logien gefunden haben, mit den wir tagtäglich intera-gieren, um so ein „Denkwerkzeug“ für die Reflexionder eigenen Praxis zur Verfügung zu stellen. KeinZiel ist es hingegen, didaktische oder Usability-Re-zepte auszustellen.

2. Das  Entstehen  eines  neuen  Forschungsfeldes

Wurzeln  der  Kogni:onswissenscha<  Eine fundierte Vorgeschichte würde im Rahmendieses Buches zu weit führen, daher möchten wir hiernur vier Strömungen und Ideen aus den DisziplinenPhilosophie, Psychologie, Linguistik und Informatikskizzieren, deren interdisziplinäres Zusammenwirkenwesentlich für das Entstehen des neuen Forschungs-feldes Kognitionswissenschaft war:

Die Vorstellung, dass menschliches Denkenletztlich Rechnen sei, findet sich schon im 17. Jahr-hundert bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716),der, nebenbei bemerkt, auch das Binärsystem erfand,das mit der Erfindung des Computers eine große Be-deutung erhalten sollte. Die Analytische Philo-sophie, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von denbritischen Philosophen Bertrand Russell (1872–1970)und George Edward Moore (1873–1958) und vomWiener Kreis begründet und kann als eine Fort-führung der Leibniz'schen Ideen begriffen werden.Ihre Vertreter wiesen folgende Gemeinsamkeiten auf:Ein systematisches, anstatt geschichtliches Heran-gehen an philosophische Fragen, eine Orientierungan empirischen Wissenschaften sowie der Versucheine logische Formalsprache (widerspruchsfreieIdealsprache) zu schaffen oder – je nach Richtung dieAnalyse von Sprache mit Mitteln der Logik, letztlichmit dem Ziel, die angenommene logische Formal-sprache hinter unserer Alltagssprache zu beschreiben.Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass viele Vertreterdieser Richtung vor dem nationalsozialistischenRegime fliehen mussten und Ihre Arbeit in Englandund den USA fortsetzen.

In der Psychologie hatte der Behaviorismus, vonJohn B. Watson 1913 ursprünglich als Gegenpositionzur Phänomenologie formuliert, die Untersuchungvon Verhalten mit naturwissenschaftlichen Methoden

Kogni:onswissenscha>   ist   ein   interdisziplinäres   For-­‐schungsfeld,  das  Phänomene  der  Kogni:on  erforscht,mit   dem  Ziel,  menschliche   Kogni:on   –   unsere  Wahr-­‐nehmung,   unser   Denken   und   letztlich   Handeln   –   zuverstehen.

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und damit eine „Objektivierung“ der Psychologieeingeführt und war zum vorherrschenden Paradigmageworden. Ein zunehmend kritisierter „Nebeneffekt“war, dass nun nur das Ereignis in der Umwelt (Reiz)und das mutmaßlich daraus resultierende Verhalten(Reaktion) Gegenstand einer wissenschaftlichen Un-tersuchung sein durfte. Das Gehirn wurde als„Black Box“ betrachtet und innere Zustände zurErklärung von Verhalten nicht mit herangezogen.1957 erschien das Buch „Verbal Behavior“, in demder Behaviorist seiner Zeit, Burrhus Fredric Skinner,seine Hypothese zum Spracherwerb formulierte. Ineiner Buchbesprechung übte der Linguist NoamChomsky (1959) harsche Kritik und argumentierte,dass ein so komplexes Verhalten wie Sprache un-möglich durch den Behaviorismus, und somit durchassoziatives Lernen, allein, erklärt werden könne.Vielmehr müsse es ein genetisch determiniertes men-tales „Modul“ geben, das es Menschen erlaubtSprache zu erwerben, eine Universale Grammatik, diedie genetische Basis für den Erwerb jeglichermenschlichen Sprache biete. Damit revolutionierte ernicht nur die Linguistik; die Kritik an Skinner wirdauch als Meilenstein auf dem Weg zu einem neuenParadigma gesehen: dem Kognitivismus.

Bevor der Kognitivismus näher diskutiert wird,muss vielleicht die für die Entstehung der Kogniti-onswissenschaften wesentlichste Erfindung und Vor-aussetzung hingewiesen werden: der Computer undseine formalen Grundlagen. 1936 hatte der Mathe-matiker Alan Turing (1912-1954) gezeigt, dass jedeberechenbare Funktion durch eine Turingmaschineimplementiert werden kann (Turing, 1936; Turing,1950). Eine genaue Erklärung würde an dieser Stellezu weit führen; wesentlich ist in unserem Kontext,dass sie – unendlich großen Speicher vorausgesetzt –jede berechenbare Funktion berechnen kann und,dass sie den Begriff Algorithmus exakt präzisiert. Alssolche bildete sie die theoretische Basis für die Ent-

wicklung des Computers (etwa 1946 durch den Ma-thematiker John von Neumann), dessen Architekturnach wie vor die Basis jedes Computers bildet.

Zusammengefasst, lässt sich der wissenschafts-geschichtliche Kontext um 1950 in sehr vereinfachterForm zuspitzen (vgl. Tabelle 1): In der Psychologiegibt es eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit demBehaviorismus, dessen Methoden es nicht erlaubenetwas darüber auszusagen oder zu untersuchen was,salopp gesagt, „im Kopf passiert“. Gerade daranhaben aber all jene Interesse, die menschliche Ko-gnition verstehen wollen. Auf Seiten der Analyti-schen Philosophie gibt es ein Angebot: Denken istlogisch und basiert auf einer (formalen) Sprache; wirmüssen also „nur“ einen Weg finden die Formal-sprache „hinter“ der Alltagssprache zu beschreiben.Chomskys Idee der Universalgrammatik bietet eineneue Brücke zwischen formaler Logik und natür-lichen Sprachen. Und der Computer bietet eine voll-kommen neue Herangehensweise, mit der wissen-schaftliche Theorien einer Prüfung unterzogenwerden konnten. Anstatt Modelle mit Papier undBleistift durchzurechnen, konnten diese Modelle,wenn man sie in eine formalisierte Form (entsprichtAlgorithmen, die als Computerprogramme imple-mentiert werden) bringt, automatisch berechnetwerden und gegebenenfalls Vorhersagen für die em-pirische Forschung machen: die Methode der Com-putersimulation.

Ein weiteres wichtiges „Puzzlestück“ für die Ana-logie zwischen Denken und Logik lieferten der Neu-rophysiologe Warren McCulloch und der LogikerWalter Pitts 1943. Die Turingmaschine (und in derFolge auch von Neumann-Computer) verwenden dasvon Leibniz erfundene Binärsystem, das heißt sie„kannte“ die zwei Symbole „1“ und „0“. Auch Ner-venzellen kennen zwei Zustände: sie feuern („1“)oder sie feuern nicht („0“). Auf Basis dieser Über-legung entwickelten McCulloch und Pitts (1943) einsehr vereinfachtes, abstrahiertes Neuronenmodell,

Disziplin Linguis:k   Mathema:k  (Infor-­‐ma:k)

Philosophie Psychologie

Beitrag  zur  Kogni:-­‐ons-­‐wissenscha<  undEntstehung  des  Ko-­‐

gni:vismus

Beschreibung  sprach-­‐licher  Strukturen  

Neu:  Universal-­‐gram-­‐ma1k

Mathema:scher  Be-­‐weis,  Computer

Neu:  formale  Spra-­‐chen,  Simula1on

Philosophische  Basis(„Denken  istrechnen“)

Neu:  Formale  Logik

Empirische  Daten,  Ex-­‐periment

Neu:  in  die  „Black  Boxhineinschauen“

Tabelle  1:  Überblick  über  die  Disziplinen  und  ihren  Beitrag  an  der  Entstehung  der  frühen  Kognitionswissenschaft  

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mit dessen Hilfe sie zeigen konnten, dass einNetzwerk dieser Neuronenmodelle – und damit auchdas menschliche Gehirn – im Prinzip die selben Be-rechnungskapazitäten hat, wie eine Turingmaschine,das heißt jede berechenbare Funktion berechnen unddamit auch logische Formalsprachen verkörpern.

3. Klassische  Kogni/onswissenscha1  

Die oben beschriebene wissenschaftliche Konstel-lation führte zu einer neuen Sicht auf menschlicheKognition und begründete so Mitte der 1950er Jahredas Entstehen der Kognitionswissenschaft (Bech-tel & Graham, 1998). Was sie einte, war die Annahmeeiner Vergleichbarkeit von Mensch und Computer indem Sinne, dass der Computer ein reaktionsfähigerMechanismus sei, der flexibles, komplexes und ziel-orientiertes Verhalten zeigen kann, ebenso wie Men-schen. Daher sei es nur natürlich von der Hypotheseauszugehen, dass ein solches System offenlege, wieMenschen zu eben dieser Flexibilität kämen, ergozeige, wie der menschliche Geist funktioniere(Newell, 1963). Diese Annahme schlug sich in demzentralen Postulat „cognition is information pro-cessing“, Kognition ist Informationsverarbeitung,nieder. Informationsverarbeitung wird in folgendemSinne verstanden: ein Algorithmus verarbeitet, ver-ändert und generiert Symbole, von den behauptetwird, dass sie einen Ausschnitt der Welt repräsen-tieren (zum Beispiel das Symbol „Haus“ repräsentiertein reales Haus). Deswegen wird dieser Ansatz auchals symbolverarbeitender Ansatz der Kognitions-wissenschaft bezeichnet. Aufgabe einer Wissen-schaft, die menschliche Kognition verstehen wollte,war es somit, jene „Algorithmen“ menschlicher Ko-

gnition zu identifizieren, die die Erkenntnisse ausoben genannten Disziplinen künstlich erzeugen (imSinne von am Computer simulieren) und diese Simu-lationsergebnisse wiederum im empirischen (psycho-logischen) Experimenten zu überprüfen.

Das neue wissenschaftliche Paradigma, das – inAbgrenzung zum auf extern beobachtbares Ver-halten fokussierten Behaviorismus – die Untersu-chung jener „innerer Mechanismen“, die für mensch-liche Kognition verantwortlich sind, zum Ziel hatte,wird als Kognitivismus (Varela, 1990; Bechtel et al.,1998) bezeichnet. Die Grenzen zum praktisch zeit-gleich entstandenen Forschungsfeld der „KünstlichenIntelligenz“ (KI) können wir, zumindest für denZweck dieses Lehrbuchs, als fließend erachten.Während für die KI der technische Aspekt im Vor-dergrund stand, war es für die Kognitionswissen-schaft der Versuch, menschliche Kognition zu ver-stehen.

Das Revolutionäre an der neu entstandenen Ko-gnitionswissenschaft war, dass zum erste Mal zwei

Aufgabe:  Das  MIU-­‐System  (Hofstadter,  1985)

Folgende   Aufgabe   soll   Ihnen   helfen,   die   Grundprin-­‐zipien  formaler  Sprachen  zu  verstehen.  

Das  MIU-­‐System  besteht  aus  einem  Axiom  „MI“,  dasals  Startbedingung  gegeben   ist,   sowie  den  Symbolen„I“  und  „U“,  die  nach  Regeln  manipuliert  werden,  umSätze  zu  bilden  (abzuleiten).  Die  Regeln  lauten:▸ Regel  1:  Wenn  der  letzte  Buchstabe  ein  I   ist,  darfein  U  angehängt  werden  (MI  →  MIU)  ▸ Regel   2:   Alles   nach   dem   M   darf   verdoppeltwerden  (MIU  →  MIUIU)  ▸ Regel  3:  Aus  III  darf  U  werden  (III  →  U)  ▸ Regel  4:  UU  kann  gestrichen  werden  (UUU  →  U)  

Bice   nehmen   Sie   sich   10   bis   15   Minuten   Zeit   undleiten  Sie  aus  dem  Axiom  MI  mit  Hilfe  der  Regeln  desMIU-­‐Systems  MU  ab!  

Waren  Sie  erfolgreich?  Was  hat  Ihnen  bei  der  Lösungder   Aufgabe   Probleme   bereitet   und   was   kann   der:efere  Grund  dafür  sein?  

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Begeben   Sie   sich   zur   nächsten   Kaffeemaschine   (ambesten   eine   Filtermaschine,   jedenfalls   aber   kein   Au-­‐tomat),   beobachten   Sie   genau,   wie   jemand   einenKaffee  kocht,  bis  zu  dem  Zeitpunkt  zu  dem  der  Kaffeetrinkfer:g  (Milch,  Zucker  usw.)  ist.  ▸ Halten   Sie   das   bice   in   einer   genauen   Be-­‐schreibung  des  Ablaufs   fest,   die   sich   auf   das  We-­‐sentliche   konzentriert.   Auf   dieser   Basis   soll   einefehlerfreie   Wiederholung   der   Handlung   möglichsein.   (Für   die   Informa:ker/innen   unter   Ihnen:schreiben   Sie   bice   einen   Algorithmus   in   Alltags-­‐sprache.)  ▸ Versuchen  Sie  eine  Person  zu  finden,  die  bereit  ist,Ihrer   Beschreibung   sklavisch   Folge   zu   leisten   undzu   versuchen   Ihnen   (oder  wenigstens   sich   selbst)auf   Basis   Ihrer   Beschreibung   eine   Tasse   Kaffee   zukochen.  

Gruppenvariante:   Bilden   Sie   Kleingruppen   zur   Be-­‐schreibung   (op:mal:   Dreiergruppen)   und   lassen   Siezwei  bis  drei  unterschiedliche  Beschreibungen  auspro-­‐bieren,   bevor   Sie   die   Fragen   zur   Aufgabe   im   Plenumbesprechen  

Fragen  zur  Aufgabe▸ War  Ihre  Beschreibung  erfolgreich?  ▸ Oder  musste  „geschummelt“  werden,  damit  Sie  zuIhrem   Kaffee   kommen   konnten,   das   heißt   eswurden  Handlungen  gesetzt,  die  nicht  zu  100  Pro-­‐zent  in  Ihrer  Beschreibung  angegeben  wurden?  ▸ Wie  und  warum?

Gruppenvariante:  ▸ Gibt  es  unterschiedliche  Beschreibungen?  ▸ Worin  unterscheiden  sie  sich?  ▸ Auf  welche  Probleme  sind  Sie  beim  Anfer:gen  derBeschreibung  gestoßen?  

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Methoden zur Verfügung standen, eine Theorie zuüberprüfen: neben der Empirie, die eine Untersu-chung des Forschungsgegenstands „in der Realität“ermöglicht, stand nun ein mächtiges Instrument zurVerfügung, eine Theorie in Form eines Modells aufKohärenz zu testen – um dann seine Vorhersagenwieder mit Hilfe der Empirie zu überprüfen. Dieersten Systeme brachten schnelle Erfolge, konntenProbleme, wie den „Turm von Hanoi“ lösen und –zur damaligen Zeit als Krone menschlicher Ko-gnition gesehen – mathematische Gleichungen lösenund Schach spielen.

Kritiker/innen waren jedoch weniger beeindruckt.Ihrer Ansicht nach waren die Systeme nicht wirklichintelligent, sondern führten nur Programme aus. DieProbleme, die diese Programme bearbeiteten, seienso ausgewählt, dass sie in sich geschlossen und leichtals formales System zu fassen seien.

Ein weiterer Kritikpunkt war, dass ein Programm,nur weil es eine Art von Problemen lösen konnte,

diese Fähigkeit noch lange nicht auf einen anderenBereich übertragen konnte, das heißt diese „kogni-tiven Systeme“ waren hochgradig domänenspezifisch.

Die Flexibilität menschlichen Denkens und Han-delns zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass wir

nicht nur unterschiedliche Strategien zur Problem-lösung zur Verfügung haben, die wir nach Beliebenabbrechen und wechseln können, sondern darüberhinaus auch Fähigkeiten zur Adaptation haben. Dasheißt, wir können unser Handeln hinterfragen, ver-ändern und improvisieren. Wir sind auch mit unvoll-ständigen Informationen handlungsfähig, weil wirüber Kontextwissen über die Welt verfügen, feh-

lendes Wissen nahezu automatisch vervollständigen,etc. Und wir können eines, das diese Systeme nichtkonnten: wir können lernen und tun es ständig.

Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Es gabin der Folge viele Versuche die Systeme dieser frühenPhase der Kognitionswissenschaft mit Weltwissenauszustatten, die im Wesentlichen mit der Erkenntnisendete, dass unsere Sprache und unser Wissen überdie Welt in Teilbereichen, aber nicht als Ganzes denRegeln einer Logik folgt, sondern vielfach wider-sprüchlich ist. Für uns Menschen ist es in unter-schiedlichen Situationen ganz natürlich unterschied-lichen Regeln zu folgen. Auch mit den Wider-sprüchen natürlicher Sprachen haben wir keinProblem: Wenn jemand meint sich auf die nächsteBank setzen zu müssen, wissen wir, dass kein Geldin-stitut gemeint sein kann.

Rückwirkend kann man die klassische Kognitions-wissenschaft als Unterfangen betrachten, jahrhunder-tealte Vorstellungen über die menschliche Kognitionmit Hilfe einer zu ihrer Zeit revolutionären neuenMethode auszutesten: der Computersimulation.Dadurch haben wir einige falsche Hypothesen überBord werfen können und eine ganze Menge über unsgelernt. Unsere Vorstellung, was menschliche Ko-gnition in ihrem Kern ausmacht, hat sich ver-schoben – mathematische Gleichungen lösen zukönnen, ist es nicht – und Fähigkeiten, die keineweitere Beachtung fanden, wie Sprechen, denHeimweg finden oder über einen Witz lachenkönnen, können gewürdigt werden. Darüber hinauswurde auch klar, dass sowohl formale als auch natür-liche Sprachen nur einen Teil der Welt repräsentierenkönnen und in diesem Ansatz viele feine Nuancen,emotionale Zustände, implizite Bedeutungen, usw.,die für kognitive Prozesse oft entscheidend sind, indiesem Ansatz unberücksichtigt bleiben.

4. Konsequenzen  für  Lernen  und  Lehren  mit  Techno-­‐logien:  Die  Frage  des  adäquaten  Wissensbegriffs

Aber was hat das alles in einem Buch über Lernenund Lehren mit Technologien zu suchen? Der Ein-fluss der klassischen Kognitionswissenschaft ist invielen wissenschaftlichen Bereichen (ebenso wie inunserer Alltagsauffassung von Kognition) nach wievor zu erkennen, was sich sowohl in den Metaphernausdrückt, mit denen Lernprozesse beschriebenwerden, als auch in deren, häufig implizit angenom-menen, Wissensbegriffen.

Wann immer es um Lernen und Erinnern geht, istdie Computermetapher „Kognition ist Informati-onsverarbeitung“ allgegenwärtig: es wird von Ab-speichern, Updaten, Speichern, Informationsverar-

Denken  Sie  an  Ihren  „Kaffeekoch-­‐Algorithmus“:  

Wie   genau   muss   die   Beschreibung   sein   und   wievielWissen  über  die  Welt  erfordert  diese  rela:v  einfacheAufgabe?

Wie  reagiert  Ihr  Algorithmus  auf  eine  plötzlichen  Ver-­‐änderungen  der  Umwelt  (z.B.  einen  neuen  Ort  für  denKaffee,  eine  etwas  anders  gebaute  Maschine)?  

Welche   Handlungsop:onen   hat   Ihr   Algorithmus   undwas   tut   eine   Versuchsperson,   wenn   er/sie   auf   einProblem  bei  der  Ausführung  trifft?  

?

Denken  Sie  an  Ihre  Erfahrung  mit  dem  MIU-­‐System:

 Entspricht  es   Ihrem  Alltagsdenken?  Wann  haben  Sieaufgehört   innerhalb   des   Systems   zu   denken   undimmer   weitere   Sätze   abzuleiten   und   stacdessen   be-­‐gonnen  sich  zu  fragen,  ob  eine  Lösung  möglich  ist?

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beitung und Abrufen gesprochen. Unser Gedächtniswird von der Kognitiven Psychologie in ein Sensori-sches Gedächtnis (engl. „sensory buffer“, analog zumTastaturbuffer oder -puffer), ein Kurzzeit- oder Ar-beitsgedächtnis (engl. „working memory“, analogzum Arbeitsspeicher) und ein Langzeitgedächtnis(engl. „long term memory“, analog zum Speicher,„Festplatte“) eingeteilt, zwischen denen „Infor-mation“ fließt (Zimbardo, 2004, 298).

Wie wir gesehen haben, ist es kein Zufall, dassdieses Modell damit in wesentlichen Teilen der Com-puterarchitektur entspricht. Treffen diese Ausdrückeden Kern der Sache? Oder suggerieren Sie eine spezi-fische Sichtweise, die den Blick auf Wesentliches ver-stellt? Vieles deutet darauf hin, dass letzteres der Fallist, denn diese Sichtweise auf Kognition und Ge-dächtnis „funktioniert“ nur mit einem Wissensbe-griff, der folgende Eigenschaften aufweist: ▸ Wissen beschreibt die Welt, ▸ Wissen besteht aus Einheiten (und ist damit in ge-

wisser Weise quantifizierbar), ▸ Wissen ist strukturunabhängig, das heißt es kann

gespeichert und abgerufen werden, ohne sich qua-litativ zu verändern und

▸ Wissenseinheiten werden nach Bedarf miteinanderin Beziehung gesetzt.

Kurz gesagt: Wissen verhält sich wie Information,wobei mitschwingt, dass es bezüglich der Bedeutungzwischen der gesendeten und der empfangenen In-formation keinen Unterschied gibt, das heißt dieserWissensbegriff behandelt Wissen nicht nur alsObjekt, sondern suggeriert zusätzlich eine Objekti-vität (im Sinne von invarianten und subjektunabhän-gigen Bedeutungen) von Wissen.

In einem Bildungskontext suggeriert ein solchesModell unterschwellig zumindest folgende An-nahmen: ▸ dass es beim Lernen darum geht etwas zu memo-

rieren und bei Bedarf korrekt abzurufen, ▸ dass dieses Etwas, das gelernt werden soll, wie ein

Gegenstand von einem Gehirn ins andere weiter-gegeben werden kann,

▸ dass dieses Etwas eine gewisse Objektivität undUnveränderbarkeit besitzt und,

▸ dass Lernen eine intellektuelle Angelegenheit ist,bei dem Körper (inklusive Emotionen) und demsozialen Umfeld bestenfalls die Rolle eines „Moti-vators“ zukommt.

Polemisch ausgedrückt, macht ein solcher Wissensbe-griff Lehrende zu Bereitsteller/innen von Infor-mation, während Lernende zum beliebigen Container

für Wissensobjekte werden. Selbstverständlich gehenwir nicht davon aus, dass Lehrende die skizzierte Po-sition ernsthaft vertreten, es ist uns aber wichtig her-auszuarbeiten, was in der Computermetapher fürmenschliches Denken implizit mitschwingt, das heißtwelche Fragen und Schlussfolgerungen sie fördertund wo sie blinde Flecken hat. Gerade im Bereich desLehrens und Lernens mit Technologien – also unterEinsatz eines Computers – ist es besonders verführe-risch, Wissen als Objekt zu behandeln, vergleiche dasKonzept von Lernobjekten. Im Bereich des E-Learning findet es sich in mediendidaktischenKonzepten wieder, die von einer De- und Rekontex-tualisierbarkeit von Wissen oder, wie das Micro-learning auf „Wissensbrocken’“ basieren. Wirmöchten das nicht als Verurteilung verstandenwissen, als Elemente eines umfassenderen didakti-schen Konzepts können sie durchaus sinnvoll einge-setzt werden. Was wir herausarbeiten möchten ist,wie eine Metapher – nämlich menschliche Kognitionfunktioniert wie ein Computer – und die Ver-wendung des Computers konzeptuell nahtlos zusam-mengehen und eine Allianz bilden, die einen Wis-sensbegriff transportiert und eine Didaktik des „Wis-senstransfers“ nahelegt.

Nun könnte man einwenden, dass es egal sei, mitwelchem Wissensbegriff jemand lernt, die Faktenseien schließlich klar durch den Kursinhalt oder vomLehrplan vorgegeben. Der Wissensbegriff, mit demLernende ans Lernen herangehen ist aber we-sentlich für einen nachhaltigen Lernerfolg. FerenceMarton und Roger Säljö haben in einer Studie (1976,zitiert in Land et al., 2008) zwei qualitativ unter-schiedliche Lernstrategien identifizieren können, diesie als oberflächliches Lernen (engl. „surfacelearning“) und tiefes Lernen (engl. „deep learning“)bezeichnen. Letzteres ist der Wunsch aller Leh-renden: Lernende, die intrinsisch motiviert um pro-fundes Verstehen ringen und das Gelernte mit Vor-wissen und Erfahrung verknüpfen. Gerade imKontext unseres Bildungssystems kommt es leiderviel zu häufig zur alternativen Strategie des SurfaceLearning. Lernende lernen ohne eigene Motivationisolierte Fakten auswendig, um sie bei Bedarf zu re-produzieren (und ggf. gleich wieder zu vergessen), einVerhalten das auch gerne als Bulimie-Lernen be-zeichnet wird (Tabelle 2 stellt die beiden Lernstra-tegien noch einmal gegenüber). Surface Learninggeht dabei mit einem Wissensbegriff einher, der aufeinzelne Fakten fokussiert, also Wissen als isolierte„Wissensobjekte“ behandelt. Mit der Computerme-

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tapher für menschliche Kognition liefert der Kogniti-vismus eine Sicht auf menschliche Kognition, dieeben diese Wissenskonzeption unterstützt.

Forderungen nach einer Didaktik, die mehrleistet als ein Fokussieren auf Faktenwissen, gibtes spätestens seit der Reformpädagogik. Im Laufe derletzten Jahrzehnte hat sich die Sicht auf menschlicheKognition sehr gewandelt und wir möchten Sie ein-laden sich mit uns wieder auf die Ebene der kogniti-onswissenschaftliche Grundlagenforschung zu be-geben und Teile dieser Entwicklung mit uns nachzu-vollziehen, die Konsequenzen für unser Bild vonLernen und Wissen sowie den Einsatz von Techno-logien vor diesem Hintergrund zu reflektieren.

5.  Der  Übergang  zu  einer  neuen  Sicht  auf  Kogni/on:

Der  Konnek/onismus  und  die  Simula/on  neuronalerProzesse  

Wie oben ausgeführt, führte die Sichtweise der Klas-sischen Kognitionswissenschaft zu einer starkenKritik, wobei in unserem Kontext ein zentraler Punktist, dass die oben skizzierten Systeme nicht lernenkonnten. Mitte der 1980er Jahre kam es, ausgelöstdurch eine in dem Doppelband „Parallel DistributedProcessing“ von David E. Rumelhart und James F.McClelland (1986) veröffentlichte Sammlung vonEinzelarbeiten, zu einem Siegeszug eines neurowis-

senschaftlich inspirierten Modells, das bislang vomMainstream der Kognitionswissenschaft ignoriertworden war: den künstlichen neuronalen Netzen(KNN).

Ein KNN (in der Regel eine Computersimulation,es sind aber auch physische Umsetzungen möglich)besteht aus vielen sehr einfachen, identisch aufge-bauten Einheiten, die als units oder auch Neuronenbezeichnet werden und über Gewichte (diese simu-lieren in sehr vereinfachter Weise die Funktion vonSynapsen) untereinander verbunden sind. Typischer-weise haben KNN, die für die Modellierung kogni-tiver Leistungen herangezogen werden eine Schichtvon Neuronen, der Stimuli präsentiert werden (engl.„input layer“), eine Schicht von Neuronen, die etwasausgeben (engl. „output layer“) sowie eine odermehrere Neuronenschichten dazwischen (engl.„hidden layer“), die jeweils linear oder rekursiv mit-einander verbunden sind.

Die Aufgabe oder Funktion jedes einzelnenNeurons besteht darin, die Aktivierungen der einge-henden Verbindungen zu integrieren und an die je-weils „angeschlossene“ Units weiterzugeben. Dies ge-schieht durch einfaches Aufsummieren der gewich-teten Inputs und Weitergabe der eigenen Aktivierung,wenn diese einen bestimmten Schwellenwert über-schreitet. Dies wird von allen Units parallel durchge-führt und führt, auf der Ebene des gesamten Netz-werks, zu einer emergenten Verhaltensdynamik. We-sentlich ist, dass diese Netze in ihrer Architektur(meist) fest „verdrahtet“ sind, die Gewichte aber ver-änderbar sind. In Kombination mit den Inputs ausder Umwelt sind die Gewichte für die Verhaltensdy-namik des Netzwerks verantwortlich. Anstatt die Ge-wichte von Hand einstellen zu müssen, wurde in den

Surface  Learning Deep  Learning

Stützt  sich  aufs  Auswendiglernen Suche  nach  der  Bedeutung  und  Verstehen

Stützt  sich  auf  Faktenwissen  &  Rou:nen Stützt  sich  auf  das  „Wesentliche“,  den  „Kern“

Fokussiert  auf  Regeln  und  Formeln,  die  für  die  Lösung  ei-­‐nes  Problems  angewendet  werden

Fokussiert  auf  zentrale  Argumente,  die  für  die  Lösung  ei-­‐nes  Problems  von  Bedeutung  sind

Fakten  und  Konzepte  werden  unreflek:ert  „aufgenom-­‐men“  und  abgespeichert

Verknüp>  theore:sche  Ansätze  mit  eigenem  Erfahrungs-­‐hintergrund

Vernachlässigt  den  Kontext Bezieht  Kontext  ein

Fokussiert  auf  nicht  vernetzte  Teile  einer  Aufgabe verbindet  vorhandenes  Wissen  mit  neuem  Wissen

Mo:va:on  ist  extrinsisch Mo:va:on  ist  intrinsisch

Tabelle  2:  Charakteristika  von  Surface  Learning  und  Deep  Learning  nach  Marton  und  Säljö  (1976,  zitiert  in  Land  et  al.,  2008)

Wo   ist   Ihnen   die   Computermetapher,   das   Benennenkogni:ver   Prozesse   als   speichern,   abrufen,   usw.   be-­‐reits   begegnet?   Reflek:eren   Sie   Ihre   „Alltagsphilo-­‐sophie“:  Wie  denken  Sie  selbst  über  Kogni:on,  Lernenund   Wissen?   Wie,   in   welchen   Metaphern,   sprechenSie  darüber?  

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frühen 1980er Jahren ein Algorithmus gefunden, derdie schrittweise Veränderung der Gewichte in einemTrainingsprozess in einer Weise durchführt, dass dasNetz seine Aufgabe schließlich fast perfekt lösenkann: KNN können ohne Eingabe von Regeln undSymbolen, nur anhand von Beispielen, mit denen sietrainiert werden, lernen. Nach jeder Aufgabe be-kommen sie ein Feedback, ob die Antwort richtigoder falsch war, indem Ihre Gewichte ganz minimalin Richtung der korrekten Lösung verändert werden,bis sie fast zu 100 Prozent richtig liegen. Allerdingskönnen sie nicht alle Aufgaben gleichermaßen gutlösen. Gut sind sie, kurz gesagt, bei Musterer-kennung, Kategorisierungsaufgaben, Vorhersage vonWahrscheinlichkeiten, usw. Modelle von Aspektenmenschlicher Kognition, die auf KNN basieren,weisen einige sehr charakteristische Eigenschaftenauf:▸ Bei Kategorisierungsaufgaben kann ein KNN ge-

neralisieren. Trainiert man ein solches Netz zumBeispiel Bilder von Blumen und Tiere zu unter-scheiden, wird es ein Bild mit einem Tier, dass esnicht im Rahmen seines Trainings „gelernt“ hat,mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Kate-gorie „Tier“ zuordnen.

▸ Sie können dieselben Fehler bei der Generali-sierung machen wie Menschen. Zum Beispielübergeneralisieren Kinder beim Spracherwerbhäufig unregelmäßige Formen, wenn sie Gram-matik lernen, sagen zum Beispiel plötzlich „gehte“statt „ging“.

▸ Die Lernkurve gleicht häufig der, die bei Men-schen gefunden wurde: KNN lernen zunächstsehr schnell, dann flacht die Lernkurve zusehendsab

▸ Auch wenn das Netz richtige Antworten liefert,kann es sein, dass das, was es gelernt hat, nicht derIntention des Architekten des Netzes entspricht.So unterschied ein KNN, das lernen sollte Ge-sichter voneinander zu unterscheiden, die ge-zeigten Bilder auf Basis des Haaransatzes vonein-ander.

▸ Das in einem KNN repräsentierte Wissen ist inzweifacher Weise robust: (1) beim Lernen einesneuen Assoziationspaares „vergisst“ das Netznicht das bereits Gelernte; (2) auch vergisst dasNetz nicht schlagartig alles, wenn man einzelneNeuronen und Gewichte entfernt.

Mit diesen Eigenschaften stellten KNN noch keinengrundsätzlichen Widerspruch zur klassischen Sichtauf Kognition dar. Man konnte sie durchaus als eineErgänzung begreifen, die eine Erklärung lieferte, wie

durch Lernen (von Kategorien) Symbole „in denKopf kommen“ können. Allerdings stellte sich dieFrage, welcher Natur diese Symbole denn seien. Inneuronalen Netzwerken sind Symbole und Regelnnicht sauber voneinander getrennt „abgespeichert“,vielmehr ist alles, was das Netz „weiß“ in der ge-samten Architektur des Netzes, das heißt in allenNeuronen, allen Gewichten und deren Konfigu-ration, verteilt repräsentiert. Man spricht daherauch von einem Subsymbolischen Ansatz (vgl. Ru-melhart et al., 1986; Smolensky, 1998; Elman, 1990).

Konsequenzen   für   unsere   Begriffe   von   Wissen   undLernen  

Der erste Erfolg der Künstlichen Neuronalen Netzewar zunächst, ein biologisch plausibles Modelldafür zu liefern, wie Symbole und Regeln gelerntwerden können. In gewisser Weise setzen sie eineEbene tiefer an als der symbolverarbeitende Ansatz:sie bieten eine Alternative auf der „subsymbolischenEbene“ an (Smolensky, 1998). Konsequenz war aberein neues Bild von Repräsentation und den Eigen-schaften kognitiver Systeme.

Damit erlauben die KNN eine fundamentalandere Sichtweise auf Wissen (Peschl, 1994;Peschl, 1997). Zunächst ist klar: das „Wissen imKopf“ muss strukturell keineswegs identisch mit denin Symbolen und Regeln beschriebenen Strukturender Welt sein. Nicht die „korrekte“ Abbildung derWelt ist relevant, sondern das adäquate Ergebnis,also gewissermaßen die Handlung, die in die Strukturder Umwelt passen muss. Als eine Konsequenz derAufgabe des Konzeptes der Abbildung sind die In-halte der Repräsentation, im Gegensatz zu klassi-schen symbolverarbeitenden Systemen, nicht mehrunmittelbar verständlich; vielmehr bedarf es aufwän-diger statistischer Verfahren, um herauszufinden, wasso ein Netz eigentlich gelernt hat.

Eigenscha>en  Künstlicher  Neuronaler  Netze  (KNN):▸ KNN   lernen   anhand   von   Beispielen   („Erfahrungs-­‐lernen“),   ohne   explizit   eingegebene   Regeln   undSymbole.  ▸ Sie  können  sehr  gut,  kategorisieren,  generalisierenund  Muster  erkennen.  ▸ Die   Repräsenta:on   ist   verteilt   (subsymbolischerAnsatz▸ und  robust.▸ Sie  machen  ähnliche  Fehler  wie  wir  und▸ sind  „biologisch  plausibler“,  weil  von  der  Strukturnatürlicher  Neuronaler  Netze  inspiriert  

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Eine weitere interessante Konsequenz der ver-teilten Repräsentation ist, dass, im Gegensatz zumklassischen Ansatz, keine Trennung zwischenInhalt und Substrat besteht: das Netz ist seinWissen und dieses Wissen ist in der Architektur ver-körpert (zumindest potentiell, zumeist handelt es sichbei KNN ja um Computersimulationen (zum BeispielClark, 1999; Clark, 2001)). Damit gibt es auch keineleicht voneinander trennbaren Wissensobjektemehr, vielmehr werden alle dem neuronalenNetzwerk präsentierten Stimuli (zum Beispiel Bilder)von allen Neuronen und allen Gewichten repräsen-tiert. Die Repräsentation das KNN kann man alseinen Raum verstehen, in dem Inputs kategorisiertund dadurch in eine Beziehung (in diesen einfachenModellen ist es Ähnlichkeit) gesetzt werden.

Die Analogien zu Bildungskontexten, insbe-sondere Frontalsituationen liegen auf der Hand: Die„Input-Output-Relation“ ist dadurch bestimmt, dassLernende durch Vortrag, durcharbeiten eines Lern-pfades, usw. einen Stoff präsentiert bekommen undin einer Prüfungssituation den gewünschten„Output“ zu liefern haben. Doch Lernen ist kein Ko-piervorgang von Wissensobjekten – was gelehrt wird,muss noch lange nicht das sein, was gelernt wird.Nachdem Lernen in unserem Bildungssystem häufig„Output-getrieben“ ist („Was muss ich tun, um einegute Note zu bekommen?“), liegt es daher nahe, Prü-fungen so anzulegen, dass nicht isolierte Fakten abge-fragt werden, sondern ein Verständnis der Kategorienund Bezüge des gesamten „Wissensraumes“ ge-fordert ist.

6. Embodied  and  Situated  Cogni/on

Verkörperte  Kogni/on  

Rückwirkend kann der Konnektionismus, der zuseiner Zeit eine Revolution war, als Bindeglied undÜbergangsphase zwischen zwei Paradigmen gesehenwerden. Was als „Nebenwirkung“ des Konnektio-nismus begann, rückte schließlich ins Zentrum desInteresses: Während die klassische Kognitionswissen-schaft versucht hatte die Welt möglichst genau in for-malisierten Strukturen abzubilden, rückte durch denKonnektionismus die Frage in den Mittelpunkt, wieKNN-Architektur und -Prozesse mit der Strukturund Dynamik der Umwelt (Stimuli) zweckmäßig unddem jeweiligen System angemessen interagieren.

Damit war der Weg frei, die zentrale implizite An-nahme der Klassischen Kognitionswissenschaft inFrage zu stellen: Wie „biologisch plausibel“ ist über-haupt die stillschweigende Annahme, dass Kognitionvor allem dafür da ist, abstrakte Symbole und Regelnzu verarbeiten?

Der Fokus auf die Interaktion eines verkörpertenkognitiven Systems, also eines kognitiven Systemsdessen physische Beschaffenheit eine zentrale Rollefür seine Repräsentationsfunktionen spielt, mit seinerphysischen Umwelt erlaubte eine neue, „biologi-schere“ Sichtweise: Die Aufgabe von Kognition istes, einem Organismus sinnvolles, das heißt überle-bensförderliches Handeln in Raum und Zeit zu er-möglichen. Im Paradigma der Embodied Cognitionwird die Koppelung von Kognition, Körper und Weltdaher zum zentralen Thema. Damit ändern sich auchdie Modelle und die Perspektive auf Wissen (-sreprä-sentation). Sie kommen nun vielfach aus dem Bereichder Robotik.

Anforderung an ein kognitives System ist nichtlänger, über möglichst viel und präzises Weltwissenzu verfügen, um in seiner Umwelt „funktionieren“ zukönnen, es geht vielmehr darum, zeitgerecht mit Ver-änderungen der Umwelt adäquat umzugehen, (pro-)aktiv und intentional zu handeln. Schon 1986 postu-lierte Rodney Brooks, Robotiker am MIT, manbrauche keine Repräsentation und schlug eine Robo-terarchitektur vor, die robustes und gleichzeitig fle-xibles Verhalten hervorbrachte, die sogenannte Sub-sumption Architecture (Brooks 1991).

Das Wesentliche dabei ist, dass ein solches Systemohne eine klassische Form der Repräsentation, dasheißt ohne eine Beschreibung, die die Welt abbildet,auskommt. Stattdessen ist das Wissen in der Archi-tektur selber verkörpert und dient der Generierungvon Verhalten in Interaktion mit der Welt. An dieStelle der Abbildung der Welt tritt eine enge erfolg-reiche Koppelung mit der Umwelt. Basis dieser Ar-chitektur bilden Reflexbögen (engl. „layer“ oderSchichten), die auf Basis eines Reizes aus der Umwelteine Handlung ausführen (denken sie an den Lid-schlussreflex). Untereinander sind die Schichten hier-archisch gekoppelt, das heißt ein Reflex in Aus-führung kann bestimmte andere unterbinden odervon anderen unterbunden werden. Damit ist sicher-gestellt, dass der Roboter fortlaufend auf die Ereig-nisse in seiner Umwelt reagiert (wobei schon aus Si-cherheitsgründen eine Aktivität „steh still“ ist) bezie-hungsweise Aktivität produziert. Dabei ordnen („sub-summieren“) die Schichten ihre Aktivitäten gegen-seitig, unabhängig davon, wie viele Schichten demSystem hinzugefügt werden. Dies geschieht ohne In-

Welche   Prüfungssitua:onen,   die   Sie   als   Lernendeerlebt   oder   als   Lehrende   gestaltet   haben,   habenFakten  abgefragt  und  welche  Prüfungsmethoden  sind„:efer“  gegangen?  

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formationsaustausch, das heißt es gibt weder ein zen-trale Verhaltensplanung und Entscheidungsinstanz,noch eine Abbildung der Welt.

Brooks’ Ansatz stellt ein Extrem dar, aber erbringt einige Punkte ans Tageslicht, die generellkennzeichnend für den Ansatz der embodied co-gnitive science sind (eine etwas ausführlichere Über-sicht von Cowart (2006) finden Sie in Tabelle 2: Ko-gnition ist eine Aktivität: die Handlung steht im Vor-dergrund, nicht die (passive) Perzeption). Untersuchtwird Kognition an der Schnittstelle Körper –Umwelt, also an der „Peripherie“ des kognitivenSystems. Im Gegensatz zur klassischen Kognitions-wissenschaft, die bei menschlichen kognitivenHöchstleistungen ansetzte, beginnt dieser Ansatz mitsehr einfachen Strukturen und Verhaltensweisen, aberdafür mit einem verkörperten, sich in seiner Umweltautonom verhaltenden System.

Ganz ohne Repräsentation wird man nicht aus-kommen, wenn man menschliche Kognition ver-stehen will, aber Kognition als rein „geistiges“, vonKörper, physischer und sozialer Umwelt unabhän-giges Phänomen zu betrachten führt, wie wir ausge-führt haben, ebenfalls in eine Sackgasse.

Ein elegantes Experiment, das diese Sichtweisestützt, kommt von Presson und Montello (1994, vgl.Box „Aus der Forschung“). Glenberg (1993) schließtdaraus, dass unsere Repräsentationen keineswegs kör-perunabhängig, sondern im Gegenteil, stark von derPosition unseres Körpers im dreidimensionalenRaum abhängen. Mit anderen Worten, das Expe-riment zeigt, dass die Repräsentation der Proban-dinnen und Probanden einen sensomotorischenAnteil hatte.

Die  Hervorbringung  und  Nutzung  von  Artefakten  als  Teilunserer   Kogni/on:   Die   Rolle   der   sozialen   Interak/on,der  Sprache  und  der  „Kultur“  

Francisco Varela postulierte bereits 1984, dass „Intel-ligenz“ nicht mehr als die Fähigkeit des Problem-lösens zu verstehen sei, sondern als die Fähigkeit, ineine mit anderen geteilte Welt einzutreten (Varela,1994). Einen Hinweis darauf, dass schon die Ge-genwart anderer eine „geteilte Welt“ erzeugt, gibt dasExperiment von Sebanz et al. (2009, vgl. „Aus derForschung:“). Die „geteilte Welt“ ist jedoch nichteinfach gegeben, ebenso wie Kognition entsteht sie ineinem aktiven Prozess: Menschen reagieren nicht nur

Embodiment Kogni/vismus

Koppelungsmetapher:  Kogni:on  („Geist“),  Körper  und  Weltsind  gekoppelt  und  interagieren

Computermetapher  –  Kogni:on  („Geist“)  ist  regelbasiertund  logisch

Will  man  sie  verstehen,  müssen  ihre  Zusammenhänge  un-­‐tersucht  werden

Isolierte  Analyse:  Kogni:on  wird  ausschließlich  durch  Ana-­‐lyse  interner  Prozesse  verstanden

Im  Vordergrund:  zielgeleitetes  Handeln  in  Echtzeit  im  dreidi-­‐mensionalen  Raum

Im  Vordergrund:  computa(on

Kogni:on  als  ak:ve  Konstruk:on,  die  in  verkörperten,  ziel-­‐gerichteten  Handlungen  des  Organismus  verankert  ist

Kogni:on  als  passives  Abrufen

Repräsenta:onen  sind  sensomotorisch Repräsenta:onen  sind  symbolisch  encodiert

Tabelle  3:  Unterschiede  von  Embodiment  und  Kongitvismus  nach  Cowart  (2006)

In der Praxis: Das Experiment von Presson und Montello (1994)Zwei  Versuchsgruppen  wurden  gebeten,  sich  die  Posi:on  ei-­‐niger  Gegenstände  in  einem  Raum  zu  merken.  Anschließendwurde  ihnen  die  Augen  verbunden.  Die  erste  Gruppe  wurdengebeten   sich   um   90°   zu   drehen   und   nacheinander   auf   dieObjekte  zu  zeigen,  die  angesagt  wurden.  Die  zweite  Gruppewurde   gebeten   sich   lediglich   vorzustellen   sie   häcen   sichgerade  um  90°   gedreht   und   sollten   auf   die   Posi:on   zeigen,die   die   Objekte   einnehmen  würden,  wenn   sie   sich   gedrehthäcen.  Aus  Sicht  des  kogni:vis:schen  Paradigmas  tun  beideGruppen   dasselbe:   sie   ro:eren   ihre   Repräsenta:on   des

Raumes   und   der   Objekte   darin   um   90°.   Daher   wäre   anzu-­‐nehmen,  dass  es  keine  Rolle  spielt,  ob  die  Probandinnen  undProbanden   sich   zusätzlich   physisch   in   eine   andere   Posi:onbegeben.  Tatsächlich  aber  zeigten  die  Probandinnen  und  Pro-­‐banden   der   ersten   Gruppe,   die   sich   tatsächlich   gedrehthacen,   schnell   und   akkurat   auf   die   gefragten   Objekte,während  die  Zeigebewegungen  der  zweiten  Gruppe,  die  sichdie   Drehung   lediglich   vorstellen   musste,   zögerlich   und   un-­‐genau  waren.  

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auf Stimuli in der Umwelt, sondern wir verändernund strukturieren sie in hohem Maße. Der PhilosophAndy Clark (1995) bezeichnet dies das als „Scaf-folding“ (Errichten eines Gerüsts): wir strukturierenunsere Umwelt so, dass sie uns in unseren Hand-lungen, bzw. beim Erwerb von Fähigkeiten unter-stützt. Ein alltägliches Beispiel ist der Terminka-lender: Wir müssen uns nicht länger jeden Terminmerken, statt dessen werfen wir kognitiven Ballast ab(man spricht von engl. „offloading cognitive load“)und interagieren mit unserem Terminkalender, indemwir Einträge machen oder ihn konsultieren. Eine ko-gnitiv anspruchsvolle Aufgabe – hier: viele unter-schiedliche Termine exakt „im Kopf haben“ – wirdauf wenige Handlungsmuster in Form der Inter-aktion mit einem Artefakt heruntergebrochen.

Darüber hinaus strukturieren wir unsere Umweltnicht nur durch Artefakte, wie Werkzeuge, Terminka-lender, Städte, sondern durch soziale Konventionen,Organisationen und – nicht zuletzt - durch Sprache.Letztere bezeichnet Clark (1995) als „ultimatives Ar-tefakt“, weil sie folgende Funktionen erfüllt: ▸ Ein symbolisches Artefakt hat immer den Aspekt

der Referenz. Das heißt ein Symbol referiert aufden Gegenstand, für den es steht. Es ist klar, dassdiese Referenz nicht im Symbol selber, sonderndurch eine Zuschreibung durch ein oder mehrerekognitive Systeme geschieht. Das Artefakt ist so-zusagen nur Träger für eine potentielle Referenz-funktion.

▸ Darüber hinaus vermögen symbolische ArtefakteTeile unseres Gedächtnisses stabil zu halten und

▸ die Strukturierung der Umwelt zu verhandeln.

Über Artefakte beeinflussen wir die Interaktionsmög-lichkeiten anderer mit der Welt und werden in nochstärkerem Maße selbst beeinflusst. Mit anderenWorten: Kognition (hier ist weitgehend menschliche

Kognition gemeint) hat immer eine sozio-kulturellenDimension, man spricht in diesem Kontext auch vonSituated Cognition (Clark, 2001), Die nächste Ge-neration erhält nicht nur die Gene der Elterngene-ration, sondern wächst in die entstandenen sozialenund organisationalen Strukturen sowie die Inter-aktion mit physischen Artefakten hinein. Tomasello(1999) bezeichnet diesen Umstand in seinem Buch„The Cultural Origin of Human Cognition“ als Rat-scheneffekt (engl. „ratchet effect“): Wie die Zackendes Zahnrads, die die Drehung der Ratsche in eineRichtung erzwingen, ermöglichen Artefakte denAufbau neuer Interaktionsmuster auf der Basis dervorangegangenen.

Hutchins (1995) wechselt daher die Betrachtungs-ebene: In seinem Artikel „How a cockpit remembersits speeds“ ist der Forschungsgegenstand „kognitivesSystem“ nicht mehr das Individuum, sondern einsozio-technisches System, das nicht nur aus Indi-viduen (Piloten), sondern auch aus Artefakten (Mess-instrumente und Unterlagen) im Cockpit, besteht(siehe Kapitel #ant). Um zu verstehen, warum dasFlugzeug sicher landet, reicht es aus seiner Sicht nichtaus, die kognitiven Prozesse im Kopf der Piloten zuanalysieren, eine Erklärung für die Leistung findetsich erst, wenn man alle Formen der Repräsentation– sei diese im Gehirn, auf Papier, einem Messin-strument oder eine sprachliche Äußerung sowie dieInteraktionsmuster zwischen ihnen analysiert. (Manbeachte an dieser Stelle eine weitere Umdeutung desBegriffs der Repräsentation!)

Aus der Forschung: Das Experiment von Sebanz et al. (2009)Sebanz   et.al.   (2009)   zeigten   ihren   Versuchspersonen   ver-­‐schiedene   Bilder   aus   drei   Kategorien   (Tier,   Frucht/Gemüseund   Haushaltsgerät)   auf   einem   Computerbildschirm,   wobeieine   Versuchsperson   immer   auf   eine   Kategorie   mit   Tasten-­‐druck  reagieren  sollte.  Diese  Aufgabe  wurde  unter  zwei  Um-­‐ständen   durchgeführt:   alleine   und   in   Gegenwart   einerzweiten   Versuchsperson,   deren   Aufgabe   es   war,   auf   eineandere  Kategorie  zu  reagieren.  Nach   dieser   Aufgabe   wurden   die   Versuchspersonen   jeweilsgebeten,   möglichst   viele   der   gesehenen  Objekte   aller   Kate-­‐

gorien  zu  erinnern.  Das  Ergebnis  war  verblüffend:  Personen,die  ihre  Aufgabe  in  Gegenwart  einer  zweiten  Versuchspersonerfüllt   hacen,   erkannten   signifikant   mehr   Objekte   aus   derKategorie   der   anderen   Person   wieder,   als   wenn   sie   dieAufgabe   alleine   bewäl:gten.   Die   Anwesenheit   der   zweitenPerson   hace   weder   Auswirkung   auf   das   Erinnern   der   „ei-­‐genen“  Kategorie  noch   auf   das  der  dricen  Kategorie.  Alleindie   soziale   Situa:on,   ohne   eine   im   eigentlichen   Sinne   ge-­‐meinsame   Aufgabe,   hace   Auswirkungen   auf   die   Aufmerk-­‐samkeit  und  das  Gedächtnis  der  Versuchspersonen.  

Überlegen   Sie   bice,   in   welchen   alltäglichen   Situa-­‐:onen  Sie  Artefakte  verwenden,  die  Ihnen  „kogni:venBallast“   abnehmen.  Welche  Cogni:ve   Load   laden   Sieab   und   welche   Interak:onsmuster   treten   an   ihreStelle?

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Im Bereich des Lehrens und Lernens ist einesolche Betrachtungsweise eine gute Basis, um Lern-prozesse als situiert zu konzeptualisieren. In ihremBuch „Situated Learning“ (1991) analysieren Laveund Wenger (1991) außerschulische Lernprozesse,wie sie beispielsweise in einer Lehre, bei der Aus-bildung zum Steuermannsmaat auf Schiffen (ein Bei-spiel von Hutchins) oder bei den Anonymen Alkoho-likern stattfinden, als Lernprozesse in denen sichPerson, Handlung und Welt gegenseitig konstituieren.Ihr Augenmerk ist dabei weniger auf Artefakte, alsauf die sozialen und organisationalen Strukturen ge-richtet, die dazu führen, dass Neulinge in einem Wis-sensgebiet nicht einfach nur Fakten lernen, sondernin eine Praxisgemeinschaft (engl. „community ofpractice“; Wenger, 1998) eintreten und mit zuneh-mender Expertise auch eine neue Identität entwi-ckeln. Unter welchen Bedingungen Communities ofPractice nicht ausschließlich im physischen Raum,sondern als „virtual communities“, virtuelle Gemein-schaften, im Internet existieren können, zeigt Po-wazek (2001).

7. Konsequenzen  für  unsere  Sicht  auf  Wissen,  Lernenund  Technologien  

Was sind die Konsequenzen einer verkörperten undsituierten Kognitionswissenschaft für unseren Wis-sensbegriff ? Vom leicht fassbaren, weil formalisier-baren Wissensbegriff der klassischen Kognitionswis-senschaft ist nicht viel übrig geblieben. Stattdessen istdie Rede von verteilter Repräsentation, Interaktionund Koppelung mit der Umwelt, Verwendung vonArtefakten, um kognitiven Ballast zu reduzieren, usw.Was davon ist „Wissen“ – was sind für das kognitiveSystem interne und was sind externe Strukturen?

Externalisiertes Wissen als Entität, das einen Teilder Welt beschreibt, gibt es in der Form nicht mehr;es handelt sich hier nicht um „Wissen“ im alltags-sprachlichen Sinn, sondern um ein an sich bedeu-tungsloses Artefakt, dessen Bedeutung in einem fort-laufenden interaktiven Aushandlungsprozess zwi-schen den teilnehmenden kognitiven Systemen bzw.deren internen repräsentationalen Strukturen/-pro-zessen erst entsteht. Das bedeutet auch, dass an dieStelle des Begriffs von Wissen als statischen Gegen-stand, der wahr oder falsch sein kann, das Konzepteines dynamischen zyklischen Prozesses getretenist, dessen Entwicklungsstufen sich in immer neuenArtefakten niederschlagen, die ihrerseits neue Inter-aktionsmöglichkeiten anbieten, welche wiederum eineVeränderung der internen Strukturen und Hand-lungsmuster hervorrufen.

Das geht insofern mit einem konstruktivistischenDenken Hand in Hand, als dass das Artefakt an sichbedeutungslos ist. Der Fokus liegt hier jedoch we-niger auf der individuellen Kognition und Kon-struktion der „Welt im Kopf“ als auf den Prozessenund Strukturen, die dazu führen, dass wir durchKommunikation zu einer Einigung auf „gültigesWissen“ -- im Sinne von verhandelt und vereinbart--kommen. Letztlich befähigt uns das zum Eintreten ineine „geteilte Welt“, die wir in Wissensprozessenfortwährend erzeugen.

Nimmt man den konstruktivistischen Ansatz unddas Paradigma der Embodied Cognition ernst, hatdas auch Implikationen für das Verständnis vonLernen und Lehren. Etwas gelernt zu haben be-schränkt sich nicht auf die korrekte Reproduktioneiner Beschreibung eines Teils der Welt („Fakten-wissen“). Relationen zwischen diesen Beschrei-bungen, Verhaltensstrategien zur erfolgreichen Um-weltbewältigung und letztendlich di e Fähigkeit zurTeilnahme an Wissensprozessen sowie deren Re-flexion sind ebenso unabdingbar, um „etwas zuwissen“.

Dies hat auch Konsequenzen für die Rolle derLehrenden: Sie sind nicht länger die Verkünder fi-naler Wahrheiten, sondern Coaches oder Moderato-rinnen und Moderatoren, die „nur“ mehr die Wis-sensdynamik im Lehr- und Lern-Raum moderieren.Man könnte meinen, dass dies ihre Wichtigkeit undAutorität als „Wissende“ vermindert; sieht manjedoch genauer hin, wird sie bedeutsamer denn je, dasie die Umwelt gestalten, das heißt die Artefakte unddamit die möglichen Interaktionsmuster auswählen,die Wissensprozesse erst ermöglichen und durch ihrVerhalten die Regeln der sozialen Interaktion fest-setzen. Sie sind Gestalter/innen von Lernräumen, dieentweder Bulimie lernen fördern, oder aber EnablingSpaces, Räume sein können (Peschl et al. 2008), die ineiner Vielzahl an Dimensionen (architektonisch,sozial, technologisch, kognitiv, emotional, usw) er-möglichende Rahmenbedingungen bieten, um dieArbeit der Wissensgenerierung und Bedeutungsver-handlung zu unterstützen.

Auf der Ebene von Technologien hat sich inter-essanterweise ein Wandel vollzogen, den man alsKonsequenz eines veränderten Bildes von Kognitionund Wissen deuten kann: Die monolithische Auto-rität eines Brockhaus ist abgelöst worden von Wiki-pedia, einem Artefakt, das gleichzeitig Raum für undProdukt eines permanenten Aushandlungsprozessesüber Wissensartefakte ist.

Nur Artefakt und Prozess gemeinsam kons-tituieren Wissen, die Aufgabe von Kognition ist es

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nicht, „Wissensartefakte“ abzubilden, sondern mitihnen zu interagieren und im besten Falle in ge-meinsame Wissens- und Bedeutungsgebungsprozesseeintreten zu können. Nimmt man diese Überle-gungen ernst, so ergibt sich für das Design vonWissens-, Lehr- und Lern-Technologien, dass nursolche Ansätze erfolgreich sein werden, die einenRaum für Interaktionen bieten und Aushandlungs-prozesse von Bedeutung unterstützen, wie sie inWeb-2.0-Technologien wie Wikis verwirklicht sind,nicht aber solche, die auf starren und vorgegebenensemantischen Strukturen basieren.

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Wie   nehmen   Sie   die   Lernräume  wahr,  mit   denen   Sieals   Lernende/r,   Lehrende/r   oder   Applika:ons-­‐designer/in  konfron:ert  sind?  Welcher  Wissensbegriffwird   durch   welche   Elemente   gefördert?   Wie   könnteman   den   Raum   so   verändern,   dass   er   Wissenspro-­‐zesse  (besser)  unterstützt?  

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14  —  Lehrbuch  für  Lernen  und  Lehren  mit  Technologien  (L3T)

▸ Varela, F.J. (1994). Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik.Eine Skizze aktueller Perspektiven. Frankfurt am Main:Suhrkamp.

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