20 Jahre strassenfeger – Ausgabe 21 2015

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  • 7/24/2019 20 Jahre strassenfeger Ausgabe 21 2015

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    Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT r

    den_die Verkuer_in

    No. 21, Okober 2015

    VERKUFER Jahre miendrin! (Seie )

    GLCKWNSCHEDer Regierende BrgermeiserMichael Mller (Seie )

    EXKLUSIVINTERVIEWDer Foogra Jim Rakee(Seie )

    20 JAHRESTRASSENFEGER

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    srasseneger | Nr. | Okober | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraenzeiung srassenegerwird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V.herausgegeben. Das Grundprinzip des srassenegeris: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srassenegerwird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-senegerbiee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie knnen selbs enschei-den, wo und wann sie den srassenegeranbieen. Die Verkuer erhaleneinen Verkuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srassenegersoziale Projeke wie die Nobernachung und den sozialen TreffpunkKaffee Bankrot in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhl keine saaliche Unerszung.

    Liebe Leser_innen,Auch nach 20 sehr bewegten Jahren gibt es den strassenfegerimmernoch! Ich selbst bin mittlerweile auch schon acht Jahre lang Teil die-ses engagierten Teams, das sich ganz vehement fr die Rechte vonobdachlosen und armen Menschen einsetzt. Im Mittelpunkt stehtbei uns immer der Verkufer. Er soll selbstbestimmt Geld verdienen

    knnen. Ich wei nicht genau, wie viele Ausgaben der strassenfegerin all diesen Jahren verffentlicht hat. Es knnten rund 500 gewesensein. Auch die Auflagenhhe kann ich nicht genau beziffern. Wrenes 15 000 Exemplare pro Ausgabe, kmen wir auf 7,5 Millionen, dasmacht fast sechs Millionen Euro Verdienst fr die Verkufer!

    Welches Gewicht soziale Straenzeitungen in Deutschland haben,zeigte sich deutlich Anfang 2013: Damals traf ich den Bundespr-sidenten Joachim Gauck zu einem exklusiven Interview in dessenAmtssitz Schloss Bellevue. Es war ein Gesprch auf Augenhhe der Bundesprsident war sehr gut informiert, wusste Bescheid berdie Sorgen und Nte obdachloser Menschen in Deutschland. Erhrte aber auch aufmerksam zu, als ich ihm ber Dinge berichtete,von denen er nicht wusste. Ganz wichtig empfand ich seine Aus-sage: Aber wer sich nicht mehr selbst helfen kann, dem muss gehol-fen werden. Wenn wir das nicht tun, berauben wir diese Menschenihrer Wrde. Ich wnsche mir von viel mehr Politikern solche Auf-merksamkeit und solchen Respekt gegenber unserer wichtigen Ar-beit. In den vergangenen Jahren haben wir uns sehr gut vernetzt mitDieter Puhl, dem Leiter der Bahnhofsmission am Zoo, mit RobertVeltmann, dem Chef der GEBEWO, mit Jrg Richert, Geschfts-fhrer des Karuna Zukunft fr Kinder und Jugendliche in Not Int.e. V.. Gemeinsam kmpfen wir dafr, dass sich die Lebensumstndeobdachloser Menschen aller Altersstufen verbessern. Ich sage oft zuihnen: Lasst uns dieses Instrument der Lobbyarbeit fr Obdachlosenoch intensiver und intelligenter nutzen! Lasst uns das unabhngigeMedium strassenfegernoch frecher, provokativer und klger frunsere wichtige Sache nutzen! Daran arbeiten wir.

    Andreas Dllick

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    20 JAHRE STRASSENFEGERGruwor des Regierenden Brgermeisers

    Der erse srassenegerund wie es weierging

    Der Foogra Thomas Grabka & der

    srassenegerHhepunke aus Jahren

    Dieer Puhl: Warum der srasseneger

    r mich so wichig is

    Jan Markowsky: Der srassenegerund ich

    Das Dika der Srae

    Andreas Peers: Warum ich schreibe

    Asrid: Vom Tellerwscher zum Schreiber

    Dele Fliser: srassenegerals Therapie

    Brauchen wir den srassenegernoch?

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n f e g e rHier dreh sich alles um Kuns!

    Rckblick von Urszula Usakowska-Wolff

    P U N K t r i f f t P R O FAnne-Lydia Mhle im Gesprch mi dem

    Foograen Jim Rakee

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    V e r k u f e rEnschuldigen sie die Srung! Momene

    eines langjhrigen Verriebsmiarbeiers

    S o z i a l. Treffen der Menschen mi Armuserahrungen

    S p o r tHerha BSC: Die Srmer reffen

    Fchse Berlin: Handballer mi ollem Saisonsar

    A k t u e l lLANDRAUB der Dokumenarfilm

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rNeue Aushrungsvorschrifen Wohnen ()

    K o l u m n eAus meiner Schnupfabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    stras senfeger | Nr. | Oktober 20 JAHRE STRASSENFEGER |

    Gruwortdes Regierenden Brgermeisters von Berlin, Michael Mller,

    zum 20. Geburtstag der sozialen Straenzeitung strassenfeger

    D

    as Jubilum einer Zeitung ist immer ein Anlasszur Freude. Denn Medien- und Meinungsviel-falt gehrt gut zur Demokratie. Doch wennder strassenfegerin diesem Oktober seinen 20.Geburtstag feiert, dann ist das etwas Beson-

    deres. Der strassenfegerist nicht irgendein publizistischesMedium. Er ist vor allem ein wichtiges soziales Projekt.Denn im strassenfegerkommen regelmig wohnungsloseMenschen zu Wort. Mehr noch: Das Blatt, das alle 14 Tagemit einer Auflage von 15 000 Exemplaren erscheint, ist dasSprachrohr einer Bevlkerungsgruppe, die im ffentlichenLeben sonst oft kein Gehr findet.

    Niemand hat sich seine Obdachlosigkeit ausgesucht. Und esist erschreckend, wie leicht man in eine Schieflage kommenkann, die letztlich zu Wohnungslosigkeit und zu einem Lebenauf der Strae fhrt. Umso wichtiger ist es, dass wir nichtgleichgltig daran vorbeischauen, sondern am Schicksal derBetroffenen Anteil nehmen.

    Viele von Obdachlosigkeit betroffene Menschen suchen dieSchuld an ihrem Schicksal bei sich selbst, ziehen sich zurckund gelangen so immer weiter an den Rand der Gesellschaft.Seit 20 Jahren geht der strassenfegergegen diesen Rckzugvor. Indem wohnungslose Menschen die Mglichkeit bekom-men, den strassenfegerin der Stadt unter die Leute zu brin-gen, erhalten sie Gesicht und Stimme. Durch den Verkauferzhlen sie vom harten Leben auf der Strae. Und mit spek-takulren Aktionen des strassenfeger wie dem CrashkursObdachlosigkeit oder dem Betteldiplom wird eine Auf-merksamkeit fr die Probleme Wohnungsloser geschaffen,die die Betroffenen nicht immer haben.

    Der strassenfeger ist somit ein Band, mit dem die Gruppewohnungsloser und obdachloser Menschen mit der Stadtge-sellschaft verbunden ist. Und er sendet die klare Botschaft:Diese Menschen gehren zu uns. Jede Begegnung zwischenKufer und Verkufer, jedes Gesprch kann helfen, Vorurteile

    und Vorbehalte gegenber Obdachlosen abzubauen. Und je-der Kauf einer strassenfeger-Ausgabe gibt dem Verkufer einStck Selbstbestimmung zurck, denn er schafft sich Ein-knfte durch eigene Leistung und kann ber dieses Geld auchselbst verfgen. Aber auch ber die Zeitung hinaus hilft der

    Trgerverein wohnungslosen Menschen, etwa mit Beratungs-angeboten und mit dem Sozialwarenkaufhaus Trdelpoint.

    Diese Projekte mit und fr Wohnungslose sind gute Beispieleeiner gelungenen Hilfe zur Selbsthilfe. Gleichzeitig versteheich sie als Hinweis und Mahnung, eine solidarische Stadtpoli-tik zu gestalten, die den sozialen Ausgleich frdert und allenBerlinerinnen und Berlinern Chancen auf Teilhabe erffnet.

    Ein Schlssel dazu liegt in einer sozialen Wohnungspolitik.Der Senat hat nicht nur alle gesetzlichen Mglichkeiten aus-geschpft, um den Anstieg der Mieten zu bremsen, sondernauch die Weichen gestellt, damit in den nchsten Jahren zehn-tausende neue Wohnungen gebaut werden knnen. Unserestdtischen Wohnungsbaugesellschaften und viele Genossen-

    schaften engagieren sich sehr, um bezahlbaren Wohnraumzu schaffen. Nur durch erheblichen Neubau wird es in derschon seit Jahren wachsenden Stadt Berlin eine Entspannungauf dem Wohnungsmarkt geben. Und angesichts der Zuwan-derung von vielen Menschen, die bei uns Zuflucht vor Kriegund Terror suchen, werden wir die Zahl der Neubauten nocheinmal steigern mssen, um allen Gruppen, die auf Hilfe an-gewiesen sind, gerecht zu werden.

    Seit 20 Jahren leistet der strassenfegereinen wichtigen Bei-trag dazu, die Position Obdachloser in unserer Gesellschaft zustrken und verhindert so, dass ihre Anliegen und Problemean den Rand gedrngt werden. Ich gratuliere der Redaktionund allen Verkuferinnen und Verkufern herzlich zu diesemJubilum. Fr die nchsten 20 Jahre wnsche ich mir, dassdie Macher dieser Straenzeitung immer wieder viele kreativeIdeen haben und engagierte Mitstreiter finden, um den Anlie-gen Wohnungsloser Gehr zu verschaffen.

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    Unser langjhriger Verkuer Heinz Czaplewski(ges. 16.01.2013), und ehemaliges Miglied vonmob e.V. (Foo: Juta H.)

    In der Union Druckerei Berlin luf der r ischgedrucke srasseneger vom Band(Foo: Andreas Dllick VG Bild-Kuns)

    Cover der 1. Ausgabe des srasseneger Cover der 1. Ausgabe des mob magazins

    (Quelle: Archiv srasseneger)

    stras senfeger | Nr. | Oktober | 20 JAHRE STRASSENFEGER

    20 Jahre!!!Wer htte das 1995 gedacht derstrassenfeger feiert 20. Geburtstag...T E X T : A n d r e a s D l l i c k

    Gepiercte Mdels, die wollen, dass ichstrassenfegerlese singt Peter Foxin seinem Hit Schwarz zu blau.Er findet sich auf Fox Debtalbum

    Stadtaffe, der eloquente Snger gewann damit2009 den Bundesvision Song Contest. Es istein Lied ber Berlin, wie es wirklich ist: Rauh,hart, dreckig, hsslich. Aber ohne Berlin gehtsnicht, singt Fox: Und ich wei, ob ich will odernicht dass ich dich zum Atmen brauch.

    Der strassenfegerist also wie man sieht und hrt(!) ein Teil von Berlin, und das nun schon seit 20Jahren. Die erste Ausgabe des strassenfegerer-schien am 17. Oktober. Damit war der strassenfe-

    geraber beileibe nicht die erste Berliner Straen-zeitung. Das war Hunnis Allgemeine Zeitung(haz erschien erstmalig am 14.03.1994), das

    mob-magazin (Herausgeber Berliner Initia-tive Nichtsesshaftenhilfe e.V.) folgte mit der 1.Ausgabe am 18.03.1994. Die Herausgeber hat-ten sich aber finanziell bernommen, es wurdenzu viele Zeitungen gedruckt (60 000) und zuwenige verkauft (30 000). Nach drei Ausgabenstand das Projekt vor dem Aus. Daraufhin grn-dete eine Gruppe von Verkufern, Redakteurenund Untersttzern am 01.08.1994 einen Verein,um die Zeitung in Eigenregie zu betreiben. Einpassender Name musste gefunden werden. Eswar naheliegend, den Namen mob-magazin zunutzen und diesen mit der Idee der Eigeninitiativezu verknpfen. Daraus wurde dann der mob obdachlose machen mobil e.V. (Herausgeber-

    verein des strassenfeger). Nur ein Jahr spter fu-sionierte das mob-magazin dann mit HunnisAllgemeine Zeitung (haz)zur motz. Von derhaz hatte sich zuvor die Platte abgespaltenund der strassenfeger wiederum hatte sich imOktober 1995 von der Platte abgespalten. Esist also ziemlich kompliziert, welche Zeitung mannun tatschlich als den Ursprung des strassenfe-

    gerbezeichnen sollte

    Der frhere mob-Vorstand Dr. Stefan Schnei-der schreibt wie folgt ber den Beginn: In derAnfangszeit bis zum Jahr 2000 war KarstenKrampitz Autor und verantwortlicher Redakti-onsleiter beim strassenfeger. Krampitz redak-tionelle Philosophie bestand darin, Straenzei-tungen zu einem linken Boulevardblatt zuentwickeln. Dazu gehren auf der einen Seite

    Artikel, die immer wieder auf die schwierigenund gesellschaftlich verursachten Lebensum-stnde wohnungsloser Menschen hinweisen,und zum anderen Interviews mit Prominenten(beispielsweise: Harald Juhnke, Harry Rowohlt,Inge Meysel), denen Fragen aus der Sicht armerMenschen gestellt wurden und die die Funktionhatten, eine massenwirksame Aufmerksamkeitfr die Straenzeitungen herzustellen. Eine hn-liche Funktion hatten die politischen Kampag-nen, die Krampitz anregte oder untersttzte, wieden Crashkurs Obdachlosigkeit oder im Jahr1998 das Betteldiplom. Bei der Erstellung vonAusgaben fr den strassenfegerarbeitete Kram-pitz eng mit dem Karikaturisten Andreas Prstelsowie den Autoren Wolfgang Sabath und PeterMurakami zusammen. Im Jahr 2000 besetztenObdachlose und Verkufer des strassenfeger

    in einer symbolischen Aktion das Berliner Ho-tel Kempinski unter dem Motto Es sind nochBetten frei! Sie protestierten damit gegen dieSchlieung vor Notbernachtungen zum Endeder Kltehilfe 1999/2000. Bereits im Jahr zuvorwar das Berliner Hotel Adlon besetzt worden.

    Angefangen mit der Bewegung der sozialen Stra-enzeitungen hat alles 1991 mit der Grndungvon The Big Issue durch John Bird. The BigIssue ist damit sozusagen die Mutter allerStraenzeitungen weltweit. Das Ziel dieses Zei-tungsprojekts war und ist es, obdachlosen Men-schen ein legales Einkommen zu ermglichen,das Motto lautet Hilfe zur Selbsthilfe. 1992

    feierte das Klner Straenmagazin Bank-Ex-press als erstes seiner Art in Deutschland Pre-miere, spter unter dem Namen Bank Extra,seit als Draussenseiter.

    Derstrassenfegerhat im Laufe der Jahre natrlichimmer wieder sein Aussehen verndert. Die Sei-tenzahl wuchs auf mittlerweile 32, von anfng-lich Schwarz-Wei stiegen wir um auf Vollfarbe.Der Straenpreis betrug 1995 zwei DM pro Ex-emplar, davon bekamen die Verkufer eine DM.Heute kostet der strassenfeger1,50 Euro, davonbehlt der Verkufer 90 Cent (!). Wenn etwasbrig blieb von den Einnahmen davon mssendie schmalen Honorare fr die ehrenamtlichenAutoren, die freiberuflichen Layouter, die Ver-triebsmitarbeiter und smtliche Logistik undGemeinkosten der Mini-Redaktion bezahlt wer-

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    stras senfeger | Nr. | Oktober 20 JAHRE STRASSENFEGER |

    den floss und fliet es in die Arbeit der anderensozialen Hilfeprojekte des Vereins wie die No-tbernachtung, das Kaffee Bankrott und dieBeratungsangebote. Auch die Auflagenhhe hatsich im Laufe der Jahre immer wieder verndert.Aus der Anfangszeit werden sehr groe Aufla-gen berichtet, nun ja, soziale Straenzeitungenwaren neu, die Menschen sehr interessiert daran.Heute wird es immer schwerer, soziale Straen-zeitungen an die Frau oder dem Mann zu brin-gen. Wer ein einziges Mal eine Verkuferin odereinen Verkufer begleitet hat, der wei, dass dasein sehr harter Job ist. Viele Leute schauen ein-fach weg, wenn ihnen ein strassenfeger-Verku-fer entgegenkommt, manche wechseln schnelldie Strae. Im schlimmsten Fall werden unsereVerkufer_innen als faules und arbeitsscheuesPack oder Penner beschimpft. Oft werdensie auch aus dem ffentlichen Raum vertrieben.Deshalb versuchen wir, alles in unseren Krftenstehende fr die Verkufer_innen zu tun.

    Zuallererst heit das eben, alle zwei Wocheneine neue Ausgabe des strassenfeger in besterQualitt herauszubringen. Dazu gehrt immerauch ein tolles Titelbild, das aufregt, provoziert,die potenziellen Kufer anspricht. Wir haben unsbrigens fr diese Ausgabe fr unseren Verku-fer Bjrn entschieden. Er hat sich bei der Prsen-tation des Bildbandes Boheme Berlin des Fo-

    tografen Oliver Rath (ein sehr guter Freund desstrassenfeger!) ins Getmmel geworfen und gut

    verkauft. Optimistisch, stolz und sehr engagiert.Dafr gebhrt ihm groer Respekt, nicht jederunserer Verkufer kann das. Es gibt in Deutsch-land brigens verschiedene Verkufer-Modelle:Das Spektrum reicht von festangestellten Ver-kufern (BISS aus Mnchen) ber Verkufermit festen Verkaufspltzen (Hinz & Kunzt inHamburg) bis hin zu vllig freien Verkufernwie hier in Berlin. Der strassenfegerhat ungefhr1 700 Verkuferausweise ausgegeben, aktiv ver-kaufen vielleicht 250 bis 300 Menschen tglichdas Magazin. Ich habe neulich mal versucht zuberschlagen, wie viele Ausgaben wir bislangproduziert haben und was das eigentlich ganz

    materiell bedeutet: Es drften vielleicht rund500 Ausgaben gewesen sein. Auch die Auflagen-hhe knnen wir nicht genau verifizieren. Wrenes 15 000 Exemplare pro Ausgabe, kmen wirauf 7,5 Millionen, das macht fast sechs MillionenEuro Verdienst fr die Verkufer!

    Der strassenfegerist Mitglied des Internationa-len Netzwerks der Straenzeitungen INSP. DasINSP untersttzt zurzeit 115 Straenzeitungenin 36 Lndern. Mit einer Leserschaft von ins-gesamt sechs Millionen Menschen pro Ausgabeweltweit liefern soziale Straenzeitungen in-novative Lsungsanstze fr Obdachlosigkeitund Arbeitslosigkeit. Ich habe brigens auf demJahrestreffen des INSP in Seattle vorgeschlagen,eine Internationale Straenzeitungs-Stiftung desINSP zu grnden. Die Milliardre aller Lnder

    knnten jeweils eine Million Euro einzahlen undsomit unseren wichtigen Kampf gegen Obdach-losigkeit nachhaltig untersttzen.

    Q u o d v a d i s s t ra s s e n f e g e r bzw.s o z i a l e S t r a e n z e i t u n g e n ?

    Welches Gewicht soziale Straenzeitungenmittlerweile in Deutschland haben, zeigtesich deutlich im Januar 2013: Damals traf ichden Bundesprsidenten Joachim Gauck zu ei-nem exklusiven Interview in dessen Amtssitz

    Schloss Bellevue. Es war ein Gesprch auf Au-genhhe der Bundesprsident war sehr gutinformiert, wusste Bescheid ber die Sorgenund Nte obdachloser Menschen in Deutsch-land. Er hrte aber auch aufmerksam zu, alsich ihm ber Dinge berichtete, von denen ernicht wusste. Ganz wichtig empfand ich seineAussage: Aber wer sich nicht mehr selbst hel-fen kann, dem muss geholfen werden. Wennwir das nicht tun, berauben wir diese Men-schen ihrer Wrde. Ich wnsche mir von vielmehr Politikern solche Aufmerksamkeit undsolchen Respekt gegenber unserer wichtigenArbeit. In den vergangenen Jahren haben wiruns sehr gut vernetzt mit Dieter Puhl, dem Lei-

    ter der Bahnhofsmission am Zoo, mit RobertVeltmann, dem Chef der GEBEWO, mit JrgRichert, Geschftsfhrer des Karuna Zukunftfr Kinder und Jugendliche in Not Int. e. V..Gemeinsam kmpfen wir dafr, dass sich dieLebensumstnde obdachloser Menschen allerAltersstufen verbessern. Ich sage oft zu ihnen:Lasst uns das unabhngige Medium strassenfe-

    gernoch frecher, provokativer und klger frunsere wichtige Lobbyarbeit fr Obdachlosenutzen! Daran arbeiten wir.

    Ach so, fast htte ich es vergessen: Radio undTV machen wir beim strassenfeger natrlichauch. Guido Fahrendholz und Jan Markowskysorgen immer wieder dafr, dass wir auf ALEXmit unseren Themen prsent sind. Groer Dankan dieser Stelle an die beiden Macher!

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    stras senfeger | Nr. | Oktober | 20 JAHRE STRASSENFEGER

    Irgendwann war er

    einfach daDer Fotograf Thomas Grabka und der strassenfegerT E X T : A n d r e a s D l l i c k | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    Er war pltzlich einfach so da. Eswar eine ganz normale Redaktions-sitzung so wie jeden Dienstag imKaffee Bankrott in der StorkowerStrae 139D. Jeder neue Autor bzw.

    Gast stellt sich kurz vor. Auch Thomas machtedas, sagte aber nicht viel im Laufe der Sitzung.Er kam dann regelmig, hielt sich aber sehr

    zurck. Irgendwann bot er an, fr einen geplan-ten Beitrag die Fotos zu machen. Die Fotos, dieThomas lieferte, waren groartig, ebenso die,die er dann regelmig ablieferte. Irgendwannsuchte ich seinen Namen im Internet und warverblfft ber das Ergebnis: Thomas Grabka isteiner der besten Fotografen des Landes und warin vielen Krisengebieten der Welt fr die bedeu-tendsten Magazine und Zeitungen des Landesunterwegs. Tja und nun arbeitet er schon eineganze Weile fr uns und versorgt den strassen-

    feger mit tollen Fotos und erstklassigen Titel-bildern. Eine kleine Auswahl seiner schnstenFotos drucken wir hier.

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    + Leben au der Cuvrybrache

    Uner der Brcke in Sichweie des Kanzlerams (Cover 21/2014 Obdachlos)

    Bundeskonerenz der Sraenkinder

    Klaus Saeck bei der Erffnung der Aussellung Kuns r alle (Cover 6/2015)

    Weihnachseier r Obdachlose von Frank Zander Im Esrel

    Torsen Ringel, Angeseller der Glasblserei Lars Joecks in Berlin Weissensee

    Peer, Assisenznehmer der AD Berlin mi seinem Assisenen Sebasian in derS-Bahn in Berlin

    + Eisbeinessen im sozialen Treffpunk Kaffee Bankrot Obdachloser im Kaffee Bankrot (Cover 8/2015 Vergess uns nich!)

    stras senfeger | Nr. | Oktober 20 JAHRE STRASSENFEGER |

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    Tielbild Ausgabe 20-2015 (Foo: Thomas Grabka)

    Andreas Dllick iner-view Joachim Gauck(Foo: Rober Conrad

    www.lumabyes.com)

    Cover des neuenSuperpenner-Comic(Quelle: srasseneger /

    Sean Lenz)

    stras senfeger | Nr. | Oktober | 20 JAHRE STRASSENFEGER

    Ein besonderes Interview,Campino & die Dreigroschen-oper & der SuperpennerHhepunkte aus 20 Jahren strassenfegerB E R I C H T : A n d r e a s D l l i c k

    E

    s war sicher mit Abstand das wichtigste Ereignis inder zwanzigjhrigen Geschichte des strassenfeger:Am Januar 2013 durfte ich den amtierenden Bun-desprsidenten Joachim Gauck zu einem Interviewfr die deutschen Straenzeitungen im Schloss

    Bellevue treffen. Gemeinsam mit meinem Freund RobertConrad, der die Fotos whrend des Interviews machen sollte,machte ich mich morgens auf den Weg zu diesem aueror-dentlichen Termin. Wir waren beide schon sehr aufgeregt undangespannt, und das, obwohl wir natrlich sehr gut vorberei-tet waren. Letztlich war es sehr einfach, weil Joachim Gauckso ein groartiger Mensch ist mit einem groen Herzen fr dieArmen und Entrechten. Ich fragte ihn, und er antwortete kom-petent und klug. Er hrte aber auch aufmerksam zu. So kamein ganz wunderbares Interview zustande, das viel Beachtungfand und von vielen Straenzeitungen nachgedruckt wurde.

    Dann war da ein anderes Ereignis, das mich schwer beein-druckte. Ich hatte 2006 gerade beim strassenfegerangefan-gen. Damals bot uns der Schweizer Impressario und Produ-

    zent Lukas Leuenberger eine Medienpartnerschaft an: KlausMaria Brandauer sollte im Admiralspalast eine Auffhrungder Dreigroschenoper mit Campino von den Toten Hosen alsMacheath (Mackie Messer) inszenieren. Hauptsponsor desmillionenschweren Events war die Deutsche Bank. Wir ber-legten eine Weile, sagten dann aber zu. Die Dreigroschen-oper eben! Die strassenfeger-Ausgabe vom August 2006wurde dann das Programmheft.

    Medienpartnerschaften wurden uns immer wieder angebo-ten. Eine ganz besondere Freundschaft verbindet der stras-senfegermit dem ehemaligen Prsidenten der Akademie derKnste, Klaus Staeck. Immer wieder haben wir bei diversenAusstellungen zusammengearbeitet, zuletzt Anfang diesesJahres bei KUNST FR ALLE. Es war famos. Danke dafr,lieber Klaus Staeck!

    Immer wieder haben wir ganz spezielle Ausgaben des strassen-fegerproduziert: Das Spektrum reicht von Sonderausgaben zuObdachlosigkeit bis hin zu Mode hierfr stellte eine Kleider-stube abgelegte Kleidung fr ein Fotoshooting mit Obdachlo-sen zur Verfgung. Gerade haben wir zum zweiten Mal (2012Die im Schatten sieht man nicht) mit der Nationalen Ar-mutskonferenz (nak) den Schattenbericht (Gegenentwurf zumArmuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung) erstellt,der sich mit der Bilanz von zehn Jahren Hartz IV beschftigt.Er wurde von der nak am vergangenen Freitag auf der Bundes-pressekonferenz der ffentlichkeit prsentiert. Ganz wichtigunsere speziellen Ausgaben zu Straenkindern: Anlsslich der

    Bundeskonferenzen der Straenkinder und Flchtlingskinderhaben wir ganz eng mit dem KARUNA Zukunft fr Kinder undJugendliche in Not e.V. zusammengearbeitet. Dabei haben wirviele wunderbare, kluge und engagierte Menschen getroffen,manche davon sind sicher Freunde frs Leben.

    Ein echter Knaller war natrlich der erste Comic Superpen-ner. Die Werbeagentur Scholz & Friends hatte uns das An-gebot gemacht, diesen Comic kostenlos fr uns zu produzie-ren. Wir haben das mit unseren Verkufer_innen besprochenund dann zugesagt. Drei Jahre lang hat es gedauert, dann wardas Ding fertig. Es wurde ein riesiger Erfolg: Die Verkufer_innen bekamen einerseits enorme Aufmerksamkeit und Wert-schtzung, andererseits verkaufte sich der Superpenner ex-trem gut. Wegen der groen Nachfrage arbeiten wir gerade an

    einer Crowdfunding-Kampagne fr den zweiten Teil.Eine weitere Sonderausgabe war das Stadionheft zum Bene-fizevent geBALLt gegen Armut im Jahr 2014, einem Fu-ballturnier zugunsten des sepia e. V., durchgefhrt von derGEBEWO, dem Internationalen Bund und GANGWAY Stra-ensozialarbeit in der HOWOGE-Arena Hans Zoschke.Und klar zum 20. Geburtstag des Trgervereins mob ob-dachlose machen mobil e. V. erschien Ende September 2014eine spezielle Ausgabe zum Verein.

    Aber auch politische Aktivitten gab es immer wieder: Im Jahr2000 besetzten Obdachlose und Verkufer des strassenfegerin einer symbolischen Aktion das Berliner Hotel Kempinskiunter dem Motto Es sind noch Betten frei! Sie protestier-ten damit gegen die Schlieung von Notbernachtungen zumEnde der Kltehilfe 1999/2000. Bereits im Jahr zuvor wurdedas Berliner Hotel Adlon besetzt.

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    Einen schnen FeierabendWarum der strassenfeger fr mich so wichtig istB E R I C H T : D i e t e r Pu h l , L e i t e r d e r E v a n g e l is c h e n B a h n h o f s m i s s io n

    Natrlich freue ich mich, Geld frmeinen Job zu bekommen.

    Wichtiger ist mir aber manchmaldie Anerkennung, die damit ver-bunden ist, das Gefhl, wenn mir

    jemand abends nach getaner Arbeit freundlichauf die Schulter klopft und mir einen schnenFeierabend wnscht.

    Was wre das Feierabendhefeweizen ohne dieMhe davor?

    Variante 1: Oft gehen wir achtlos an auf derStrae sitzenden, bettelnden, obdachlosen Men-schen vorbei, beachten sie nicht, senken nichtden Blick, wrdigen sie nicht mit Aufmerksam-keit, sie sind Luft fr uns, unsichtbar.Sitzt man unten, seien sie sicher, man fhlt sichmies!

    Variante 2: Wir gehen auf einen bettelndenMenschen zu und werfen ihm einen Euro in dieMtze. Sitzt er auf der Erde und wir stehen di-rekt vor ihm, fhlt er sich meist eher klein undnichtig. Der Spender dagegen ist erhht.

    Variante 3: Meine Lieblingsvariante, denn siehat was mit Begegnungen auf Augenhhe zutun. Ich kaufe einem obdachlosen Menschenden Straenfeger ab. Klar freut er sich ber dasGeld, von vielen ist mir aber auch bekannt, auchsie schtzen die Anerkennung, die Begegnungenund den Austausch, das Gefhl ich habe etwasSinnvolles getan. Sie knnen dann den Feier-abend genieen.

    Der strassenfegerist parteiisch, ihr legt Euch an,prangert an, deckt auf, seid Sprachrohr, frech,seid unbequem, engagiert.Das ist gut so, das ist fr mich aber auch selbst-verstndlich.

    Respekt auch fr praktische Sozialarbeit und di-rekte Hilfen.

    Bedanken mchte ich mich fr das, was Ihrfr Manfred leistet. Er ist gar nicht obdach-los, hat vielmehr in Charlottenburg eine kleine

    Wohnung, ist bitterarm, lebt zurckgezogen,eigentlich ohne private soziale Kontakte, diePsychose klappert laut.Eigentlich msste er krankheitsbedingt den ganzenTag in seiner Wohnung sitzen, angstbesetzt, bei zu-gezogenen Gardinen, 120 Zigaretten rauchen.

    Jeden Tag geht er aber raus und jeden Tag ver-kauft er den strassenfeger, hat etwas zu tun, eineAufgabe.Der strassenfegerist sein Medium zum Leben,zum Alltag.

    Jeden Abend sitzt Manfred seit Jahren nach Ar-beitsende brigens im selben CharlottenburgerImbiss, jeden Abend isst er ein halbes Hhnchenmit Pommes und Mayo von seinem Verdienst.

    Satte Leistung guter therapeutischer Erfolg.

    Dass ihr eine gute Mannschaft seid, dass wir unsgegenseitig schtzen, dass ihr uns oft geholfenhabt erwhne ich nur am Rande.Danke aber auch dafr!

    Alles Gute zum Geburtstag und guten, tragen-den Rckenwind fr die nchsten Jahre.

    Perspekivwechsel: Dieer Puhl (Foo: Carmen Lenk) Au Augenhhe(Foo: Ronny Unger)

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    Guido Fahrendholz und JanMarkowsky die Macher desRadio- und TV-Sendungen dessrasseneger(Foos: Andreas Dllick VG Bild-Kuns)

    stras senfeger | Nr. | Oktober | 20 JAHRE STRASSENFEGER

    Wie alles anfingDie soziale Straenzeitung strassenfeger und ichB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Die erste Verffentlichung war einBrief an einen Unverantwortlichen:Ich habe 2002 einen Brief an KlausRdiger Landowsky geschrieben.

    Landowsky war Fraktionsvorsitzende der CDUim Berliner Abgeordnetenhaus. Er war im Rund-funkrat des rbb, im im Als Chef der Ber-lin Hyp, einer zentralen Funktion der landes-eigenen Frderbank IBB und Aufsichtsrat derLandesbank Berlin war er eine zentrale Figur imBerliner Bankenskandal. Ich war damals mittel-los und ohne festen Wohnsitz, habe am eigenenLeib gesprt, wie Menschen ohne Wohnung frFehler der Politiker bezahlen mssen. Mit demArgument, es sei kein Geld da, mussten wegenKrzungen in Bezirkshaushalten 2001/2002 Ta-gestreffpunkte und Notbernachtungen schlie-en. Ich hatte von Klaus Rdiger Landowsky alsHauptverantwortlicher der finanziellen Miserefr jede Woche einmal Wsche waschen, eineMahlzeit und in der Kltehilfeperiode eine ber-nachtung gefordert. Und damit der Brief nichtuntergeht, habe ich ihn als offenen Brief ange-kndigt. Der Brief musste verffentlicht werden.Zuerst bin ich in die Prenzlauer Allee zum stras-senfeger. Spter bin ich mit dem Brief auch nochzum Querkopf und zur motz gegangen.

    M e i n e r s t e r B e i t r a gIm Herbst 2002 war im Verein Unter DruckAlarmstimmung. Der Wohnungslosentreff-punkt, damals bei der Volksbhne gleich um dieEcke, sollte 2003 keine Zuwendungen vom fu-sionierten Bezirk Mitte erhalten. Wir sind dannvor das Rathaus Wedding gezogen und habendort fr die Arbeit des Treffpunkts demonst-riert, auch Essen ausgegeben. Im Rathaus Wed-ding sa der Sozialstadtrat, der uns die Gelderstreichen wollte. Ich war dabei, hatte mir einebesondere Aktion einfallen lassen, war jedenTag im Bro des Stadtrates und habe als mittel-loser Mensch ohne festen Wohnsitz eine Dienst-

    leistung begehrt, die ich bei Unter Druck inAnspruch genommen hatte. Ich wurde jedenTag von den Mitarbeiterinnen des Stadtratesfreundlich behandelt. Unterm Strich musste ichfeststellen, das Bro des Stadtrates ist keine guteAdresse fr einen mittellosen Menschen ohnefesten Wohnsitz. Bei Unter Druck konnteich Texte auf Computer schreiben, im Bro desStadtrates nicht. Das habe ich unter Aktionsozialer Stadtrat in einem kleinen Beitrag so

    geschrieben. Ausgedruckt auf eine A4-Seite binich damit zum strassenfegerin der PrenzlauerAllee. Mein erster Beitrag.

    W i e e s w e i t e r g i n gBei Unter Druck hat ein Mann aus Thringen inder Kche gearbeitet. Hilfe zur Arbeit und Ge-meinntzige zustzliche Arbeit waren zu Zeitendes Bundessozialhilfegesetzes Mglichkeiten derSozialmter in Berlin, Sozialhilfeempfnger beigemeinntzigen Trgern in Arbeit zu bringen. Erhat bei Unter Druck gearbeitet, musste gleich-zeitig freie Arbeit ableisten. Das hat er bei mobe.V. getan. Redaktionsleiterin war damals Kerstin

    Herbst. Kerstin fragte ihn, ob ich nicht schreibenknnte. Sie hatte ein Thema genannt, und mirist etwas eingefallen. Das ging einige Monate so.Dann teilte er mir mit, ich solle mich bei Kerstinmelden. Das machte ich auch. Ab da bin ich zuden Redaktionssitzungen gegangen.

    Ich habe einige Chefredakteure erlebt. KerstinHerbst, Thomas Lemmer, Stefan Schneider undAndreas Dllick. Stefan Schneider hat die Zei-

    tung als Herausgeber lange mageblich beein-flusst. Stefan stellte vor Jahren am Ende einer Re-daktionssitzung allen anwesenden Autoren dieFrage, ob der strassenfegerauch Radio machensollte. Wir wollten. Ich habe dann wenige Wo-chen spter Autoren im Kaffee Bankrott vorBeginn der Redaktionssitzung zusammensitzengesehen und habe mich dazu gesellt. Es war daserste Vorbereitungstreffen fr das strassenfeger-radio. Wenig spter bin ich mit Holger, Miriamund Norman zum Offenen Kanal Berlin (OKB).Stefan Schneider kam spter dazu. Es war meineerste Sendung als Beteiligter.

    D e r s t ra s s e n f e g e r u n d i c h

    Ich bin mit meinem Belegexemplar bei UnterDruck zu unserem Leiter des Fotolabors Wolf-gang gegangen und habe ihm meinen Beitrag unterdie Nase gehalten. Den Namen des Autors hatteich mit meiner Hand abgedeckt. Er legte Wert aufmeine Meinung im Verein und ich wollte, dass erunbeeinflusst liest. Och n, ich hab keine Lustauf das Gejammer, war seine Antwort. Es kommtnoch dicker. Ein Mitarbeiter in der Kche hat dieZeitung beiseitegelegt. Spter fand ich sie zusam-mengefaltet unter einem wackligen Tisch. Ein an-derer war an einigen Beitrgen persnlich interes-siert. Ich habe spter einen Mann, der an bipolarerStrung und Psychosen litt, zur Helferkonferenzbei seinem Sozial-Psychiatrischen Dienst be-gleitet. Ich stellte mich dort vor. Die Amtsrztinfragte mich, ob ich fr den strassenfegerschreibenwrde. Da wusste ich, ich werde gelesen.

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    Sraeneger bei der Arbei(Foo: Andreas Dllick VG Bild-Kuns)

    stras senfeger | Nr. | Oktober 20 JAHRE STRASSENFEGER |

    Laufbahn(en) einerSekretrin oderDas Diktat der StraeT E X T : M i s c h a N .

    Ich hatte einige Jahre in Diskretion und Zuverlssigkeitdas Vorzimmer eines angesehenen Direktors beherrschtund mir im Laufe der Zeit nicht nur stillschweigend um-fangreiches Wissen angeeignet ich hatte auch gelernt,die Rebellion meines Magens im Diktat seiner privaten

    Korrespondenz zu ignorieren.

    Eines Tages bat mich jener Direktor in sein Bro. Wir saeneinander an seinem Schreibtisch gegenber, whrend ermir lobpreisend zu erklren suchte, dass es an der Zeit sei,mein Ttigkeitsfeld mit neuen Aufgaben zu bereichern. EineSekretrin, so fuhr er fort, sei doch auch immer die rechteHand ihres Vorgesetzten.

    Ich glaube nicht, dass es in diesem Moment ein Missverstnd-nis gegeben hat. Noch weniger glaube ich, dass ich ihn, mit demBriefffner nach dem ich spontan gegriffen hatte bedrohthabe. Dass ich seine Tasse in dieser hektischen Handbewegungumstie und sich der heie Kaffee ber seiner Hose ergo warlediglich eine kleine Ungeschicklichkeit meinerseits.

    Aber wegen dieser und wegen der Sache mit dem Briefffnerwurde ich, immerhin im gegenseitigen Einvernehmen, ausdem Bro entlassen. An einem klaren Wintertag stand ich aufder Strae, zwar mit einem mich auszeichnenden Zeugnis in

    der Tasche, aber auch mit dem Wissen, nicht mehr die Jngstezu sein. Die Zeiten der Vorzimmer waren vorbei.

    Ich fand schnell eine neue Anstellung in einem kleinenSchreibbro. Sie entsprach zwar nicht meiner Qualifikation,war zudem schlecht bezahlt, aber in den eigentlich monoto-nen Phonodiktaten offenbarte sich mir bald eine Herausfor-derung. Ich tippte den ganzen Tag Entlassungsberichte undfand die Lebensgeschichte mancher Menschen, von denen ichnun Kenntnis erhielt, so erschtternd, dass ich hier und dort,zumindest schreibend, eingriff.

    Da ich wegen dieser Vernderungen nie angesprochen wurde,wusste ich mich auf dem richtigen Weg, den ich unbedingtfortzusetzen hatte. Bei einem einschlgigen Verlag bestellte

    ich zehn berraschungspakete und jede frei Minute galtfortan dieser Fachliteratur. An einem Montag ersetzte ich dasTrschild Schreibbro durch eines, auf dem nun Korrek-turen zu lesen war, die ich entschlossen in Angriff nahm. Ichfgte den Berichten kritische Kommentare hinzu, alternativeBehandlungsvorschlge und manchmal lediglich ein Fragezei-chen, wenn mir etwas im Diktat nicht verstndlich schien.

    Zwei Tage spter stand ich neuerlich auf der Strae, dies-mal im Herbst, mit einem Zeugnis in der Tasche, das ich imnchstbesten orangefarbenen Mllberhlter entsorgte. Stra-enfeger msste man sein, dachte ich, einfach nur ein Stra-enfeger. Entschlossen, den Mief alter Bros hinter mir zulassen, trat ich meinen Heimweg zu Fu an, in Gedanken einBewerbungsschreiben formulierend.

    Sehr geehrte Damen und Herren, ich brauche Luft... neineinen Besen... Nein, dachte ich, so geht das nicht.. Sehr ge-

    ehrte..., begann ich wieder und setzte meine Schritte nur lau-fend fort, denn in Gedanken gelang mir dieses nicht. Stndigerregte irgendetwas meine Aufmerksamkeit: ein Schriftzug ander Wand, ein bellender Hund, ein kreischendes Kind, ein tor-kelnder Betrunkener, ein Bettler, eine alte Frau... Pflastersteinedie Textbausteinchen zu brllen schienen. Sehr geehrte Da-men und Herren... der Trinker, die Bettler, die Frau... gehrenvon der Strae gefegt. Welch Mist!, fauchte in das Gesichteines jungen Mannes, der eine Zeitung in seinen Hnden hielt.

    Ich habe nicht lange berlegt, ihm auch nicht zugehrt. Ich

    riss ihm diese Zeitung aus der Hand, stopfte sie in meine Ta-sche, in der ich meinen Notizblock fand und einen Stift. Biszum Abend lief ich durch die Straen, alles zu notieren, wassich mir aufdrngte. An meinem Schreibtisch, ich hatte nochkeine Erklrung dafr, sa ich wie im Schreibbro zur Kor-rektur. Eigentlich war ich mir nicht sicher, suchte aber nachLektre der Zeitung die Redaktionssitzung auf.

    Wieso mein Probediktat, das ich dort einreichte, verffent-licht wurde, verstand ich zuerst nicht wirklich. Ich habe ein-fach weitergemacht. Ich habe gedacht, dass die BezeichnungSekretrin vielleicht eine unmoderne ist und mich an die-ses Autorin gewhnt. Meine Arbeit aber erledige ich wiein allen anderen Zeiten zuvor. Ich folge dem Diktat, meinenKorrekturen und manchmal denke ich:

    Ich bin keine Sekretrin. Ich bin auch keine Autorin. Ich bineinfach nur ein Straenfeger!

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    ber das Dong Xuan Cener ha Andreas Peersseinen ersen Arikel r den srasseneger geschrieben (Foo: Andreas Peers)

    stras senfeger | Nr. | Oktober | 20 JAHRE STRASSENFEGER

    Warum ich schreibe . . .Ein Sozialarbeiter berichtet ber sein ehrenamtliches Engagement

    beim strassenfegerB E T R A C H T U N G : A n d r e a s P e t e r s

    Mit dem Schreiben habe ich wie die meistenvon uns erst in der Schule angefangen. Wasmir aber das Schreiben als Medium nahe ge-bracht hat, das war das ben mit der altdeut-schen Schrift, auch wenn sie damals schon

    nicht mehr zeitgem war. Meine damalige Deutschlehrerinlobte mich oft fr meine schne Schrift. Das motivierte michzustzlich. Ganz nebenbei bekam ich aber zunehmend eineAhnung von dem Schreiben als Mglichkeit der Mitteilungund des Ausdrucks. Ich nutze schon frh jede Mglichkeit zuschreiben. Wenn es Postkarten zu schreiben gab, dann tat iches und sei es nur aus Klein Kleckersdorf.

    Spter in der Berufsschule fing ich an, fr eine Schlerzeitungzu recherchieren und zu schreiben. Das war nicht nur politischinteressant und wichtig, sondern brachte mich damals ganznebenbei zu meiner ersten Autofahrt. Wir wurden von einemAutohaus eingeladen, werbewirksam mit Text und Foto dieneuesten Modelle von Alfa Romeo vorzustellen. Das hat michsehr beeindruckt und noch lange nachgewirkt. Alfa Romeowar fr mich lange Zeit der Inbegriff eines tollen Autos. Dassich selbst nie einen besessen habe, lag eher an meiner Krper-gre, denn damit hatte ich schon damals so meine Probleme.

    Doch zurck zum Schreiben. Zunehmend schrieb ich mitdem Kugelschreiber, dann kam die Schreibmaschine undschlielich der PC. Das vernderte mein Schreibverhaltenradikal. Ich konnte meinen Gedanken freien Lauf lassen undanschlieend die Rechtschreibung und Form korrigieren. Daswar schon ein wesentlicher Unterschied zu frher, wo allespassend aufs Papier gehrte. Das Handschriftliche wurde beimir immer mehr zur Ausnahme. Ausnahmen bildeten nachwie vor Postkarten und Briefe. Von meiner schnen Schrifthatte ich mich lngst verabschiedet und fing an ausschlielichmithilfe des PCs Texte zu konstruieren, erst im Studium undschlielich im alltglichen Schriftverkehr.

    Vor etwa sieben Jahren flammte die Erinnerung an die frheZeitungsarbeit erneut auf. Ich arbeitete als Sozialarbeiter ineiner therapeutischen Wohngemeinschaft fr suchtkrankeMenschen und interessierte Klienten fr die Idee zum ThemaSucht zu schreiben. Keine einfache Aufgabe, denn Schrei-ben war das eine, die Nutzung neuer Techniken das andere.Spannend war es allemal, welche unterschiedlichen Sicht-weisen auf ein und dasselbe Thema vorhanden waren. Undder Stolz der Autoren, als sie ihre erste Zeitung in der Handhielten, das ist mir noch heute Balsam. Leider hielt die Begeis-terung nicht lange an, und nach wenigen Monaten war wieder

    Schluss damit. Einen Klienten hatte ich mit der Schreibarbeitallerdings nachhaltig angetrieben. Er wollte schlielich frden strassenfegerschreiben. Das gefiel mir, und ich begleiteteihn beim ersten Mal zu einer dieser Redaktionssitzungen imalten Kaffee Bankrott in der Prenzlauer Allee. Er bekamdort seine Chance und schrieb fast zwei Jahre lang viele tolleArtikel. Als er lngst schon aus meinem Dunstkreis war, holteihn die Sucht wieder ein. Das Schreiben hrte auf.

    Ausgerechnet jetzt schlug meine Stunde beim strassenfeger.Meine Leidenschaft fr das Schreiben war ja immer noch da.Der Inhalt fr meinen ersten Artikel war auch schnell aus-gemacht. Zur Berlin-Ausgabe schrieb ich ber das DongXuan Center in Lichtenberg. Ich sammelte meine Eindrckevor Ort, machte Fotos und ging anschlieend mit viel Begeis-

    terung ans Schreiben. Noch heute schreibe ich fr den stras-senfegeram liebsten Artikel ber Situationen oder Personen,die ich selbst getroffen habe. Sachinformationen mit persn-lichen Erfahrungen abzugleichen und daraus einen lesens-werten Artikel zu verfassen, das ist quasi mein Steckenpferd.

    Wenn es aus Zeitgrnden und der Sache wegen nur ber dieRecherche im Internet geht, tue ich mich etwas schwerer, aberspannend bleibt es bis heute. Letztlich geht es darum, denLeser fr einen kurzen Moment in der S-Bahn oder einer Mit-tagspause zu informieren, zu unterhalten und ganz nebenbeifr eine andere Sichtweise auf das Leben zu ffnen.

    Bei mir hat die Arbeit beim strassenfegerdas lngst erreicht.Ohne ansonsten politisch besonders aktiv zu sein, ist mir bei

    jedem Schreiben eines Artikels im Hinterkopf bewusst, dassdamit all jenen noch ein Stck Aufmerksamkeit und Hilfe zuTeil wird, die ansonsten aus meinem Alltagsbewusstsein unddem vieler anderer verschwinden wrden.

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    Asrid schreib of auch beim Diens au dem Verriebswagen des srasseneger (Foo:Juta H.)

    stras senfeger | Nr. | Oktober 20 JAHRE STRASSENFEGER |

    Vom Tellerwscher

    zum SchreiberOder wie es so kommen kann...B E R I C H T : A s t r i d

    Ich kam 2009 mit einem Bekannten nach Ber-lin. Voller Tatendrang, Hoffnung und mit derAussicht auf einen Job in der Tasche. Da ichsehr gut Englisch spreche, nach zehn Jahren

    in Amerika wohl verstndlich, hatte ich mich beieiner Fluggesellschaft beworben, die den Flug-hafen BER erweitern wollte. Jetzt kommt kein

    Witz ber den BER, ich bin in der ZwischenzeitEU-Rentnerin, also brauche ich den Arbeitsplatznicht mehr. Aber, was nicht so schn war, war,dass die uns zugesicherte Wohnung noch nichtfertig war, und mich mein Bekannter damals inBerlin so ziemlich auf der Strae sitzen lie. AmBahnhof Zoo.

    Grbelnd sa ich vor dem Bahnhof und ent-deckte in einem Laden Computer mit Internet.Und sa kurze Zeit spter vor diesen und suchteeine Notunterkunft fr Frauen. Fand auch drei,davon eine die sich mob obdachlose machenmobil e.V. nannte und sich in der PrenzlauerAllee 87 befand. Toll, ich versuchte, sie zu fin-

    den. Zwei Stunden spter stand ich dann in derPrenzlauer Allee, fand die Notbernachtungauch und hatte abends einen Platz zum Schlafen.Am nchsten Tag fhrte ein Mitarbeiter ein Ge-sprch mit mir ber meine Situation und meineMglichkeiten. In die Provinz zurck, niemals.Also machten wir meine Papiere fertig, und ichbegann den Kampf mit den Berliner Behrden.Den gewann ich schlielich auch, und der Sozi-alarbeiter fragte mich, ob ich nicht am Wochen-ende die Notunterkunft subern wollte. Warumnicht? Die hatten mir ja auch geholfen.

    Das fiel dem damaligen Kchenchef des sozia-len Treffpunkt des Vereins, dem Kaffee Bank-

    rott, auf und er fragte mich, ob ich nicht auchdort mitarbeiten wolle. Da begann ich auch dasKaffee Bankrott am Wochenende zu putzen.Aber Sttze kassieren wollte ich nicht, also lasich mich durch die Stellenanzeigen. Und fandeine Anzeige wo Kchenhelfer fr eine Firmagesucht wurden. Einzige Voraussetzung? EinGesundheitszeugnis. Nachdem ich das Ge-sundheitsamt gefunden hatte, besa ich dasauch. Stolz zeigte ich es im Caf vor, und derKchenchef bekam das mit. Ab und zu arbeite-ten dort am Wochenende Leute, die Geldstrafenmit sozialer Arbeit abarbeiten mssen. Immerfter tauchte unser lieber Kchenchef bei miram Tisch auf, machte Dackelaugen und fragte.Astrid, wenn ich morgen keine Leute habe?Knntest du? Bitte! Wer kann dazu schon neinsagen, ich jedenfalls konnte nicht. Also landete

    ich nun auch in der Kche, half beim Abwasch,der Essensausgabe und schlte Kartoffeln,Zwiebeln und hnliche Sachen.

    Inzwischen hatte ich aber auch mitbekommen,

    dass dort in der Prenzlauer Allee auch die Re-daktion des strassenfegerwar, ja ich hatte aucheinige Redaktionssitzungen mitbekommen, dieimmer im Kaffee Bankrott stattfanden und-finden. Aber ans Schreiben fr diese Zeitunghatte ich nie gedacht. Ich bin ja kein ausgebilde-ter Journalist. Dann kam ich mit einem Mann insGesprch, er war Verkufer des strassenfeger.Und auch Schreiber, das war nun interessant frmich: Man musste nicht Journalist sein um dortzu schreiben? Na gut, ich probierte es mal undgab ein, zwei Artikel ab, die aber damals nichtgenommen wurden. Inzwischen hatte ich eine

    Wohnung fr mich gefunden, war leider immernoch auf Hartz IV und auf Jobsuche. Dann imSommer 2012 schlug die Krankheit zu, zwei Malhatte ich es mit dem Herzen und spter dann im

    Winter mit der Psyche. Ich wurde von den rzten

    als auf nur noch drei Stunden am Tag arbeits-fhig runtergestuft.

    Als mich das Jobcenter wegen drei Stunden Ar-beit bis nach Knigs Wusterhausen schicken

    wollte, ging ich zu meinem Jobberater und fragteden, ob die dort keine Arbeitslosen htten. Die-sen Job lehnte ich dann ab und warnte ihn davor,mir deshalb Sanktionen aufzudrcken, ich wrdedagegen klagen. Inzwischen hatte ich aber einHobby gefunden, das Schreiben. Und zwar Ge-schichten und keine Artikel fr Zeitungen, aberich sa viele Stunden im Caf und schrieb meineGeschichten mit der Hand vor. Und pltzlichtauchte ein Thema fr die Zeitung auf, das mirgefiel: Made in Germany. Ich berlegte, hobmeine Hand und meldete mich in der Redaktions-sitzung. Ich wrde gerne einen Artikel schreiben.Es wurde genickt, mein Name notiert. Es wurdemein erster Artikel, der gedruckt wurde. Oh, warich stolz. Seit dem hatte ich in vielen Ausgabendes strassenfegereinen Artikel drin. Htte ich niegedacht als ich die Provinz verlassen habe.

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    stras senfeger | Nr. | Oktober | 20 JAHRE STRASSENFEGER

    (Foo: Harry Weber)

    Zurck ins LebenWie der strassenfeger mich untersttztB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    A

    ugust 2010: Es ist vorbei! Meine The-rapiezeit in Kiek im Bundesland Bran-denburg ist beendet. Nachdenklichsitze ich an meinem Schreibtisch in

    meinem Zimmer. Morgen geht es zurck nachBerlin zurck ins Leben! Wie wird es wohl wei-tergehen? Was wird mir die Zukunft bringen?

    Wie werden die Menschen sein, mit denen ichjetzt zu tun habe? Das Haus in der Treskowal-lee in Berlin-Lichtenberg habe ich zwar schonbesichtigt und mit einigen Bewohnern und Be-treuern gesprochen. Ich habe auch einen gutenEindruck, bin mir aber nicht sicher, ob ich aufDauer mit den Leuten klarkomme. Ich habe jetztein klein wenig Angst vor der Zukunft. MeineGedanken drehen sich im Kreise.

    Nichts ist mir geblieben von meinem letzten Le-ben, aus dem ich mit meinem therapiebedingtenUmzug nach Motzen geflchtet bin, auer einregelmiger telefonischer Kontakt zu meinemFreund Klaus, den ich schon seit 21 Jahren

    Titel Sei stark! und setzt sich mit dem ThemaElterngewalt auseinander. Weitere vierzehnTage spter erscheint besagter Artikel in Ausgabe20/2010, und ich bin schon festes Mitglied in derRedaktion, bin es bis heute geblieben. Nach einerkleinen Krise zwischendurch bin ich in nahezu

    jeder Ausgabe mit einem Artikel vertreten. Egal,um welches Thema es sich handelt. Das Herz-klopfen ist mittlerweile aber verschwunden, undalles ist mir vertraut.

    s t ra s s e n f e g e r a l s T h e r a p i eu n d I n t e g r a t i o n s h i l f eIch gehe inzwischen gern in die Radaktionssit-zung und habe einige Leute gefunden, die ichgut leiden kann und mit denen man sich auchvernnftig unterhalten kann. Das trgt entschei-dend zu meiner Wiederintegration in der Gesell-schaft bei, weil ich mich dort respektiert fhleund mein journalistisches Knnen akzeptiertsehe. Inzwischen berwiegend positive Reakti-onen auf meine Artikel machen mich stark undselbstbewusst fr mein tgliches Leben, weilich sehe, dass ich auch noch etwas Wichtigesschaffe, obwohl ich inzwischen EU-Rentner binund nicht mehr arbeiten kann. Auerdem steu-

    ere ich einen kleinen Beitrag zum Hilfeprojektstrassenfegerbei, mit dem obdachlose und armeMenschen mit ehrlicher Arbeit etwas Geld ver-dienen knnen. Ich finde es herrlich, weil ich hierdrei Sachen miteinander verbinde: Ich helfe demVerein mob e.V. und der sozialen Straenzeitungstrassenfegerzu helfen, ich habe Spa, weil ichgern schreibe, und ich kann zu meiner Rentenoch ein kleines Taschengeld hinzuverdienen.Das macht mich auch ein klein wenig stolz.

    M e i n F a z i tDie Mitarbeit im strassenfegerhat die Kette inGang gesetzt. Beim strassenfegerlernte ich JanMarkowsky kennen, einen Mann vom Verein

    Unter Druck e. V.. Ich erfuhr, dass Jan bei die-sem Verein eine Theatergruppe leitet und sprachihn an, weil ich mich entschloss wieder Theaterzu spielen, wie ich es frher auch schon getanhatte. Der nchste Schritt ins Leben war damitgeschafft: strassenfegerund die Theatergruppevon Unter Druck sind bis heute die Hauptsu-len in meinem Leben, durch die ich viele interes-sante Menschen kennengelernt und interessanteErfahrungen gemacht habe.

    Das hat mich entscheidend weitergebracht. Ichhabe meinen richtigen Weg zurck ins Lebenauch aufgrund dieser festen Sulen gefunden. Indiesem Sinne war und ist der strassenfegerfrmich die ideale Integrationstherapie. Und: Sieluft nach wie vor erfolgreich, weil sie mir hilftauch auf dem richtigen Pfad zu bleiben.

    kenne. Aber dieser Mann ist zuverlssig und hltzu mir. Na ja, wenigstens etwas, worauf man auf-bauen kann. Hobbys sind nicht mehr vorhandenoder hchstens noch rudimentr (gelegentlich

    Texte schreiben). Ich muss mich wieder einmalvllig neu erfinden. Mein Leben ist jetzt wie einweies Blatt, fast leer und unbeschrieben. MeineAufgabe wird es sein es neu zu beschreiben. Ichhoffe, dass das gelingen wird.

    A u f z u m s t ra s s e n f e g e rMein neues Leben kommt schnell in Schwung schneller als ich es mir gedacht habe. Nur vier-zehn Tage nach Einzug bei der Brgerhilfestellt mir der Betreuer Andreas Peters einenMann namens Martin Hagel vor, der in der Re-daktion des strassenfegermitarbeitet. Nach kur-zen berlegen gehts schlielich vierzehn Tagespter los. Schon Anfang September gehe ich mitHerzklopfen in die Radaktionssitzung. Schnellfasse ich Vertrauen und biete in meiner erstenSitzung meinen ersten Artikel an. Er trgt den

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    stras senfeger | Nr. | Oktober 20 JAHRE STRASSENFEGER |

    Karikau

    r:OL

    Verkuer Carsen bei derVernissage zum ersenSuperpenner-Comic(Foo: Andreas Dllick VG

    Bild-Kuns)

    20 Jahre strassenfeger ist dasMagazin noch notwendig?ber die Funktion der sozialen StraenzeitungenB E T R A C H T U N G : C a r s t e n D a h l e k e ( s c h r e i b t i m u n d v e r k a u f t d e n s t r a s s e n f e ge r )

    Passant: Mensch, such Dir eine vernnftige Arbeitund hre auf zu betteln!Verkufer: Wenn es fr mich mit ber 50Jahrennoch eine Arbeit geben wrde, wrde ich sie auchmachen. Aber mit 40, 45 Jahren wird man schon auf

    das Abstellgleis geschoben!

    So oder hnlich haben es schon viele Verkufer_innen desstrassenfegererlebt. Dies ist eines der negativen Beispiele. Undich habe hier die weiteren negativen Aussagen, die ich als Ver-kufer schon zu hren bekam, bewusst nicht hier eingearbeitet.Oft hre ich z. B. die Aussage von arbeitsscheuen Pack, das insArbeitslager gehre oder dass es Zeiten gab, wo man so was wieuns durch den Schornstein gejagt htte! Nun, jeder strassenfe-

    ger-Verkufer hat einen Verkuferausweis, den er laut unserenRegeln im Verkauf sichtbar zu tragen hat. Zumindest muss erihn aber dabei haben und auf Verlangen der Kunden auch vor-zeigen. Auf diesem Ausweis steht rechts oben Verkuferaus-weis und nicht Bettlerausweis. Ergo geht jeder Verkufereiner Arbeit nach, dem Zeitungsverkauf nmlich!

    Warum gibt es Zeitungen wie motz und strassenfeger,Hinz & Kunzt (in Hamburg) und die vielen anderen sozia-len Straenzeitungen in Deutschland und weltweit berhauptnoch? Ganz einfach, der Grund warum sie mal gegrndet

    wurden, ist noch nicht beseitigt! Ich kenne zumindest beimstrassenfegerden Grund, warum dieses Magazin als Hilfe-projekt vor 20 Jahren gegrndet wurde: Einer der Mitgrnderhat mir das vor langer Zeit erklrte: Nach der Wende gingendie Mieten im Gebiet der ehemaligen DDR schlagartig nachoben, und es gab Menschen, die dadurch rasch ihre Wohnungverloren. Einmal auf der Strae gelandet, verloren sie oft auchihre Papiere oder ihnen wurden diese gestohlen. Ohne Papierekann man aber auf keinem Amt irgendwelche Hilfeleistungenbeantragen! Der erste Grund der Grndung dieser Zeitungwar also, diesen Menschen die Mglichkeit zu geben, sich le-gal Finanzmittel zu beschaffen, um sich diese Papiere wiederzu beschaffen und dann weitergehende Hilfe beantragen zuknnen. Der zweite Grund war, vielen dieser Betroffenen dieMglichkeit zu geben, sich eine zustzliche finanzielle Hilfe

    nicht mit Bettelei und Diebstahl zu holen. So der zweite Teilder Erklrung damals. Soweit mir bekannt ist, gab es damalsnoch einen Grund, den Hartz IV-Ratgeber. Es wurden sooft die Regeln und Bestimmungen fr Arbeitslosengeld II-Empfnger und Bezieher von Sozialhilfe gendert, das vieleSozialberater in Beratungsstellen selbst nicht immer auf demLaufenden waren. Im strassenfegerkonnten sie sie zumindestimmer schnell mal nachlesen.

    Auch wenn es damals vielleicht die meisten der Betroffenenvielleicht nicht ganz so ntig hatten. Es ist aber aus heutigerSicht umso mehr ntig! Die Preise steigen, alles wird teurer, mitEU- und normaler Alters-Rente kommt man heute kaum nochhin, und von den Arbeitslosengeld II-Empfngern will ich garnicht erst reden. Man muss sich oft dermaen einschrnken,dass solche Mglichkeiten oft wie gerufen kommen, wenn

    jeder Cent gebraucht wird. Die Zahl derer, die solche undhnliche Hilfe-Mglichkeiten bentigen, steigt stndig. Und

    so lange dies sich nicht umkehrt, und die Grnde fr die Nut-zung solcher Mglichkeiten beseitigt werden, solange ist dieNotwendigkeit des Bestandes einer sozialen Straenzeitungaus meiner Sicht gegeben. Und sie ist notwendiger, denn je.

    Wenn die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter aufge-

    macht, sondern wieder geschlossen wrde, wrden sich sozi-ale Straenzeitungen wie der strassenfegervielleicht berho-len. Das wird aber so schnell nicht passieren, da die reichenBrger dieses Landes so an ihrem Reichtum kleben, dass jedeVernderung zu ihren Ungunsten schon an einen Staatsstreichgrenzt. Und das werden sie durch ihr Geld zu verhindern wis-sen. Da bin ich mir ganz sicher. Deswegen ist es so wichtig,dass es den strassenfegergibt. Dass sozial engagierte Men-schen ihn kaufen und lesen. Ich finde: strassenfegerhilft!

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    stras senfeger | Nr. | Oktober | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Hier dreht sich

    alles um Kunst!Zitate aus meinen Interviews fr art strassenfegerR C K B L I C K : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Fr den strassenfegerschreibe ich seit fnf Jahren,zuerst sporadisch, dann immer fter und seit 2012regelmig. Da ich lngere Texte bevorzuge, bietetdie Rubrik art strassenfeger gengend Platz frmeine Streifzge, auf denen ich Kunst und Kultur

    in und nicht nur in Berlin erkunde, ber Museen und Galerienberichte, Ausstellungen und Bcher rezensiere, Knstlerin-nen und Knstler interviewe, sie in ihren Ateliers besucheund darauf achte, dass nicht nur die Stars des internationa-len Kunstmarkts zu Wort kommen. Sie sind sowieso in allenMedien prsent, werden gefeiert, gesammelt, hufig berbe-wertet. In art strassenfeger portrtiere ich deshalb sowohldie Arrivierten als auch die noch Unbekannten oder zu wenigBeachteten: bevorzugt Persnlichkeiten, die sich nicht fr denNabel der Welt halten, sich treu bleiben, ihre Sache gut, ehr-lich und konsequent machen, auch wenn sie missverstanden,belchelt, kaum wahrgenommen oder verschwiegen werden.Die Leserinnen und Leser wissen das zu schtzen, denn oftwurde mir erzhlt, dass sie sich mit dem strassenfegerin derHand auf den Weg gemacht haben, um eine in unserer Zei-tung rezensierte Ausstellung zu besuchen: die von MariuszKubielas in der Fotogalerie Friedrichshain, die von GrardGartner bei Kai Dikhas oder die von Sebastian Bieniek im

    Projektraum Experimentalsystem, um nur einige Beispiele ausden letzten Monaten zu nennen. Was jedoch am wichtigstenist: Wir gewinnen Frderer und Freunde wie Rolando Villa-zn, Klaus Staeck, Ralf Kopp und viele andere, die unsereArbeit untersttzen und bekannt machen. Und ich darf michpersnlich glcklich schtzen, dass ich Menschen begegnete,die mich durch ihre Ausstrahlung, Haltung, Weisheit und Be-scheidenheit ganz besonders beeindruckten: dem spanischenKnstler Vanesco (1952 2015) und Gerda Schimpf (1913 2014). Als wir die Fotografin in der strassenfeger-AusgabeLebenskunst im Oktober 2013 aufs Titelbild brachten,scherzte sie: Ich musste ber 100 Jahre alt werden, um dieKarriere eines Covergirls zu starten.

    In artstrassenfeger habe ich bisher in etwa 200 Texte verf-fentlicht. Alles begann mit einem Interview mit Alicja Kwade,das im Juni 2010 erschien. Was fr ein Zufall, dass ich in dervorigen Nummer ber ihre gegenwrtige Ausstellung Mono-log aus dem 11ten Stock im Haus am Waldsee schrieb! Soschliet sich vorlufig der Kreis.

    H i e r e i ni g e Z i t at e au s me i ne n Int e rv i e w s f r a rt st ra sse nf e g e r au s d e n l e t zt e n f nf J ahre n:

    Mein Interesse gilt eigentlich schon immer Sachen, die ichnicht begreifen kann. Das ist eigentlich diese Ohnmacht vordem Unbegreiflichen, die immer da ist, und dass alles auf die-ser Erde darauf hinausgeht, warum sich alles gerade so ab-spielt, wie es sich abspielt. Ich denke, das ist ein menschlicherUrinstinkt, hinterherzurennen und zu versuchen, ber seinenErkennungshorizont zu schauen. Was aber irgendwann zumScheitern verurteilt ist, weil man mit seinem Sugetiergehirnso weit nicht kommt. Irgendwann kommt man also immer andas Ende seiner Kapazitt.A l i c j a K w a d e , s t ra s s e n fe ge r 1 3 , 2 0 1 0

    Die Bewegung mit der Statik zu verbinden ist ein Wider-

    spruch, der zu unserer Zeit gut passt. Ich greife Themen auf,die in der Luft liegen, und versuche, das Wesentliche aus derSituation, in der sich Menschen befinden, herauszuholen. Ichtypisiere die Personen nicht einzeln, sondern jede Person typi-siert die Person nebenan. Wie im Theater, wo die Hauptrollevon den Nebenrollen lebt.M a r i o L i s c h e w s k y , s t ra s s e n f e ge r 1 3 , 2 0 1 1

    Ich bin weder Hellseher noch Prophet, sondern jemand, derber einen relativ nchtern-analytischen Verstand verfgt undihn mit einer knstlerischen Vision verbindet, woraus Bilderentstehen, wozu andere ganze Bcher brauchen: Das schafftdie Satire eben. Die Tragik liegt darin, dass in vielen meinerPlakate die Wirklichkeit die Satire eingeholt hat, teilweise dar-ber hinausgegangen ist. Man knnte sagen, ich bin stolz darauf,

    dass ich etwas frher gesehen habe, aber nein, nein, ich macheja die Sachen, damit sich etwas ndert, weil ich immer noch andie Vernderbarkeit der Welt glaube. Sie verndert sich ja auchstndig. Die Frage ist nur, in welche Richtung. In Richtung Zer-strung oder in Richtung Erhaltung. Ich glaube, es geht immernoch in Richtung Zerstrung, und zwar dramatisch.K l a u s S t a e c k , s t ra s s e n f e g e r 7 , 2012

    Meine Devise ist, den Kitsch zu entkitschen. Deshalb sucheich mir Objekte aus, die ihre Wrde noch besitzen. Ich mchtesie dem Universum zurckgeben. Ich packe meine Arbeitensozusagen in buntes Bonbonpapier, doch sie handeln von ers-ten Sachen. Ich lasse hinter dem Sen auch das Giftige auf-kommen. Ich bin ein Experimentator, unterwegs in RichtungSelbstschpfung hinter der vordergrndigen Erscheinung.Ich verstehe mich nicht als Knstler, denn Magie und Philoso-phie fangen jenseits der Kunst an.BLAVAT, s t ra s s e n fe g e r 8 , 2 0 1 2

    Kirsen Klckner (r.) und Urszula Usakowska-Wolff vor dem Porr Urszula vonKirsen Klckner, Inselgalerie Berlin, April 2015(Foo: Manred Wolff)

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    stras senfeger | Nr. | Oktober TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    Es war mir wichtig, den Leuten nicht nur die fertigen Bilderzu zeigen. Ich wollte sie vor allem darauf aufmerksam ma-chen, dass die Kunst wie jede andere Arbeit recht anstrengendist, doch auch Freude bereitet.

    K i r s t e n K l c k n e r , s t ra s s e n fe g e r 1 7 , 2 0 1 2

    Kunst muss mehr sein, als nur Kunst. Kunst muss die Schp-fung wollen, Kunst muss bejahend sein, Kunst muss die Naturwollen, Kunst muss den Menschen wollen, Kunst muss dieTiere wollen, Kunst muss Gott wollen. Das Herausforderndean der Kunst ist fr mich, schpferisch zu sein und diesenschpferischen Impuls zu entfalten. Egal in welche Richtung.V a n e s c o , s t ra s s e n fe ge r 1 9 , 2 0 1 2

    Ich blicke lieber nach vorne, denn ich habe noch viel zu tun.Das, was hinter mir liegt, ist nicht so wichtig. Die alten Bildergehren mir nicht mehr. Man muss sich von den Dingen tren-nen knnen. Es ist so wie mit den Kindern, die gehen auchirgendwann aus dem Haus.

    F r a n k S t e l l a , s t ra s s e n f e g e r 2 0 , 2 0 1 2Es berhrt mich immer sehr, einen Menschen zu sehen, derauf der Strae lebt. Wir sind so gewhnt an ihren Anblick,dass wir das individuelle Schicksal, die Schwere der persn-lichen Situation oft gar nichtmehr wahrnehmen. Das mchteich verndern. Viele Menschen wissen vielleicht gar nicht,dass es den strassenfeger gibt, und ich mchte dieses groar-tige Projekt bekannter machen. Das Leben auf der Strae istsehr hart und niemand, der nicht auf der Strae leben mchte,sollte dazu gezwungen sein.R o l a n d o V i l l a z n , s t ra s s e n f e g e r 2 6 , 2 0 1 3

    Es gibt vieles, was in Europa mittlerweile gleich ist. Das ist zumBeispiel die Armut, die grer geworden ist. Ich wei, dass ichdie Welt zwar nicht verndern kann, doch ich verndere sie imKleinen schon. Zum Beispiel dann, wenn ich einen Menschendazu bewege, anders ber die Probleme nachzudenken, als er

    es vorher getan hat. Mir liegt schon viel daran, auf das Leidoder die soziale Ausgrenzung aufmerksam zu machen.R a l f K o p p , s t ra s s e n f e g e r 2 0 , O k t o b e r 2 0 1 4

    Ich habe ja frher auch im Keller gespielt, im Heizungs-keller oder berall dort, wo es mglich war. Um aufzu-treten, muss man aus einer Szene kommen, und das istnicht mein Fall. Ich komme nicht aus der Schwulenszene,ich komme nicht aus der schickeren Szene, es gibt keinenLaden fr mich, deshalb habe ich diesen aufgemacht. Ichbin irgendwie ein Einzelgnger, der unter einer Glasglockelebt, so ein bisschen autistisch.

    J u w e l i a , s t ra s s e n f e g e r 1 , 2 0 1 5

    Es sind Selbstgesprche, die, wie fast bei jedem Knstler,zu Bildern werden. Wenn man Glck hat, gibt es Betrach-ter, die davon auch was haben und mehr als einmal daraufgucken. Und sich etwas dabei denken.E l l e n F u h r , s t ra s s e n f e ge r 1 3 , 2 0 1 5

    Mir sind einige tragische Momente in meinem Leben pas-siert, da hat es mir geholfen zu sagen: Nimm dich nicht

    jetzt nicht so wichtig, es ist so lcherlich, denn du bistin Wirklichkeit ein kleines Wrstel, umgeben von siebenMilliarden kleinen Wrsteln, die denken, dass sie alle derMittelpunkt der Welt sind.E r w i n W u r m , s t ra s s e n f e g e r 1 7 , 2 0 1 5

    Mir gefallen bestimmte Haltungen. Es gibt ja diese Opfer-knstler, die fr die ganze Welt leiden und die saufen und kif-fen, das ist so theatralisch, das mag ich gar nicht. Ich denke,dass ich so bin, wie ein Knstler sein sollte: eine Mischungaus Scharlatan, Schamane, Clown, Trickser. Ich denke, dassist das, was den Knstler ausmacht. Er ist einer, der mit Figu-ren und mit Sachen spielt, mit denen man nicht spielen kann,aber er spielt trotzdem damit. So sollte ein Knstler sein.S e b a s t i a n B i e n i e k , s t ra s s e n f e g e r 1 9 , 2 0 1 5

    Frank-Sellas-Rerospekive, Insallaionsansich, Kunsmuseum Wolsburg, 2012 (Foo: Urszula Usakowska-Wolff)

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    stras senfeger | Nr. | Oktober | TAUFRISCH & ANGESAGT P U N K t r i f f t P R O F

    Ich bin sauberwie ein Pfeil!PUNK trifft PROF Mit Jim RaketeI N T E R V I E W : A n n e - L y d i a M h l e | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    Anne-Lydia Mhle: Woran arbeiten Siegerade?

    Jim Rakete: Im Moment schreibeich an einem Buch und an einem

    Drehbuch. Und ich mache eine groe Fotoseriein Hamburg, zu der Olympiade-Bewerbung. Indiesem Augenblick bereite ich eine Prsentationvon einem befreundeten Knstler vor, der Kunst-filme dreht. Diese Filme sind sehr magisch. Siehaben mich seit zwei Jahren in ihren Bann gezo-gen. Jetzt gibt es die Mglichkeit eine Prsenta-tion zu machen und da helfe ich ihm mit meinemEquipment aus.

    Und noch eine Ausstellung: EUROPE UN-DER CONSTRUCTION in der Berliner Chaus-seestrae 36. Dort wird es ein neues Haus fr Fo-

    tografie geben, in einem alten, wunderschnen,preuischen Offiziershaus, das um die letzteJahrhundertwende gebaut wurde. Renaud Ver-couter mchte es ganz der Fotografie widmen.Eine riesige Sammelausstellung wird gezeigt,meine Arbeiten sind nur ein kleiner Teil. Von

    Will McBride ber Michael Ruetz und ThomasHpker sind die besten Fotografen zum ThemaBerlin und Freiheit versammelt, auch Arno Fi-scher und Robert Lebeck, der gerade jngst ver-storben ist. Es sind die ganzen Legenden.

    Sie haben eine komplette Fotoserie mit der Plat-tenkamera fotografiert.

    Das Projekt hie: 1/8 Sekunde, das ist ein

    ganzes Buch. Vor acht Jahren habe ich mich dazuentschlossen. Es war eine sehr mutige Entschei-dung. Gerade wurden die Filme knapp. Klar war,das Analoge wrde an eine bestimmte Grenzestoen. Und ich wollte dann noch einmal dieTechnik ausprobieren, die aktuell war, bevor ichangefangen habe zu fotografieren.

    Es ist sehr schwer, mit einer Plattenkameraein vernnftiges Foto zu machen, weil alle Betei-ligten irrsinnig stillhalten mssen. Wir arbeitetenmit langen Verschlusszeiten und einer minima-len Tiefenschrfe. Keiner darf sich bewegen oderreden. Die Kamera steht auf dem Stativ, beidemssen sich konzentrieren und dann macht eseinmal Klick.

    Die hufigste Verschlusszeit war 1/8 Se-kunde, deshalb haben wir das ganze Buch sogenannt. Es gibt aber auch Belichtungen darin,

    die 8 Sekunden lang sind. Da hat dann einer acht Sekundenlang stillgesessen.

    Acht Sekunden, das ist schon ziemlich lange.Jrgen Vogel hat das geschafft. Acht Sekunden guckt er

    Dich an und rhrt sich nicht. Schauspieler knnen sich gutkonzentrieren.

    Ich habe fr in Vorbereitung auf das Interview Youtube-Videos geschaut und der eine Film hie: Spliff featuring JimRakete Der Mann mit dem goldenen Ohr.

    Das war ich nicht. Das ist so lange her, ich bestehe nichtmal mehr aus den gleichen Zellen. Das war 1982 oder 81.

    In dem Film kam der Spruch vor: Bestehen kann nur der, derwei wo aus einem Halm der Baum gewachsen ist.

    Das sage aber nicht ich, sondern Arnold Marquis, derSynchronsprecher von John Wayne. Wir haben damals ei-gentlich eine Selbstverarsche gemacht. Das fngt so an: Woer aufschlgt, wchst kein Gras mehr, ganz reierisch. DieMusik war aus: Der Mann mit dem goldenen Arm, diesemDrogenfilm mit Frank Sinatra und Kim Novak.

    Ich spiele eine Persiflage meiner selbst. Statt eines Pferdeshabe ich ein Fahrrad das habe ich immer noch, hat sich nichtgendert und fahre so durch Berlin und gucke nach Talenten.

    Warum haben Sie diesen Film damals in den 80ern gemein-sam mit der Band Spliff gedreht?

    Ich hatte eine Phase von zehn Jahren, in der ich mein Stu-dio und meine Arbeit einer Reihe von Bands widmete. Ich habedie alle gemanagt: Das fing mit Nina Hagen an und endete zehn

    Jahre spter mit den rzten. Deutschlands erfolgreichstesManagement! Wir haben Millionen Platten verkauft. Auch ei-nige Knstler einzeln: Nina Hagen, Nena, da haben wir sehrviel verkauft. Oder Spliff, das war schon sehr erfolgreich.

    Was ist Ihr Lieblingslied von den rzten?Anneliese Schmidt. Weil es das genial, schlechteste Gi-

    tarrensolo der Welt hat. Es ist einfach traumhaft. Das Liedwurde geschrieben, als wir zusammengearbeitet haben, ichliebe das. Es gab lustige Verwicklungen mit dem Lied aberdas wre zu privat. Die rzte sind etwas ganz besonderesin meinem Leben.

    Meine Frage zu: Bestehen kann nur der, der wei wo aus ei-nem Halm der Baum gewachsen ist, geht so: Manche Leutewerden berhmt und vergessen ihre Leute. Was macht manaber, wenn die Leute, mit denen man jahrelang unterwegswar, alle drogenabhngig sind?

    P U N K t r i f f t P R O F

    D I E P R O M I A n n A L Y s e

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    stras senfeger | Nr. | Oktober TAUFRISCH & ANGESAGT | P U N K t r i f f t P R O F

    Grundstzlich ist eine Zusammenarbeit mit Drogistensehr, sehr schwierig. Zum Beispiel, wenn du mit Kollegen ar-beitest, die zu viel an dem weien Pulver schnuppern. Das hatnichts mit Verantwortung zu tun. Ich bin sauber wie ein Pfeil,ich habe noch nie etwas genommen.

    Wirklich, noch nie? Nicht ein einziges Mal?Einmal habe ich versehentlich Cookies genascht. NinaHagen hat auf der Tour welche gebacken und ich habe eineberdosis davon gegessen. Das war so erschreckend, dass ichnie wieder irgendwas genommen habe. Ich trinke hchstensmal einen starken Kaffee oder rauche eine Pfeife.

    Aber Menschen, die Drogen nehmen im Stich lassen?Selbstverstndlich nicht! Wichtig ist, sehr genau zu spiegeln,was man vom Drogenkonsum hlt. Es hilft dem Anderennicht, dauernd Verstndnis zu zeigen.

    Sie haben mal gesagt: Wer gescheitert und wieder aufgestan-den ist, ist besser aufgestellt als jemand, dem es immer gutging. Sind Sie im Leben schon einmal gescheitert?

    Immer wieder. Ob es das Fotografieren ist, das Schrei-ben oder das Filmen. Es wird nie genau so, wie man sich dasvorstellt und manchmal findet man das ganz schrecklich, wasdabei rauskommt, aber besser ist es dann halt nicht. Mit den

    Einschrnkungen des eigenen Talentes umzugehen und damitirgendwie fertig zu werden, gehrt zu jeder guten Karriere.Gute Mnner kennen ihre Grenzen. Mit Leuten die sich somalos berschtzen, dass sie immer denken, sie knnen al-les, kann ich nicht viel anfangen.

    Sie haben die Treffen mit den Stars als Augenblicksbezie-hungen beschrieben. Was ist der besondere Moment, dendas Foto ausmacht?

    Ein Foto ist immer der Eindruck einer Beziehung, es ist wieein erster Hndedruck. Man trifft sich, macht ein paar Fotos undmerkt, ob die Kamera und der Mann dahinter mit diesem Men-schen irgendwie verbunden sind oder ob da einer weit drauengeblieben ist, mit seiner Kamera und eigentlich nur abgebildethat. Mir gefllt es beim Fotografieren, ohne lange Vorrede beider Sache zu sein. Ich bin von Hause aus eher schchtern unddie Fotografie hat mir ermglicht, ber ganz bestimmte Schwel-len zu steigen, die ich normalerweise nie genommen htte.

    Ich fhle den Auftrag, wenn ich die Kamera in der Handhabe. Ich will nicht mit irgendwas Schlechtem nach Hausekommen. Mit diesem Auftrag auf den Schultern entstehteine Beziehung mit dem Anderen, denn der fhlt das ja auch.Das kann nichtssagend sein, das kann aber auch unheimlichinteressant sein.

    Jim Rakee: Diesmal nich hiner sondern vor der Kamera

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    stras senfeger | Nr. | Oktober | TAUFRISCH & ANGESAGT P U N K t r i f f t P R O F

    Was hat das Fotografieren fr Ihr Leben bedeutet?In meinem Leben hat es bedeutet, dass ich wahnsinnig

    interessante Menschen kennengelernt habe, die ich sonst niegetroffen htte. Und tolle Gesprche gefhrt habe mit Men-

    schen, die fr mich sonst unerreichbar geblieben wren. DieFotos dazu sind meine Quittung. Wenn ich ein Negativ ausmeinem Archivordner ziehe und da steht Herr Gorbatschowan seinem Schreibtisch, wei ich heute noch, was er in demAugenblick gesagt hat.

    Auergewhnlich.Das ist logisch, weil ein Fotograf viel bewusster lebt. Wenn

    ich etwas analog fotografiert habe, gehe ich nach Hause undbeschftige mich noch weitere Stunden damit. Ich entwickeledie Filme, lege sie unter den Vergrerer, habe Angst ob esetwas geworden ist. Die Begegnungen brennen sich tiefer ein.

    Anders als wenn jemand rumluft und klickediklackirrsinnig viele Digitalfotos macht und dann alle weglscht,weil sowieso nur fnf brig bleiben sollen. Es ist ein anderes

    Erlebnis, das Analoge zwingt einen, sich tiefer damit zu be-schftigen. Weil es ein Handwerk ist. Beim Digitalen ist vielesnicht Handwerk, da ist vieles Programm oder Photoshop. Dergrte Verlust beim digitalen Fotografieren ist der des Origi-nals. Dieser Phantomschmerz wird mir immer bleiben. DasDigitalfoto kann nicht verloren gehen. Das kann nicht ver-brannt werden. Das kann nicht gestohlen werden. Das ist einanonymer Datensatz, der auf irgendwelchen Festplatten liegt.Eines Tages gibt es den Anschlussstecker zu den Festplattennicht mehr und es ist vergessen.

    Was ist fr Sie beim Fotografieren wichtig?Nicht stehen zu bleiben und zu sagen: Sieht doch gut

    aus. Sondern sich auf die Suche zu machen, nach Sachen,die ber den Tellerrand hinaus bleiben knnten. Fotografieist ein Medium zum Bleiben. Fotografie will nicht vergessen,Fotografie will erinnern.

    Aber Digitale Fotografie ist ein Vergessens-Instrument, die

    meisten Fotos werden nie wieder angeguckt. Die ganzen Han-dyfotos, werden herumgemailt, auf irgendwelchen anderenTelefonen wieder gelscht und das war es dann. Das hat nichtden Charme einer Sache, die Jahrhunderte berleben knnte.

    Es gibt Bilder, die sich so stark einbrennen, dass sie mit dem,was wir von der Person im Kopf haben, verschmelzen. Wennich jetzt sage: Marilyn Monroe, John F. Kennedy, Nina Hagen,das sind alles Bilder die im Kopf aufgehen.

    Sie waren viel in Amerika. Gibt es Unterschiede zwischender Obdachlosigkeit in Amerika und Deutschland?

    Ich war in den 90er Jahren viel in Amerika, mit einem Fuin Los Angeles, und habe sehr viele Obdachlose gesehen. Wasich interessant fand war, dass es ganz oft gescheiterte Soldatenwaren, die nach einem Krieg zurckgekommen sind und kei-nen Anschluss mehr gefunden haben.

    Das hat mir zu denken gegeben. Ich habe immer ber-legt: Welchen Zug muss man bei uns verpassen um obdachloszu werden. Vor sechs oder sieben Jahren habe ich eine groe

    Serie gemacht, ber obdachlose Jugendliche und habe diekennengelernt. Als ich die interviewt und angefangen habe,die Einzelschicksale wenigstens peripher zu verstehen, habeich festgestellt, es war tatschlich so: Irgendwo gab es einenPunkt an dem sie nicht zurckkonnten, von dem aus sie denAnschluss zu einer normalen Karriere versiebt haben. Danachist das ganze Leben pltzlich eine Rutschbahn.

    Ist es mglich von diesem Glatteis aus wieder in die Gesell-schaft zurck zu finden?

    Mir ist aufgefallen, dass es umgekehrt genauso funktio-niert: Eines dieser Mdchen die wir damals fotografiert haben,pickte ausgerechnet Fotografie als Thema fr sich. Sie hat inder Straenkinderakademie vom Karuna e.V. fotografierengelernt. Ich bekam zu ihrer ersten Ausstellung eine Einladungvon Brigitte Zypris, der Bundesjustizministerin.

    Ihr erstes Thema waren Graffitis und wie die sich ver-ndern. Das hat eine ganz stolze Geschichte, es gibt Leute,

    srasseneger-Auorin Anne-Lydia Mhle im angeregen Gesprch mi Jim Rakee

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    stras senfeger | Nr. | Oktober TAUFRISCH & ANGESAGT | P U N K t r i f f t P R O F

    wie Dennis Hopper, der sich ganz stark fr Gegenwartskunstinteressiert hat. Und der im Laufe seines Kunstbetriebs wun-derschne Fotos gemacht hat. Er war nebenbei bemerkt einwilder Fotograf und nicht nur Schauspieler, nicht nur EasyRider, er war auch Regisseur. Es gibt viele Bildbnde vonihm. Dennis Hopper hat immer gesagt: Die gltigste Gegen-wartskunst sind Graffitis. Er fotografierte mit groer Leiden-schaft seine Umgebung in Los Angeles. Hopper lebte direktgegenber vom Rose Caf am Venice Beach. Er fotografiertedort wie Graffitis sich verndert haben.

    Deshalb fand ich toll, dass dieses Mdchen das Themaauch fr sich erfunden hat, denn ich glaube von Dennis Hop-per hatte sie noch nie was gehrt. Ich finde es wichtig, nach die-sem Moment zu suchen: nach dem Augenblick, wo jemand auf

    etwas aufspringen und eine eigene Sache neu anfangen kann.

    Sie sind Botschafter des Karuna e.V. Was wnschen Sie sichvon der Politik fr den Umgang mit Straenkindern?

    Prof. Dr. Gunter Thielen, ex. Vorstandsvorsitzendervon Bertelsmann und aktuell Vorstandsvorsitzender der

    Walter Blchert Stiftung, hat bei einer Pressekonferenz frStraenkinder von Karuna eine flammende Rede gehal-ten. Er hat gesagt: Man hat untersucht, was jeder einzelneobdachlose Jugendliche unsere Gesellschaft kostet. Und dasist ein solches Vielfaches von dem, was es kostet, einen ob-dachlosen Jugendlichen unterzubringen und auszubilden.Das kostet einen Bruchteil von dem, was wir als Gesell-schaft in jemanden investieren, der da drauen herumluftund containert oder schnorrt.

    Wieso? Was kostet der denn?Erst mal musst Du das ordnungsamtliche Problem be-

    trachten. Du musst betrachten, dass der Staat ohnehin fr denzustndig bist, der ist mit einem deutschen Pass aufgewachsenist, den mssen wir versorgen so oder so. Ob wir das jetzttun, indem wir den stndig irgendwie angucken und verdch-tigen oder ob wir das tun indem wir ihm einen Vertrauensvor-schuss geben und ihm eine mgliche Ausbildung offerieren.Das ist doch der bessere Ansatz.

    Sie haben sich tiefgreifend mit dem Thema Obdachlosig-keit auseinandergesetzt.

    Kritisch angemerkt, fllt mir beim Thema Obdachlosig-keit auf, dass es sich um ein Phnomen handelt, wo die Leuteimmer denken, sie mssten darstellen, wie es ihnen ergangenist. Das ist im ersten Schritt total richtig. Frs Selbstbewusst-sein ist das wichtig, frs Verstndnis wichtig, fr den Rest

    der Welt wichtig, diese Perspektive zu sehen. Aber was ichfr ganz dringend erforderlich halte ist, im zweiten Schritt zuberlegen: Was kann ich machen, um die Sachen zu bessern?

    Was kann ich selbst dafr anbieten?Ich bin im Zweifel, ob es gengend Angebote gibt. Von

    beiden Seiten, sowohl von den Leuten, die sagen: Du kannstbei mir arbeiten! Du kannst dich erproben! Als auch vonden Inhalten her, die Obdachlose selber berlegen. Was

    knnen sie mit ihren Fhigkeiten, mit ihrer Perspektive er-schaffen? Es muss den Moment geben, wo Obdachlose an-fangen, die Geschichten des Anderen zu erzhlen und nichtnur ihre Eigene.

    Es ist wichtig aus der Rolle des sich selber darstellendenObdachlosen rauszukommen. Bei aller Bewunderung dafr,dass Menschen schonungslos ihr Leben aufschreiben, ohneAnsehen ihrer Verletzung einfach sagen wie es gewesen ist.Besser wre, wenn sie es in einen gesellschaftlichen Zusam-menhang stellen knnten.

    Es gibt eine wahnsinnig schne Metapher dafr, das ist dieStadt Berlin. Vor zwei Jahren hat ein Wirtschaftssenator diesenklugen Satz gesagt: Auf Dauer wird es nicht reichen, wennwir uns in Mitte alle gegenseitig fotografieren und filmen. Ichhabe gedacht: Das stimmt. Berlin schmort sehr in der eige-nen Suppe. Und findet es toll vorzutragen, was einem selberpassiert ist. Aber davon ist man noch keine Gesellschaft. EineGesellschaft wird es dadurch, dass man zueinander findet.

    Im Aelier

    Ein handsignieres Buch vom Fooknsler r unsere Auorin gab es auch noch

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    stras senfeger | Nr. | Oktober | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    ENGAGEMENT

    HANG UP, HELP OUT!Obdachlose, Flchtlinge und Wohnungslose knnen imffentlichen Pop-Up Street Store am Zentrum am Haupt-bahnhof Kleidung, Schuhe und Spielsachen auswhlen,anprobieren und mitnehmen. Der Pop-Up Street Store istder weltweit erste mietfreie, nicht-lokalgebundene, unabhn-gige Laden fr bedrftige Obdachlose und Flchtlinge, derschon in ber 80 Stdten aktiv ist. Mithilfe von Plakaten wirdein Bekleidungsgeschft geschaffen, in dem auch Menschen,die Kleidung bentigen, das Gefhl vermittelt bekommen,sich etwas aussuchen zu knnen. Der Aufwand dafr istklein, aber wirksam: Die ffentlichkeit wird dazu aufgerufen,ihre Kleidung vorbeizubringen. Vor Ort wird diese dannselektiert, prsentiert und bereitgestellt.

    Am 23. Oktober von 10 bis 16 Uhr

    SadmissionLehrer Sr. 6810557 Berlin

    Ino: htp://hesreesore.org

    THEATER

    Die Winterreise

    Die RambaZamba Schauspielersingen, brummen und singsprechenSchuberts Liederzyklus Die

    Winterreise in 24 Bildern. Malfolgen sie den Spuren des einsamen

    Wanderers, der von seiner Liebstenverstoen, von allen anderenverhhnt seinen schmerzlichen Weggeht, ohne je Erlsung durch denTod zu erfahren. Mal folgen sieeinzelnen Visionen und Themen desLiederzyklus, wie dem Bild derKlte, des Irrlichts, der Tuschungoder der Hoffnung. Ort des Gesche-hens ist eine Anstalt, in der Schubertsitzt und die Entdeckung machenmuss, dass alle anderen Insassen sichebenfalls fr Schubert halten.Schuberts extremen Schmerz, seineEinsamkeit kontern die anderen mitHumor, mit Gemeinsamkeit undEmpathie. Eine Inszenierung, die inungemein poetischen und zrtlichenBildern von Lebensmut undberlebenswut erzhlt.

    21., 23. und 24. Oktober um 19 UhrKaren 16 Euro / ermig 8 Euro

    Theaer RambaZambaSchnhauser Allee 36 3910435 Berlin

    Ino & Foo: www.heaer-rambazamba.org

    HERBSTFERIEN

    Gruselspa im GeisterschlossWenn Geister, Vampire, Hexen, Teufel undGespenster zusammentreffen, dann machtGruseln richtig Spa. In den Herbstferiensind Kinder und Familien ins Geisterschlossim FEZ-Berlin eingeladen. Hexenkche,

    Werksttten, Hexendisco und Laborewarten auf alle kleinen und groenGruselfans.

    Geister sollen vertrieben werden, alteBruche erlebt und moderne Rituale rundum Halloween gespielt werden. Ob beimKrbisschnitzen, beim Hren von Gruselge-schichten, bei der Fahrt mit der Geister-bahn, beim Spielen in den bunten Hllen,beim Basteln von Zauberlandschaften oderbeim Brauen geheimnisvoller Elixiere schaurig schne Erlebnisse versprechenalle Aktionen. In den Halloween-Werkstt-ten knnen Ekelspinnen, Amulette oderHte selbst hergestellt werden. Hhepunktesind die Fahrt mit dem Hexenexpress am 31.Oktober und die Abschlussparty am 1.November.

    17. Oktober bis 1. NovemberSa 13-19 Uhr, So 12-18 Uhr, Mo-Fr 10-18 UhrTicke: 3,- / Familien 10,-

    FEZ-BerlinSrae zum FEZ 2

    12459 BerlinIno & Foo: www.ez-berlin.de

    FILM

    Chance KurzfilmSeltene Berlin-Filme, Tonbilder, polnische Avantgarde,Trickfilme: Am UNESCO-Welttag des audiovisuellen Erbesprsentieren die Deutsche Kinemathek und das Zeughaus-kino wiederentdeckte und restaurierte historische Kurzfilme.Es gibt Kurzfilm-Raritten aus 100 Jahren Filmgeschichte,darunter der Industrie-Werbefilm Ein Gang durch diemoderne Oberst-Fabrik (D 1932) mit auergewhnlichenTrickaufnahmen, der dank der digitalen Umkopierung derDeutschen Kinemathek erstmals wieder zu sehen ist. ImFragment Schatten der Nacht (1912) zeigt Harry Pielsensationelle Verfolgungsjagden mit Auto und U-Bahn querdurch Berlin. In dem Kulturfilm Eine Schlagader derGrostadt (1956) wird der faszinierenden Geruschwelt derBerliner U-Bahn gelauscht.

    27. Oktober 2015 um 20 Uhr im Zeughauskino

    Deusche Kinemahek - Museum r Film und FernsehenPosdamer Sr. 2

    10785 BerlinIno: www.deusche-kinemahek.de

  • 7/24/2019 20 Jahre strassenfeger Ausgabe 21 2015

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    VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:

    [email protected]

    Je skurriler, amoser und

    preiswerer, deso besser!

    stras senfeger | Nr. | Oktober TAUFRISCH & ANGESAGT | K u l t u r t i p p s

    FILM

    Stadtnatur-FilmfestMORE THAN HONEY ist ein Film vom Leben undberleben der Bienen. Mehr als ein Drittel unserer Nahrungs-mittel ist abhngig von der Bestubung durch Bienen.Beginnend bei einem Imker in den Schweizer Bergen istMarkus Imhoof rund um die Welt gereist. In die USA, wo dieBienen in industriellem Mastab von Monokultur zuMonokultur transportieren werden, oder nach China, wo ingewissen Regionen die Blten bereits von Hand bestubtwerden mssen. Er trifft in Arizona Fred Terry, der sich aufKillerbienen spezialisiert hat, in sterreich die Familie Singer,die Kniginnen zchtet und in die ganze Welt verschickt. Erinterviewt Wissenschaftler, erzhlt von der phnomenalenIntelligenz der Bienen und ihrem sozialen Zusammenleben.

    Am 12. November um 19 Uhr, Eintritt frei

    Museum Pankow am WasserurmPrenzlauer Allee 227/22810405 Berlin

    Ino: htp://museumpankow.wix.com/sadnaurfilmes

    GRUSELN

    Happy HalloweenAuch in diesem Jahr erwartet der Botanische Garten Berlinzahlreiche groe und kleine Ungeheuer, Geister, Hexen undandere Monster, die auf dem herbstlichen Gelnde beim Happy

    Halloween ihr Unwesen treiben. Vom Krbis-Bowling bis hinzum Hexenbesen-Weitwurf knnen die Kleinen bei verschiede-nen Mitmach-Aktionen zeigen was in ihnen steckt. Beimgeheimnisvollen Zauberpflanzen-Labor kann man lernen, mitwelchen Gewchsen Zauberer und Hexen ihre Tricks machen.Der Bltensaal wird zum Hexen- und Gespensterkino. ZumSchluss wird es dunkel das Schattentheater Scuraluna wirddie Geschichte vom kleinen Angsthasen zeigen.

    Am 25. Oktober, 1118 Uhr

    Einrit: Erwachsene 6,- Euro, ermig 3,- Euro,Kinder bis zum vollendeen 6. Lebensjahr Einrit reiGroe Familienkare 12,- Euro (2 Erw. & bis zu 4 Kinder bis zum voll. 14. J),Kleine Familienkare 7,- Euro (1 Erw. & bis zu 4 Kinder bis zum voll . 14. J)

    Uner den Eichen 5-10

    12203 BerlinIno & Foo: www.boanischer-garen-berlin.de

    LITERATUR

    open mikeDie 20 Finalisten des 23.Literaturwettbewerbs openmike im HeimathafenNeuklln stehen fest:

    Prosa: Tatjana von der Beek(Hildesheim), AnjaBraunwieser (Wien), TobyDax (Wien), Hilde Drexler(Wien), Philipp Enders(Kln), Margarita Iov(Leipzig), Paul Klambauer(Berlin), DominiqueKlevinghaus (Homberg),Felix Kracke (Frankfurt a.M./Berlin), Philip Krmer(Erlangen), Jessica Lind(Wien), Lena Rubey (Wien),Hakan Tezkan (Kln), TheraTglhofer (Graz/Berlin),Bettina Wilpert (Leipzig)Lyrik: Tobias Lewkowicz(Gieen), Arnold Maxwill(Mnster), Lilli Sachse(Berlin), Andra Schwarz(Leipzig), Eckhardt G.

    Waldstein (Heidelberg/Viernheim). Bewerbenkonnten sich junge Autorenbis 35 Jahre, die noch keinBuch verffentlicht haben.

    6. bis 8. November

    Heimahaen NeukllnKarl-Marx-Sr. 14112043 Berlin

    Ino: www.alliera.dewww.lieraurwerksat.org

    POLITIK

    UN|COMMONSWasser und Nahrungsmittel, Daten undNetzwerke, Medikamente und Kulturg-ter: Wem gehren diese Ressourcen? Werhat Zugang zu diesen Lebensgrundlagen?

    Wem wird er verweigert? Was ist ihrWert? Brauchen wir Zugangs- sowieNutzungsregeln? Wenn ja, wie sollten sieaussehen? Die Berliner Gazette und dieVolksbhne am Rosa-Luxemburg-Platzladen ein, diese Fragen auf der internatio-nalen UN|COMMONS-Konferenz zudiskutieren. Im Fokus stehen digitaleThemen: Big Data etwa, das von Usernhergestellt wird, aber von staatlichenEinrichtungen oder Grokonzernenintransparent verwaltet wird wie kanndas zu unserem Gemeineigentum werden?Oder die Snowden-Files, die weltweiteDebatten angestossen haben, aber Gefahrlaufen im digitalen Niemandslandverschollen zu gehen wie knnen sieEingang in ffentliche Bibliothekenfinden?

    22. bis 24. OktoberTickes 8,- Euro /ermig 6,- Euro

    Volksbhne am Rosa-Luxemburg-PlazIno: www.volksbuehne-berlin.de

  • 7/24/2019 20 Jahre strassenfeger Ausgabe 21 2015

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