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Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg 1,50 EUR davon 90 CT für den_die Verkäufer_in No. 1, Januar 2014 NOTÜBERNACHTUNG »Fünf vor zwölf« (Seite 3) DIE VERGESSENEN »Sterben auf der Straße« (Seite 6) SEID BITTE AKTIV! »Józef Szajna, Künstler und KZ-Überlebender« (Seite 16) ZEIT GRATIS DABEI!

ZEIT - Ausgabe 01/2014 des strassenfeger

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  • Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 1, Januar 2014

    NOTBERNACHTUNGFnf vor zwlf (Seite 3)

    DIE VERGESSENENSterben auf der Strae (Seite 6)

    SEID BITTE AKTIV!Jzef Szajna, Knstler und KZ-berlebender (Seite 16)

    ZEIT GRATIS DABEI!

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 20142 | INHALT

    strassen|feger Die soziale Straenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

    Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Mglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie knnen selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkufer erhalten einen Verkuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

    Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notbernachtung und den sozialen Treff punkt Kaff ee Bankrott in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhlt keine staatliche Untersttzung.

    Liebe Leser_innen,in dieser Ausgabe beschftigen wir uns mit dem Thema Zeit. Fr den Verein mob e.V. und dessen Notbernachtung Ein Dach ber dem Kopf bedeutet Zeit: Es ist es fnf vor Zwlf! Nach mehr als einem Jahr Suche nach neuen Rumen fr die Notbernachtung mssen wir heute konstatieren: Es gibt kein einziges Angebot! Das ist bitter, zumal uns die hrtesten Win-tertage sicher noch bevorstehen (Seite 3 und 4). Ganz schwierig ist auch die Situation der obdachlosen Polen, die seit Jahren auf Berlins Straen verelenden und sterben (Seite 6.). Unsere Au-toren haben sich aber auch mit der Qualitt von Zeit generell (Seite 5) und dem vermeintlichen Widerspruch von Arbeitszeit und Freizeit beschftigt (Seite 8). Auch ganz spannend: die Zeit der Angst, vor allem beim Zahnarzt (Seite 10). Und wer von Ihnen, liebe Leser_innen kennt den Ausspruch Kinder wie die Zeit vergeht wohl nicht (Seite 11). Ach so, um Miggang geht es in dieser Ausgabe auch (Seite 13)!

    In der Rubrik art strassenfeger berichten wir ber den pol-nischen Knstler und KZ-berlebenden Jzef Szajna. Unsere Kulturredakteurin Urszula Usakowska-Wolff stellt dessen Remi-niszenzen an die Opfer vor (Seite 16).

    Auch im Heft: Zwei Berichte ber die Obdachlosen-Weihnacht von Frank Zander (Seite 18/19). Auf der Seite 26ff. fi nden Sie ein Interview mit dem Chef der portugiesischen Straenzeitung CAIS. Henrique Pinto erzhlt ber die spannende und anstren-gende Arbeit in diesem Projekt und stellt Ihnen mit Paolo Ama-dore einen ganz besonderen seiner Schtzlinge vor.

    Auerdem haben wir bei dieser Ausgabe ein ganz besonde-res Schmankerl fr Sie: Ein Jahr lang hat die Werbeagentur Scholz&Friends fr uns an einem Comic gearbeitet. Gezeichnet wurde er von Stefan Lenz. Nun liegt er vor und wir freuen uns sehr, Ihnen den Comic Superpenner als Gratis-Beilage zum strassenfeger anbieten zu knnen. Seien Sie gespannt!

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    SPEIS & TRANKFnf vor zwlf

    Herberge auf Zeit dringend gesucht!

    Qualitt von Zeit

    Die Vergessenen

    Verhltnis von Arbeit und Freizeit

    Zeit in der Literatur

    Zeit der Angst

    Kinder, wie die Zeit vergeht

    Bewegung im Raum = Zeit

    Hoch lebe der Miggang!

    Astro-TV

    Die Geburt des Superpenners

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rSeid bitt e aktiv! Der polnische Knstler und KZ-berlebende Jzef Szajna

    Ve r k u fe rObdachlosen-Weihnacht: Das war supi!

    Ehrenamtliche Helfer ausgebremst!

    S o z i a lMit Glck und aus eigener Kraft

    S p o r tKraft tanken Wintersport im Riesengebirge

    K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

    A k t u e l lCarola Muyers

    I N S PCAIS ein Platz zum Anlegen Besuch bei der Straenzeitung in Lissabon

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rKindergeld

    K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

    Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

  • Muss die Notbernachtung von mob e.V. am 31.01.2013 schlieen? (Foto: Samyr Bouallagui)

    strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 3

    Fnf vor zwlfNotbernachtung von mob e.V. akut von Schlieung bedrohtB E R I C H T : A n d r e a s D l l i c k

    Die Uhr tickt unerbittlich herunter, es ist fnf vor Zwlf: Stand 8. Januar muss der Verein mob obdachlose machen mobil seine Notber-nachtung Ein Dach ber dem Kopf in der Prenzlauer Allee 87 am 31. Januar schlieen.

    Im Klartext heit das: Die einzige Einrichtung dieser Art im Bezirk Pankow muss ihre Arbeit einstellen. Zehn Mnner und sieben Frauen mssen dann wieder auf der Strae, unter der Brcke oder in Abrisshusern hausen.

    F l c h t l i n g e v e r s u s O b d a c h l o s e ? N e i n , a b e r

    Wir wollen selbstverstndlich hier keine Fronten zwischen Obdachlosen und Flchtlingen aufmachen, geschweige denn, diese gegeneinander ausspielen. Zumal Flchtlinge ja per se auch erst einmal obdachlos sind. Es ist aber schon auffllig, das hier anscheinend mit zweierlei Ma gemessen wird. Seit Wochen, ja Monaten, vergeht kein Tag, an dem die Presse nicht ber die missliche Lage der Flchtlinge aus dem Zelt-camp am Oranienplatz berichtet. Die Berliner Politiker laufen wie aufgescheuchte Hhner durch die Gegend und verlieren sich in schnen Reden und Aktionismus. Auf der einen Seite werden in Windeseile Wohnungen bzw. Huser fr diese Men-schen gesucht und gefunden. Auf der anderen Seite wird dar-ber schwadroniert, die Zeltstadt polizeilich rumen zu lassen.

    O b d a c h l o s e z w e i t e r K l a s s e ?

    Tja, und nun kommen wir zum Kern unseres Problems: Kaum jemand scheint zu registrieren, dass es neben diesen Flcht-lingen, die zumeist ein ganz frchterliches Schicksal hinter sich haben, traumatisiert sind und alles verloren haben, auch die ich sage es mal ganz provokant ganz normalen Ob-dachlosen in Berlin gibt. Diese Menschen haben ein hnliches Schicksal; sie sind arm, sie sind oft krank, sie haben auer den Sachen, die sie am Leib tragen, nichts. Und sie haben auch kein Dach ber dem Kopf. Diese Menschen kommen in die Einrichtungen der Obdachlosen- bzw. Wohnungslosen-hilfe wie die Notbernachtung von mob e.V. in der Prenzlauer Allee. Gerade im Winter, wenn es das Programm Berliner Kltehilfe gibt, bieten diese Einrichtungen Schutz und Hilfe vor klirrender Klte, Schnee und Eis. 433 Schlafpltze gab es zum Start der Kltehilfe im November, 500 Pltze wollte der Sozialsenator eigentlich schaffen. Fallen unsere 17 Pltze jetzt weg, sind es nur noch 416 Pltze (siehe auch Artikel von Jan Markowsky auf Seite 4!). Ein Schlag ins Gesicht der Ber-liner Wohnungslosenhilfe, mit dem sich auch die AG Leben mit Obdachlosen eingehend beschftigt.

    E i n m e n s c h e n w rd i g e s L e b e n b i e t e n !

    Viele Obdachlose kommen gern zu uns, das muss an dieser Stelle auch mal gesagt werden, weil unsere Einrichtung einen hohen Wohlfhlfaktor hat und die Menschen nicht nur eine Nacht bleiben knnen, sondern maximal sogar vier Wochen.

    Die Notbernachtung bietet fr jeden ein eigenes Bett mit bequemer Matraze und frischer Bettwsche. Es gibt eigene, abschliebare Spinde, es gibt saubere Waschrume, Duschen und Toiletten. Die Gste knnen ihre Wsche waschen. Zu-stzlich drfen sie sich am Tag und abends auch in unserem sozialen Treffpunkt Kaffee Bankrott aufhalten, fernsehen, Spiele spielen oder einfach nur ausruhen. Dazu kommt, dass unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter der Notbernachtung niedrigschwellige Beratung anbieten, z.B. Hilfe bei Behrden-gngen, Arztterminen etc., also alles Dinge, die viele Obdach-lose alleine gar nicht bewltigen knnen. Wir verstehen das, was wir hier leisten als Hilfe zur Selbsthilfe; wir versuchen diesen Menschen ein menschenwrdiges Leben zu bieten, si-cher auf einer niedrigen Ebene, aber das ist das, was der kleine Verein mob e.V. leisten kann.

    Po l i t i k s t e c k t d e n K o p f i n d e n S a n d !

    Nach der Kndigung unserer Rume und der Rumungsklage durch die Vermieterin haben wir uns sofort an die zustndigen Politiker des Landes Berlin und des Bezirks Pankow gewandt mit der Bitte um Hilfe. Bis heute haben wir nicht ein einzi-ges, ich wiederhole das gern noch mal, weil es so beschmend ist, nicht ein einziges Angebot fr neue Rume fr die Not-bernachtung seitens der Politik erhalten, nicht einmal ber-gangsweise. Ich finde dieses Verhalten skandals! Mssen unsere obdachlosen Gste denn wirklich erst ein Zeltlager am Roten Rathaus oder am Pankower Rathaus aufschlagen wie die Flchtlinge am Oranienplatz, damit die Verantwortlichen endlich aufwachen?! Wenn es denn so sein soll, wird es auch so kommen. Das wird ein schner Anblick, Herr Wowereit, wenn die Betten der Ob-dachlosen vor ihrem Amtssitz stehen und sie tagtglich an ihre Verantwortung erinnern!

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 20144 | ZEIT

    Herberge auf Zeit dringend gesucht!Berliner Kltehilfe ist auf den ersten Blick gut gestartetB E R I C H T : J a n M a r k o w s k yF O T O : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    Die Mngel in der Berliner Kltehilfe sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen: Seit dem 1. November haben die Nachtcafs und Not-bernachtungen geffnet. Wohnungslose Men-schen, die auf der Strae leben, knnen sich

    aufwrmen, sich ausruhen, Kontakte knpfen, die Toilette benutzen, sich waschen, essen, trinken und in einem ge-schtzten Rahmen schlafen. Die aktuelle Saison ist mit 433 Notschlafpltzen im Durchschnitt gestartet. In der Saison 2012/13 waren es 422. Zehn Pltze mehr, das hrt sich gut an. Angesichts der Forderung der Berliner Kltehilfe, mindes-tens 500 Pltze zur Verfgung zu stellen, sieht das aber ganz anders aus. Die Forderung, seit Jahren von der AG Leben mit Obdachlosen in Auswertung der Kltehilfe erhoben, ist beim Senat angekommen. Der Senator fr Gesundheit und Sozia-les, Mario Czaja, hat das am 12.September 2013 auf der 35. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses auf eine Anfrage der Abgeordneten lker Radziwill von der SPD-Fraktion be-sttigt. Die Situation verschrft sich mitten in der Kltehilfe-saison zum neuen Jahr, weil die Notbernachtung von mob Obdachlose machen mobil e. V. mit zehn Schlafpltzen fr Mnner und sieben fr Frauen hchstwahrscheinlich schlie-en muss. Diese Notbernachtung ist integraler Bestandteil der Berliner Kltehilfe.

    I m m o b i l i e n s i t u a t i o n v e r h i n d e r t a u s re i c h e n d e A n z a h l a n N o t s c h l a f p l t z e n

    Mittel werden zwar bereitgestellt, trotzdem fehlen Pltze. Und: Es fehlen Einrichtungen, die Pltze anbieten. Robert Veltmann, Geschftsfhrer eines groen Trgers der Woh-nungslosenhilfe in Berlin, der GEBEWO- Soziale Dienste- Berlin gGmbH, hatte anlsslich der Pressekonferenz zum Start der Kltehilfesaison 2012/13 mitgeteilt, dass er nach geeigneten Immobilien intensiv gesucht hatte. Doch verge-bens. Beheizbare Rume mit geeigneten sanitren Einrich-tungen fr fnf Monate zu mieten, ist in Berlin zurzeit so gut wie aussichtslos. Die Gebewo soziale Dienste gGmbH ist ein groer Trger. Wenn solch ein groer Trger keine geeigneten Rumlichkeiten findet, wie soll das ein vergleichsweise klei-ner Verein wie mob e.V. aus eigener Kraft schaffen? Ange-sichts dieser Situation dem Verein Hilfe zu verweigern, grenzt an unterlassene Hilfeleistung.

    b e r l e b e n s h i l fe o d e r Te i l h a b e v o n w o h n u n g s l o s e n M e n s c h e n

    Viele Menschen, die auf der Strae leben, haben sich in ihrem Kiez eingerichtet. So, wie die Berliner Kltehilfe aufgestellt ist, erreicht sie viele dieser Menschen in einigen Kiezen nur ein

    Mal in der Woche oder in vielen Kiezen gar nicht. Als die AG Leben mit Obdachlosen gegrndet wurde, gab es das Ziel, in jedem Kiez an jedem Tag ein Angebot zur Notbernach-tung zu schaffen. Davon sind wir im Jahr 2014 meilenweit entfernt. Die Kltehilfe erreicht nicht jeden Obdachlosen in einem ausreichenden Ma. Die Einrichtungen der Kltehilfe bieten fr viele auf der Strae lebende Menschen den ersten sozialen Kontakt zu Menschen auerhalb ihres Milieus. Hier kann Vertrauen ausgebaut werden, hier knnen erste Wege heraus aus der Obdachlosigkeit gegangen werden.

    D i e Z a h l w o h n u n g s l o s e r M e n s c h e n s t e i g t - w i e v i e l u n d w e s h a l b s c h e i n t d e r Po l i t i k e g a l

    Der Berliner Senat kann seit 2005 keine Statistik ber die Zahl wohnungsloser Menschen in Berlin vorlegen. Einziger Anhaltswert sind Zahlen ber die Auslastung der Einrichtun-gen der Berliner Kltehilfe, die vom Kltehilfetelefon erhoben wird. Aber: Die Zahl wohnungsloser Menschen steigt in Berlin wie in anderen groen Stdten. Ursachen dieser Entwicklung sind einerseits die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt in Berlin und andererseits die Europapolitik, die offene Grenzen fr Waren und Kapital und Menschen versprach, aber die ar-men EU-Brger nicht haben will. Sowohl bei der Mieten- und Sozialpolitik als auch bei der Europapolitik wird die Lebens-wirklichkeit bedrftiger Menschen ignoriert.

    B e m e r k u n g e n z u m Wo h n u n g s m a r k t i n B e r l i n

    Der Senat hat die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt jahre-lang ignoriert. Erst 2012 hat der Senator fr Stadtentwicklung, Michael Mller, Manahmen auf den Weg gebracht, die den Anstieg der Miete bremsen sollen. Es ist zu bezweifeln, dass diese Manahmen den Zugang der Empfnger sozialer Trans-ferleistungen zum Wohnungsmarkt nachhaltig erleichtern. Selbst die Sozialmietquote im Mietbndnis des Senats mit den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften hilft einem Hartz-IV-Empfnger kaum zu einer Wohnung, wenn 55 Prozent der Haushalte Anspruch auf einen WBS haben. Angesichts der Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt mssen sowohl Zwangsrumungen und Aufforderungen, die Kosten fr Un-terkunft und Heizung zu senken, sofort ausgesetzt werden. Wer keine andere Wohnung findet, kann auch nicht umziehen Die Manahmen des Berliner Senats werden den Anstieg der Zahl wohnungsloser Menschen bestenfalls bremsen.

    Fa z i t

    Herbergen auf Zeit werden in Berlin dringend bentigt. Die Politiker sorgen dafr, dass das so bleibt. Leider!

    Auch dieser Obdachlose htte gern ein Dach ber dem Kopf

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 5

    ZeitqualittWohl dem, der den Moment zu genieen wei.B E T R A C H T U N G : A n d r e a s P e t e r s

    ber die Zeit haben sich schon viele Ge-lehrte aus physikalischer und philoso-phischer Sicht Gedanken gemacht. Doch Formeln, die von Physikern, wie Einstein in diesem Zusammenhang aufge-stellt wurden, sind fr Laien ebenso schwer zu verstehen wie philosophische Abhandlungen zum Thema.

    Ich selbst denke bei dem Begriff Zeit in ers-ter Linie an jene, die ich am Handgelenk trage und die mich morgens zum Aufstehen ntigt. Anders verhlt es sich, wenn ich an eine schne, oder schwierige Zeit denke. Das eine ist analog und technisch, das andere hat mehr mit dem subjektiven Empfinden zu tun. Das eine ist ein Hilfsmittel, um den Alltag zu organisieren, das andere facettenreich wie der Mensch selbst. Die Erfahrung von Zeitqualitt hat viele Gesichter.

    S c h n e Ze i t s c h w i e r i g e Ze i t

    Die hinter uns liegende Weihnachtszeit und der Neujahrswechsel liefern hierfr viele Beispiele. Dazu gehrt das In-der-Schlange-stehen im Supermarkt, wo jede Minute gefhlt das Dop-pelte an Zeit kostet. Dann das vorweihnachtli-che Gefhl, dass mir fr die Vereinbarung und Umsetzung von vielen verschiedenen Aufgaben einfach viel zu wenig Zeit bleibt. Die Zeit, die ich zwischendurch versuchte, zum Verweilen, Beobachten, Staunen oder Genieen zu nutzen, hat sich in dem Bemhen, Berufliches und Pri-vates zu verbinden, oft schnell verbraucht. Ich war jedenfalls froh, dass ich nicht noch, wie viele andere, an den Festtagen arbeiten musste. Wh-rend sie im Krankenhaus, bei der Bahn, in der Gastronomie und an vielen anderen Orten ihren Dienst ausbten, konnte ich mich auf die Besin-nung vor dem Weihnachtsbaum konzentrieren. Was im Sinne von Zeitqualitt als wichtig und wertvoll angesehen wird, entscheidet allerdings jeder fr sich selbst.

    Ze i t & A s t ro l o g i e

    Einen anderen Aspekt von Zeitqualitt, den ich sehr interessant finde, bietet die Sichtweise der Astrologie. Besonders dann, wenn eben nicht Glck und Wohlstand, sondern materielle Not, Mangel, gesellschaftliche Unruhen und Umbr-che oder Schicksalsschlge unser Leben bestim-men. Wir leiden darunter oder knnen es nutzen fr Vernderungen. Beides macht aber erst ein-mal Angst. Die Astrologie ist in solchen Situati-onen seit Jahrhunderten ein gefragter Ratgeber. Und sie kann mit ihrem Blick in die Sterne helfen, Mglichkeiten und Begrenzungen der Zeitquali-tt aufzuzeigen. So heit es aktuell in einschlgi-gen Internetforen, dass sich bis 2015 aufgrund einer kritischen Sternenkonstellation (Pluto/Ura-nus Quadrat) fr viele Menschen die einmalige Chance bietet, das zu tun, was sie schon immer gerne tun wollten, um eine unbefriedigende Situ-ation endlich zu beenden. Andererseits wurden in der Vergangenheit unter dieser Konstellation Kriege angezettelt. Mit Blick auf die aktuellen Unruhen in der Ukraine, Thailand, Trkei und gypten bin ich jedenfalls geneigt, diesen Zu-sammenhang durchaus als mglich zu erachten.

    Ve rg a n g e n h e i t G e g e n w a r t Zu k u n f t

    Zeitqualitt ist fr mich als Sozialarbeiter im beruflichen Umfeld natrlich auch ganz konkret fassbar. Professionelle klagen darber, dass sie aufgrund des steigenden Verwal-tungsaufwandes immer weniger Zeit fr die Betroffenen haben, whrend die Betroffenen mit ihrer vielen Zeit im-mer weniger anfangen knnen, zumal, wenn sie krperlich und psychisch nicht mehr in der Lage sind, einer geregel-ten Arbeit nachzugehen. Manches mal relativiert sich diese Auffassung, wenn ich mit den Menschen zusammen komme und feststellen muss, dass die meisten sich vor der Gegen-wart, dem Verweilen im Augenblick, ngstigen. Das Leben in der Gegenwart, das oft einfach nur unmenschliche und volle Leere ist, wird vermieden, wo es nur geht. Die Vergan-genheit (frher war alles anders), die Zukunft (wenn ich mal..., dann) wird oft zur Flucht. Ich stehe dann vor der nicht einfachen Aufgabe, die Gegenwart zu retten, als einzig mglichen Ansatzpunkt fr eine Vernderung, im Sinne von mehr Lebensqualitt.

    Ze i t & R i t u a l e

    Manchmal ist es auch ganz einfach. Wir alle kennen das. Wenn wir mit Begeisterung und Freude einer Sache nachgehen, zum Beispiel mit Freunden gemeinsam ein Spiel spielen. Je weniger dabei die Zeit eine Rolle spielt, umso schner wird sie. Auch Rituale helfen, im Alltag ungemein Zeitqualitt zu finden. Man denke nur an das gemeinsame Essen. Ebenso ergiebig in diesem Sinn kann die Umarmung eines geliebten Menschen oder die Liebkosung eines Haustieres sein. Wohl dem, der solche Momente anzunehmen und zu genieen wei.

  • 01 Obdachlose EU-Brger haben in aller Regel keinen Anspruch auf einen Wohnheimplatz (Foto: Jutta H.)

    02 Jahrelanger Alkoholkonsum kann zur Lhmung der Beine fhren (Foto: Antje Grner)

    03 Anlaufstelle fr osteuropische obdachlose Men-schen in Hamburg (Foto: Jutta H.)

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    strassenfeger | Nr. 1 | Januar 20146 | ZEIT

    Die VergessenenAuf Berlins Straen verelenden und sterben ob-dachlose Polen. Vor Jahren haben sie hier ein bes-seres Leben gesucht. Wirkliche Hilfe gibt es in Deutschland fr sie nicht, aber nach Polen wollen die meisten auch nicht zurckB E R I C H T : J u t t a H .

    Andrzej Fikus staunt nicht schlecht, als er im Sommer von einem Vertre-ter der polnischen Botschaft angeru-fen wird. Im Garten der polnischen katholischen Gemeinde in Berlin, heit es am anderen Ende der Leitung, zelte ein Pole, der bald sterben werde. Er, Andrzej Fikus, solle et-was tun. Erstaunlich, dass der Pfarrer der Ge-meinde gleich die polnische Botschaft anruft, denkt Fikus, der selber Pole ist und damals als Sozialarbeiter fr ein Projekt ttig ist, das sich um Wohnungslose aus den stlichen EU-Staaten kmmert. Erstaunlich auch, denkt Fikus weiter, dass der Konsul nicht wei, dass seine obdach-losen Landsleute in Deutschland fast keine An-sprche haben, keinen auf Unterbringung in einem Wohnheim, keinen auf ordentliche me-dizinische Versorgung und schon gar keinen auf einen Platz in einem Hospiz.

    Was er tun konnte, tat Fikus. Er sorgte da-fr, dass ein Arzt einer Wohnungslosenambulanz nach dem Mann, der mit Vornamen Marcin hie, 40 Jahre alt war und an den Sptfolgen jahre-langen Alkoholkonsums litt, schaute. Und un-tersttzte eine polnische obdachlose Freundin des Sterbenden, die den Mann versorgte. Eines Tages war dann das Zelt im Garten verschwun-den - Marcin war gestorben.

    Verglichen mit dem Tod vieler seiner ob-dachlosen Landsleute in Berlin hatte Marcin da-mit keinen schlechten Tod. Wie viele obdachlose Polen in der deutschen Hauptstadt leben, wie viele schon gestorben sind, das wei niemand. Eine Statistik gibt es in Berlin nicht einmal fr deutsche Obdachlose. Wissenschaftler aus ande-ren Lndern schtzen, dass in Oslo zehn Prozent der dortigen Obdachlosen Polen sind, in Mad-rid und London sollen es 20 Prozent sein. Meist sind es Mnner, die mit dem Beitritt ihres Lan-des zur EU 2004 ihr Land verlieen, um woan-ders Arbeit oder ein besseres Leben zu suchen. Gerade Berlin war nahe und die Hoffnungen gro. Manche Mnner arbeiteten schwarz oder als Scheinstelbstndige auf Baustellen, andere

    landeten sofort auf der Strae. Sie fanden sich wieder in den Nothilfeeinrichtungen fr Woh-nungslose, die bald mehr Auslnder aus den stlichen EU-Lndern versorgten als Deutsche. In der grten Berliner Notunterkunft macht ihr Anteil bis heute 60 bis 80 Prozent aus.

    U n g l a u b l i c h k a p u t t e L e u t e ko m m e n z u u n s

    Die Gesundheitslage vieler Wohnungsloser in Berlin sei schlecht, heit es seit einiger Zeit von Hilfsorganisationen. Im Dezember erffnete die Stadtmission eine medizinische Ambulanz, die sich insbesondere an nicht versicherte, obdach-lose Menschen aus den EU-Beitrittsstaaten rich-tet. Seit diesem Winter sind zudem einmal w-chentlich ein Arzt und eine Krankenschwester mit im Kltebus unterwegs. In der Bahnhofsmis-sion am Zoo werden Menschen mit krperlichen Behinderungen und Gehhilfen nicht mehr bevor-zugt hereinlassen es seien zu viele geworden, heit es. Unglaublich kaputte Leute kommen zu uns, sagt ein dortiger Mitarbeiter. Vielleicht ist es ja dieser Zeitraum von zehn Jahren, den ein menschlicher Krper Obdachlosigkeit und Sucht widersteht.

    Artur Darga ist ein sanfter Mann mit Pferde-schwanz. Seit vielen Jahren ist der 51jhrige Pole im Winter fr die Berliner Stadtmission abends und nachts im Kltebus unterwegs. Den Mann, den er an diesem Abend unter einem S-Bahn-Bogen am Hackeschen Markt aufsucht, kennt er seit Jahren. Der Mann hat eine schmale Ge-stalt, rtliches Haar und sitzt im Rollstuhl. Wie die meisten anderen Obdachlosen stellt er sich nur mit Vornamen vor. Sein Name ist Jacek, er ist Pole und spricht nur gebrochen Deutsch. Er ist angetrunken und lchelt permanent. 41 Jahre sei er alt, seine Tage verbringe er mit Bettelei, dem Sammeln von Pfandflaschen, dem Zusam-mensein mit polnischen Freunden. In Polen habe er vor Jahren als LKW-Fahrer gearbeitet, wegen bermigem Alkoholkonsums aber seinen Fh-

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    strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 7

    rerschein verloren. Er sei verheiratet, seine Frau lebe in Polen, auch ein Kind gebe es dort. Doch zurck dorthin will Jacek nicht, er sagt, erst msse er wieder auf die Beine kommen.

    Dieser Satz sei typisch, sagt Artur Darga. Viele der Polen, die in Berlin auf der Strae leb-ten, trauten sich aus Scham nicht zurck zu ihren Familien, htten jeden Kontakt abgebrochen. Sie hofften, das Ruder irgendwie doch noch herum-reien zu knnen, eine Arbeit zu finden, Geld mit nachhause zu bringen. Aber sie steckten zu tief in ihrer Sucht, der Weg hinaus sei zu weit.

    D a s , w a s e r m a c h t , i s t e i n e A r t S t e r b e b e g l e i t u n g

    Jacek kann seine Beine nur noch mhsam be-wegen. Der jahrelange Alkoholkonsum hat die Nerven seiner Beine zerstrt. Hochkonzentriert wirkt Alkohol als Gift. Polyneuropathie nennen Mediziner dieser Zerstrung von Nerven. So be-wegt sich Jacek im Rollstuhl durch die Gegend. Darga hat ihm den besorgt - er hat Kontak zu ei-nem Seniorenheim, das ausrangierte Rollsthle fr ihn aufhebt.

    Artur Darga hat ber die Jahre die Illusion verloren, Menschen wie Jacek helfen zu knnen. Er hat versucht, auf sie einzuwirken, ihnen ange-boten, ihnen einen Suchttherapieplatz in Polen zu besorgen oder sie zu ihrer Familie zurckzu-fahren. Er hat sich abgewhnt, wtend zu sein darber, zusehen zu mssen, wie die Mnner sich zu Tode trinken. Das, was er mache, sei vielfach eine Art Sterbebegleitung, sagt er. Er zhlt Na-men von Landsleuten auf, die inzwischen gestor-ben sind, die irgendwann nicht mehr da waren. Viele seien zu tief und zu lange in in ihre Sucht verstrickt, um das Ruder noch mal herumreien zu knnen oder zu wollen, sagt Darga. Zu hilf-reich sei der Alkohol auch dabei, durch den Tag zu helfen, die eigenen Sinne zu vernebeln, im Winter zu wrmen.

    Rafaels Haut ist fahl, sein dnner Krper verschwindet fast im Hochfunktionsbett des

    Krankenhauses. Rafael ist Pole, 38 Jahre alt, hat kurz geschorenes Haar. Seit zwei Wochen liegt er im Krankenhaus. In holprigem Deutsch erzhlt er von sich, Zahnlcken werden sicht-bar. Neben dem Bett steht ein Gehwagen. Der Grund, warum er krank sei, sei der Alkohol, sagt Rafael, das htten ihm die rzte erklrt. Seine Leber sei kaputt, zudem habe man ihm zwei Ze-hen amputiert, die seien abgefroren gewesen. In Polen hat Rafael vor Jahren bei der Post gearbei-tet. Als seine Frau sich von ihm scheiden lie, hat er angefangen zu trinken. Als er vor einigen Jahren nach Deutschland kam, wollte er damit aufhren und hier neu anfangen, sagt er, aber er sei damit gescheitert.

    Das Krankenhaus, das den Polen behandelt, zahlt dessen Behandlung aus eigener Tasche. Denn Rafael hat keine Krankenversicherung. Keine in Polen, weil er dort keinen Wohnsitz hat und keine in Deutschland, weil er hier kei-nen Anspruch auf Sozialleistungen hat. Doch in akuten Notfllen sind rzte und Krankenhuser gesetzlich verpflichtet, auch nichtversicherte Personen zu behandeln. Und diese Behandlun-gen hufen sich.

    D e n K r a n ke n h u s e r n b l e i b e n K o s t e n i n M i l l i o n e n h h e

    Aus einer Umfrage der Berliner Krankenhaus-gesellschaft unter 26 Berliner Krankenhusern geht hervor, dass sie durch die Behandlung nicht-versicherter EU-Auslnder auf Kosten in Milli-onenhhe sitzenbleiben. Die Krankenhuser stellten in der zweiten Jahreshlfte 2012 in 503 Fllen Antrge auf Kostenbernahme von Be-handlungen von EU-Auslndern bei den Berliner Bezirksmtern. Diese sind gesetzlich zur Kosten-erstattung der Notfallbehandlungen verpflichtet. Anfang 2013 hatten die Bezirksmter ganze fnf Prozent der Kosten erstattet. 46 Prozent waren abgelehnt, 49 Prozent noch nicht abschlieend entschieden worden. Das bedeutete, dass fr die-ses halbe Jahr die befragten Krankenhuser fr

    nicht versicherte Personen aus dem EU-Ausland offene Rechnungen in Hhe von knapp 1,5 Mil-lionen Euro hatten. Einige Stdte in Deutschland begegnen den hohen Zahlen obdachloser Polen mit soge-nannten Rckfhrungen. In Hamburg bei-spielsweise wurden im Rahmen des Projekts plata bereits mehrere Hundert Polen in ihr Heimatland zurckgefahren bzw. zahlte die Stadt die Rckfahrkarten.

    Auch Artur Darga hat Landsleute nach Po-len zurckgefahren. Circa zehn seien es gewesen, sagt er, in den Jahren 2009 und 2010. Er habe damals diejenigen ausgesucht, die keine Kraft mehr hatten, diejenigen, die sich aufgegeben hat-ten. Er organisierte ihnen einen Therapieplatz in Polen, besorgte fr sie einen neuen Pass in der polnischen Botschaft. Heute sieht er die soge-nannten Rckfhrungen nach Polen skeptisch: Fast alle Mnner, die er nach Polen gebracht hatte, sind nach einiger Zeit nach Berlin zurckgekehrt, auch diejenigen, die erfolgreich ihre Suchtthera-pie durchgestanden hatten. Zurck in Berlin ha-ben die Mnner wieder angefangen zu trinken. Einige von ihnen sind inzwischen gestorben.

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 20148 | ZEIT

    Was vom Tage brig bleibtGedanken zum Verhltnis von Arbeit und FreizeitB E T R A C H T U N G : J e a n n e t t e G i e r s c h n e r

    Um sechs Uhr klingelt der Wecker, dann schnell in die Kche und Kaffee aufset-zen. Whrend der durchluft, springe ich unter die Dusche und wecke da-nach die Kinder. Nach dem gemeinsamen Frh-stck bleibt noch ein wenig Zeit frs Zusammen-sein. Sind die Kinder aus dem Haus, erledige ich ein paar Sachen im Haushalt oder schreibe ein paar Zeilen. Kurz vor halb neun fhrt meine Straenbahn zur Arbeit und zehn Stunden sp-ter bin ich wieder zuhause. Abwaschen, Wsche waschen, Hausaufgaben und Abendbrot nehmen weitere ein bis zwei Stunden in Anspruch. Da ist nicht viel, was vom Tage brig bleibt.

    Fre i z e i t ?

    So oder so hnlich geht es vielen Menschen. Die freie Zeit, die neben Arbeit, Familie und Haus-halt bleibt, scheint verschwindend gering. In keinem anderen europischen Land wird mehr gearbeitet als vertraglich vereinbart. Viele Ar-beitnehmer nehmen unerledigte Arbeit mit nach Hause oder sind per Mail oder Smartphone je-derzeit fr den Chef erreichbar. Dagegen belegen Statistiken, dass die Deutschen im Vergleich zu den 1990er Jahren durchschnittlich 0,6 Stunden mehr Freizeit haben.

    Dem Duden nach ist Freizeit die Zeit, in der man seinen Hobbys nachgeht oder Freunde trifft, also weder arbeitet noch Verpflichtungen nachgeht. Adorno und Eisler sehen Freizeit so-gar als die Zeit, in der sich der Mensch erholen muss, um wieder mit vollen Krften der Arbeit zur Verfgung zu stehen. Freizeit steht demnach nicht den individuellen Interessen zur Verf-gung, sondern ist ein zustzlicher Bestandteil der Arbeitszeit.

    Fe i e r a b e n d a d !

    Die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben wird seit Jahren durch flexible Arbeitszeitmodelle, Heimarbeit, Schicht- und Bereitschaftsdienst und einem falsch verstandenen Loyalittsgefhl verwischt. Die Zunahme von Erschpfungszu-stnden, Burnout und psychischen Krankheiten zeigt, dass viele Menschen den Stress der Arbeit mit nach Hause nehmen. Arbeitsaufgaben wer-den durch technische Hilfsmittel und Personal-abbau komplexer und mssen in weniger Zeit erledigt werden, sodass der eigentliche Feier-abend immer mal wieder zeitlich nach hinten rckt. Dazu kommt ein gerade bei Start-Up-Fir-men gern beschworenes Familiengefhl, mit dem jedem Einzelnen suggeriert wird, dass alle sich unheimlich wohl im Bro fhlen und gern solange arbeiten, bis die Arbeit erledigt ist. Der klassische Feierabend verliert an Bedeutung.Soziale Kontakte zu pflegen fllt vielen zuneh-

    mend schwer - wenn man nicht gerade zusam-menarbeitet, hat jeder andere Arbeitszeiten, seinen Haushalt und Familie unter einen Hut zu bringen. Um dem aus dem Weg zu gehen, entwi-ckeln sich zumeist Freundschaften mit Kollegen, die ja die gleiche Arbeitszeit haben. Damit wie-derum schleicht sich fter als ntig die Arbeit in die eigentliche Freizeit, da man mit seinen Kolle-gen-Freunden auch beim Bier in der Kneipe mal mehr oder weniger ber die Arbeit redet.

    A r b e i t s z e i t v e r s u s Fre i z e i t

    Hat sich das Verhltnis von Arbeitszeit zu Frei-zeit im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten ge-ndert? Arbeiten wir mehr und haben weniger Zeit fr die Dinge im Leben, die einen Ausgleich zur Arbeit schaffen? Den Statistiken zufolge ar-beiten wir mehr als andere Europer und haben gleichzeitig mehr Freizeit. Logisch klingt das nicht, da ein Tag wie vor 10, 20 oder 50 Jahren immer noch 24 Stunden hat. Ergo schlafen wir weniger, nutzen mehr Stunden vom Tag als Ar-beiter vor 20 Jahren und haben daher mehr Zeit fr uns. Das mag nun jeder sehen, wie er mchte. Verpflichtungen gegenber der Familie, stei-gende Lebenshaltungskosten und persnliche Interessen schrnken auf ganz unterschiedliche Weise das selbstbestimmte Verhltnis von Arbeit und Freizeit ein.

    Die Grenze zwischen Arbeit und Privatle-ben ist dabei so ntig wie die Luft zum Atmen. Es entscheidet ein Jeder selbst, wo er diese Grenze zieht und wie er seine arbeitsfreie Zeit verbringt. Die Basis fr ein ausgeglichenes Ar-beit-Freizeit-Verhltnis ist das Wissen, wie man sich erholt und dass man arbeitet, um zu leben, nicht umgekehrt.

    Arbeitszeit versus Freizeit (Foto: Jeannette Gierschner)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 9

    Zeit in der LiteraturEmpfehlungen zum Thema Z U S A M M E N G E S T E L L T : R e d a k t i o n

    1. MARC WITTMANN: Gefhlte Zeit Kleine Psychologie des Zeitempfindens Verlag C. H. Beck, 12, 95 Euro

    Gefhlte Zeit bestimmt unsere Entscheidungen im Alltag: Sollen wir auf den Aufzug warten oder die Treppen nehmen, stelle ich mich jetzt in die Schlange oder komme ich spter wieder? konomische Fragen sind zeitabhngig: Soll ich mein Geld langfristig anlegen oder fr mein Traumauto ausgeben? Gefhlte Zeit bestimmt aber auch unser Verhltnis zum lterwerden: Auf einmal spren wir, dass wir nicht mehr der junge Mensch sind, fr den wir uns immer hiel-ten. Mit Erschrecken bemerken wir, dass mit zunehmendem Alter die Zeit immer schneller vergeht. Unsere Erfahrung von Zeit sagt etwas ber uns selbst aus. Der Leser erfhrt, wie unser Gehirn wirklich tickt und wie wir zu unserem Gefhl von zeitlicher Dauer kommen. Er lernt, dass der Umgang mit der Zeit fr Erfolg im Le-ben wichtiger ist als etwa der IQ.

    2. TILL ROENNEBERG: Wie wir ticken Die Bedeutung der Chronobiologie fr unser Leben DuMont Buchverlag, 9,99 Euro

    Stimmung, krperliches Befinden, Arbeitsab-lufe, Lernfhigkeit: Unsere innere Uhr beein-flusst unser Leben vielfltig. Der Chronobiologe Till Roenneberg zeigt, dass uns der persnliche Biorhythmus bereits in die Wiege gelegt ist und seine Missachtung weitreichende Folgen hat. Viele Menschen leben permanent im Jetlag, denn unser innerer Schlaf-Wach-Rhythmus stimmt nur selten mit gesellschaftlichen Zeitplnen berein. Warum steckt der jngere Kollege die Schichtarbeit besser weg als ich? Warum fallen mir bei einer Abendgesellschaft fast die Augen zu, wenn alle anderen noch feiern? Weshalb macht uns die Sommerzeit jedes Mal wieder zu schaffen? Und warum kann schlechtes Timing in der Ehe auch etwas mit der Chronobiologie zu tun haben? Anhand von 24 amsanten und ver-stndlichen Fallbeispielen gibt uns Roenneberg Antworten auf diese und andere Fragen rund um unsere innere Uhr und pldiert frs Umdenken!

    3. MICHEL BAERISWYL: Chillout: Wege in eine neue Zeitkulturdtv Mnchen, 14,32 Euro

    Die Tempoexzesse der Industriegesellschaften fhren in eine konomische, kologische, poli-tische, soziale und psychologische Sackgasse. Wir sind zu einer Nonstoppgesellschaft gewor-den, in der rund um den Globus produziert und kommuniziert wird - je schneller, desto besser.

    Das Lob der Langsamkeit als Gegenmelodie anzustimmen, reicht nicht aus. Verlangsamung ist blo die leisere Stimme jenes mchtigen Chors, dessen wahre Hymne die Herrschaft ber die Zeit ist. Eine neue Zeitkultur besteht somit nicht im simplen Reflex des machtvollen Griffs zur Bremse als vielmehr in der Bereitschaft, die Eigendynamik der Natur zuzulassen und sich auf die Abstimmung zwischen natrlichen und kul-turellen Rhythmen und Eigenzeiten einzulas-sen. Es gilt, den Zeitskalen kologischer, sozialer und psychischer Systeme nachzuspren, um ein-gebettete Zeitmae fr menschliches Handeln zu finden. In dieser Analyse unseres Umgangs mit der Zeit widmet sich Michel Baeriswyl so-wohl den naturwissenschaftlichen als auch den kulturellen und psychologischen Konsequenzen desselben. Er verbindet aktuelle wissenschaftli-che Fakten mit der Kenntnis der jngsten Zeit-trends wie beispielsweise den Chillout-Rooms der Techno-Jnger.

    4. ROBERT LEVINE: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen Piper Taschenbuch, 9,99 Euro

    Die Auffassung von Zeit ist relativ und flexibel, so der Wissenschaftler Robert Levine. In seinem Buch macht er uns bewusst, dass das Zeitgefhl eines Kulturkreises tiefe Konsequenzen fr das psychische, physische und emotionale Wohl ei-nes Individuums hat. Er beschreibt Uhr-Zeit als Gegensatz zu Natur-Zeit (Rhythmus von Sonne und Jahreszeiten) und Ereignis-Zeit (Strukturierung der Zeit nach Ereignissen) und macht uns deutlich, dass wir, wenn wir uns dieser drei Zeitauffassungen bedienten, ein wesentlich flexibleres und ausgeglicheneres Leben genieen knnten. Levine prsentiert uns ein aufschluss-reiches, erhellendes Portrt der Zeit; eines der wenigen Bcher, die uns ffnen und uns lehren, das alltgliche Leben aus einer anderen Perspek-tive zu betrachten und ganz neu zu berdenken.Quelle: Verlage Karikatur: OL

    Cover (Quelle: Verlage)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 201410 | ZEIT

    Zeit der AngstMein Problem mit dem Besuch beim ZahnarztB E R I C H T : C a D a

    Jeder Mensch hat fr spezielle Dinge seine Zeit. Einige Menschen gehen mit einem Krimi ins Bett, andere wiederum sehen vom selbigen aus gern TV. Dies sind fr viele ange-

    nehme Dinge des Lebens. Aber es gibt ja auch die unangenehmen Dinge, und manche dieser Dinge machen Menschen eben Angst. Es gibt z. B. Menschen, die vor einem Zahnarztbesuch riesige Angst haben, obwohl sie ihre Zhne tglich zwei Mal mindestens putzen. Nehmen wir mal mich als Beispiel. Als ich in der zweiten oder dritten Klasse war, war es blich, als schulische Vorsorge ein oder zwei Mal im Schuljahr zur Untersuchung beim Kinder- und Jugendzahnarzt zu erscheinen. Wer in der ehemaligen DDR gro geworden ist, wird dies noch kennen. Ich war also eigentlich gut und grndlich versorgt. Aber, man kann durch Vererbung ein Zahnproblem haben, oder man ist halt doch nicht so grndlich in diesem Bereich. Oder man hatte einen Fahrradunfall und verlor dadurch ein paar Zhne. Egal warum, hat man ein Zahnproblem, muss man zum Arzt. Und wie gesagt, da gibt es ngste. Deswegen ist es schn, dass es Zahnrzte gibt, die sich auf Patienten mit ngsten spezialisiert haben.

    D i e L e b e r i s t s c h u l d !

    Eigentlich braucht man ja keine Angst vor dem Zahnarzt zu haben, meinen manche Menschen. Da stimme ich ihnen zu. Allerdings gibt es auch Umstnde, die zu einer extremen Angst fhren knnen. Bei mir war es ein Essen in der Schule, mit dem es anfing. Es gab gebratene Leber, fra-gen Sie mich aber bitte jetzt nicht, mit welcher Beilage und so weiter, dafr ist es schon zu lange her. Die Leber war an dem Tag so lange gebraten worden, dass man das Gefhl hatte, man kaue auf einer alten Schuhsohle herum. Bei mir drehte sich rechts und links oben je ein Backenzahn, so fhlte es sich zumindest an. Ich teilte dies meiner damaligen Klassenlehrerin und am spten Nach-mittag dann zu Hause auch meiner Mutter mit. Als am nchsten Morgen die Schmerzen immer noch nicht verschwunden waren, machte sie ei-nen Termin beim Kinder- und Jugendzahnarzt.

    B o h re n t u t w e h !

    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie Angst vor einer Zahnbehandlung, doch an diesem Tage sollte sich alles ndern. Ich ging als groer Junge, wie mich meine Mutter damals nannte, also allein dorthin. Die Zahnrztin kannte ich ja schon von den Vorsorgeuntersuchungen. Ich musste rauf auf den Behandlungsstuhl, und sie muss auch

    schnell etwas gefunden haben, denn sie zog mir die genannten Zhne, allerdings ohne Betubung und so, dass die Zahnwurzeln dabei abbrachen. Wie sich spter bei weiteren Extraktionen von Zhnen zeigte, neigen meine Zhne dazu, dies immer beim Ziehen zu tun. Jedes Mal mssen die Zahnwurzeln dann ausgebohrt werden. Was das fr ein Gefhl ist, kann sich sicher jeder denken.

    I c h b i n j a n i c h t w e h l e i d i g , a b e r

    Es wre vielleicht noch zu erwhnen, dass ich, bevor ich in die Schule kam, zu einer Spezialun-tersuchung an Berlins grter Universittsklinik musste. Dort erwischte ich bei einer Blutent-nahme eine sehr junge rztin, die mein Blut ha-ben wollte, aber an den blichen Stellen keines bekam, da ich unter Rollvenen leide. Sie nahm mir mit sechs Jahren Blut aus der Halsschlagader ab, ein schockierendes Erlebnis. Seitdem ist bei mir ab der Schulter Kopf aufwrts alles Sperrge-biet, na ja der Frisr darf schon noch ran, das tut ja nun wirklich nicht weh. Obwohl

    Wenn Sie das alles nun in Betracht ziehen, dann wissen Sie, wie es mir jedes Mal im Warte-raum des Zahnarztes ergeht. Mir wurde gesagt, ich wr nur ein leichter Fall. Meine Angst vor dem Zahnarzt ist nur ein Beispiel fr die Zeit der Angst. Aber, denken wir doch mal zurck an un-sere Kindheit, abends allein im Dunkel der Nacht vor dem Einschlafen oder wenn man im Winter im Dunkel an einem Friedhof vorbei gehen muss. Zeiten der Angst gibt es eben viele in unserem Leben, sei als Kind oder als Erwachsener.

    Zahnarztbesuch: Fr viele Menschen tatschlich Zeit der Angst! (Foto: Wikipedia/U.S. Navy Photo by Tom Watanabe)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 11

    Kinder, wie die Zeit vergeht ber die Wahrnehmung der Zeit B E R I C H T : M a n f r e d W o l f f

    Die vier Wochen vor dem Heiligen Abend neh-men Kinder als unertrglich lang wahr. Tglich steigt die Ungeduld, die Quengelei nimmt zu und angesichts der nicht enden wollenden Zeit bis zur Bescherung ist auch das Liedchen Mor-

    gen, Kinder, wirds was geben kein wirklicher Trost.

    Fr die Erwachsenen verluft diese Zeit diametral anders. Es gibt so vieles zu erledigen, was nicht ber den 24. Dezember hinaus aufgeschoben werden kann, dass die Vorweihnachts-zeit zu einer wahren Hetzjagd wird. Die Tage verfliegen im Nu, und bei all der Eile bleibt am Heiligen Abend statt eines feierlichen Essens nur Zeit fr Wrstchen mit Kartoffelsalat.

    Eine solche unterschiedliche Wahrnehmung von Zeit kennen wir auch aus dem Alltag. Das Warten in der Schlange an der Kasse des Supermarkts kommt uns wie eine kleine Ewigkeit vor, obwohl es in Wirklichkeit nur ein paar Minuten sind. Be-fragt man Leute, wie lange das Beladen des Einkaufswagens dauerte und wie lange sie an der Kasse standen, wird die ers-tere Zeit unterschtzt, die letztere malos berschtzt. Wie kommt es zu diesen Tuschungen?

    Der wichtigste Grund dafr liegt in der Tatsache, dass der Mensch ber kein Organ zur Zeitwahrnehmung verfgt. Er kann seine Welt sehen, ihre Gerusche hren und differen-ziert wahrnehmen, er kann schmecken und fhlen, warm und kalt unterscheiden ein Zeitorgan fehlt, und das, wo doch Zeit fr den modernen Menschen ein sehr wichtiger Faktor ist.

    Zeitliche Ablufe ergeben sich aus dem Erleben von nach-einander stattfindenden Ereignissen. Wie lange etwas zu dauern scheint, hngt von der Vielfltigkeit des Erlebten ab. Ereignisreiche Zeiten werden als kurz empfunden, eben kurz-weilig, ereignisarme als schrecklich lang, also langweilig. Im Kino macht man sich diese Wahrnehmungsmuster zu Nutze. Das Zerhacken einer Handlung in zahlreiche Cuts lsst den Film als spannend und handlungsintensiver erscheinen. Un-glckliche Redner sind gut beraten, wenn sie in ihren Vortrag knstliche Ereignisse einbauen, die nicht unbedingt etwas zum besseren Verstndnis beitragen, wohl aber die Zuhrer davor bewahren, in die Langeweile abzugleiten. Powerpoint-Prsentationen sind die Meisterschaft dieser Vortragstechnik.

    Soweit Vorgnge eine intensive geistige Ttigkeit erfordern, erfolgt die Zeitwahrnehmung umgekehrt. So vergeht die Zeit bei Problemlsungen scheinbar sehr langsam. Leute, die sich in gefhrlichen Situationen befanden, die im Rhythmus von weniger als einer Sekunde immer neue Lsungsstrategien zur Rettung verlangten, berichten, dass ihnen die in Wirklichkeit sehr kurze Zeit sehr lang vorkam. Mit zunehmendem Alter, wenn die meisten Ttigkeiten routiniert und ohne groen Neuigkeitswert ablaufen, keine geistigen Anstrengungen ab-verlangen, wird eine Beschleunigung des Zeiterlebens beob-achtet. Rentner haben nie Zeit.

    Dass die Menschen sich berhaupt den Kopf zerbrechen, was es mit der Zeit auf sich hat, liegt an der Flchtigkeit der Zeit, des Erlebens eines zeitlichen Ereignisses. Zum Augenblicke drft ich sagen: Verweile doch, du bist so schn, schreibt Goethe im Faust. Dieser Augenblick dauert nur 30 Millise-kunden in unserer Wahrnehmungsfhigkeit, danach versinkt er in den unendlichen Weiten der Vergangenheit bzw. treibt in die unbekannten Weiten der Zukunft. Beide Erlebnissituatio-nen verlaufen unkontrollierbar, sind nicht steuerbar. Gestern bleibt Geschichte, Morgen ist immer wieder ein Geheimnis und nur Heute, der Augenblick ist ein Geschenk, das wir, wenn auch kurz, genieen knnen. Alle gut gemeinten Rat-schlge fr ein erfolgreiches Zeitmanagement ndern nichts daran.

    Wie schnell unsere Zeit vergeht, kann keine Uhr messen. Die physikalische Zeit und ihre Verweltlichung in der Uhr berhren unser Zeitempfinden, das hchst individuell und situationsbedingt ist, nicht. Sie zwngen uns lediglich in ein Zeitschema und belasten uns mit Schuldgefhlen. Gott hat die Zeit geschaffen, der Teufel den Kalender.

    Zeit der AngstMein Problem mit dem Besuch beim ZahnarztB E R I C H T : C a D a

    Kinder, wie die Zeit vergeht! Nationalbibliothek Wien (Foto: www.onb.ac.at)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 201412 | ZEIT

    Bewegung im Raum = ZeitZeit ist, was verhindert, dass alles auf einmal passiertB E T R A C H T U N G : B e r n h a r d t

    Seit vielen Jahrhunderten bemhen sich Wissenschaftler darum, vor allem Phi-losophen, Theologen und Physiker, das Wesen der Zeit zu ergrnden. Offenbar ohne nennenswerten Erfolg. Dem Kirchenvater Augustinus (354-430) fiel laut web nichts Bes-seres ein als der Scherz wenn niemand mich danach fragt, wei ich es, will ich es aber ei-nem Fragenden erklren, wei ich es nicht. Der US-amerikanische Physiker John A. Whee-lers (1911-2008), Professor an der berhmten Princeton-Universitt, kam zu der verblffen-den Aussage, die der Verfasser als Untertitel verwendet hat: Zeit ist, was verhindert, dass alles auf einmal stattfindet. Auch hiermit ist keine positive Erkenntnis gewonnen, sondern es wird nur eine Folge ausgeschlossen: ver-hindert, dass alles auf einmal passiert. Das ist im Grunde selbstverstndlich, weil es der natrlichen Logik entspricht. Diese Aussage hat einen hnlichen berraschungseffekt wie die Pointe in einem Kabarett. Der Volksmund hat sich der Frage ebenfalls angenommen und kluge Sprche formuliert: Kommt Zeit, kommt Rat. Die Zeit heilt alles. Der Mensch ist an Raum und Zeit gebunden (was brigens auch die Philosophen beschftigt). Das Zeitliche segnen; usw.

    Dabei ist das Problem ganz einfach durch unbe-fangene Naturbeobachtung zu lsen. Dann wird man feststellen, dass Zeit etwas Naturgegebenes ist und die Menschen sich nur auf eine Methode verstndigen mussten, die Zeit zu messen und bereinstimmend zu benutzen. Ausgangspunkt ist das Naturgesetz der Bewegung, das fast im-mer bersehen wird. Dies hat der Verfasser be-reits in der letzten Ausgabe des strassenenfeger in dem Beitrag Prinzip Hoffnung. Lebenstrieb und Naturgesetz der Bewegung ausgefhrt. Al-les bewegt sich immer und berall. Panta rhei heit es bei dem griechischen Philosophen Hera-klit (535-475 v. Chr.): Alles fliet.

    Bewegung bedeutet Ortwechsel; hat also zu tun mit Raum. Eine Person bewegt sich von Ort A nach Ort B. Betrachtet man die Bewegung in Bezug auf die rtlichkeit, kommt man zwangs-lufig zu dem Begriff Zeit, also zu dem Mastab, der diese Bewegung zeitlich erfasst, (und zu dem Begriff Strecke, also zu dem Mastab fr die entfernungsmige Erfassung). Denn man kann nicht gleichzeitig an beiden Orten sein; logisch (siehe Wheelers). Zeit ist also automatisch be-teiligt, wenn sich etwas in einem Raum bewegt, etwas ndert. Zeit ist deshalb naturgegeben, weil sich wie gesagt alles immer und berall bewegt: Naturgesetz der Bewegung. Was als selbstver-

    stndlich im tglichen Leben gar nicht mehr wahrgenommen wird, hat in der Wirklichkeit eine berragende fundamentale Bedeutung fr die gesamte Schpfung.

    Auf welchen Mastab zur Messung der Zeit man sich verstndigt, damit in einem sozialen Ver-band die Kommunikation zwischen den einzel-nen Mitgliedern erleichtert wird, ist im Grunde egal, sollte aber praktischerweise an einer leicht mess- und nachvollziehbaren Realitt orientiert sein. Hier bietet sich die Erdrotation an, die Dre-hung der Erde um ihre eigene Achse, die einen Tag und eine Nacht dauert. Diese Spanne hat man in 24 gleiche Abschnitte unterteilt, genannt Stunden. Das entspricht ebenfalls praktischen Erwgungen, denn die Zahl 24 ist durch viele Zahlen ohne Rest teilbar: 2, 3, 4, 6, 8 und 12. Das sind viel mehr als bei der Zahl 10, die nur durch die Zahlen 2 und 5 ohne Rest teilbar ist und die man in Anlehnung an die 10 Finger der beiden Hnde sonst gern in zum Messen verwen-det (Dezimalsystem).

    Als Messgert hat man Uhren erfunden, die mehr oder weniger genau gehen und mehr oder weni-ger lange halten. Quarzuhren gehen besonders genau. Wegen geringfgiger astrophysikalischer Schwankungen der Erdumdrehung wird, den technischen Fortschritt nutzend, die Zeit neu-erdings mittels einer Atomuhr mit hchster Ge-nauigkeit gemessen. Fr Deutschland ist dazu die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig zustndig.

    Wenn der Mensch das Zeitliche segnet, gilt auch im Jenseits das Natur- und Schpfungsgesetz der Bewegung. Ein Ortswechsel von A nach B ist mglich. Welcher Art Raum und Zeit dort sind, wo es ja keine irdische Materie, also Grobstoff-lichkeit, gibt, sondern etwas Leichteres von fei-nerer Stofflichkeit oder von materieloser Ener-gie, vermag der Verfasser nicht zu beantworten. Folgt man dem Neuen Testament (2. Petrus Kap. 3 Vers 8), luft die Zeit dort viel schneller als auf der Erde. Denn es heit dort: Ein Tag vor dem Herrn ist wie tausend Jahre, und tausend Jahre wie ein Tag.

    Dem entsprechen Erkenntnisse der Schlaffor-scher, wonach die reale Dauer eines Traumes nur wenige Sekunden betrgt, whrend die Episode, die im Traum wie ein Film abluft, sich ber ei-nen viel lngeren Zeitraum erstreckt. Im Traum gelten also andere Zeitmastbe. Das liegt daran, dass im Schlaf, wenn die Krperfunktionen wie Herzschlag, Kreislauf, Blutdruck usw. reduziert sind, sich die quasi-magnetische Verbindung

    zwischen Krper und Seele lockert. Die Seele kehrt vorbergehend ein wenig in das Jenseits zurck, zu ihrer Ausgangsstation, und unterliegt dort dem anderen Zeitsystem. Deshalb sagt der Volksmund zu Recht: Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes.

    Heraklit, lgemlde von Hendrick ter Brugghen (1628) (Quelle: Wikipedia)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 13

    Hoch lebe der Miggang! Miggang ist nicht aller Laster AnfangB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    Miggang ist das Aufsuchen der Mue, das entspannte und von Pflichten freie Ausleben, nicht die Erholung von be-sonderen Stresssituationen oder krper-lichen Belastungen. Er geht zum Beispiel mit geistigen Genssen oder leichten vergnglichen Ttigkeiten einher, kann jedoch auch das reine Nichtstun bedeuten. Das habe ich im Internet-lexikon Wikipedia erfahren.

    I s t M i g g a n g a l l e r L a s t e r A n fa n g ?

    Miggang ist aller Laster Anfang, sagt der Volksmund. Der Miggang wird von vielen Menschen mit Faulheit oder Trgheit gleichge-setzt. Im Christentum galt Miggang gar als eine der sieben Hauptlaster. Andererseits: M-iggang war lange Zeit ein Privileg des Adels, der Oberschicht sowie der Geistlichkeit. Dabei wurde er aber nicht mit Faulenzen gleichgesetzt, sondern verbunden mit der Beschftigung von Kunst, Musik, Literatur und Bildung.

    Q u a l i t t d e s M i g g a n g s

    Felix Quadflieg ist Begrnder des Vereins zur Frderung des Miggangs. Er nimmt sich jeder-zeit das Recht auf Faulheit heraus. Er lebt nicht, um zu arbeiten, sondern arbeitet generell, um zu leben. Er arbeitet gerade soviel, dass er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann und fhlt sich

    damit zufrieden und glcklich. Deshalb fordert Quadflieg auch die Einfhrung des bedingungslo-sen Grundeinkommens. Er ist der Meinung, dass das wahre Leben, Glck und Erfllung jenseits der Arbeit liegen. In der Antike galt die Mue noch als erstrebenswertes Gut. Sokrates z. B. be-schreibt sie als Schwester der Freiheit. Diese Einstellung nderte sich erst mit dem Christen-tum. Seit dem Beginn der Industrialisierung aber gilt: Das Glck gehrt dem Tchtigen! Qua-dflieg will dies widerlegen, Er ist der Meinung, dass die Gesellschaft eine bessere, glcklichere und vertrglichere wre, wenn man weniger die fremdbestimmte Maloche und mehr dem selbst-bestimmten Miggang frnen wrde.

    brigens: Die Menschheit war immer dann besonders kreativ, wenn es darum ging, Arbeit zu vermeiden. Gutenberg hat den Buchdruck erfunden, weil ihm das Abschreiben der Bcher zu langwierig war. Carl Benz hatte einfach keine Lust mehr, zu Fu zu gehen, und tftelte so lange, bis er das Auto erfunden hatte. Quadflieg ist sich einfach sicher, dass es sich gut lebt, ohne ber-mig viel zu arbeiten. Ich stimme dem zu. Das Leben wrde mit der Einstellung: Ich arbeite, um zu leben! eine ganz andere Qualitt bekom-men. Diese Vernderung der Einstellung zu den Themen Arbeit und Miggang in unserer Ge-sellschaft kme einer Revolution gleich und wre gleichzeitig das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Denn dann knnten viel mehr Menschen Arbeit

    bekommen. Es wrde auf kulturellen Gebieten wie Musik, Literatur, Theater und in den Wis-senschaften und Knsten einen immensen Auf-schwung geben, weil viel mehr Menschen sich ihren knstlerischen bzw. wissenschaftlichen Neigungen widmen knnten.

    R e i h n a rd M e y : A l l e re n n e n

    In seinem Song Alle rennen beschftigt sich der Liedermacher Reinhard Mey mit dem Thema Miggang und deutet indirekt auch dessen Vorzge an:

    Alle laufen, alle schnaufen,alle hampeln,alle strampeln, alles regt sichund bewegt sich ringsumher:Immer schneller, immer hher, immer weiter, immer mehr

    Und ich, ich mchte einfach nur im Gras rumsitzen.Die Ameise den Krmmel tragen sehnund Eidechsen die ber Mauerritzenflitzen sehn,Libellen, die still bern Tmpel stehn,die Kellerassel mit ihren dnnen, kleinen Beinen,die ihren schweren Leib nach Hause schleppt.Joggen? Jetzt lieber nicht und Fitnessdrink auch keinen

    und keinen der mein altes Fahrrad zum Bike aufpeppt!

    Dolce far niente, Gemlde von John William Waterhouse (Quelle: Wikipedia)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 201414 | ZEIT

    Astro-TVSpiritualitt mit der Lizenz zum GelddruckenB E R I C H T : G u i d o F a h r e n d h o l z

    Dem Seinen gibts der Herr im Schlaf und hufig zu den fragwrdigsten Momenten. Bei irritierenden Interpretationen und nicht selten fatalen Folgen ist hier nicht die Rede von einer Bewusstseinserweite-rung whrend einer durchzechten Nacht oder vom Sekunden-schlaf am Steuer eines Autos. Die Kausalitt von der Handlung des Individuums und den realen ueren Umstnden wre dabei ja unstrittig. Whrend so mancher Tippelbruder oder bernchtigter Verkehrsteilnehmer vllig kostenfrei mehr als nur einen Schutzengel beansprucht, boomt im nchtlichen TV-Brei das Geschft mit der Spiritualitt auf Rechnung, vorzugs-weise der Telefonrechnung.

    E i n B e i s p i e l

    Ein netter lterer Herr sitzt an seinem Tisch, neben sich eine Buddha-Statue, und legt unaufhrlich Karten, vermengt sie wieder, um gleich darauf die nchste geometrische Figur mit diesen zu bilden. Dabei redet er fast ununterbrochen mit an-genehm sonorer Stimme, wenn auch erstaunlich betonungs-arm und ausdruckslos.

    Stephan G. Schulz: Ich winke ihnen einfach mal zu. Hallo Frau M.

    Frau M.: Ja okay, Dankeschn.

    Frau M., was mchten sie den wissen? Was haben sie? Wo drckt sie der Schuh?

    hmjawo mich der Schuh drckt? Na ja im Allge-meinen, sag ich mal.

    S. G. S.: Aha! Hmm! Also Frau M., das Gesundheitshaus gefllt mir aber gar nicht bei ihnen. Ich habe bei ihnen die gesamte Wirbelsule als schmerzhaften Bereich. Das heit, die Bandscheiben mssen ihnen arg zu schaffen machen und auch die Hftgelenke. Frau M., da kommt in den nchsten zwei Jahren eine Hft-Operation auf sie zu! Frau M., des Weiteren habe ich hier eine Vernderung ihrer Lebenssitua-tion, in ihrem Wohnraum. (Ungekrzter Dialog aus dem laufenden Programm von Astro-TV)

    R e i n e G l a u b e n s s a c h e

    Entweder ist dieser Mann ein Genie, in Doppelbeschftigung beteiligt an Gesundheitsreformen, als Einrichtungsberater t-tig oder er ist ein gewissenloser Seelenverkufer. Das Geschft mit dem Terror haarstrubender Wahrsagungen und billiger Trivialitten wird oft Beratung oder gar Therapie genannt. Die Qualifikation dieser Lebensberater ist formell gesehen reine Glaubenssache. Marktfhrer des Segments ist Astro-TV, mit einer Lizenz der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb) fr ganz normales Fernsehen. Bleibt die Frage, ob eine angebliche Lebensberatung, zudem mit teils schwerwiegen-den Inhalten wie dem oben zitierten Dialog, noch wirklich unter der Definition normales Fernsehen zu verantworten ist. Inzwischen gibt es nach eher halbherzig gefhrten Gespr-chen zwischen den Betreibern von Astro-TV und der mabb eine Moderatoren-Selbstverpflichtung: Den Moderatoren ist es untersagt, zu den Themen Tod und lebensgefhrliche Krankheiten zu beraten. Das gilt insbesondere fr Feststel-

    lung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Krperschden. Ist eine avisierte Hft-OP jetzt nur noch ein Gesundheitstipp?

    A l l e i n 2 0 1 1 r u n d N e u n z i g M i l l i o n e n E u ro U m s a t z

    Per Zufallsgenerator wird bei Astro-TV darber ent-schieden, wer mit seinem Orakel verbunden wird. Kassiert wird von jedem Anrufer 50 Cent, ein eintrgliches Salr. Wer nicht durchkommt, kann fr nur zwei Euro in der Mi-nute einen Telefontermin vereinbaren oder auf die anderen nicht weniger pseudospirituellen Angebote zurckgreifen, die pausenlos durch Bild flimmern. Das Format Astro-TV ist das Schaufenster einer ganzen Esoterik-Industrie. Questico z. B. rhmt sich in seiner Selbstdarstellung Deutschlands erfolgreichste Plattform fr esoterische Le-bensberatung zu sein. Beide Unternehmen agieren weitaus weniger unabhngig, als man annehmen knnte. Mutter-schiff ist die Berliner adviqo AG, deren Hauptaktionr ein vollkommen irdischer internationaler Finanzinvestor ist. Allein 2011 machte dieser rund neunzig Millionen Euro Umsatz. Inzwischen ist auch der Horoskop-Anbieter viver-sum unter den Finanzflgel der adviqo AG geschlpft. Spirituelle Unabhngigkeit sieht sicherlich anders aus.

    B r s i a n e r g l a u b e n n i c h t a n d i e K r i s t a l l k u g e l

    Spiritualitt gibt es seit Menschengedenken. Die gewerbs-mige Wahrsagerei ist ein handelbares Produkt oder auch eine Dienstleistung und das schon seit Jahrtausenden. Handlesen, Eingeweide- und Opferschau, Vogelflug und Sterndeuten gehren zum illusionistisch unterhaltenden Handwerk. Die Kommerzialisierung mit TV-Ausstrahlungen in Webportalen und shops ist dagegen weniger ein Quali-ttsmerkmal als vielmehr ein diffuses Massenphnomen mit hoher Renditegarantie.

    Screenshot (Quelle: Autor)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 ZEIT | 15

    Die Geburt des SuperpennersDer Superpenner-Comic war eine Idee von kreativen Menschen der Werbe-agentur Scholz & Friends in Berlin. Ein Gesprch mit Stefan Sohlau ber die Entstehung.I N T E R V I E W : B o r i s N o w a c k

    strassenfeger: Wie kam es zu der Idee fr einen Comic fr eine Straenzeitung?

    Stefan Sohlau: Eine Agentur wie unsere arbeitet aus un-terschiedlichen Motivationen heraus. Zum einen weil man mit der Arbeit Geld verdienen mchte. Und dann gibt es Projekte, die einem am Herzen liegen. Der Superpenner ist so etwas. Der strassenfeger, der ja Menschen dabei hilft, sich selbst zu helfen, ist eine untersttzenswerte Sache. Das kann man durch eine Werbekampagne frdern, oder durch zustzliche Inhalte, um den Verkauf anzukurbeln. Wir wollten etwas machen, was man von so einer Zeitung gar nicht erwartet, indem man ein komplett anderes Medium besetzt, eben ein Superhelden-Co-mic.

    Wie lange hat es gedauert von der Idee bis zur Fertigstel-lung?

    Stefan Lenz hatte vor drei Jahren die Idee dazu. Er hat den Comic selbst ber etwa ein Vierteljahr immer abends oder in seiner Freizeit geschrieben und gezeichnet. Normalerweise stemmt man so etwas fr einen Auftraggeber in zwei, drei Monaten. Dass es hier bis zur Vollendung drei Jahre gedauert hat, liegt daran, dass wir viele Leute gewinnen mussten, die auch ohne Honorar arbeiten, der Druck des Heftes musste finanziert werden, ebenso die Kampagne.

    Der Superpenner ist ein wahres Potpourri an Comics. Die Berliner Stars Didi und Stulle kommen ebenso vor wie eine Referenz zu Asterix und Obelix mit dem am Baum gefessel-ten MC Fitti als Barde. Was war die Vorlage fr Stefan Lenz?

    Orientiert hat sich Stefan an den 60er Jahre Marvel Co-mics aus den USA, an klassischen Superhelden wie Superman und Spiderman. Das erkennt man auch an der Lautmalerei.

    Wen mchtet Ihr mit dem Comic ansprechen und was mch-tet Ihr erreichen?

    Die Zielgruppe ist sehr breit, deswegen haben wir ein so populres Format gewhlt. Das findet ein 14-Jhriger ebenso toll wie die etwas lteren. Wir sprechen alle Berliner an, genau wie der strassenfeger, und haben deswegen eine Superhelden-Story gewhlt. Das Ziel ist es, die Berliner fr den strassen-feger zu begeistern, deshalb auch der starke Lokalkolorit und die vielen Klischees. Die Straenzeitungs-Verkufer sieht je-der mindestens dreimal am Tag, aber die wenigsten kaufen ein Blatt. Wir wollten einen zustzlichen Anlass schaffen, dass die Leute die Zeitung kaufen. Im Idealfall ist das die Initialzn-dung und sie kaufen sie regelmig.

    Sind denn der Titel Superpenner und die vielen Klischees ber Obdachlose nicht etwas provokant?

    Darber haben wir lange nachgedacht. Der Superpen-ner ist schon eine sehr plakative aber auch selbstbewusst ironische Art, die Geschichte zu erzhlen. Klar spielen wir

    hier mit Klischees, und der Zaubertrank ist dann auch noch Bier. Trotzdem ist er der Held. Wir haben Obdachlosen beim strassenfeger und auf der Strae von der Idee erzhlt und alle fanden es lustig. Es ist berhaupt nicht politisch korrekt aber dadurch unterhaltsam. Auerdem kriegt jeder sein Fett weg. Von der Prenzlauer Berger komutti ber den unhflichen Busfahrer bis zu Wowi, der einen Veranstaltungskalender liest.

    Obdachlose werden von manchen Brgern angefeindet, eben weil sie angeblich nur Bier trinken, keine Superkrfte besitzen und unntz sind. Kann so ein Comic daran etwas ndern?

    Im schlimmsten Fall wird das Problem komplett ignoriert. Wer Obdachlose in der S-Bahn als Verkufer nicht beachtet, denkt auch nicht daran, dass sie abends im Freien schlafen mssen. Alles was zu ffentlichkeit fhrt, um sich mit dem Thema zu beschftigen, hilft den Obdachlosen. Wir sehen den Comic gewissermaen als Trojanisches Pferd.

    Was gehrt auer dem Comic noch zur Kampagne?Es gibt eine Plakatkampagne mit fnf Motiven mit Ob-

    dachlosen, die wir auf der Strae gecastet haben. Auerdem einen Kinospot, der mit Hilfe des Yorck Kinos fr zwei Wo-chen in Berlin auf 23 Leinwnden laufen wird.

    Wo wird es den Superpenner geben?In der BZ gibt es ausschnittweise Vorabdrucke als Appe-

    tithappen, aber wer den ganzen Comic lesen will, muss den strassenfeger kaufen.

    Ist eine Fortsetzung geplant?Toll wre es, wenn es in Paris den Superclochard oder

    in New York den Supertramp geben wrde. Im besten Fall wird Berlin der Referenzfall fr dieses Projekt. Die Story und Superhelden funktionieren in jeder Stadt, wenn man den Lo-kalkolorit anpasst. Bestenfalls finden sich in anderen Stdten Leute oder Agenturen, die das machen und denen wir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das ist aber noch Zukunftsmusik.

    Bild aus dem Comic (Foto Scholz&Friends)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 201416 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    01 Jzef Szajna, Berlin 2007

    02 Jzef Szajna, Hftling Nr. 18729

    Seid bitte aktiv!Der polnische Knstler und KZ-berlebende Jzef Szajna und seine Reminiszenzen an die Opfer T E X T & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Am 29. Januar 2007 besuchte Jzef Szajna Berlin, wo in dem alten Gebude der polnischen Bot-schaft Unter den Linden seine Ausstellung Hrt das noch jemand? Zur Condition Humaine nach Auschwitz gezeigt wurde. Vierhundert Leute

    kamen, um den Knstler und seine von den Erfahrungen des Todes gezeichnete Kunst zu sehen. Das Publikum hrte ihm gebannt zu, als er auf Deutsch, das er im KZ Auschwitz, seiner ersten Universitt, gelernt hat, erklrte: Mit meiner Kunst zahle ich fr mein Leben und meine Freiheit. Whrend meiner Jugend, die ich in den Lagern Auschwitz und Buchen-wald verbrachte, war der Tod allgegenwrtig. Man lebte mit dem Tod, man ging mit dem Tod schlafen, man wusste, dass man vernichtet wird. So etwas bleibt nicht ohne Spuren, fliet in meine Kunst ein. Er schmte sich lange Zeit dafr, die Hlle berlebt zu haben. Diese Hlle war auch das Haupt-thema seiner unter die Haut gehenden Kunst: Verkrppelte Mannequins, aus deren Kpfen und Mndern Schluche he-rausragen, Stapel von Schuhen und anderen Habseligkeiten, die den Kindern, Erwachsenen und Alten vor dem Tod in den Gaskammern abgenommen wurden der seiner Identitt be-raubte Mensch als Rohstofflieferant im industrialisierten und brokratisch perfektionierten Prozess des Mordens.

    D e r M e n s c h w i rd e i n e N u m m e r

    Der Zweite Weltkrieg beendete das unbekmmerte Leben des knstlerisch begabten und sportbegeisterten Jungen, der am 13. Mrz 1922 in der sdostpolnischen Stadt Rzeszw zur Welt kam und in einer behteten brgerlichen Familie aufwuchs. Was ihm bevorstand, war ein fnf Jahre anhalten-der Albtraum. Mit siebzehn wurde Jzef Szajna Untergrund-kmpfer, betrieb Sabotage gegen die deutschen Besatzer, flchtete vor der Gestapo nach Ungarn und wurde auf dem Weg dorthin 1940 in der Slowakei verhaftet. Nach Aufenthal-ten in verschiedenen Gefngnissen stand ich schlielich im Angesicht der Welt, die den Namen trug: Arbeit macht frei. Es war das Konzentrationslager Auschwitz. Hier wurde alles metaphysisch: Gewalt und Grueltaten, Heldentum und Auf-opferung. Wir fgen uns zu einem Archipel der menschlich-unmenschlichen Psychen zusammen, wenn der Mensch eine Nummer wird, eine nichts bedeutende Zahl 18729, schrieb er in seinen Erinnerungen. Nach einem Fluchtversuch im Sommer 1943 wurde Jzef Szajna zum Tode verurteilt und in einem fensterlosen Stehbunker (90 x 90 cm) gefangen ge-halten. Das Todesurteil wurde jedoch nicht vollstreckt, und im Januar 1944 berstellte ihn die SS nach Buchenwald, ins

    Auenlager Schnebeck, wo er in Junkers Flug-zeug- und Motorenwerken Zwangsarbeit leisten musste. Als die Hftlinge am 11. April 1945 auf den Todesmarsch geschickt wurden, gelang ihm die Flucht.

    Ve r w i r k l i c h t e V i s i o n e n

    Bis 1947 lebte Jzef Szajna in einem Lager fr Displaced Persons in Haren an der Ems in der bri-tischen Zone, wo er Abitur machte. Dann kehrte er nach Polen zurck, wo er an seiner zweiten Universitt, der Akademie der Schnen Knste in Krakau, Grafik und Bhnenbild studierte. Seine Visionen vom Gesamtkunstwerk konnte er auf der Bhne verwirklichen. Seit Mitte der 1950er Jahre sorgte er, zuerst als Bhnenbildner, dann bis 1966 als Direktor des Teatr Ludowy (Volkstheater) in Nowa Huta bei Krakau, ei-ner aus dem Boden gestampften sozialistischen Stadt, mit seinen theatralischen und skulpturalen Inszenierungen fr groes Aufsehen. Anfang der 1970er Jahre nahm er eine Professur an der Aka-demie der Schnen Knste in Warschau an. Zum Intendanten des Teatr Klasyczny (Klassischen Theaters) berufen, nderte er dessen Namen in Teatr Studio, baute das Schauspielhaus im eins-tigen Josef-Stalin-Kulturpalast zu einem offenem Theater um, wo die Grenzen zwischen der Bhne und dem Zuschauerraum verschwanden, wofr er von der polnischen Kritik zum Teil heftig ange-griffen wurde. Er war Dramaturg, Bhnenbildner und Regisseur in einer Person. Seine multimedi-alen Auffhrungen, unter anderem Replika I, Replika II, Replika III, Paniktheater, Cer-vantes und Dante, zeigten eine kurz vor dem Abgrund stehende oder vom Untergang nur einen Schritt entfernte mechanisierte Welt. Obwohl er auch in der Volksrepublik Polen hohes Ansehen genoss, bewahrte er stets eine unbeugsame Hal-tung. So verzichtete er 1982 aus Protest gegen die Ausrufung des Kriegsrechts auf seine Professur und Intendantur.

    E r s c h t t e r n d e s E n v i ro n m e n t

    Sptestens seit Anfang der 1970er Jahre war J-

    01

    02

  • T I P P

    Jzef Szajna: Kunst und Theater, Hrsg. von Ingrid Scheurmann und Volkhard KniggeWallstein Verlag, Preis 29 Euro

    www.wallstein-verlag.de/9783892445975.html

    www.auschwitz.org

    www.buchenwald.de

    strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

    03 Paniktheater, Installation (Fragment), 1971-1972

    04 Spiegelung, Collage (1970)

    05 Himmelsleiter, Polnisches Skulpturenzentrum Orosko

    zef Szajna ein Kultregisseur und ein internatio-nal anerkannter Knstler. 1970 zeigte er auf der Biennale von Venedig sein monumentales und erschtterndes Environment Reminiszenzen, den im KZ Auschwitz ermordeten Professoren der Krakauer Universitt und Knstlern gewid-met, unter denen sich Ludwik Puget befand. Pu-get stammte aus einer franzsischen Familie, die Anfang des 18. Jahrhunderts in der polnischen Adelsrepublik ein neues Zuhause fand. Der am 21. Juni 1877 in Krakau geborene Baron Ludwik Puget studierte Skulptur und Kunstgeschichte zuerst in seiner Heimatstadt, danach in Paris. Seit 1907 arbeite er als Satiriker, Puppenbauer und Schauspieler mit dem legendren Krakauer Kabarett Zielony Balonik (Grner Luftballon) zusammen. Er war auch Kunstkritiker und Pub-lizist. Von 1918 bis 1925 lebte er in Frankreich, wo er zum Kavalier der Ehrenlegion geschlagen wurde. Nach der Rckkehr nach Polen war er zuerst Kustos des Stadtmuseums in Posen, dann bis 1939 Bhnenbildner des Theaters Cricot in Krakau. Als Bildhauer, Maler und Zeichner war er vor allem fr seine Bsten und Portrts von Knstlern und Schriftstellern, aber auch fr seine Tierskulpturen berhmt. Whrend des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Kellner in ei-nem Krakauer Knstlerrestaurant und war im Untergrund ttig. Deshalb wurde er verhaftet, ins KZ Auschwitz verschleppt und dort am 27. Mai 1942 erschossen. Sein letztes in Auschwitz gemaltes Bild war das Portrt eines Hundes.

    S i l h o u e t t e n u n d S c h a t t e n

    Reminiszenzen, die das Sammlerehepaar Johnson aus Essen auf der Biennale von Venedig 1970 erwarb, gehren heute zur Sammlung der Gedenksttte Buchenwald. Ludwik Pugets Hft-lingsfoto, das Jzef Szajna nach dem Krieg im Archiv des Staatlichen Museums Auschwitz-Bir-kenau fand, steht berlebensgro im Zentrum der Reminiszenzen. Die klugen und ruhigen Augen des Adeligen, Knstlers und Kosmopo-liten Puget blicken unerschrocken und direkt anmehreren Stellen der begehbaren, 100 Quadrat-meter groen Installation: Die gestreifte abgetra-

    gene Hftlingsuniform tut der Wrde, die sein ed-les Gesicht ausstrahlt, keinen Abbruch. Er bleibt auch in dieser schrecklichen und menschenver-achtenden Lage ein aufrechter Mensch. Fataler-weise behalten wir aus der Zeitgeschichte nur die grten Mrder in Erinnerung Hitler vergisst man nicht. Wer aber kennt die Opfer?, sagte 2002 der Autor der Reminiszenzen im Ge-sprch mit Ingrid Scheurmann, der Mitherausge-berin des Buchs Jzef Szajna Kunst und Thea-ter. Der in Auschwitz ermordete Ludwik Puget ist fr den Auschwitz-berlebenden Jzef Szajna so etwas wie ein Mahnmal geworden. Hier wird der Mensch des 20. Jahrhunderts portrtiert. Fr mich ist das der Hftling, das Opfer schlechthin, was brigens so viel heit wie: die Nummer, der uniformierte Mensch. Die Fortsetzung der Re-miniszenzen waren Silhouetten und Schatten eine Hommage an Ludwik Puget und andere KZ-Hftlinge, von denen nur die Fotos, keine Namen, briggeblieben sind.

    S e i d b i t t e a k t i v !

    Der am 24. Juni 2008 in Warschau verstorbene Jzef Szajna hielt in seiner Kunst die Erinnerung an die Grueltaten des Nationalsozialismus und Totalitarismus wach. Doch auch die Gegenwart und Zukunft der Welt betrachtete er mit groer Sorge. Als sensibler Mensch und prziser Be-obachter machte er seine Zeitgenossen darauf aufmerksam, dass wir gegenwrtig erneut der Gefahr der Uniformierung, einem Prozess der Gleichmacherei und Anonymisierung unterlie-gen. Jeder ist heute eine Nummer, nicht nur der Hftling.. Um von dieser Situation abzulenken, werden die Schwachen gegen noch Schwchere ausgespielt, rcksichtlose Populisten feiern Triumphe, weil sie genau wissen, was man den gleichgeschalteten Massen auftischen muss: ei-nen gemeinsamen Feind, den es mit allen Mit-teln zu bekmpfen gilt. Hrt das noch jemand? Das Schrecklichste ist der Hass nach dem Hass, der Krieg nach dem Krieg, die Verachtung nach der Verachtung, so Jzef Szajna im zitierten Gesprch. Beten und Kerzen anznden ist zu wenig. Seid bitte aktiv!

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  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 201418 | TAUFRISCH & ANGESAGT Ve r k u fe r

    Das war supi!Frank Zanders 19. Weihnachtsessen fr Obdachlose & Bedrftige B e r i c h t : r . W e r n e r F r a n k e

    Bereits zum 19. Mal in Folge veranstal-tete der Musiker und Entertainer Frank Zander sein groes Weihnachtssessen fr Obdachlose und arme Menschen. Rund 2 800 Menschen hatte sich Frank am 23. Dezember in den Festsaal des Estrel Conven-tion Center eigeladen, um mit ihnen znftig Weihnachten zu feiern. Jeden einzelnen Gast begrte er persnlich mit einem Handschlag und lie seine Gste dabei seine Herzenswrme spren. Allerdings war Frank schlielich froh, als alle Gste im Saal waren, denn die rechte Hand schmerzte ihm durch das krftige Hn-deschtteln ganz ordentlich. 200 ausgewhlte Helfer_innen hatten den Saal zuvor weihnacht-lich herausgeputzt, die groen, runden Bankett-Tische mit Tannenzweigen, Weihnachtsgebck und Kerzen festlich geschmckt.

    3 2 0 0 G n s e ke u l e n u n d 7 5 0 K i l o R o t ko h l

    Das vielleicht Wichtigste bei dieser Feier war wie immer der Weihnachtsschmaus: Innerhalb von 45 Minuten hatten alle Besucher_innen ihre Gnsekeule mit Rotkraut und Kndel vor sich stehen und konnten so richtig reinhauen. 3 200 Gnsekeulen und 750 Kilo Rotkohl wur-den dabei verdrckt! Die Hotelkche hatte die gespendeten Gnsekeulen schon vormittags im Ofen geschmort, auerdem bereiteten die Kchen-Mitarbeiter 8 000 Kndel vor. Bunte Teller mit kleinen Weihnachtsleckereien gab es natrlich auch.

    M u s i k v o n S e e e d , L o u B e g a u n d Fr a n k Z a n d e r

    Im Anschluss an das Essen gab es ein groes musikalisches Bhnenprogramm. Opener war die Gruppe Seeed mit ihrem Frontmann Peter Fox. Dabei kam natrlich prchtige Stimmung auf. Die Gste konnten fr ein paar Stunden lang ihr Sorgen und Nte vergessen. berall sah man man in entspannte und frhliche Gesichter. Viele Gste nutzten die tollen Service-Angebote whrend der Feier wie beispielsweise den kos-tenlosen Friseurbesuch. Auch die vielen Kinder kamen voll auf ihre Kosten. Sie konnten reich-lich gespendete Spielsachen freudestrahlend mit nach Hause nehmen.

    Natrlich wurden dann auch noch Ge-schenke verteilt. Es gab Weihnachtstten, die ge-fllt waren mit Spekulatius, gerucherter Wurst, aber auch warmen Einlegesohlen und Schals, Kosmetika und einer Hertha-BSC-Thermotasse.

    N u r n a c h H a u s e

    Um 19:30 Uhr schlielich war das Finale angesagt. Der H-hepunkt war wie immer Frank Zanders berhmter Song Nur nach Hause Alle Helfer fanden sich auf der Bhne ein, um den Gsten schne Weihnachten zu wnschen und sie zu verabschieden bis zum zwanzigsten Gnsekeulen-Essen im nchsten Jahr. Einhelliger Tenor der Gste: Das war supi! Andere meinten: War mal wieder spitzenmig! bzw. Wie er das immer wieder hinkriegt! Die Stimmung war friedlich, es gab kaum Gedrnge oder Geschubse, kaum Gepbel. An dieser Stelle auch von mir und den Mitarbeiter_innen und Gsten von mob e.V. bzw. den Verkufer_innen des strassen-feger ein dickes Lob den Veranstaltern und Organisatoren, den Helfern sowie den zahlreichen Sponsoren, ohne die dieses schne Fest gar nicht mglich gewesen wre.

    Frank Zander begrt jeden Gast persnlich

    (Foto: r.Werner Franke)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 Ve r k u fe r

    Ehrenamtliche Helfer ausgebremst!Obdachlosen-Weihnacht von Frank Zander Prestige-Projekt fr Promis & Reiche?R E P O R T : A s t r i d B a t y

    Montag, der 23.Dezember 2013. Es ist sieben Uhr morgens vorm Est-rel-Hotel. Ich warte mit 15 anderen freiwilligen Helfer_innen am Tor 2, dem Eingang zum Convention Center des Hotels darauf, dass wir reingelassen werden. Wir wol-len als ehrenamtliche Helfer_innen bei der Weih-nachtsfeier von Frank Zander arbeiten. Bis acht Uhr kommen immer mehr Menschen an. Einige stellen sich etwas abseits, andere kommen zu un-serer Gruppe. Kurz nach 8 Uhr kommt Markus Zander, der Sohn von Frank Zander und Organi-sator der Feier, durchs Tor. Kurz darauf erfahren wir von den Sicherheitsbeamten, dass nun der Einlass fr die Helfer_innen beginne, allerdings nur fr diejenigen die ein Bndchen haben.

    In diesem Moment fhrt ein Auto vor. Der Fahrer spricht eine Frau aus unserer Gruppe an und be-kommt gesagt, dass die Strae hinunter noch ein Parkplatz sei. Auch das beobachte ich: Vier Leute, die spter zu der Gruppe treffen, bringen Pullover mit und berreichen sie einigen Menschen in der Gruppe. Dann kommt Markus Zander und erklrt noch einmal, dass nur die Helfer, die Bndchen zugeschickt bekommen haben, auch ins Hotel ein-gelassen werden. Einige der Leute sagen ihm, dass sie im Sommer bereits angerufen und erklrt be-kommen hatten, dass es so sei wie jedes Jahr: Die Bndchen und T-Shirts fr die Helfer_innen wr-den im Hotel ausgegeben. Einige der Leute spricht Markus Zander mit Namen an, er kennt sie also. Dann wird gesprochen und diskutiert. Man sagt uns, wir sollten warten, vielleicht wrden wir ja noch eingelassen. Na ja, ich sollte ja einen Artikel schreiben wie es den Obdachlosen bei Frank Zan-der gefllt, nun interviewe ich doch mal die Leute, die mit mir warten:

    Drei Damen, die schon seit vier Jahren bei Frank Zanders Obdachlosen-Weihnacht helfen, erklren mir, sie htten in der Woche vor der Veranstaltung angerufen und gesagt bekommen: Es ist wie jedes Jahr. Kommt nur und Ihr erhaltet die Bndchen. Zwischendurch kommen einige Leute, zeigen ihre Bndchen und werden eingelassen. Oder rufen an, erhalten ein Password und dann ein Bndchen. Unter den weiter wartenden Helfer_innen ist ein Mann, der kommt extra aus Buch und mittlerweile das fnfte Jahr schon. Auch er hat im Sommer an-gerufen und deshalb kein Einlassbndchen. Er hat aber ein Bndchen fr die Feier, denn auch dort kommt man ohne Bndchen nicht rein. Eine ltere Dame kommt mit Rollator und stellt sich neben mich. Sie fragt, was los ist. Dann erzhlt sie mir, dass sie am Freitag zuvor bei Frank Zander ange-

    rufen und auch erklrt bekommen hat, die Bndchen fr die ehrenamtlichen Helfer wrden im Hotel ausgegeben.

    Inzwischen sind wieder einige Leute angekommen und im Convention Center verschwunden. Ein Herr aus Hannover, der mit einer Spende kam, erhielt nur nach Verhandlungen ein Bndchen ausgehndigt. Ich beginne zu grbeln: Wieso haben einige Leute Bndchen und den anderen sagt man, man brauche keines? Dann kommt Markus Zander noch mal zu uns und erklrt: Das Estrel-Hotel hat die Auflage gemacht, dass nur Helfer mit Bndchen ins Center gelassen werden. Das stand auf der Webseite und es wurde jedem, der anrief, mitgeteilt. Proteste brechen aus bei den Leuten, die mit mir dort stehen, auch die Frau mit dem Rollator sagt, niemand htte ihr das mitgeteilt. Markus Zander darauf: Jeder, der ein Bndchen von den Veranstaltern habe, knne zur Feier kom-men. Aber nur die 200 Helfer_innen, die auch die roten Helfer-bndchen htten, wrden vor der Feier ins Center eingelassen.

    Es ist inzwischen 9 Uhr und ich entschliee mich zu gehen, statt mir die Fe in den Bauch stehen. Nee, dazu habe ich keine Lust. Ich gehe mit der Dame mit dem Rollator zur Son-nenallee, um heimzufahren. Ich frage noch mal vorsichtig nach und erfahre von ihr: Sie arbeitet seit elf Jahren als ehrenamtli-che Helferin fr die Obdachlosen-Weihacht von Frank Zander.

    Um mal Klartext zu reden: Die Leute mit den rosa Helferbnd-chen waren entweder Promis oder Leute, die nicht gerade von Harz IV leben. Wie die Leute, die bei unserer Gruppe warteten und denen die Pullover mit Namen und Logo bergeben wur-den. Die Menschen, die mit mir dort standen und warteten, waren dagegen Rentner, Hartz IV Empfnger, Minijobber etc. Ich frage mich nun: Darf man bei Frank Zanders Feier nur noch Ehrenamtlicher helfen, wenn man Geld hat? Ich habe mir dann am Samstag darauf Frank Zanders Homepage im Internet ganz genau angeschaut. Dort stand nichts von den Bndchen, die man braucht, wenn man bei der Feier helfen will. Wird aus Frank Zanders Feier fr Obdachlose und arme Menschen ein Prestige-Objekt fr Promis und Reiche?

    Trotz kleiner Kritikpunkte: Es war wieder ein tolles Fest! (Foto: r.Werner Franke)

  • strassenfeger | Nr. 1 | Januar 201420 | TAUFRISCH & ANGESAGT S o z i a l

    Mit Glck und aus eigener KraftZwei optimistische GeschichtenB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Ende Oktober war ich als Teil einer kleinen Gruppe von Unter Druck- Kultur von der Strae e.V. gemeinsam mit Vertre-tern aus Budapest, Toulouse und Glas-gow im Rahmen des EU-Austauschprogramms Grundtvig in Namur und Lttich. Eingeladen hatten das Netzwerk ffentlicher Zentren fr Sozialhilfe (CPAS) bzw. der Stdte- und Ge-meindebund der Wallonie (UCVWS), dem fran-zsisch sprechendem Teil Belgiens. Neben der Besichtigung von Einrichtungen der Wohnungs-losenhilfe in beiden Stdten gehrten wie zuvor in Berlin und Toulouse Austausch und Gesprch zum Programm. In Belgien habe ich von zwei Ge-schichten erfahren, die Mut machen sollten.

    E i n E x p e r t e d e s E r l e b t e n e r z h l t

    Die politisch Verantwortlichen sind in Belgien auf die Idee gekommen, Obdachlose als Exper-ten in die Verwaltung zu holen: Experten des Erlebten. Ich kann nicht sagen, ob das fr ganz Belgien gilt oder nur fr die Wallonie. In Lttich hat Oliver Van Goethem ber seine Erfahrun-gen als Experte des Erlebten berichtet. Der obdachlose Oliver hatte von dem Vorhaben ge-hrt und sich beworben. Er kam nicht in die en-gere Auswahl. Deshalb fragte er nach, denn er erfllte ja die Voraussetzungen fr diesen Job. Er erhielt dann doch die Zusage als Experte des Erlebten zu fungieren. Eigentlich sollte Oliver nur noch seinen Arbeitsvertrag unter-schreiben. Aber er hatte wie viele Obdachlose keinen Ausweis. Er wusste zwar, dass er das Recht auf einen Ausweis hat. Die zustndige Behrde jedoch sah das anders. Er pochte auf sein Recht, beharrlich. Irgendwann erhielt er dann doch noch rechtzeitig seinen Ausweis und konnte seinen Arbeitsvertrag unterschreiben.

    Die Vorgesetzten und Kollegen wussten nicht, was er tun soll. So wurde er gefragt, wo-fr er sich einsetzen will. Mit der Antwort, er wolle dafr sorgen, dass Obdachlose einen Aus-weis erhalten knnen, wurde ihm gesagt: Wir haben doch das Gesetz, wo ist das Problem?

    Oliver Van Goethem musste nachweisen, dass die Obdach-losen Schwierigkeiten hatten, einen Ausweis zu erhalten. Er machte eine Umfrage. Ein Streetworker hatte dabei eine besondere Art der Untersttzung: Die Denunzierung als Seitenwechsler. Oliver war Angestellter, wollte aber etwas fr die Obdachlosen erreichen. Der Denunziant hat nur das Erste gesehen. Oliver hat mit seiner Beharrlichkeit dann doch nachweisen knnen, dass die Obdachlosen Schwierigkeiten hatten, einen Ausweis zu erhalten. Trotz Anspruch. Da hat er sich mit seiner Beharrlichkeit durchgesetzt.

    R e t t u n g f r e i n e Fa m i l i e i n l e t z t e n A u g e n b l i c k

    In Namur haben wir dann Luttes Solidarits Travail LST Namur besucht, eine Gruppe von Aktivist_innen mit einem selbst verwalteten Projekt. Frei bersetzt: Kampf fr soli-darische Arbeit. Als Industriestadt mit Metallverarbeitung, Maschinenbau, Porzellanindustrie ist Namur von den Folgen der Rationalisierung betroffen. Arbeitslosigkeit ist auch hier ein groes Thema. Arbeit anders denken, das ist die Antwort der Gruppe. Die Rume haben sie sich selbst genommen. Sie standen leer und wurden besetzt. Sie mussten um ihre Rume kmpfen. Inzwischen sind sie in Namur anerkannt. Sie ha-ben sich Respekt bei den Mitarbeiter_innen des stdtischen Friedhofs erarbeitet und knnen den LKW des Friedhofs nut-zen. Die offizielle Aufschrift der Stadt auf diesem LKW ist fr manche Aktion Gold wert. So auch bei der Geschichte, die uns Gustave von LST Namur erzhlt hat:

    E i n e p o s i t i v e G e s c h i c h t e v o n G l c k u n d e i g e n e r K r a f t

    Gustave wollte aus Namur weg und seine Frau hat ein bezahl-bares Haus gesucht. Sie schien ein geeignetes Gebude ge-funden zu haben und der Kaufvertrag wurde unterschrieben. Sie sind dann aber nicht in das Haus gezogen, das seine Frau besichtigt hatte. In dem neuen Domizil regnete es rein. Er reklamierte den Mangel, aber der Verkufer rhrte sich nicht. Irgendwann suchte er um Untersttzung beim Brgermeister nach. Der Brgermeister sah sich das Haus an und fand es unbewohnbar. Der Vorbesitzer blieb aber unbehelligt. Statt-dessen wurden er und seine Familie aufgefordert, das Haus wegen Unbewohnbarkeit binnen fnf Tagen zu rumen. In so kurzer Zeit war keine geeignete Bleibe zu finden. Und bei Ob-dachlosigkeit musste er frchten, von Amts wegen von seinen Kindern getrennt zu werden. In seiner Not hrte er von LST und trug vor der Rumung dem Plenum sein Anliegen vor. Es wurde beschlossen, ihm und seiner Familie zu helfen und sie in den Rumen von LST unterzubringen. Dank des LKW vom Friedhof mit seiner Aufschrift konnten die Aktivst_in-nen als offizielle Vertreter der Stadt die Trennung der Familie verhindern. Der Hausrat wurde aufgeladen und nach Namur gebraucht. Gustave engagiert sich seitdem bei LST. Er ist alkoholkrank, aber trocken. Er braucht eine Aufgabe, um tro-cken zu bleiben. Auch das ist eine positive Geschichte von Glck und eigener Kraft.

    Luttes Solidarits Travail LST Namur (Quelle: Autor)

  • I N FO & L I T E R AT U R

    www.riesengebirge.cz

    Frank Schttig: Das Riesenge-birge entdecken. Rbezahls Land an der tschechisch-polnischen Grenze mit Isergebirge und Adersbacher Felsen, Ausfl-gen nach Grlitz und Breslau sowie einem Wegweiser fr Wintersportler. Trescher-Reihe Reisen, Berlin 2002

    strassenfeger | Nr. 1 | Januar 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 S p o r t

    Ein langer Schlepplift ist nicht jedermanns Sache

    Kraft tankenWintersport im RiesengebirgeB E R I C H T & F O T O : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    pindlerv Mln ist das Zentrum des Wintersports im Riesengebirge (tschechisch: Krkonoe). Nur knapp fnf Autostunden von Berlin entfernt, ist es auch das Hausrevier vieler Hauptstdter. Hinzu kommt, dass das Preisniveau bezglich Unterkunft, Essen

    und Skipass dort doch noch erheblich gnstiger ist als in s-terreich, ganz zu schweigen von der Schweiz. Gerade zum Jahresende nutzen viele Berliner gern die freie Zeit, um im be-schaulichen Riesengebirge, Kraft fr das neue Jahr zu tanken.

    A l t e Pe n s i o n e n & n e u e H o t e l s

    Das Riesengebirge erstreckt sich an der Grenze zwischen Polen und Tschechien und hat mit der 1 602 Meter hohen Schneekoppe (tschechisch: Snka) seinen hchsten Gipfel. Die Anfahrt nach Spindlermhle, so hie der traditionsreiche Ort frher, fhrt ber die Autobahn Richtung Dresden, am Abzweig Bautzen gehts dann dann durch die Lausitz Rich-tung Zittau ins Dreilndereck. Nur wenige Kilometer fhrt die Strecke dann durch Polen, dann ist Tschechien erreicht. Die Grenzen sind flieend, nur ein paar Schilder erinnern da-ran, dass man von einem Land in ein anderes fhrt. Grenzkon-trollen Fehlanzeige! Im frheren Schlesien geht es vorbei an vielen stillgelegten Tuchfabriken und alten Fabrikantenvillen hinauf in die Berge. Im Skigebiet angekommen findet man neben neuen Hotels, schicken, teuren Privatvillen immer noch auch schne alte Pensionen. Einige davon sind genauso, wie man sich es vorstellt und auch wnscht: Altes dunkles Holz statt neumodischen Schnickschnacks. Mit knarzenden Trep-pen, hellhrig zwar, aber urgemtlich. Wenn man Glck hat direkt am Sessellift. Wenn man noch mehr Glck hat, gibt es ein Restaurant im Haus. Und wenn man ganz viel Glck hat, gibt es einen rhrigen Wirt, der dem Gast erst einmal einen Kruterschnaps und ein gepfl