Wandel - Ausgabe 09 2014 des strassenfeger

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  • 8/12/2019 Wandel - Ausgabe 09 2014 des strassenfeger

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    Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 9, Mai 2014

    KLEBRIGHach Sicker Museum(Seie )

    AUGENFLLIGAi Weiwei (Seie )

    SOZIALFes derBahnhofsmission

    (Seie )

    WANDEL

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    srasseneger | Nr. | Mai | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraenzeiung srassenegerwird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V.herausgegeben. Das Grundprinzip des srassenegeris: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srassenegerwird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-senegerbiee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie knnen selbs enschei-den, wo und wann sie den srassenegeranbieen. Die Verkuer erhaleneinen Verkuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau des srassenegersoziale Projeke wie die Nobernachung und den sozialen TreffpunkKaffee Bankrot in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhl keine saaliche Unerszung.

    Liebe Leser_innen,Vernderungen gehren zum Leben. Manch einer mag sie, mancheiner hasst sie. Es gibt da diese wunderbare, dialektische Ge-schichte von Bert Brecht ber den Herrn Keuner: Ein Mann, derHerrn K. lange nicht gesehen hatte, begrte ihn mit den Worten:Sie haben sich gar nicht verndert. Oh! sagte Herr K. und

    erbleichte. (aus Bertolt Brecht Das Wiedersehen) Wie man dar-aus ableiten kann, ist es einigen Menschen durchaus wichtig, sichzu verndern im Sinne von sich weiterzuentwickeln. Anderen istgenau das eben zuwieder. Vernderung oder Wandel betrifft abernicht nur uns Menschen, sondern natlich auch all die Dinge, dieuns umgeben, die Welt, in der wir leben. Nehmen wir zum Bei-spiel den Aufkleber, heutzutage auch gern Sticker genannt. DerAufkleber hat meist eine Botschaft eines Senders an einen odermehrere Empfnger zu bermitteln: Das sind Gre, politischeParolen, Werbung etc. Sticker werden heute geklebt und sindkurze Zeit spter schon nicht mehr aktuell. Sie werden berge-klebt oder abgerissen, sie vergilben oder bleichen aus. Allerdingsgibt es auch Sticker, die durchaus Sammlerwert haben und derNachwelt erhalten bleiben sollen. Einer, der genau dafr seit 30Jahren mit ganzem Herzen brennt, ist Oliver Baudach. Er fhrt in

    Berlin-Friedrichshain das weltweit einzige Sticker Museum Wirhaben Olli besucht und uns all die schrgen Geschichten rund umdie bunte Welt der Aufkleber erzhlen lassen (Seite 3).

    Der Alexanderplatz war Viehmarkt, Verkehrsknoten, Volks-platz. Seit Jahren soll er aufgehbscht werden, einen Master-plan gibt es dafr, doch dagegen regt sich Widerstand (Seite6). Grenzsteine fr die Ewigkeit? fragt unser Autor ManfredWolff auf Seite 8 und liefert die Antwort darauf in seinem Text.Wie das Telefon unsere sozialen Kontakte verndert, erfahrenSie auf Seite 7. Frher Stettin, heute Szczecin darum geht esauf Seite 10 und 11. Und wir stellen uns der Frage, ob frherwirklich alles besser war (Seite 14).

    In der Rubrik art strassenfegerrezensiert Urszula Usakowska-Wolff auf den Seiten 16/17 diesmal die Ausstellung Evidence

    von Ai Weiwei im Martin-Gropius-Bau. Monumente eines Mr-tyrers berschreibt sie ihren Text seien Sie gespannt! Auer-dem berichten wir ber das wunderbare Fest der Bahnhofsmis-sion am Zoo (Seite 26). Den Kickern von Hertha BSC gratulierenwir ganz herzlich zum Klassenerhalt. (Seite 28).

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    WANDELOliver Baudachs Hach Sicker Museum

    Alexanderplaz im Wandel

    Teleon vernder Kommunikaion

    Grenzseine r die Ewigkei?Poliiker knnen Umsrze nich verhindern

    Von Setin nach Szczecin

    Eine Bahnahr, die is lusig

    Die Idealisierung der Vergangenhei

    Mach der Gewohnhei

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    TAUFRISCH & ANGESAGT

    a r t s t r a s s e n f e g e rMonumene eines MryrersDie Aussellung Evidence von Ai Weiwei

    im Marin-Gropius-Bau

    V e r e i n

    Einkauen im Sozialwarenkauaus

    V e r k u f e r

    Ale Heima, was wurde nur aus Dir?

    B r e n n p u n k t

    Pari: Guachen zur sozialen Lage

    K u l t u r t i p p s

    skurril, amos und preiswer!W o h n e n

    Bndnisse r Wohnen au Bezirksebene

    s t r a s s e n f e g e r r a d i o

    Sauersoffmangel in der Ossee

    S o z i a l

    Fes der Bahnhosmission am Zoo

    S p o r t

    Herha BSC die graue Maus

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e r

    Neue Mieobergrenzen

    K o l u m n e

    Aus meiner Schnupfabakdose

    V o r l e t z t e S e i t e

    Leserbriee, Vorschau, Impressum

    PS: Ab sofort findet Ihr uns auch auf Twitter unter@strfeger

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    Mi diesem Skaeboard-Sicker begann r Oliver Baudach alles.

    srasseneger | Nr. | Mai WANDEL |

    Berlin klebt!Zu Besuch in Oliver Baudachs Hatch Sticker MuseumT E X T & F O T O S : A n d r e a s D l l i c k V G B i l d - K u n s t

    Nichts unterliegt dem Wandel so sehr wie die Strae.Und damit na klar auch die Straenkunst oderStreetart. Aufkleber (auch gern Sticker genannt)kann man mittlerweile mit Fug und Recht Straen-

    kunst nennen. Denn sie vermitteln heute nicht nur die reineInformation, sondern verbinden oft auch coole grafische Ele-mente mit der bermittlung von Inhalten. Eine der wichtigs-ten Eigenschaften von Stickern das liegt in der Natur derSache ist ihre Flchtigkeit. Kaum geklebt, schon berholt,weil verblichen, abgefallen oder berklebt. Das Spektrum derAufkleber reicht von der reinen Werbebotschaft ber filigrane

    Kunst bis hin zum Aufruf zum politischen Protest.Weil Sticker Kunst sind, und Kunst gern gesammelt wird, gibtes na was wohl? auch Freaks, die sich mit Herzblut ebendieser Sammelleidenschaft widmen. Oliver Daubach ist einerdieser Sammler. Er ist seit 1983 dabei und hat ber die Jahreeine beachtliche Summe an Aufklebern aller Art aufbewahrt.Diese umfangreiche Sammlung lngst vergriffener Aufkleberund limitierter Knstler-Editionen zeigt er seit kurzem wiederin einer Ausstellung in der Schreinerstrae 10 im Friedrichs-hain. Ich traf Olli im bislang einzigen Sticker-Museum derWelt und lie mir von ihm ein paar wunderbare Geschichtenzu seinen Aufklebern erzhlen.

    strassenfeger: Na Olli, heute schon geklebt?Oliver Baudach: Nee, leider heute andere Sachen zu tun

    gehabt.

    Aber Du hast wenigstens ein paar coole Exemplare entdeckt?Coole Exemplare, nee nicht, aber ich hoffe im Laufe des

    Tages...

    Mal im Ernst, Aufkleber zu sammeln bestimmt schon DeinLeben?

    Absolut! Seit 30 Jahren besteht mein Leben darin, Auf-kleber zu sammeln!

    Wie kamst Du dazu?Kleiner Skateboard-Junge, der Sticker bekommt und alles

    verklebt und irgendwann dann diesen besonderen, magischenSticker in der Hand hat, bei dem zum ersten Mal der Gedanke

    kommt Oh, das wre schade, wenn der irgendwo klebt unddann mal weg ist! So gehts los!

    Was macht das Leben als Stickersammler perfekt?Ich bin nahezu an der Perfektion! Zumindest, was das

    sammeln von Stickern betrifft. Ein Sticker-Museum zu fh-ren, das ist schon immer noch hart, weil das Finanzielle immereine Rolle spielt. Aber als Sticker-Sammler lebe ich jetzt schonein Luxusleben, weil Sendungen aus aller Welt eintrudeln,Leute vorbeikommen. Von Knstlern und von Marken kom-men immer wieder Hammer-Sachen. Ich bin immer noch auf

    der Jagd, aber immer mit dem Luxus, dass der Briefkastenimmer gefllt ist mit Kostbarkeiten.

    Das Hatch Sticker Museum war Dein groer Traum?Nee! Das hat sich eher so ergeben. Nach einem Jahr Pause

    nach einer wirklich echt harten Arbeit kam mir der Gedanke,so ein Sticker-Museum zu machen. Glckliche Fgung: MeineRecherche ergab, dass es so etwas weltweit noch nicht gab,und da war ich natrlich sehr motiviert.

    Du fhrst also bislang das weltweit einzige Sticker-Museum?Ja, das stimmt! Allerdings hat mir vor drei Wochen je-

    mand, mit dem ich in Kontakt stehe, mitgeteilt, dass er inJakarta (Indonesien) sehr stolz das erste Sticker-Museum inAsien erffnet hat. Das freut mich total!

    Was ist denn Dein wertvollster Sticker?Es ist immer schwer, einem Sticker einen Wert zu geben,

    weil es keine Plattformen gibt, wie bei Briefmarken, Mnzenetc., wo irgendwelche Leute Werte ermitteln. Viele haben ei-nen ideellen Wert. Mein erster Sticker ist fr mich natrlicheiner der wertvollsten. Wenn man das finanziell bewertet,gibt es schon ein paar Schmuckstcke. Auf eBay gibt eseinen Markt, nach dem man sich als Sammler ein wenig rich-ten kann. Und dann gibt es schon ein paar, bei denen du alsSammler so 200 Euro fr hinblttern wrdest.

    Gibt es so was wie den ersten Aufkleber der Welt?Das wrde ich auch sehr gern wissen! Ich habe wirklich

    berall recherchiert, weil ich auf meiner Webseite auch so eineArt Stickerpedia fhre, aber diese Stickerkultur ist so sub-

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    Frische Ware

    bekomm Olli jeden

    Tag per Pos

    Im Hach Sicker

    Museum sind ine-

    ressiere Besucher

    immer gern gesehen.

    Die Sicker-Mania

    begann mi dem

    Skaeboard

    srasseneger | Nr. | Mai | WANDEL

    kulturell, dass es da leider keine richtigen

    Fakten gibt zum Thema.

    Sticker und Skateboards...Skateboards waren der wichtigste Start-

    schuss fr all das, was es mittlerweile gewordenist. Die Skateboard-Industrie hat in den 70ernangefangen, etwas mehr Kreativitt in die Sti-cker zu legen. Vorher war das schon mehr einreines Werbetool, meist mit Logos versehenund mit ganz netten Sprchen. Aber dann be-gann diese Industrie mit Knstlern zusammen-zuarbeiten, die dann entweder die Designs derSticker oder der T-Shirts auf die Skateboardsgebracht haben oder aber dann ganz spezielleSticker kreiert haben. Daraus hat sich das ent-

    wickelt, was es heute ist.

    Klebepapier statt Farbdosen...Was heit statt?! Ich wrde eher sagen,

    Klebepapier und Dosen! Wobei ich das MediumKlebepapier bevorzuge. Aber es ist durchaus bei-des mglich und es soll auch beides geben! Wo-bei Klebepapier vieles schner und einiges mehrmglich macht. Oder Dose auf Klebepapier, dasgeht auch!

    Stickern eine Variante des Graffiti...Ein kleiner Teil! Es gibt zahlreiche Knstler,

    die neben ihrer Grafitti-Kunst den Sticker zu-stzlich als Medium benutzen, weil es die Dingeleichter macht. Du kannst zuhause kreieren, dukannst dich viel mehr verbreiten in der Stadt,und das ist schon ein riesiger Vorteil.

    Kunstvoll... schwer zu kriegen... limitiert...(lacht schallend!) Magische Worte in meinen

    Ohren, was den Jagdeifer erhht! Mein groerLuxus: Wenn ich auf der Strae etwas entdecke,habe ich es ein paar Tage im Briefkasten. Oderman findet auf einer Seite etwas und kann mit demArgument Stickermuseum viele Tren ffnenund bekommt diese besonderen Sticker leichter.Aber das sind magische Worte, die ich liebe!

    Unerlaubte Verunzierung... Sachbeschdi-gung.. Straftat...

    (lacht wieder schallend!) Ja, Worte, dienicht so gut klingen, aber mit denen man immerwieder zu tun hat. Wobei die Sticker-Kultur ge-

    genber den Grafitti- oder den Stencel-Knst-lern eine Luxussituation hat, weil das nicht so alsSachbeschdigung gesehen wird, sondern eherals wilde Plakatierung, weil die Sticker leichterwieder abzulsen und zu entfernen sind. GroesPlus also fr die Sticker-Kultur!

    Gibt es Stars der Szene?(Uff!) Schwer zu sagen! Es gibt ein paar Leute,

    die die Kunst sehr prgen: Weltweit ist wohl She-pard Fairey mit Obey derjenige, der die Sticker-Kunst am meisten geprgt hat. Und hier in Berlinhaben wir lokale Gren wie Tower, Heavy,und Ping Pong, die sehr engagiert sind und berBerlin hinaus einen exzellenten Ruf haben.

    Tower Den Namen habe ich noch nie ge-hrt!?

    Tower ist sehr geheimnisumwittert! Eswar eine Riesenehre fr mich, als ich 2008 dasMuseum gestartet habe, war Tower der ersteKnstler, der sich das angeschaut hat! Er hat mirviele Tren geffnet. Er hat zu der Zeit, als ich inder Szene noch nicht so bekannt war, viele posi-tive Dinge dazu gesagt und damit viel Spendenfr das Museum ermglicht.

    Was ist das Besondere an Tower?Sein Enthusiasmus! Sein Eifer! Die Mhe,

    die in jeden kleinen Sticker einbringt! Die Viel-falt! Er hat wirklich zigtausende verschiedeneDesigns gemacht und das immer mit seinen fnfBuchstaben-Arbeiten. Er hat sich eine eigene

    Siebdruckmaschine gebaut, er hat nie Stickerin einer Druckerei bestellt, sondern hat alles perHand gemacht. Und wenn man dann die Mengeund Vielfalt seiner Sticker sieht, dann ist das ein-fach extrem beeindruckend.

    Auf Deiner Webseite gibts eine Galerie frFans?

    Ja! Ich biete natrlich den Fans der Sticker-kultur die Mglichkeit, einerseits mir Sticker zuschicken fr Ausstellungen. Das kann ich ver-sprechen, dass jede Spende von Sticker-Knst-lern auch in meinem Museum gezeigt wird. Und:Man kann mir Fotos von Stickern schicken, dieich dann in der Webgalerie zeige. Es luft schon

    sehr interaktiv ab.

    Du bietest Sticker Mailorder an...Ja! Das ist, was meine Einnahmen betrifft,

    eine ganz wichtige Sule, um am Leben zu blei-ben. Es ist aber auch der Gedanke, dass man,auch wenn man in einer kleinen Stadt wohntoder nicht immer die Mglichkeit hat, Sticker-shops zu besuchen und zu fragen, ob es neueSticker gibt etc., den Leuten zu helfen, leichteran bestimmte Sticker ranzukommen. Ich arbeitemit Brands zusammen, die schicken mir ihreSticker, und ich kann die dann fr die Kundenzusammenstellen. Ich musste frher, um an be-stimmte Sticker ranzukommen, alle Shops ner-

    ven, und ich habe wirklich genervt!

    Wovon trumt ein Sticker-Maniac wie Du?Puh! Ich trume davon, dass die Knstler

    und die Brands weiter engagiert bleiben! Dasssich die Sache vergrert! Ich habe nix dagegen,dass weitere Museen aufmachen. Dass ich mitdem Museum am Leben bleibe! Und dann wrdeich gern auch mal meine Sammlung in anderenStdten prsentieren oder auch mal ein groesSticker-Festival zu veranstalten.

    Nach dem Besuch bei Olli bin ich brigens nurein paar Minuten lang mit offenen Augen durchmeinen Kiez gelaufen. An jedem Straenschild, an

    jeder Straenlaterne, an jedem Regenrohr habe ich

    sie entdeckt, die flchtigen Aufkleber, die der per-manenten Vernderung unterliegen.

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    Frank Shepard Fairey (Obey) is einer

    der bekannesen Sicker-Knsler der Wel

    Bekleb werden auch gern

    die Boxen von Musikbands

    Mehr als 20 000 Sicker gehren zu Ollis

    Sammlung, gezeig werden rund 4 500

    srasseneger | Nr. | Mai WANDEL |

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    srasseneger | Nr. | Mai | WANDEL

    Widerstand gegen

    den MasterplanViehmarkt, Verkehrsknoten, Volksplatz AlexanderplatzB E R I C H T : J o s e p h i n e V a l e s k e

    E

    s ist, als wrde dieser Platz der gesamtenStadt gehren. Den gut Betuchten, dieim Kaufhof-Warenhaus einkaufen,denen, die mit ihren Hunden die Rn-

    der des Platzes bevlkern. Der gut gelauntenMittelalterpunkband und den beiden Zwanzig-jhrigen, die mit Gitarre und schlechtem Eng-lisch vom Herzschmerz singen, dem Trommler,der wie im Rausch auf sein Instrument schlgt.Dem Pflastermaler, dessen riesige Bilder jederumgeht, aber keiner wirklich ansieht. Der Ska-terclique im Durchgang zur Karl-Liebknecht-Strae, die von Rentnern misstrauisch beugtwird. Und natrlich den Touristen, die diesesTreiben ohne Unterlass fotografieren und dannweiter in Richtung Kaufhaus Alexa oder Fern-sehturm schlendern. Manchmal scheint der Alexganz Berlin widerzuspiegeln. Kein Wunder, denndas hat Tradition.

    Z u r G e s c h i c h t e d e sA l e x a n d e r p l a t z e s

    Um das Jahr 1400 lag der Alexanderplatz nochnicht in der Mitte Berlins, sondern auerhalb,nahe dem Georgentor der Stadtmauer. Man triebdort Viehhandel, was innerhalb der Stadt verbo-ten war. In den folgenden Jahrhunderten entstanddie Georgenstadt, eine ungeplante Siedlung derrmeren Brger, die 1701 in Knigsvorstadtumbenannt, von Zollmauern eingeschlossen und

    eingemeindet wurde. Der Platz hie damals nochKnigs Tor Platz. Seidenmanufakturen siedel-ten sich an und bedienten die Bedrfnisse derWohlhabenden, daneben aber stand ab 1758 ein

    Arbeitshaus, in dem Bettler und Obdachlose Asylfinden konnten. Anfang des folgenden Jahrhun-derts wurde er wieder umbenannt der russischeZar Alexander besuchte Friedrich Wilhelm II., derden Platz aus diesem Anlass in Alexander-Platzumbenannte. Neben dem Namen stammt aus die-ser Zeit seine Funktion als Verkehrsknotenpunkt ab 1847 fuhren von hier Pferdeomnibusse zumPotsdamer Platz. Im Jahr darauf wurde er mitder Mrzrevolution zum Schauplatz politischerKmpfe fr einen deutschen Nationalstaat, De-monstranten blockierten die Eingnge zur Stadt.

    Whrend der folgenden Jahrzehnte entstan-den mehrgeschossige Wohn- und Warenhuser,der Wochenmarkt wurde aufgelst, der Alexgeteilt in eine ruhige Grnflche und einen Ver-

    kehrsknotenpunkt. Dieser war in der WeimarerRepublik bald so berlastet, dass 1929 ein Archi-tekturwettbewerb zu seiner Umgestaltung ausge-rufen wurde der Alex sollte zu einem riesigenKreisverkehr mit umliegenden einheitlichen Ge-buden werden. Da sich jedoch keine Investorenfanden, konnten nur zwei der geplanten Gebudeerrichtet werden, das Alexander- und das Beroli-nahaus, in denen sich heute die Sparkassenfilialebzw. C&A befinden. Unter den Nationalsozi-alisten vernderte sich nicht viel, in den letzten

    Kriegstagen 1945 wurden jedoch die meisten derumliegenden Gebude zerstrt. Nach Kriegsendeentwickelte sich dort ein reger Schwarzmarkt.

    Die Stadt wurde geteilt, der Alex landete im

    Osten. Die SED berlegte, breite Straen berden Platz zu fhren, entschied sich dann aber,ihn verkehrsberuhigt zu lassen und zum Schau-ort von Prestige-Grodemonstrationen fr ihreZwecke zu machen. Die grte Demonstrationin der Geschichte des Platzes wandte sich am04.11.1989 allerdings gegen die Partei, kurz da-rauf fiel die Mauer. Aus DDR-Zeiten stammendas Gebude des heutigen Galeria Kaufhof,die Weltzeituhr und der Brunnen der Vlker-freundschaft, die den Platz noch heute dominie-ren. Nach der Wende folgte eine Renovierung.Der groe Plan des Architekten Hans Kollhoffvon 1993, ihn mit einem Kreis von zehn Hoch-husern zu umgeben, scheiterte genau wie derBebauungsplan in der Weimarer Republik am

    Mangel an Investoren.

    I n Z u k u n f t h o c h h i n a u s

    Stattdessen entstanden mit dem Saturn-Kauf-haus die mitte und dem Alexa zwei weitereKonsumtempel. Nun steht die Hochhausbebau-ung wieder in den Startlchern, wenn auch be-scheiden mit vorerst einem Turm. Der Entwurfdes Architekten Frank O. Gehry sieht ein Wohn-haus aus drei bereinanderliegenden, zueinanderverschobenen Blcken vor, das einige der teuers-ten Wohnungen Berlins beherbergen soll. Kritikgibt es natrlich, jedoch weniger an der elitrenAusrichtung als an dessen ueren zwar passt

    es zur Vielfenstrigkeit und Eckigkeit des Platzes,viele Brger htten sich aber etwas Organische-res, vielleicht Geschwungeneres gewnscht.

    Der Bau soll 2017 stehen, bis dahin sollenauch Investoren fr weitere Hochhuser gefun-den worden sein, doch solchen Zahlen schenkenBauherren wie Bewohner der Stadt fr gewhn-lich wenig Beachtung. Und wenn der Alex in sei-ner Geschichte eines bewiesen hat, dann seinenzuverlssigen Widerstand gegen groe Ideen.Das Charakteristische am Alex ist nicht, dass ersich gegen Vernderungen struben wrde vomViehmarkt zur Skaterbahn hat er viele Gewnderausprobiert. Doch was bisher niemand geschaffthat, ist, ihn zu vereinheitlichen, ihn durch einenMasterplan in eine Rolle zu zwngen, die nichtzu ihm passt. Dieser Platz gehrt nicht einemPlan, sondern vielen Menschen.

    Alexanderplaz im Jahre

    1903 (Foo: wikimedia)

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    srasseneger | Nr. | Mai WANDEL |

    OMG! Ko20MiSp! HDL!Wie das Telefon die Kommunikation vernderteB E R I C H T : J e a n n e t t e G i e r s c h n e r

    A

    m 14. Februar 1876 reichte AlexanderGraham Bell beim amerikanischen Pa-tentamt seine Idee fr ein Telefon ein,das die bisherigen Erfindungen ver-

    besserte. Bereits einige Jahre frher gab es einTelefon von Philipp Reis, das Tne in elektri-schen Strom umwandelte, aber die menschlicheSprache nicht verstndlich bertragen konnte.Htte der Beamte des Patentamtes dieses Tele-fon gekannt, wre das Bellsche Telefon nicht alsPatent anerkannt worden, da es nur eine Verbes-serung und keine neue Erfindung war. Auch ein-zelne Bestandteile wie das Mikrofon waren nichtvon Bell gebaut worden trotzdem wurde er alsErfinder des Telefons gefeiert und grndete dieBell Company, die viele Millionen Apparatehergestellt hat.

    Knnen Sie sich heute ein Leben ohne Telefon,Handy und Internet vorstellen? Wie soll man sich

    verabreden und wie findet man die Lokalitt, inder man sich verabreden will? Wann kommt derBus und wie ist das Lokal von anderen Gstenbewertet? Und wie sagt man seiner VerabredungBescheid, wenn man sich versptet?

    Das Telefon an sich hat die zwischenmenschlicheKommunikation revolutioniert die Menschenkonnten sich per Telefonapparat, ob zuhauseoder in der ffentlichen Telefonzelle, verstndi-gen und mussten nicht mehr persnlich zu dem-jenigen reisen, den sie sprechen wollten oderBriefe schreiben, die die Kommunikation zeitlichverzgerten. Was beim Telefonieren schwierigwurde, war die Einschtzung des Gegenbers,

    da man denjenigen nicht sah, sondern nur hrte.Auch die Weitergabe von Wissen war nicht mehrauf Schriftliches beschrnkt und somit nichtmehr nur den Menschen vorbehalten, die in da-maligen Zeiten lesen konnten.

    Die Weiterentwicklung des Telefons zum Mobil-telefon brachte weitere Verbesserungen. Jeder,der ein Handy hatte, war nahezu berall erreich-bar. Diese Flexibilitt wirkte sich vor allem mitder Entwicklung der Handys zu den kleinen undbezahlbaren Spielzeugen von heute auf das so-ziale Miteinander und die Verbindlichkeit an sichaus. Die Mglichkeit, eine Verabredung kurzfris-tig zu verschieben oder sogar ganz abzusagen,weil man doch keine Lust hat, wurde erleichtertdurch SMS und die neuen Kurznachrichten-dienste wie Whatsapp.

    In der Vor-dem-Handy-Zeit musste man frh

    genug anrufen, dass man nicht kommt und wargleichzeitig der direkten Reaktion des Gegen-bers ausgesetzt. Oder man riskierte das Endeeiner Freundschaft, weil man nicht abgesagt hatund der andere vergeblich wartete. Die Unver-bindlichkeit ging so weit, dass Partnerschaftenper SMS beendet wurden. Ebenso war es demPartner mglich, heimlich zu prfen, ob diesersich mit anderen mglichen Geschlechtspart-nern verabredete. Little Brother is watching you verrterische SMS und Anrufprotokolle wur-den sofort gelscht. Wer seinem Partner nichttraute, suchte den gnstigen Zeitpunkt, seinHandy zu prfen oder rief wegen Lappalien an,wenn dieser nicht vor Ort war.

    Die stndige Erreichbarkeit hat nicht nur Vorteilewie die schnelle und direkte Kommunikation mit

    Freunden, sondern auch Nachteile, da man un-

    bewusst wirklich immer erreichbar ist. Gespr-che in der vollen S-Bahn, mit denen man seineMitmenschen belstigt oder die berbrckungpeinlichen Schweigens durch Zcken des Handyskennt nahezu jeder Handynutzer. Verliert mansein Handy oder vergisst es zuhause, stellt man inder Regel fest, dass man den Tag auch ohne ber-standen hat. Der eine mehr, der andere wenigergut. Die Welt wird wohl ohne Mobilfunk nichtuntergehen eine Umstellung wre es allerdings.

    Ein Anfang wre ein Handyfreier Tag, an demman einfach nicht erreichbar ist, weder per Anruf,Whatsapp oder Mail. Frher hat man auch nichtjeden Tag einen Brief bekommen oder seine Fa-milie und Freunde ber alles informiert, was manam Tag erlebt hat. Probieren Sie es einfach aus,vielleicht merken Sie gar nicht, dass etwas fehlt!

    Alexander Graham Bell, Erfinder des Teleons (Quelle: www2012onwards.com)

    Apples iPhone ha die Teleonie revoluionier (Quelle: Facebook/Screensho)

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    srasseneger | Nr. | Mai | WANDEL

    Grenzsteine frdie Ewigkeit?Kann alles so bleiben, wie es ist? Ein historischer RckblickB E T R A C H T U N G : M a n f r e d W o l f f

    Grenzen sind nur auf der Landkarteunvernderliche rote Linien, die sau-

    ber trennen und nicht berschrittenwerden drfen. Nimmt man zur Be-trachtung einmal statt eines geografischen einenhistorischen Atlas zur Hand, erfhrt man, dasses kaum etwas Beweglicheres gibt als Grenzen.Nach jedem Umblttern in eine neue Epoche n-dert sich das Bild. Grenzlinien verschieben sich,mal geringfgig, mal nahezu kontinental. Staa-ten wachsen und beherrschen fr einen mehroder weniger langen Zeitraum die Landkarte,andere verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

    Wo eine Grenze verluft, ist eine oft will-krliche Entscheidung. Im dynastischen Eu-ropa waren es Trennungslinien zwischen denBesitztmern der Herrschenden. Da die sehr oftmiteinander versippt und verschwgert waren,

    entstanden Streitflle des Erbrechts, die mit krie-gerischen Mitteln ausgetragen wurden und neueGrenzlinien hervorbrachten. Groreiche warenbei der Erweiterung ihrer Territorien nicht aufFamilienrecht angewiesen. Sie ordneten ihre An-gelegenheiten mit Hilfe der ihnen zur Verfgungstehenden Macht. Wann immer neue Grenzengezogen wurden, geschah das in der Regel unterder Beteuerung ihrer ewigen Gltigkeit. Dochwer eine Grenze zieht, tut das nicht nur wegendes begehrlichen Blicks der Nachbarn. Er weiaus seinem eigenen Denken, dass die Begehr-lichkeit nur kurze Zeit zu ruhen pflegt. Grenzenbeschreiben keinen ewigen Ruhe- oder Friedens-zustand. Sie sind ein Status quo.

    N a t i o n a l s t a a t l i c h e G r e n z e n

    Welche Menschen innerhalb der jeweiligenGrenzen lebten, war selten oder gar nicht Ge-genstand der Verhandlungen ber ihren Verlauf.Es waren Untertanen, die zu gehorchen undSteuern zu zahlen hatten. Erst im 19. Jahrhun-dert begannen ethnische Fragen in der Beurtei-lung von Grenzen eine Rolle zu spielen. Das warinsbesondere der Fall, wenn Vlker ganz oderteilweise in Herrschaftsbereiche fielen, die einefremde Herrschaftsschicht hatten. Solche natio-nalen Konfliktherde um die gerechten Grenzengab es zum Beispiel in Irland, im geteilten Polenund auf der italienischen Halbinsel.

    Viele der internationalen Konflikte undErschtterungen, die gegenwrtig den Frieden

    stren, sind Nachbeben des Ersten Weltkriegs.In dieser Katastrophe des 20. Jahrhunderts gin-gen multinationale Gromchte unter, und dieFriedensschlsse von Versailles und Trianon ver-suchten, durch Schaffung von neuen und kleinenNationalstaaten eine gerechte Ordnung zu orga-nisieren, die auf dem Selbstbestimmungsrechtder Vlker basierte. Allerdings gelang das nurteilweise und war auch oft nicht gewollt. Vieler-orts wurden Minderheiten einem neuen Staats-gebiet zugeschlagen, ohne dass die Menschendort nach ihrem Willen befragt wurden. Es gabumfangreiche Gebiets- und Bevlkerungsaus-tausche. Historische Erinnerungen und macht-

    politisches Kalkl waren wichtiger. Teilweisewurden die Grenzen willkrlich mit dem Linealgezogen, so vor allem bei der Zerschlagung desOsmanischen Reichs.

    D i e C h a r t a d e r V e r e in t e n N a t i o n e n

    Die Charta der Vereinten Nationen garantiertausdrcklich sowohl das Selbstbestimmungs-recht der Vlker als auch die Unverletzlichkeitder bestehenden Grenzen. Die Konfliktszenariender letzten siebzig Jahre weltweit zeigen aber,dass beide Grundstze oft nicht in bereinstim-mung zu bringen sind. Das Geschehen in der Uk-raine fhrt das deutlich vor Augen. Es gibt zahl-reiche potenzielle Konfliktherde, die vom Traumdes ethnisch definierten und homogen geflltenNationalstaats genhrt werden.

    G r o m a c h t d e n k e n

    Wenn Groreiche zerteilt oder wenigstens einge-schrnkt werden, vergeht zwar die einstige Gre,die Erinnerung und der Wunsch nach Wieder-herstellung sterben jedoch nicht. Das zaristischeRussland musste groe Gebiete nach 1918 abtre-ten, die stalinistische Sowjetunion revidierte dieseSchmach und musste nach 1990 wiederum Teiledes Staatsgebiets in die Unabhngigkeit entlassen.Wenn heute Putin sich als Schutzherr aller Russenversteht, geht es dabei auch um die Restaurierungdes russischen Reichs. Polen definierte seine An-sprche bei der Wiederherstellung des polnischen

    Staates an den Grenzen der Gromacht Polen-Litauen, und einige Politiker trumten vom Polenvon Meer zu Meer. Das Grodeutsche Reich derNazis entsprang einer historischen Allmachtsfan-tasie. Der trkische Ministerprsident Erdoganreklamierte vor wenigen Monaten die frher os-manischen Territorien als immer noch trkisch.

    Sichere Grenzen zwischen einander wohlgesonnenen Nachbarstaaten sind Garanten frFrieden und Wohlergehen auf beiden Seiten. Siesind leider noch nicht berall die Regel. Deshalbmssen wir auch in Zukunft mit Konflikten anden verschiedenen Grenzen dieser Welt rechnen,und es ist nicht ausgeschlossen, dass nicht auchbislang ruhige Grenzen zu neuen Konfliktherdenwerden, wenn Wanderungsbewegungen und so-zialer Druck sprbar werden. Grenzen sind nunmal sehr beweglich.

    Grenzsicherung Berliner Mauer in Berlin-

    Saaken 1986(Quelle: Wikipedia/Florian Schffer)

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    Minischritte reichen nichtWarum Politiker Umstrze nicht verhindern knnenB E T R A C H T U N G : J a n M a r k o w s k y

    Ein Regent hatte wie seine Vorgngermit harter Hand regiert. Bei einer Hun-gersnot kam es zu einer Revolte in derHauptstadt. Die wurde niedergeschla-

    gen. Aber der Unmut erfasste weite Teile derUntertanen. Die Forderungen wurden immerdrngender und lauter. Er ignorierte das langeZeit und irgendwann hatte es den Anschein, soknne es nicht weiter gehen. Der Regent machtehalbherzige Zugestndnisse. Doch es war zuspt und nicht weitgehend genug. Der Regentwurde gestrzt.

    I n k o m p e t e nz u n d d e r F a l l d e r M a u e r

    Die DDR war ein Produkt des Zweiten Welt-kriegs. Die Nazis hatten den Krieg verloren unddie Siegermchte teilten sich das Land auf. In dersowjetischen Besatzungszone wurde systema-tisch Stalins Terrorversion des Kommunismusinstalliert. Walter Ulbricht wurde der neue starkeMann im kleinen Lndchen. Der wurde von ErichHonecker ersetzt. Honecker galt 1971 bei derbernahme seiner neuen Funktion gegenberUlbricht als flexibler und wirklichkeitsnher. Daswar 1989 lngst Geschichte. Am 18. Oktoberwurde der endlich abgelst und Egon Krenz ber-nahm das Amt. Krenz setzte sich fr Reisefreiheitder im kleinen Lndchen verbliebenen Brgerein. Dass das anders kam, hat auch mit ihm zu

    tun. Es wurde ein Gesetz erarbeitet und am 9.November 1989 war das Gesetz unterschrieben.

    Vorgesehen war, dass das Gesetz am 10.November in Kraft treten sollte. Es wurde einePresseerklrung mit Sperrvermerk vorbereitet.Am Abend war die Pressekonferenz mit GnterSchabowski angesetzt. Egon Krenz hatte sichmit ihm zur Vorbereitung getroffen. Ein Insi-der hat mir erzhlt, dass Egon Krenz den Tagschlecht drauf und schlecht vorbereitet war.Ein Journalist, der bei der Pressekonferenz am9. November 1989 dabei war, erzhlte spter,

    die ganze Veranstaltung war nichtssagend wiefast immer, und es sah so aus, als htte er jeneMeldung, die dann fr Furore sorgte, vergessen.Ganz zum Schluss soll Gnter Schabowski dieMeldung hervorgeholt und mit der typisch mo-notonen Stimme verlesen haben. Auf der Stre-cke blieb die Sperrfrist.

    Bewegung kam in die Pressekonferenz alsein westdeutscher Reporter eine Fragen nachdem Beginn der neuen Freiheit stellte und derberraschte und berforderte Schabowskinach deutlich hrbarem Zgern sagte: MeinesWissens nach sofort! Die Medien meldetenprompt: Die Mauer ist auf. Die Grenzer unddie staatlichen Organe blieben aber ahnungs-los. Das sorgte fr Unmut. Der fr Grenzor-gane der DDR ungewohnte Andrang und diehilflosen Grenzer brachte die Mauer zu Fall.

    Die DDR hatte Brger, die mit dieser Situationsouverner umgegangen wren, aber die fh-

    renden Greise konnten sich bei der Ablsungvon Erich Honecker nur auf einen aus ihrenReihen einigen: Egon Krenz.

    B e r l i n e r W o h n u n g s m a r k t :O h n e I n v e s t i t i o n e n k e i n e W e n d ez u m G u t e n

    Am 4. September 2012 verkndete der BerlinerSenat die Einigung von Senatsfinanzverwaltungund der Senatsverwaltung fr Stadtentwicklungmit den kommunalen Wohnungsbaugesellschaf-ten auf das Bndnis fr soziale Wohnungspo-litik und bezahlbare Mieten. Der soziale Woh-nungsbau war in Berlin das Sparschwein fr denHaushalt. Das ging fr die Berliner gut, solange

    der Wohnungsmarkt entspannt war. Seit 2008sieht das anders aus. Berlin boomt und ist hip.Die Chancen auf dem Berliner Arbeitsmarkt ha-ben sich in den letzten Jahren verbessert. Nichtfr die Langzeitarbeitslosen und nicht fr dieBerliner in prekren Beschftigungsverhltnis-sen, sondern fr die gut ausgebildeten Leis-tungstrger, die richtig Geld ausgeben, um in soeiner hippen Stadt zu arbeiten und zu wohnen.Die Entwicklung wurde lange ignoriert und derneue Senat wollte etwas tun.

    Ein wichtiger Punkt fr das Mietenbndnisist der Wohnungsneubau. Jedoch mit Neubauallein werden die Probleme fr die Menschenauf dem Wohnungsmarkt nicht gelst. Der Be-

    stand an preiswerten Wohnungen muss gepflegtwerden. Es ist der Versuch, das Problem zu ent-schrfen, ohne die ffentliche Hand zu belas-ten. Nach gut einem Jahr zeigt sich, die Wirkungist marginal. Sozialdemokratische Wohnungs-politik war einmal, mit Hilfe der ffentlichenHand in dem Wohnungsmarkt einzugreifen.Die kommunalen Wohnungsbaugesellschaftenverwalteten 30 Prozent der Mietwohnungen.Mit solch einem Anteil hat die Stadt die Kraft,auf die Mieten einzuwirken. Bei einem Anteilvon 16 Prozent ist das nicht in dem Ma gege-ben. Mit der so genannten Schuldenbremse hatsich die ffentliche Hand die Mglichkeit ge-nommen, im Interesse der Mieter auf dem Woh-nungsmarkt wirksam einzugreifen. Bleibt nur,das Recht privater Investoren auf Rendite zudrastisch zu beschneiden. Das wird gescheut.

    Brandenburger Tor am 1. Dezember 1989

    (Quelle: Wikipedia/SSGT F. Lee Corkran)

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    INFO

    www.szczecin.eu/de

    www.ossee-urlaub-polen.de/sein-szczecin

    www.museum.szczecin.pl

    Von Stettinnach SzczecinEine Stadt im WandelT E X T & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Es ist ein sonniger Nachmittag in Szczecin, etwaszu warm fr den Frhlingsanfang. Auf einem fastmenschenleeren Platz steht ein junger Mann. Erhat einen roten Spitzbart, seine langen Haare sindzu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit der dezent

    gemusterten Weste, dem rosafarbenen Krawattenschal, deneine runde Brosche ziert, und der silbernen Taschenuhrkettewirkt er wie eine ephemere Erscheinung aus einer anderenZeit: zauberhaft, schimmernd und flchtig wie die Seifenbla-sen, denen er mit einer bewundernswerten Leichtigkeit undGeschicklichkeit ein kurzes Leben einhaucht.

    P a r i s i n d e r P r o v i n z P o m m e r nDer Ort, an dem der Seifenblasenmann seine vergnglichen

    Kunststcke vorfhrt, ist der Plac Grunwaldzki, auf den achtStraen zulaufen und den fnf Straenbahnlinien queren,der grte kreisfrmige Platz in Szczecin. Gebaut wurde erEnde des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Sternpltzein Paris. Da hie die Stadt an der Odermndung noch Stet-tin und war Hauptstadt der Provinz Pommern. Bis zum Endedes Zweiten Weltkrieges sumten den Kaiser-Wilhelm-Platz,so sein damaliger Name, Grnderzeithuser, deren Hhe vierStockwerke nicht berschreiten durfte. Auch heute ist einGroteil der ursprnglichen Bebauung rund um den GroenStern an vielen Stellen so wie frher, sodass man meinenknnte, die Zeit sei hier stehen geblieben. Doch die gelb ge-strichenen Wohnblocks aus den 1970er Jahren, die den Platzauf der rechten Seite berragen, belehren eines Besseren.

    P l a t t e n b a u u n d P o s t m o d e r n eSzczecin ist ein faszinierendes Gebilde, ein Organismus, derseit schon fast 70 Jahren zu einem stndigen Wandel verurteiltzu sein scheint. Seine Architektur ist eine stellenweise chao-tische Mischung aus Wilhelminismus, Jugendstil, Modernis-mus, sozialistischem Plattenbau und protziger Postmoderne.Eine Stadt, die kein Zentrum, sondern viele kleine Zentrenhat, und zugleich mondn und kleinstdtisch, verschlafenund pulsierend wirkt: ein bisschen wie Berlin vor zehn Jah-ren. Eine Mischung aus Wedding, Kreuzberg, Friedrichhain,Potsdamer Platz, Westend und Zehlendorf, doch etwas klei-ner und noch nicht so international und multikulti wie dieMetropole an der Spree und der Havel.

    S t e t t i n e r u n d B e r l i n e rVor dem Zweiten Weltkrieg war Stettin eine Stadt, in derBeamte, Industrielle sowie Maschinenbau- und Werftarbei-ter der Actien-Gesellschaft Vulcan lebten. Die Stadt hatte

    einen grobrgerlichen und proletarischenCharakter, typisch fr die Zeit der Industrialisie-rung. Auf Hgeln gelegen, von Wldern umge-ben, mit groflchigen Grnanlagen, der Oder,dem Dammsche See, der Nhe zur Ostsee, denDampferfahrten und den vielen Vergngungslo-kalen, unter denen sich das 1929 erffnete CafPonath einer groen Popularitt erfreute, wares ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Vielegebrtige Stettiner, vor allem Knstler, darunterder Schriftsteller Alfred Dblin, der BildhauerBernhard Heiliger oder der Schauspieler und Re-gisseur Heinrich George, lieen sich wiederumin Berlin nieder, wo sie grere Chance hatten,

    beruflich weiter zu kommen. Stettin war einelebendige Stadt, mit engen und vielseitigen Kon-takten zu Berlin.

    S z c z e c i n a m E n d e d e r W e l tAm 26. April 1945 wurde Stettin von der RotenArmee erobert, doch erst am 5. Juli wurde es vonden Sowjets an die polnischen Behrden berge-ben. Die Stettiner flchteten, wurden vertriebenoder ausgesiedelt. Von den 200 000 Deutschen,die in Stettin vor dem Krieg lebten, blieben 1947ganze viertausend zurck. In die fast vollstn-dig zerstrte Stadt zogen polnische Flchtlingeund Vertriebene, darunter viele Kleinbauern ausdem ostpolnischen Wolhynien, das infolge des

    Krieges der Sowjetunion anheim gefallen war.Direkt hinter Szczecin befand sich die Grenzezur Sowjetischen Besatzungszone, seit 1949 zurDDR. Das war eine absolute Randlage in Polen,denn die polnische Hauptstadt war fast 600 Ki-lometer entfernt, und zur Kapitale der DDR,geschweige denn West-Berlin, gab es wegen derbis in die 1970er Jahre unpassierbaren Grenzeso gut wie keine Kontakte. Szczecin lag nun so-zusagen am Ende der Welt und am Anfang einerneuen Zeit, denn als ein Teil der wiedergewon-nen Gebiete musste seine Geschichte poloni-siert werden. Es war eine der wenigen ehemalsdeutschen Stdte, in denen, im Gegensatz zuGdask (Danzig) oder Wrocaw (Breslau), derhistorische Kern nicht wieder aufgebaut wurde.Auf den Ruinen der Stettiner Altstadt wurdengraue Huser im Schuhkartonstil errichtet: Es

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    Trinkbrunnen

    Hisorisches Museum Skulpur Heiliger

    Der Manzelbrunnen

    Szczecin an der Oder

    Szczecin von oben Philharmonie

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    herrschte Wohnungsmangel und die Leute wa-ren glcklich, dass sie berhaupt ein Dach berden Kopf hatten.

    F o n t n e n m i t F l a i rZu der politischen Wende haben die Bewohnervon Szczecin einen groen Beitrag geleistet:Hier fanden 1970 die von der Volksmacht blu-tig niedergeschlagenen Streiks der Werfarbeiterstatt. Zehn Jahre spter war hier, neben Gdask,eines der wichtigsten Zentren der Solidarno,einer Bewegung, die den Sturz des Kommunis-mus und des Eisernen Vorhangs einleitete. Nach1989 bekam Szczecin eine neue Chance, denn

    es lag nicht mehr am uersten Rand von Po-len, sondern mitten in Europa. Die Wende unddie nun schon zehnjhrige Mitgliedschaft derRepublik Polen in der EU sind ein Glcksfallauch fr Szczecin: Sein Stadtbild verndert sichso schnell, dass man manchmal seinen Augennicht trauen kann. Es ist eine Stadt im Umbruch,architektonisch, kulturell und gesellschaftlich.Eine Stadt, wo dank der vielen zentral gelegenenund doch abgeschirmten Pltzen mit schnenFontnen, alten Trinkbrunnen und Gaslaternenein sdlndisches Flair herrscht. Das neue Stet-tin geht auch immer unverkrampfter mit seinerGeschichte um. Bauwerke aus der deutschenVergangenheit werden nach alten Plnen neu er-

    richtet oder restauriert. Die Altstadt sieht jetztfast so wie frher aus, vor dem Alten Rathaussteht eine groe Skulptur von Bernhard Heiliger,eine Leihgabe seiner Witwe Sabine Wellmann-Heiliger aus Berlin. Im Alten Rathaus, wo sichdas Historische Museum befindet, gibt es einebeeindruckende Ausstellung, die anhand vonFotos, Dokumenten, Briefen, Zeitzeugenaus-sagen und Gegenstnden sehr anschaulich undohne berflssige Kommentare Auskunft berdas Alltagsleben von Hans Stettiner und JanSzczeciski im 20. Jahrhundert gibt.

    S c h n e A u s s i c h t e nDie Gegenwart lsst sich auch gut betrachten,am besten von oben. Im letzten, 22. Stock desmit 92 Metern hchsten Gebudes in Szczecinnamens Pazim, das Bros, den Sitz der PM

    (Polnische Seefahrtgesellschaft) und das Nobel-hotel Radisson Blue beherbergt, liegt das Caf22, in dem sich Touristen und Geschftsleutedrngen. Hier gibt es nicht nur Essen und Trin-ken vom Feinsten, sondern auch die schnsteAussicht weit und breit. Der Blick auf ein Meervon Dchern, durchsetzt mit dem Grn der

    Bume und Parkflchen, auf den Hafen unddie Oder, ist nicht mit Geld zu bezahlen. Dar-unter fllt eine seltsame Konstruktion ins Auge:das wie eine Krone anmutende weie Gebudeder Szczeciner Philharmonie. Dieses Werk desArchitekturbros Barozzi Veiga aus Barcelona,das im Herbst erffnet wird, ist ein gelungenesBeispiel dafr, dass Szczecin die Kultur als einenwichtigen Faktor der urbanen Entwicklung be-trachtet. Deshalb konnte in dieser Stadt 2010 diejngste Akademie der Knste in Polen gegrndetwerden, eine interdisziplinre Hochschule mitdem Schwerpunkt Musik, Design und Neue Me-dien, die Schmiede der Kreativwirtschaft.

    A u f n a c h S z c z e c i n !Das nur 120 Kilometer von Berlin entfernteSzczecin ist, was viele Berliner noch nicht mit-

    bekommen haben, einer Reise wert. Die ber400 000 Einwohner zhlende Stadt hat einigeszu bieten: alte und neue Sehenswrdigkeiten,das Nationalmuseum mit seinen vier Niederlas-sungen, Galerien, eine alternative Kunst- undMusikszene, Bars und Clubs fr Jung und Jung-gebliebene, gepflegte Restaurants mit erschwing-

    lichen Preisen, gute Einkaufmglichkeiten ineinem schnen Ambiente, wie zum Beispiel inder modernistischen Shopping Mall Kaskada,einer der schnsten Einkaufsmeilen mit Glasfas-saden in den Farben von Piet Mondrian, die ander Stelle errichtet wurde, wo frher das Caf Po-nath stand; das lteste Kino der Welt, Pionier,1907 als Helios-Welt-Kino-Theater gegrndet;grozgige Parks und zahlreiche Grnanlagen,wo im Frhling tausende Krokusse und Magno-lien blhen; Dampferfahrten zum NationalparkUnteres Odertal mit seiner einzigartigen Flussauewita Rzeka (Heiliger Fluss), wo Seeadler vorden Augen der Touristen fotoreif Fische fangen.Das alles und viel mehr gibt es in dieser Stadt:Kultur, interessante Begegnungen mit Geschichteund Gegenwart, nette Leute, unberhrte Natur.Also Berlin: Auf, auf nach Szczecin!

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    Anzeigeael mi Hinweis au Wagenrei-

    hennderung (Quelle: Auorin)

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    Eine Bahnfahrt,die ist lustig... heute verkehrt der Zug in umgekehrterWagenreihungB E R I C H T : L e y l a

    Wie finden Sie das, dass jetzt der Zug in umgekehrterWagenreihung fhrt?

    Was?, fragt die Frau mit den zwei Kindern undallerlei Gepck in beiden Hnden. Haben sie es garnicht mitgekriegt, der Zug nach Rostock fhrt falsch

    herum. Nein, sagt die Frau. Sie haben nicht reserviert?Nein, ich reserviere nie. Dann haben sie auch noch nieetwas von der umgekehrten Wagenreihung gehrt. Ne.

    Liegt es an dem sperrigen Fachwort, dass die Frau nichtversteht, worum es geht? Zumindest nach Angaben des Fahr-gastverbandes Pro Bahn gehrt die umgekehrte Wagenrei-hung zu den hufigsten Beschwerden der Fahrgste, sagt der

    Pro Bahn-Sprecher Matthias Oomen. Stimmt es, dass dieumgekehrte Wagenreihung die hufigste Beschwerdeursacheist? Ein Anruf in der Presseabteilung der Bahn gibt erhellendeAuskunft: Wenn das fr den Fahrgast das grte rgernis ander Bahn ist, sagt ein Bahnsprecher, so sei er glcklich, dasses nicht etwa Zugausflle oder Versptungen sind. Die Leutewrden den logistischen und technischen Aufwand, der hin-ter dem Phnomen umgekehrte Wagenreihung steckt, nichtverstehen, sagt er.

    W i e k o m m t e s z u r u m g e k e h r t e nW a g e n r e i h u n g ?

    Wagenreihungsplne hngen in den Bahnhfen aus. Ordentli-che Menschen schauen sie sich an bevor sie einen Zug betreten.

    Sie informieren sich darber, in welchem Bahnhofsabschnittihr Wagen sein wird, wenn der Zug zum Stehen kommt. EinHerr studiert einen solchen Plan ausgiebig und erklrt ihn sei-ner Frau: In Hamm wird der Zug geteilt, siehst du, das siehtman daran, dass der Zug zwei Kpfe hat. Der eine fhrt berWuppertal, der andere bers Ruhrgebiet

    Zur umgekehrten Wagenreihung kommt es meistens,wenn eine ICE-Strecke entweder wegen Gleisarbeiten, Hoch-wasser oder wegen eines Unfalls gesperrt ist, erklrt eineBahnmitarbeiterin. Nennen wir Sie Frau Schmidt. Leipzigoder Frankfurt am Main beispielsweise sind Kopfbahnhfeoder wie man umgangssprachlich sagt, Sackbahnhfe. Hierwerden die Zge immer ihre Fahrtrichtung wechseln ms-sen, da anders als beim Durchgangsbahnhof eine Durchfahrtnicht mglich ist. Wenn ein Zug von Mnchen nach Berlinfhrt, kann er ber Leipzig - mit Fahrtrichtungswechsel -, oderber Halle - ohne Fahrtrichtungswechsel - fahren. Muss hierauf Grund von Strungen der planmige Fahrweg gendert

    werden, kommt er in Berlin jeweils unterschied-lich gereiht an. Auerdem knnen Umleitungenwegen Streckensperrungen aufgrund von Perso-nenunfllen oder Stellwerksstrungen dazu fh-ren, dass Zge auf den alternativen Fahrwegenverkehrt herum gereiht werden. Fhrt man bei-spielsweise von Magdeburg ber Kthen nachLeipzig erhlt dies die planmige Reihung, fhrtman eine Umleitung ber Dessau nach Leipzigkommt der Zug in Leipzig verkehrt herum an.

    W a r u m n d e r t m a n n i c h t e i n f a c h d i eN u m m e r n a n d e n W a g e n ?

    Weil die ICE Zge Triebzge sind, also fest ge-fgte Einheiten, deren Wagenfolge im tglichenBetrieb nicht verndert werden kann, erklrtFrau Schmidt. Die I. Klasse ist immer am Endeeines Triebzuges, um mglichst wenig Fahrgast-bewegung im I. Klassenabteil zu haben. Darumntze die mgliche digitale Vernderung derWagennummern zur Reihungsanpassung nichts.Die Ordnungsnummer eines I. Klassenwagensist nicht gegen die eines II. Klassenwagens aus-tauschbar, da die gebuchten Pltze nicht mehr dergewnschten Wagenklasse entsprchen. Auf denjeweiligen ICE Linien verkehren die Triebzge also

    in jeweils festgelegter Reihung. Wenn ein Triebzugnun defekt ist und er kurzfristig getauscht werdenmuss, kann es passieren, dass der getauschte Zugfalsch herum steht, also nicht der vorgesehenenReihung der Linie entspricht. Da alles schnell ge-hen muss, nimmt man das in Kauf.

    Die Bahnmitarbeiterin wartet heute auf eineRollstuhlfahrerin, der sie beim Ausstieg helfenmuss. Um die Frau samt Rollstuhl aus dem Zugzu hieven, benutzt sie eine Rampe. Davon stehenzwei an jeweils beiden Enden des Bahnhofs. DerZug kommt verkehrt herum an: Die umgekehrteWagenreihung wurde nicht angesagt. Die Bahn-mitarbeiterin muss nun sprinten. Sie fragt ihreKollegen, ob sie einen Rollstuhl gesehen htteund rennt weiter. Die muss ja denken, ich hab sievergessen. Dann steht sie da und kommt nicht ausdem Zug, meint die Bahnmitarbeiterin. Sie fin-

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    ICE der Baureihe 401 in Frankur am Main (Quelle: Wikipedia/Thomas Wol)

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    det die Frau. Erst einmal die Rampe aufschlieen,kostbare Sekunden vergehen. Die Rampe siehtaus wie ein quadratischer Einkaufswagen von derGre eines Kleinwagens. Doch die 56 Jhrige istflink. Sie arbeitet seit 40 Jahren bei der Bahn.

    rgerlich wird es fr die meisten Bahnkun-den, wenn sie erst kurz vor Einfahrt des Zuges vonder umgekehrten Wagenreihung erfahren. Ickreg mich ja auch auf, sagt sie. Die Bahnmitarbei-terin berlinert oft, obwohl sie keine Berlinerin ist.Nach zwanzig Jahren Dienst in Berlin frbe dasschon ab, sagt sie. Gerade Rollstuhlfahrer, ltere

    Menschen und allein reisende Mtter mit Babysseien bei Unregelmigkeiten wie der umgekehr-ten Wagenreihung aufgeschmissen, sagt sie.

    All diesen Leuten rt sie, wenn mglich, imZweifelsfall immer in der Mitte auf den Zug zuwarten. So erspart man sich zumindest die Hlftedes Sprints auf dem Bahnhof. Dann qult sichder eine oder die andere trotzdem noch mhsammit Kind und Kegel durch mehrere Waggons, umendlich am reservierten Platz anzukommen, umsich dann den bsen Blick einer Dame einzuhan-deln, die sich dort bereits huslich niedergelassenhat. Wenn man seinen Platz nicht rechtzeitig er-reicht, ist Reservierung dann bis zum nchstenHalt leider futsch. Denn, was kaum einer wei:

    Die Reservierung ist nur die ersten 15 Minutennach Abfahrt des Zuges gltig.Dass auch sie oft zu spt von der umgekehr-

    ten Wagenreihung erfhrt, liege daran, dass dieKommunikation bei der Deutschen Bahn nichtgut laufe. Das Problem, sagt die Bahnmitarbeite-rin, sei, dass die Bahn jetzt, da sie privatisiert ist,die verschiedenen Bereiche wie Zugbegleitung,Fahrgastservice und Wartung voneinander abge-koppelt hat. Deshalb bekomme auch sie die Infor-mationen nicht so schnell, meint Frau Schmidt.ber die umgekehrte Wagenreihung wird sie vonder Betriebszentrale in Pankow, ganz im Nordenvon Berlin informiert. Da wrde schon mal dieeine oder andere Information auf dem Weg verlo-ren gehen. Das sei frher anders gewesen.

    Fhrt ein Zug dann einmal verkehrt, kanndieser Zustand mehrere Tage anhalten. Den Zug

    zu drehen, also in seine richtige Reihung zu brin-gen ist nicht so einfach wie es scheint. Der ganzeICE knnte auf eine Drehscheibe gestellt werdenund einmal gedreht. Das Problem ist nur, nichtjede Wartungshalle hat eine solche Drehscheibeund nicht jede Stadt hat eine Wartungshalle, undauch Drehfahrten wren mglich, aber die neh-men viel Zeit in Anspruch. In Berlin msste derZug einmal um den Innenstadtring Schleife fah-ren, in Frankfurt ber Frankfurt-Louisa. Daswrde etwa 30 Minuten dauern. Dadurch wrdees zu Versptungen oder gar Zugausfllen kom-

    men. Um das zu vermeiden, geht man den Kom-promiss ein und fhrt den Zug verkehrt herum inden Bahnhof ein. Manchmal hat man aber auchGlck, und durch eine weitere Strung stehtder Zug pltzlich wieder richtig herum.

    Karikaur: OL

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    Frher war

    alles besserber die Idealisierung der VergangenheitB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

    Frher war alles besser!, sagte mein Vater stets. DasWetter war besser und bestndiger, die Leute nichtso kriminell und so unverschmt und die Welt insge-samt nicht so laut und schrill! Ich habe mir offizielleWetterstatisken angesehen und festgestellt: Schlechte

    und verregnete Sommer und schneefreie Winter gab es frherschon reichlich. Auch der herbsthnliche Frhling ist keineSeltenheit gewesen. Die Kriminalstatistik der letzten Jahrezeigt an, dass schwere Straftaten (Raub, Mord u. ) eher we-

    niger geworden sind als frher. Auch wirtschaftlich ging esuns objektiv nicht immer besser. Das ist eher heute der Fall.Denken wir doch einfach nur an die Zeit von 1945 bis weitin die 50er Jahre hinein. Der Krieg war gerade vorbei, undes gab vieles berhaupt nicht mehr oder nicht ausreichend.Gegessen haben die Leute in der Zeit des Wiederaufbaus eherschlechter als besser. Ich wei von lteren Menschen, dasssie sich nicht regelmig Fleisch leisten konnten. Bei uns inder Familie gab es Fleisch generell nur am Wochenende unddas auch nicht jede Woche. Oma hat mir erzhlt, dass sie oftmonatelang kein Fleisch gegessen hat und dass sie wennberhaupt viel kleinere Stcke als heute bekommen hat.Warum behaupten also viele, dass es frher besser war, wenndas objektiv gar nicht der Fall ist?

    U n b e s c h w e r t h e it d e r K i n d h e i tIn der Psychologie wird gesagt, dass man als Kind oder jungerMensch unbekmmerter, unbeschwerter und unerfahrenerist als als Erwachsender. Man lernt die Welt erst richtig ken-nen, und man nimmt daher vieles leichter. Man trgt durchseine Unerfahrenheit nicht so stark an der Welt. Junge Men-schen und Kinder haben noch nicht so ein stark ausgeprgtesVerantwortungsgefhl wie wir lteren. Kinder mssen auchnicht soviel Verantwortung tragen wie Erwachsene, sie kn-nen im juristischen Bereich, weil ihnen die Reife fehlt, fr vie-

    les was sie tun, nicht genauso zur Verantwortunggezogen werden. Diese Tatsache erleichtert dasHandeln im Alltag erheblich und fhrt zu einerLockerheit und herrlichen Naivitt, die unbe-schwert macht.

    Ich sage den obigen Satz obwohl ich wei,dass man das nicht pauschal sagen kann leiderauch fter. Ich denke, dass ich mich nach der Un-beschwertheit und Leichtigkeit zurcksehne, die

    ich als junger Mann und als Kind oft hatte und des-halb Grnde suche, diese Zeit zu idealisieren. Weiles aber eben nicht so ist, stelle ich diesen Satz he-raus, der auf einer unwahren Behauptung beruht.Ich kann fr mich eben nicht damit umgehen, dassich nicht mehr so unbeschwert, unbekmmert, ir-rational und naiv sein kann, wie ich es damals war.Deshalb idealisiere auch ich diese Zeit. Damalswar die Welt fr mich noch so etwas wie Wunder,und ich konnte tglich Neues entdecken, weil icheben vieles noch nicht kannte. Das ist heute nichtmehr der Fall. Die Welt hat wie ich es nenne fr mich ihr Science-Fiction OS Sonder verlorenund wirkt daher oft de und langweilig. Vieles, wasich frher gerne tat, tue ich heute nicht mehr, weilich das Gefhl habe, ich brauche es nicht mehr (z.

    B. Tanzen gehen) und habe es zur Genge erlebt.

    W a s d a s m i t d e m A l t e r z u t u n h a t

    Jetzt, da ich lter bin, wird mir auch immer be-wusster, dass meine Zeit hier auf der Erde be-grenzt ist. Irgendwann werde ich sterben. DieseZeit kommt immer nher. Frher kam es mir sovor, als htte ich noch ewig Zeit und knne nochalles schaffen. Heute ist es nicht mehr so, undich wei, dass ich nur noch begrenzt Zeit habe,meine Ziele zu erreichen. Auch mit dieser Tat-sache tue ich mich oft sehr schwer. Ich bin derMeinung, dass ich mich auch deshalb nach derZeit als Kind bzw. junger Mann zurcksehne.

    Dazu kommt noch, dass sich ber die Jahreeinige Handicaps aufgebaut haben, die meineLeistungsfhigkeit reduziert haben. Der Rckenzwickt, meine Knie sind chronisch entzndet, undmeine Fe haben bewegliche Entzndungen.Das bewirkt oft, dass ich nervs werde und michnicht mehr so konzentrieren kann, wie frher.Frher habe ich acht Stunden und mehr zusam-menhngend an meinen Texten gearbeitet. Heutebrauche ich nach zwei, sptestens drei Stundenwenigstens eine kleine Pause. Auch konnte ichfrher schwerer tragen als heute. Damit finde ichmich nur schwer ab. Auch deshalb fand ich esfrher besser als heute. Meine Schwierigkeitenwill ich mir aber auch besonders vor anderenMenschen nicht unbedingt eingestehen. Wie ge-sagt: Deshalb benutze ich diesen Satz, um meineKindheit und Jugend zu idealisieren.

    Phillip Oto Runge Die Hlsenbeckschen Kinder (1805/06) (Quelle: Wikipedia)

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    Die Macht der

    Gewohnheitoder immer derselbe TeeT E X T : M i s c h a N a k o n z

    Ich wuchs zwischen betongrauen Kltzern auf, dieBume am Straenrand trugen die gleiche Frisur undalle Mtter der Siedlung ein Kopftuch. Samstag saensie versammelt im Salon unter der Haube. Um 17 Uhraber gab es Tee.

    Wenn der Nachbar seiner Gattin das Tuch herunterriss undihre Schreie in unsere Stube drangen, sagte die Mutter, dassdieses arme Schwein mal wieder im Tee sei. Dann stellte icheine weitere Tasse auf den Tisch und ffnete die Wohnungstr.Fr gewhnlich blieb die Gattin des Nachbarn bis die Tee-beutel, die meine Mutter ihr auf die Augen zu legen pflegte,getrocknet waren.

    Der Tee wurde uns in Paketen geliefert, in denen wir manch-mal eine Nachricht vom Zoll oder einer anderen Behrdevorfanden. Das Teetrinken, erklrte mir die Mutter mirmeine Angst zu nehmen -, sei ganz und gar unverdchtig.Und so verlie ich ihr Haus am ersten Schultag mit einerThermoskanne Tee.

    Ich lief an den frisierten Bumen vorbei, die ich zu zhlen und

    zu nummerieren lernte. Im Schulgebude trugen alle Kinderein Halstuch - erst ein blaues, dann ein rotes. Mittags gab esheien Tee aus der Genossenschaft und einmal in der Wocheerschien der Direktor im Klassenzimmer, unsere Taschennach Dingen zu durchsuchen, die die Grenze passiert hattenund deshalb verboten waren.

    Meine Thermoskanne schien ihm anstig aber doch vertrautzu sein. Sie war alt, etwas zerbeult und mausgrau ummantelt.Jedes Mal entnahm er sie meinem Tornister, um ihr derer ichmich in Wirklichkeit schmte in seinen Hnden wortlos eineErlaubnis zu erteilen.

    Ich wei nicht, ob er meine Mutter ihretwegen besucht hat,seine letzten stillen Zweifel auszurumen. Ich habe nur ei-

    nige Stze des Gesprches heimlich verfolgen knnen. Und indiesen erkundigte er sich, zu meiner berraschung, nach derGattin des Nachbarn.

    Er wisse, betonte der Direktor, dass meine Mutter dieserFrau mit Teebeuteln aus Paketen zu helfen versuche, waser ganz und gar unzweckmig fnde, besonders vor demHintergrund, dass der Nachbar in einer Ausnchterungs-zelle der Siedlung gut aufgehoben und man endlich vor ihmgeschtzt sei.

    Meine Mutter erwiderte, sie verstnde nicht recht und habeauch nichts Auergewhnliches ber die Gattin des Nachbarnzu berichten. Sie sei dennoch bereit mit der Schule an einemStrang zu ziehen, darauf knne sich der Direktor verlassen. Erbetrat nie wieder unsere Wohnung, hat aber im nchsten Kon-trollgang, durch unser Klassenzimmer, meine Thermoskanne,mit den Worten sie sei beschlagnahmt, einbehalten.

    Die Gattin des Nachbarn wurde von zwei Herren abgeholtund in ein Sanatorium gebracht. Dort msse sie, so sagtemeine Mutter, nur noch abwarten, Tee trinken und diese Zeitin Gedanken an einen mglichen Paketaustausch berstehen.

    In jenen Tagen begann in der Schule der Franzsischunter-richt. Die russische Sprache beherrschte ich bereits sehr gut,und ein ferner Brieffreund, einst durch den Direktor vermit-telt, hatte mir sogar einmal einen kleinen Samowar geschickt,meine Kenntnisse lobpreisend.

    Die neue Lehrerin kam aus einer fremden Welt. In ihrenStunden musste ich immer fter an den Nachbarn denken,an seine Gattin und ihr Verschwinden. Einmal habe ich, auf

    dem Schulweg, zwei Zweige von einem Baum abgebrochenund diese auf das Lehrerpult gelegt. Ich schwieg in dem vonder Lehrerin formulierten Satz: Sie sind schn! wie in deranschlieenden Aufforderung, diese Worte zu bersetzen.

    Um 17 Uhr aber gab es Tee.

    Am spten Abend bin ich noch einmal aufgebrochen. Ich irrtedurch die betongrauen Straen, unter deren Hauben ich auf-gewachsen war. Auerhalb der Siedlung fand ich ein Lokal,das noch geffnet hatte. In ihm bestellte ich eine Tasse Kaffee.Ich dachte an die Ausnchterungszellen, die Sanatorien, denPaketdienst, an Worte und an das Ende meiner Schulzeit.

    Ich hatte keinen besonderen Berufswunsch. Ich stellte mir vor,in einer Teefabrik zu arbeiten. Da es keine in unserer Siedlunggab, nahm ich eine Hilfsttigkeit im Altenheim an. Meine erstezugewiesene Aufgabe bestand darin, den Tee zu servieren.

    Typisch Osriesischer Tee mi Sahne (Foo: Sean Scheer /wikimedia CC BY-SA 3.0)

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    srasseneger | Nr. | Mai | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Ai Weiwei, 2012 (Foo: Gao Yuan)

    Sools, 6000 hlzerne Hocker aus

    der Qing Dynasie (1644-1911), 2014,

    Insallaionsragmen

    (Foo: Urszula Usakowska-Wolff)

    He Xie, Flusskrabben, Porzellan,

    2011, Insallaionsragmen

    (Foo: Urszula Usakowska-Wolff)

    Han Dynasie-Vasen mi Auolack,

    2014 (Foo: Urszula Usakowska-Wolff)

    Sools (Hocker), 2014 (Foo: Ai Weiwei)

    Monumente eines

    MrtyrersDie Ausstellung Evidence von Ai Weiwei im Martin-Gropius-BauR E Z E N S I O N : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Ein Kreis aus Flusskrabben. Sie sind zumTeil schwarz, zum Teil rtlich und sehenecht aus, so echt wie aus Plastik gegos-sen. Sie sind aber aus Porzellan gebrannt

    und handbemalt. Sie liegen auf dem Holzparkettin einem Museum. Ein Kunstwerk also, entstan-den und zur Schau gestellt, um auf etwas Wich-tiges aufmerksam zu machen. Worauf? Auf dieAusrottung einer schmackhafter Spezies durchden ungehemmten Appetit der Menschheit? Aufden grenzenlosen Konsum? Oder sind es etwaWollhandkrabben, jene aus China stammen-den gefrigen Neozoen, tierische Neubrger,

    die sich in unseren heimischen Gewssern aus-breiten und unsere Fische auszurotten drohen?Ein Symbol der unerfreulichen Folgen der Mi-gration? Nein, diese chinesischen Flusskrab-ben, eines der Werke des Knstlers Ai Weiweiim Berliner Gropius-Bau, deuten an, dass es inChina keine Meinungsfreiheit gibt. Flusskrabbenheien auf Chinesisch He Xie, und sind der Ti-tel dieser Bodeninstallation. Doch das Wort HeXie klingt genauso wie Hexie und bedeutetHarmonie. Das ist ein Begriff, den die chi-nesische Regierungspropaganda verwendet, umeine ideale chinesische Gesellschaft zu beschrei-ben. Wenn die Menschen in China etwas mittei-len wollen, was den Machthabern nicht sexy oderzu sexy erscheint, fgen sie in einen Text einfachHe Xie ein. Alles klar? Ja, wenn man die ander Wand angebrachte Gebrauchsanweisung

    zum wortspielerischen Kunstwerk studiert hat,wird verstndlich, dass man im heutigen Chinanicht zwischen den Zeilen, sondern zwischenden Flusskrabben lesen muss.

    K u l t s t t t e e i n e s K n s t l e r s

    Ai Weiwei ist nun auch in Berlin ganz groangekommen: mit einer Ausstellung, derenMasse, mediale Verbreitung und Bedeutsam-keit alle anderen Events in den Schatten stellt.Evidence nennt sich die Mammutschau imMartin-Gropius-Bau und wird als die weltweit

    umfangreichste Retrospektive seines Oeuvresgepriesen. Der Inhalt der 15 Container, die nachlanger Schifffahrt Bremerhaven erreichten undvon dort mit LKWs nach Kreuzberg befrdertwurden, steht, liegt, hngt und flimmert jetztauf 3000 Quadratmetern in 18 Slen des Muse-ums. Der Ende des 19. Jahrhunderts errichtetePrunkbau wirkt jetzt wie ein Musentempel, wiedie Kultsttte eines Knstlers, der seine eigeneMuse ist. Die meisten der gezeigten Werke sindautothematisch, Ai Weiwei ist Inhalt und Mittel-punkt seiner Kunst. Wie in einer Kathedrale ver-sammelt er jeden einzelnen Beweis (Evidence)seines Leidenswegs, darunter Handschellen ausJade, einen Kleiderbgel aus Bergkristall, eineGasmaske und vier berwachungskameras ausMarmor, also Dinge, die, aus edlen Materialiengefertigt, zu Reliquien, zu Kultobjekten wer-

    INFO

    Ai Wei wei Evid ence

    noch bis zum 7. Juli im Marin-Gropius-Bau

    Niederkirchner Srae 7, 10963Berlin

    Mitwoch bis Monag, 10 19 Uhr,ab dem 20. Mai glich von 10 20Uhr

    Einrit 11 / 8 Euro, rei bis 16 Jahre,Kaalog 25 Euro

    www.berlineresspiele.de

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    srasseneger | Nr. | Mai TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    den. Wie ein Reliquienschrein mutet auch deroriginalgetreue Nachbau jener Zelle an, in derdie bsen Regierungschinesen den Knstler 81Tage lang gefangen gehalten hatten. Dort gab esnur ein Bett, ein Regal, ein separates, mit Plas-tikfolie beklebtes Klo ohne Tr, ein Waschbe-

    cken und eine Dusche. Dieser dstere, obwohlwei gestrichene Ort, wo ununterbrochen Lichtbrannte und der Hftling rund um die Uhr vonSoldaten bewacht wurde, steht jetzt fr Besucheroffen. Die Schlange vor dem Eingang ist lang.Das Publikum wartet geduldig auf Einlass, umeinen aufregenden und schauderhaften Kurztripin den Knast zu unternehmen. Im Museum istalles mglich.

    G l n z e n d e A b w e s e n h e i t

    Der 56-jhrige Ai Weiwei ist der berhmtesteChinese in Deutschland und der Inbegriff zeit-genssischer chinesischer Kunst schlechthin. Jemehr ihm die chinesischen Behrden den Rei-

    sepass verweigern, desto prsenter ist er hierzu-lande. Lange vor der Erffnung der Evidencebewegte die verffentlichte Meinung eine exis-tenzielle Frage: Kommt er nach Berlin? Kommter nicht? Weil er leider nicht kommen durfte,pilgerten Journalisten, Juristen, Kuratoren undFotoreporter zu ihm, in die ehemalige Traktoren-fabrik am Stadtrand von Beijing, die der einstigeArchitekt und ein heute kommerziell sehr er-folgreicher Kunstunternehmer erworben und zueinem geschmackvollen Domizil samt Riesenate-lier umgebaut hat. Es war in vielen Homestorieszu lesen und zu sehen, dass der grogewachseneund nicht besonders auf die Figur achtendeMann von berwachungskameras umzingelt ist,

    die der chinesische Geheimdienst in seinem Gar-ten installierte; dass der konzeptuelle Knstlerein groes Team beschftigt, 30 Katzen undeinige Hunde vor dem Kochtopf gerettet undbei sich aufgenommen hat; dass er fotografiert,filmt, singt, tanzt, schreibt, twittert und bloggt.Dass er ein stolzer Vater ist, der sich mit seinemkleinen Shnchen Ai Lao gern in Badehose amStrand und auf Instagram zeigt. Whrend sich AiWeiwei in China und im World Wide Web mehroder weniger frei bewegen kann, haben ihm diechinesischen Behrden den Reisepass entzogen.In China hat er Ausstellungsverbot, doch seineWerke, in denen er die dortigen Missstnde zumHauptthema macht, drfen rund um die Weltreisen. Nach Venedig, nach San Diego, nachBerlin. Welchen Sinn dieses seltsame Spiel hat,ist unverstndlich. Einen Vorteil hat das Ganze:

    Je mehr der Knstler durch seine erzwungeneAbwesenheit glnzt, desto anwesender ist er.Ein Held, dem seine Freunde im Westen: Muse-umsdirektoren, Galeristen und andere Akteure,die auf dem Kunstmarkt agieren, fast schon zueinem Heiligen apostrophieren.

    V e r s c h e r b e l t , l a c k i e r t , v e r f o l g t

    Wie in der Ausstellung Evidence zu erfahrenist, hat sich Ai Weiwei vorgenommen, sein Landzur Rson zu bringen. Er ist ein Mahner, derChina vor den Folgen der rasanten wirtschaftli-chen Entwicklung und der Urbanisierung warnt.Die Drfer entvlkern sich, Bauern ziehen indie Stdte. Gegenstnde, die ihnen seit Gene-rationen gedient haben, lassen sie zurck. Dasversinnbildlichen die sechstausend Hocker ausunterschiedlichen Epochen im Lichthof des Mar-tin-Gropius-Baus: ein Mosaik aus einfachen, fastidentischen Mbeln, die sich nur hie und da farb-lich voneinander unterscheiden. Wenn man sie

    von oben betrachtet, wirken sie wie ein Pixeltep-pich, wie ein Denkmal der weggeworfenen oderverscherbelten Vergangenheit, aus der eine vir-tuelle Gegenwart entsteht. Auch was heute nochals wertvoll gilt, wird neu verpackt. Um das zudemonstrieren, lie Ai Weiwei acht kostbare an-tike Vasen mit glnzendem Autolack berziehen,denn die neureichen Chinesen schmcken sichheute lieber mit Nobelkarossen der Marke Mer-cedes oder BMW, zumal sie viel billiger und zu-gnglicher sind als Artefakte lngst verblichenerkaiserlicher Dynastien. Konsum und Propagandamachen die Menschen dumm, sodass sie sich umihre eigenen Angelegenheiten kmmern und frdie Politik nichts brig haben. So knnen fr den

    Bau neuer Wohnsiedlungen alte Tempel abgeris-sen werden; tausende Kinder sterben 2008 beimErdbeben in Sichuan unter den Trmmern ihrerSchulen, die mit zu schwachen Stahltrgern aus-gerstet waren. Wer, wie Ai Weiwei die Zahl derToten und ihre Namen publik machen will, wirdbestraft. So zerstrten die Behrden sein Atelierin Shanghai, verhafteten ihn, berzogen ihn mitSchikanen und verunglimpften ihn als einen ver-meintlichen Steuerbetrger.

    C h r i s t l i c h e I k o n o g r a f i eu n d D a d a i s m u s

    Doch Ai Weiwei gibt nicht auf. Er ist ein uner-schrockener Einzelkmpfer mit einem treuenMitarbeiterstab, der ihm dabei hilft, seinen Lei-densweg, sein Engagement fr die Opfer der be-

    hrdlichen Willkr und gegen Vertuschung und

    Geheimhaltung in Kunst zu verwandeln. DerUniversalknstler, Dissident, Aktivist und Akti-onist ist vor allem ein begabter Selbstdarsteller,ein Popstar, der an seiner Legende fleiig strikt.Er ist jener Mann, der Aufsehen erregend frChina und an China leidet. Und weil er lange Zeitin New York City gelebt hat, wei Ai Weiwei,was zu tun ist, um den internationalen, also vor-wiegend westlichen Kunstmarkt zu begeistern.Seine Werke sind ein Mix aus christlicher Iko-nografie, Dadaismus und Pop Art: medienwirk-same Monumente eines Mrtyrers. Das sehendie Leute gern, denn es wirkt altbekannt. Zumeinen berhht Ai das ihm von den chinesischenMachthabern zugefgte Leid, indem er die Mar-

    terwerkzeuge wie Handschellen und berwa-chungskameras in Reliquien verwandelt, halt so,wie es sich fr einen Mrtyrer gehrt. Zum ande-ren monumentalisiert er Readymades und zeigt,dass er Marcel Duchamp bertreffen kann: wh-rend sich sein Vorbild mit einem Fahrrad-Radauf einem Hocker begngte, mssen es bei AiWeiwei sechstausend stehende Hocker und 150hngende Fahrrder sein. Grer heit nichtbesser, doch ist wie gemacht fr die heutige Zeit.Kein Wunder, dass Evidence von Anfang anein groer Erfolg ist: binnen eines Monats habensie 55.000 Menschen besucht. Es wre interes-sant zu erfahren, ob jemand den Film ChanganBoulevard zu Ende gesehen hat. Die vielschich-tige urbane Collage von Ai Weiwei dauert 10,5Stunden: eine Lnge, die zu den ffnungszeitendes Martin-Gropius-Baus nicht so ganz passt.

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    srasseneger | Nr. | Mai | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r e i n

    Schnell zum Trdel!Schicker als Ikea gibt es im Sozialwarenkaufhaus Trdel-point von mob e.V.B E R I C H T & F O T O S : B o r i s N o w a c k

    Nach dem Umzug des mob e. V. von der PrenzlauerAllee in die neuen Rumlichkeiten in der Storko-wer Strae 139d ist auch das SozialwarenkaufhausTrdelpoint wieder erffnet. Hier kann stbern,

    wer nach gnstigen gebrauchten Gebrauchsgegenstndensucht. Einkaufen darf, wer seine Bedrftigkeit durch den Ber-linpass oder sonstigen Nachweis des Sozialhilfebezugs nach-weisen kann, aber auch Studenten und Rentner knnen sich

    hier gnstig einrichten.

    Hartz IV-Bezieher haben die Mglichkeit, wenn sie berkeinerlei Wohnungseinrichtung verfgen, einen Antrag aufErstausstattung fr die Wohnung beim zustndigen Jobcen-ter zu stellen. Das gilt, wenn bei Auszug aus der elterlichenUnterkunft erstmalig eine Wohnung angemietet wird oderaufgrund eines Wohnungsbrandes alle Mbel vernichtetwurden. Auch nach einer Haftstrafe von mehr als sechs Mo-naten kann eine Wohnungserstausstattung gewhrt werden,

    Trodel: Ode an den Trdel

    Das Konto leer, die Wohnung auch,

    Sieht aus, als ob ich Mbel brauch.

    Wer hat noch was im Keller stehn,

    Das muss nicht gleich die Mllkipp sehn.

    Ich nutz es weiter, kein Problem,

    Und richte ein mein kleins Dahem.

    Ein neuer Tisch, da freu isch misch,

    Das Bettgestell lets me sleep well.

    Ein Khlschrank mit nem Eisfach drin,

    Der Fahrradhelm zum Schutz vom Kinn.

    Ein Lampenschirm mit Birne, helle,

    Die Taschenlamp fr alle Flle.

    Doch auch den edlen Chandelier,

    Man glaubt es kaum, den gibt es hier.

    Was frs Gemt, ein Buch vielleicht,

    Fnf Kilo schwer, ich glaub, das reicht.

    Bist Du nur arm wie Kirches Maus,

    -- und kannst das auch beweisen,

    Bedrftigkeit soll das wohl heien

    Beim Trdelpoint wird Shopping draus.

    Boris Rilke Nowack

    sofern es an Mbeln und Haushaltsgegenstn-den fehlt. Weiterhin kommt der Anspruch aufErstausstattung in Betracht bei Trennungenund Scheidungen, wenn ein Hilfebedrftigeraus dem Ausland zuzieht, bei einer Haushalts-neugrndung nach einer Heirat oder wenn einzuvor Obdachloser eine Wohnung bezieht. VomJobcenter gibt es eine Kostenbernahme, mit

    der man sich im Trdelpoint was Schickesund Praktisches aussuchen kann.

    Wer etwas abzugeben hat, das noch funktio-niert, darf es zu den ffnungszeiten vorbei-bringen oder mit unserem Team einen Abhol-termin vereinbaren.

    Fr einen Angebotsberblick lassen wir Bilderund die Poesie sprechen.

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    srasseneger | Nr. | Mai TAUFRISCH & ANGESAGT | Ve re in

    Rumop oder Urne, ganz wie man mche

    -

    Nippes und Nzliches, Kuns und Kulurgu, Bcher,

    Bilder und CDs

    Ers Finess, dann Fernsehen? Oder beides gleich-

    zeiig?

    -

    Geschirr und Sizgelegenheien r den Kaffee-

    klasch! Porzellan zerschlagen? Hier Nachschub holen!

    INFO

    ffnungszeien:Monag bis Freiagjeweils von 8 bis 18 UhrTelefon: 030 24 62 79 35, Fax: 03024 62 79 36E-Mail: [email protected]:www.acebook.com/pages/Srasseneger-Tr%C3%B6del

    poin/598872986832365

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    srasseneger | Nr. | Mai | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r k u f e r

    Am Kleinen Plaz in der Garensad Saaken (1914-17) bei Berlin von Archiek Paul Schmihenner(Quelle: Wikipedia/Karl Kiem)

    Alte HeimatAch, was wurde nur aus Dir?B E R I C H T : C a r s t e n ( v e r k a u f t d e n s t r a s s e n fe g e r )

    Die Zeit, sie fliet wie das Wasser, undso wie das Wasser auf seinem Weg die

    Umwelt verndert, verndert auchdie Zeit die Umwelt.

    Krzlich war ich bei Recherchen im Internetauf Google aktiv. Dabei musste ich Orte auf derKarte suchen, die meinem Geburtsort nahe sind.Es lag nahe, auch mal die alte Heimat auf derKarte von oben zu betrachten. Ich besah mir dieSatellitenaufnahmen aus dem All nher, die bermeiner alten Heimat gemacht wurden. Meine alteHeimat ist das heutige Staaken-West, zu Zeitenals die Mauer noch stand, Staaken-Ost genannt.

    Der Ort Staaken gehrt zum StadtbezirkSpandau und war als Vorwerk und mglichesSchlachtfeld bei einer mglichen Schlacht um

    die Zitadelle Spandau errichtet worden, als dienoch eine militrische Bedeutung hatte. Wer esmit ein wenig Militrhistorik hat, der wird wis-sen, dass die Gebude in einem Vorwerk nur einebestimmte Hhe und Bauweise haben durften.Dies war bis zur Wende 1989 noch so, und derTeil von Staaken, in dem ich geboren wurde undaufwuchs, hatte bis weit in die 1970er Jahre desletzten Jahrhunderts einen drflichen Charak-ter. Fr Kinder war es das reinste Paradies. VielAutoverkehr gab es nicht, stndlich fuhr nur einBus durch den Ort, ab und an einige Pkw sowievereinzelte Landmaschinen oder Traktoren. Da-her war die Gefahr von Unfllen im Verkehr sehr

    gering. Die einzige Gefahr dafr waren die damalige Fern-verkehrsstrae 5 und heutige Bundesstrae 5 von Spandau

    ber Wustermark nach Hamburg. Aber auch die war fr unsKinder keine Gefahr, denn soweit ging unser Spielgebiet meistnicht. Auerdem wurde uns schon mit fnf Jahren in der Vor-schule die Verkehrsregeln beigebracht, wie wir uns im Stra-enverkehr zu verhalten haben. Und das wir Kinder uns derMauer und den Sperranlagen nur bis zu einem bestimmtenAbstand nhern durften, lernten wir auch sehr frh.

    Ansonsten nutzten wir Kinder jede freie Flche im Ortsteilzum Spielen und Radfahren. Und freie Flchen gab es damalsnoch sehr, und die letzten Bauern im Dorf hatten auch nichtsdagegen, dass wir uns auch auf ihren Feldern und Wiesen tum-melten, natrlich nur sofern wir ihre Ernten nicht beschdig-ten. Auch durch den Krieg beschdigte und nicht abgerissenewaren Scheunen unser Spielbereich. So manche Mutter ausder Stadt wrde sicher jetzt die Hnde ber dem Kopf zusam-

    menschlagen, wenn ihre Stadtkinder an solchen Orten spielenwrden, dabei machen solche Orte gerade den grten Reizfr Kinder aus. Wenn wir mit dem Fahrrad die Friedensfahrtnachspielten, waren die Brgersteige und Straen vor unsnicht sicher, wir kannten jeden Stein mit Vornamen und somanchen Schleichweg. Die Erwachsenen nahmen es damalsgelassen und mit Rcksicht auf unsere kindliche Entwicklungoft auch humorvoll.

    Als ich wie gesagt die Karte meiner alten Heimat so betrach-tete fiel mir auf, das sich seit 1995, dem Jahr meines letztenBesuches dort, sehr viel verndert hat. Nach dem Mauerfallwurde schon der Brunsbtteler Damm mit dem NennhauserDamm verbunden, so wie er vor dem Mauerbau bestand. Da-rber hinaus hat man dort seit 1995 eine Kreuzung gebaut,

    mittels einer Verbindungsstrae ber ein Feld und zwei Tief-brunnen der Trinkwasserversorgung gebaut. Dies musste ichmir aus der Nhe ansehen.

    So fuhr ich am Ostersamstag mit dem Rad nach Staaken. Ichhabe bald einen Herzinfarkt bekommen, als ich nur einen klei-nen Teil der Vernderungen der letzten neunzehn Jahre sah.Die Grundstckswiese wo ich einst wohnte, mit einem wei-teren Haus bebaut, durch unseren ehemaligen Blumengartenfhrt eine Zufahrtsstrae. Jede weitere ehemalige Freiflchemit Husern bebaut, die dazu gehrigen Grundstcke so win-zig. Auerdem weitere Straen meiner Kindheit vernichtetoder zu Sackgassen gemacht. Das dorfeigene Feuchtgebietgibt es nur noch aus den Berliner Stadtplnen.

    Vernderung muss sein, aber alles dem Kommerz unterord-nen? Wenn ich diese Vernderungen sehe, blutet mein Herz.Heimat wo bist Du?

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    srasseneger | Nr. | Mai TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Kluft zwischen Arm und

    Reich immer grerParitt legt erstes Jahresgutachten zur sozialen Lage in Deutschland vorB E R I C H T : A n d r e a s D l l i c k

    Die soziale Spaltung in Deutschland hat deutlichzugenommen. Zu diesem Ergebnis kommt der

    Parittische Gesamtverband in seinem erstenJahresgutachten zur sozialen Lage. Danach ha-ben immer weniger Menschen am wachsenden

    Wohlstand teil, immer grer werde die Kluft zwischen Armund Reich. Die Analyse ausgewhlter Kennziffern ergebe,dass der soziale Zusammenhalt in Deutschland akut gefhr-det sei, heit es im Gutachten weiter. Der Verband fordert dieBundesregierung auf, das weitere Auseinanderdriften der Ge-sellschaft zu stoppen. Notwendig seien ein sozialpolitischerKurswechsel und eine andere Steuerpolitik.

    P a r i t t w a r n t v o r S p a l t u n g d e r G e s e l l s c h a f t

    Anlsslich der Vorstellung des Gutachtens am 24. April kon-statierte Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Parit-tischen Gesamtverbandes: Uns geht es darum, ein Korrektiv

    zur einseitigen konomistischen Perspektive des Sachver-stndigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung zu etablieren. Denn: Deutschland ist nicht nurWirtschaftsstandort, sondern vor allem Lebensstandort.

    Die Ergebnisse seien alarmierend. Das soziale Binde-gewebe, der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhlt,brckelt. Diese Entwicklung gefhrdet langfristig auch denWirtschaftsstandort Deutschland, warnte Verbandsvorsit-zender Rosenbrock.

    E r w e r b s a r b e i t i s t S c h l s s e l z u r T e i l h a b e

    Dr. Joachim Rock, Verfasser des Gutachtens bilanzierte:Hinter den volkswirtschaftlichen Erfolgsbilanzen verbirgtsich eine fortschreitende Spaltung der Gesellschaft. Immer

    grere Bevlkerungsgruppen werden sozial abgehngt, derTrend ist bedrohlich. Noch nie habe es so viele Erwerbsttigegegeben, aber ebenfalls noch nie so viele prekre Ttigkeitenund Teilzeitbeschftigungen. Zudem stagniere laut Gutach-ten die Zahl der Langzeitarbeitslosen trotz guter Wirtschafts-lage auf hohem Niveau und auch die Armutsquote habe einenHchststand erreicht.

    Statt wirksame Angebote fr die wachsende Gruppe derLangzeitarbeitslosen auf- und auszubauen, wurden die Mit-tel fr die Frderung und Qualifizierung rigoros zusammen-gestrichen, heit es in dem Gutachten weiter. Kinderarmutkomme im Koalitionsvertrag nicht einmal vor. Das Bildungs-und Teilhabepaket zur Frderung der mehr als zwei Millio-nen armer Kinder und Jungendlicher laufe in der Praxis leer.Auch im Gesundheitssystem verfestige sich die gesellschaft-liche Spaltung, weil der steuerliche Bundeszuschuss an dieGesetzliche Krankenversicherung gekrzt wurde. Auerdemmssten alle knftigen Mehrkosten in Zukunft allein von den

    Versicherten getragen werden. Die Einfhrungdes Mindestlohns den der Parittische begrtund untersttzt knne kein Instrument derArmutsbekmpfung sein. Und es gebe keineVorschlge zur sozial gerechten Verteilung derKosten der Energiewende.

    P o l i t i s c h e r K u r s w e c h s e l i s t n t i g

    Rosenbrock forderte die Bundesregierung ein-dringlich auf, einen politischen Kurswechselvorzunehmen: Wir brauchen eine entschlos-sene Politik der Arbeitsfrderung und konkreteManahmen gegen Armut und Ausgrenzung.

    Dies ist auch eine Frage des Geldes. Wer die so-ziale Spaltung wirklich bekmpfen will, kommtum einen steuerpolitischen Kurswechsel zurckzu einer solidarischen Finanzierung unseres Ge-meinwesens nicht herum.

    Im Klartext heit das: Deutschland mussmehr gegen die Langzeitarbeitslosigkeit tun.Armut muss entschieden bekmpft werden. DasBildungs- und Teilhabepaket muss komplettreformiert werden. Die Finanzierung der Kran-ken- und Pflegeversicherung muss brgernahorganisiert und auf breiter Grundlage finaziertwerden. Das Rentenpaket muss tief greifendberarbeitet werden. Groe Einkommen undVermgen mssen strker zur Finanzierung desGemeinwesens beitragen.

    Der Verband wird dieses Gutachten ab so-fort in jedem Frhjahr vorlegen.

    INFO

    Vollsndiges Guachen: www.der-pariaeische.de/pres-

    sebereich/pressemeldungen/

    Tag der Bahhosmission am Zoo Hile r obdachlose und arme Menschen

    (Foo: Andreas Dllick VG Bild-Kuns)

    Pariisches Jahresguachen 2014

  • 8/12/2019 Wandel - Ausgabe 09 2014 des strassenfeger

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    srasseneger | Nr. | Mai | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : L a u r a

    FILMFESTIVAL

    Too drunk to watchToo Drunk To Watch heit das Berliner Punkfilmfestival,das im Mai Berliner Kinos rockt. Ein besonderer Tipp desFestivaldirektors heit The Heart of Bruno Wizard, den esplus Vorfilm im Freilichtkino im Haus Schwarzenberg zusehen gibt. Vor dem Film gibt es einen Floh- und Trdelmarktund abends eine Live-Punk-Akustik-Show an gleicher Stelle.Ab dem 8. Mai gibt es im Kino Moviemento dann Dokumen-

    tationen, Spielfilme, Kurzfilme und Musikvideos zu sehen.Asiatischer Punk ist mit Beijing Bubbles und Punk imDschungel vertreten. Bayern prsentiert sich filmisch mitMir san dageng Punk in Mnchen.

    Bis zum 11.5.Die Veransalungen finden an unerschiedlichen Oren sat,daruner im Freilufkino Haus Schwarzenberg, im Moviemenound im Cassiopaia. Mehr dazu uner www.oodrunkowach.de.

    Einrit: sieben Euro pro Ticke / 33 Euro r sechs Tickes

    Ino & Bild: www.oodrunkowach.de

    THEATER

    JugendstilIn den Parkaue-Clubs haben rund 50 Kinder undJugendliche eine Spielzeit lang gemeinsam recher-chiert, geschrieben, geprobt, interviewt undaufgenommen. In selbst entwickelten spielerischenSzenen prsentieren sie beim Jugendstil ihreErgebnisse.

    Am 18.5., um 16 UhrEinrit: Bite selbs erkundigen

    Anmeldung und Karen: Per Teleon uner 030 -55775252

    Theaer an der Parkaue, Parkaue 29, 10367 BerlinIno & Bild: www.parkaue.de

    POLITIK

    Tag der Offenen Tr im Bundesrat

    Beim Tag der Offenen Tr im Bundesrat knnen Rumewie der Plenarsaal, das Bro des Bundesratsprsidenten undder Sitzungssaal des Vermittlungsausschusses besichtigtwerden. Am gleichen Tag ldt traditionell das Abgeordneten-haus Berlin zum Tag der offenen Tr ein. Whrend des Tagsder Offenen Tr erfahren Besucher, wie der Bundesratarbeitet und wie Gesetze entstehen. Auch das Bro desBundesratsprsidenten steht Interessierten offen. BeimBundesratespiel knnen Besucher ihr Wissen testen undPreise gewinnen.

    Am 17.5., von 11 Uhr bis 18 Uhr, Eintritt frei!

    Bundesra, Leipziger Srae 3-4, 10117 Berlin

    Abgeordneenhaus Berlin, Niederkirchsr. 5, 10117 BerlinIno: www.bundesra.de

    LITERATUR

    LesebhneAMYGDALAAMYGDALA ist dieLesebhne mit ChristineMsch, Gaby Maria Walter,Gunther Scholtz und HolgerHaag. Seit Beginn des Jahreslesen sie wieder im Weddingim Kamine und Weine.Die Lesungen stehen untereinem bestimmten Motto,das jeweils zum Schlusseines Abends fr die nchsteVeranstaltung vom Publi-kum vorgeschlagen wird.

    Am 17.5., um 20 Uhr, Eintrittfrei!Aber Spenden sind gerngesehen.

    Prinzenallee 58, 13359 Berlin

    Ino: www.de-de.acebook.com/AmygdalaBerlin

  • 8/12/2019 Wandel - Ausgabe 09 2014 des strassenfeger

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    VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:

    [email protected]

    Je skurriler, famoser und

    preiswerer, deso besser!

    srasseneger | Nr. | Mai TAUFRISCH & ANGESAGT | K u l t u r t i p p s

    LESUNG

    FischfangDie Grostadtmenschen, dieCornelia Jnsson in ihren Kurzge-schichten beschreibt, bewegen sichirgendwo zwischen Coming-of-Ageund dem Erwachsenenleben. Dabeispielen Geschlechterstereotypen,Beziehungskonzepte, die ambiva-lenten Abgrnde, die sich zwischenMenschen auftun, Beziehungen, diezerbrechen, und solche, die haltendie Hauptrollen. In einigenGeschichten wechselt sogar dieAutorin in surreale Fantasywelten,in denen Nixen und Vampirinnenihr Unwesen treiben.

    Am 15.5., um 20 Uhr, Eintritt frei!Aber Spenden sind erwnsch.

    Ca Tasso - Das andere AniquariaFrankurer Allee 1110247 Berlin

    Ino: www.sinnewerk.deBild: Konkursbuch

    FHRUNG

    Kafka & Bukowski

    Als Stadtspaziergnger befasst sich Falko Henning am 20.Todestag des dirty old man Bukowski whrend einesgefhrten Spaziergangs mit Franz Kafka und mit Bukowski.Beide hatten eine wichtige Verbindung zum Prenzlauer Berg.Beiden Dichtern wurden in dem Bezirk Kneipen gewidmet,die es inzwischen teilweise mehr gibt. In der Kneipe BU-KOWSKI in der Christinenstr. wurde 1996 die CharlesBukowski Gesellschaft gegrndet, die seitdem Leben, Werkund Wirkung ihres Namensgebers erforscht. Dies und vielesmehr erfahren die Teilnehmer bei Falko Hennings Fhrungauf Kafkas und Bukowskis Spuren.

    Am 11.5., u m 14 Uhr, Teilnahme: zehn EuroAnmeldungen: per Teleon uner 0176-20215339

    Treffpunk:SeneelderplazSeneelderdenkmal

    10405 BerlinIno: www.alko-hennig.de

    KINDER

    Berliner BcherinselnKinder entdecken Bcher ist das Motto der BerlinerBcherinseln. Schlerinnen und Schler entdecken mit derBcherinsel literarische und kulturelle Orte Berlins undknnen dort mit Autoren, Illustratoren, bersetzern undHrbuchsprechern ber ihre Arbeit rund um das Kinder- undJugendbuch sprechen. Gastland in diesem Jahr ist Finnland.Eines der finnischen Kinderbcher ist Tatu und Patu, ausdem tglich in der Bibliothek in der Brunnenstrae vorgelesenwird. Die Schlerinnen und Schler erfahren, wie aus IdeenTexte und Bilder werden.

    Noch bis zum 21.5., zu unterschiedlichen ZeitenEinrit: Mehrere Veransalungen sind kosenlos.

    Die unerschiedlichen Veransalungsore bite au der Inerne-seie www.berliner-buecherinseln.de/programm-2014 nachlesen.

    Ino: www.berliner-buecherinseln.deBild: Tau und Pau Kinderbuch

    VOLKSFEST

    Deutsch-Mongolisches FrhlingsfestBei dem deutsch-mongolischen Frhlingsfest lernen Interessierte traditionellesmongolisches Leben kennen. Dazu gibt es neben Besichtigungen von Jurten undmongolischen Spezialitten auch Vortrge ber das Leben der Mongolen. Weiterhingibt es ein Bhnenprogramm, traditionellen Tanz und Gesang aus der Mongolei.

    Am 10.5., ab 15 Uhr und am 11.5., ab 13 UhrEinrit: n Euro

    Berlinerallee 155 / Uerpromenade am Weien See, 13088 Berlin

    Ino & Bild: www.ulaanbaaar-verein.de

  • 8/12/2019 Wandel - Ausgabe 09 2014 des strassenfeger

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    srasseneger | Nr. | Mai | TAUFRISCH & ANGESAGT W o h n e n

    Wohnungslos was tun?Bndnisse fr Wohnen auf der BezirksebeneB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    D

    ie Mieten steigen in Berlin seit Jahren.2013 strker als in anderen Stdtender Bundesrepublik. Wohnen wirdfr viele Berliner zum unbezahlbaren

    Luxus. Berlin boomt, Berlin ist hip. Die Zahl derEinwohner steigt rasant, Wohnungen werdenknapp. Die Ver