Ausgabe 07 2014 des strassenfeger - KRIEG

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  • Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 7, April 2014

    FRIEDENSFORSCHERInterview: Margret Johannsen (Seite 3)

    JOAN BAEZSongs gegen Krieg (Seite 19)

    11MM FILMFESTUnion frs Leben(Seite 26)

    KRIEG

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 20142 | INHALT

    strassen|feger Die soziale Straenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

    Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Mglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie knnen selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkufer erhalten einen Verkuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

    Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notbernachtung und den sozialen Treff punkt Kaff ee Bankrott in der Storkower Str. 139d.Der Verein erhlt keine staatliche Untersttzung.

    Liebe Leser_innen,leider haben die schlimmen Ereignisse in Syrien und in der Ukra-ine wieder ein Thema auf die Tagesordnung gehoben, dass viele Menschen auf diesem Planeten lngst abgeschafft wnschten: Krieg. 2014 ist es genau 100 Jahre her, dass von deutschem Bo-den der Erste Weltkrieg ausbrach. 75 Jahre ist es nun her, dass Hitler-Deutschland Polen berfi el und damit den Zweiten Welt-krieg auslste. In Syrien bekriegt seit Jahren der Diktator Baschar al-Assad sein eigenes Volk. Mehr als 140 000 Menschen sind im syrischen Brgerkrieg bereits gettet worden, davon rund die Hlfte Zivilisten. In der Ukraine herrscht zwar kein Krieg, aber durch die Annektion der Krim durch Russland befand sich Eu-ropa sehr nah an einer kriegerischen Auseinanderseztung. Ganz gebannt scheint die Gefahr noch immer nicht. Grund genug fr unsere Autoren, sich in dieser Ausgabe ganz intensiv mit dem Krieg zu beschftigen. Wir erffnen mit einem Interview mit der Friedensforscherin Dr. Margret Johannsen. Sie bereitet gerade mit anderen Wisschenschaftlern das Friedensgutachten 2014 vor, das am 3. Juni verffentlicht wird (Seite 3). Wir berichten ber die Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Deutschen His-torischen Museum S. 6), Kriegsdienstverweigerer (Seite 7), Kriegsspiele (Seite 13) und Pazifi smus (Seite 14), informieren Sie aber auch darber, was es denn mit dem Rosenkrieg so auf sich hat (Seite 12).

    In unserer Rubrik art strassenfeger rezensiert unsere Kulturre-dakteurin Urszula Usakowska-Wolff die Ausstellung Making Eden von Yinka Shonibare in der Galerie Blain|Southern. Auerdem in der Ausgabe zwei Brennpunktartikel zur Berliner Kltehilfe (Seite 20/21). Das Internationale Netzwerk der Stra-enzeitungen (INSP) steuerte ein Interview mit der weltberhm-ten Folksngerin Joan Baez zu dieser Ausgabe bei (Seite 18).

    Ganz besonders gefreut haben wir uns auch ber das 11mm Fuballfi lmfestival (Seite 25). Wir erzhlen, was es an tollen Filmen zum Fuball gab und haben einen ganz groen Fan des 1. FC Union getroffen (Seite 26).

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    KRIEGInterview: Krieg oder Frieden?

    100 Jahre Erster Weltkrieg

    Kriegsdienstverweigerung

    Der Gezi-Park - Symbol des Widerstandes

    Krieg Bankrott erklrung an die Vernunft

    Die ewige Suche

    Rosenkrieg

    Kriegsspiele

    Pazifi smus

    Strukturelle Gewalt & Strukturen

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rEden im Erdgeschoss, Hlle im Himmel Die Ausstellung Making Eden von Yinka Shonibare in der Galerie Blain|Southern

    I N S PExklusivinterview: Joan Baez

    B re n n p u n k tFamilien mit Kindern in der Kltehilfe

    Bilanz der Berliner Kltehilfe

    K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

    s t r a s s e n fe g e r r a d i oEinmischen von Lari & die Pausenmusik

    S p o r tDas elft e 11mm Fuballfi lmfestival

    Union frs Leben Chris Lopatt a erzhlt

    A k t u e l lQuiz zur Europawahl 2014

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rLeistungen fr Bildung & Teilhabe (4)

    K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

    Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 3

    Krieg oder Frieden?Das Friedensgutachten 2014I N T E R V I E W : A n d r e a s D l l i c k

    Vor genau einhundert Jahren brach in Europa der I. Weltkrieg aus. 17 Mil-lionen Menschen verloren in diesem Krieg ihr Leben. Einhundert Jahre sp-ter stehen wir angesichts der Krise um die Ukra-ine und die Annektion der Halbinsel Krim durch Russland vor einer sehr schweren Krise. Auf der einen Seite die Mitgliedsstaaten der Europischen Union und der NATO sowie die Ukraine. Auf der anderen Seite Russland und die abtrnnige Krim. Dabei dachte man allerorten schon, dass der Kalte Krieg endlich vorbei sei. Mit der deutschen Ein-heit und dem damit verbundenen Ende des Ost-West-Konflikts bot sich die Chance, die Teilung Europas zu berwinden und einen dauerhaften Frieden in der Region zu schaffen. Diese Chance scheint nun vorlufig verspielt. Stattdessen wie-der Sbelrasseln in Europa.

    Aller Jahre wieder wird von Friedensfor-schern das Friedensgutachten herausgeben, gefrdert von der Deutschen Stiftung Friedens-forschung (DSF). Neben der Hessischen Stiftung fr Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und dem Hamburger Institut fr Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) sind daran auch das Bonn International Center for Conversion (BICC) und die Forschungssttte der Evangelischen Stu-diengemeinschaft (FEST) sowie das Institut fr Entwicklung und Frieden (INEF) in Duisburg beteiligt. Avisiert ist das Gutachten 2014 fr den

    3. Juni; momentan haben die Forscher angesichts des Ukraine-Konflikts noch alle Hnde voll zu tun. Andreas Dllick sprach fr den strassenfe-ger mit Dr. Margret Johannsen, Senior Research Fellow des IFSH ber Krieg und Frieden.

    Andreas Dllick: Genau 100 Jahre nach dem Ausbruch des I. Weltkriegs hlt die Welt ange-sichts des Konflikts um die Ukraine gerade den Atem an. Droht uns ein III. Weltkrieg?

    Margret Johannsen: Nein, ich denke nicht. Ich wrde hier von einer schweren Krise im Verhltnis zwischen Russland auf der einen und den USA sowie der Europischen Union und der NATO auf der anderen Seite sprechen. Diese Krise kann allerdings die Zusammenarbeit bei vielen auereuropischen bzw. globalen Politik-feldern fr Jahre zurckwerfen. Worin sehen Sie als Friedensforscherin die Ur-sachen? Ist es der Hegemonismus eines Dikta-tors, sind es die Expansionsbestrebungen der EU und der NATO?

    Ich wrde rhetorisch abrsten und einsei-tige Schuldzuweisungen vermeiden. Beide Sei-ten haben Verantwortung fr die Konfrontation: Die russische Fhrung hat aus der Erfahrung, an der Spitze einer absteigenden Gromacht zu stehen, die falsche und kurzsichtige Konsequenz gezogen, hegemoniale Interessen ohne Rck-

    sicht auf das Vlkerrecht durchzusetzen. Die Europische Union hat ohne Rcksicht auf die russischen Empfindlichkeiten, die durchaus ei-nen Reflex auf die Ausdehnung der NATO nach Osten darstellen, der Ukraine auch aus knall-harten Marktinteressen heraus wirtschaftliche Avancen gemacht, die das Streben Russlands nach Dominanz in seiner Nachbarschaft durch-kreuzten. Auf beiden Seiten zhlte der Wunsch der Menschen in der Ukraine nach Selbstbestim-mung und Entwicklung wohl nur am Rande.

    Ein wesentliches Problem ist in diesem Zu-sammenhang, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Staaten des postsowjetischen Raums keinerlei Ausshnungspolitik betrieben und die fehlenden Nationsbildungsprozesse nicht auf friedliche Weise nachgeholt haben. Unter einer solchen auf friedlicher Streitbeilegung ausge-richteten Nachbarschaftspolitik wre es z. B. mglich gewesen, sich auf ein Referendum hn-lich wie nach 1945 im Saarland zu einigen. Das Ergebnis wre vermutlich dasselbe gewesen wie heute die Krim geht zurck nach Russland. Stattdessen regieren in diesem Raum wirtschaft-liche Rcksichtlosigkeit, Kleptokratie sogenann-ter Eliten und politische Verantwortungslosig-keit gegenber der Bevlkerung.

    Was knnen vernnftige Menschen und Politi-ker tun, damit aus diesem Konflikt kein neuer Weltenbrand entflammt?

    Grundlage jedes vernnftigen Handels ist die Einsicht, dass es keine kriegerische L-sung fr diesen Konflikt gibt. Um die Krise zu entschrfen ist es erforderlich, Rcksicht auf berechtigte Sicherheitsinteressen aller

    Russischer Armee-Helikopter MI-35 in der Nhe des Dorfes Strelkovo, Ukraine (Foto: Valentyn Ogirenko / Reuters)

    Prof. Margret Johannsen (Foto: Schlaining)

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    strassenfeger | Nr. 7 | April 20144 | KRIEG

    Beteiligten zu nehmen. Wir leben in Europa nun mal sozusagen Seite an Seite. Wie im alten Ost-West-Konflikt gilt noch immer, dass Sicherheit nur gemeinsam mglich ist. Also muss man miteinander reden auf jeder Ebene: auf Gip-feltreffen der Entscheidungseliten, wissenschaftlichen Kon-ferenzen, touristischen Reisen. Und das geschieht ja auch. Trotz aller berechtigter Sorge ist es beruhigend zu erfahren, dass die Einrichtungen nicht auer Kraft gesetzt sind, die man nach Ende des Kalten Krieges geschaffen hat, um auf Kri-sen deeskalierend einzuwirken. In Krisen wie in Kriegen und Revolutionen ist man schnell Partei und sehr selektiv in der Wahrnehmung. Die Einugigkeit zu berwinden ist eine im-mer wiederkehrende Herausforderung, aber unbedingt ntig, um Krisen nicht eskalieren zu lassen, sondern konstruktiv zu lsen. Dazu gehrt auch, alten Feindbildern, wie sie in dieser Krise wieder aufleben bzw. auch medial bedient und verstrkt werden, berall wo man kann entgegenzutreten.

    Das heit allerdings nicht, dass man nun gar keinen Stand-punkt mehr haben sollte. Es wre wnschenswert gewesen, wenn es nach dem Zerfall der Sowjetunion in diesem Raum eine Ausshnungspolitik gegeben htte, vergleichbar z. B. mit der zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Referendum ber die Zugehrigkeit des Saar-landes 1955, dem ein durchaus leidenschaftlicher Meinungs-kampf vorausgegangen war, hat am Ende zu einer friedlichen Grenzvernderung in Westeuropas gefhrt. Nach einer auf friedliche Streitbeilegung ausgerichteten Nachbarschaftspo-litik im postsowjetischen Raum wre eine Krise wie die um die Krim-Halbinsel wohl vermeidbar gewesen. Grenzvernde-rungen sind ja nicht per se des Teufels. Eine vergleichbare, zwischen Russland und der Ukraine vereinbarte Abstimmung auf der Krim htte vermutlich dazu gefhrt, dass die Bevl-kerung sich fr die Zugehrigkeit ihrer Region zu Russland entschieden htte.

    Die Lehre daraus ist aber nicht, dass ein Staat wie Russ-land dazu prinzipiell nicht in der Lage ist. Vielmehr sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Menschen, die un-ter Kleptokratie und konomischem Stillstand leiden, auf die Dauer dagegen aufbegehren werden und ihr Land verndern. Wir, denen es besser geht, sollten es wiederum den Nutznie-ern dieser Zustnde nicht mit Drohgebrden zu leicht ma-chen, das Leiden der einfachen Menschen an ihrer Lage in Nationalismus und blinde Gefolgstreue zu verwandeln.

    Viele Menschen haben geglaubt und gehofft, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert klger geworden ist, dass Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen endlich der Vergangenheit angehren. Genau das Gegenteil ist der Fall. Woran liegt das?

    Das 21. Jahrhundert ist in der Tat bisher nicht ein Jahr-hundert des Weltfriedens. Im vergangenen Jahr gab es nach der Zhlung der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursa-chenforschung (AKUF) 30 Kriege und bewaffnete Konflikte. Andererseits hat es seit 1945 keinen Gewaltkonflikt gegeben, in den so viele Staaten verwickelt waren und der so viele Opfer gefordert hat. Es scheint, als htten die Staaten aus den beiden Katastrophen des 20. Jahrhunderts doch gelernt und Institutio-nen geschaffen, die Jahrhundertkatastrophen wie diese verhin-dern knnen. Trotzdem ist die groe Zahl der innerstaatlichen Gewaltkonflikte alarmierend. Ich fhre das aber nicht darauf zurck, dass die menschliche Natur zum Krieg drngt. Ich interpretiere dieses Konfliktgeschehen eher als Ausdruck des Zusammenpralls von Macht und Ohnmacht, Reichtum und Ar-mut, Hoffnung und Gier - ohne dass es gelungen ist, robuste Me-chanismen fr einen zivilisierten Ausgleich zwischen kontrren Vorstellungen von einem guten Leben zu entwickeln. Solange sie fehlen, sind Waffen immer wieder das Mittel der Wahl. Und es mangelt weltweit ja nicht gerade an Waffen. Dennoch sind es diejenigen, die ber ihren Einsatz entscheiden, die man davon berzeugen muss, dass es realistische Alternativen zu Waffenge-walt zur Wahrnehmung und Durchsetzung von Interessen gibt.

    Was wird denn im Mittelpunkt des diesjhrigen Friedensgut-achtens stehen?

    Unser Schwerpunkt heit Europa Friedensprojekt am Ende? Darin setzen wir uns mit dem Verlust an Zustimmung auseinander, den die europische Einigung in vielen Mitglied-staaten erlebt, aber auch mit so hochproblematischen Politik-feldern wie europischer Flchtlings- und Grenzpolitik oder den europischen Polizeimissionen jenseits der europischen Grenzen. Und natrlich behandeln wir wie jedes Jahr aktuelle Brennpunkte wie den Brgerkrieg in Syrien oder die Krim-Krise. Das Friedensgutachten ist ja ein Jahrbuch. Das bedeu-tet einerseits, kurzfristig auf das weltweite Konfliktgeschehen reagieren zu mssen. Andererseits haben wir aber auch einen langen Atem. Der syrische Brgerkrieg zum Beispiel beschf-tigt uns in unserem Buch jetzt schon im dritten Jahr.

    Seit den 1990er Jahren hat die Europische Union neue si-cherheitspolitische Institutionen geschaffen, ihre operativen Fhigkeiten ausgebaut und damit wichtige Weichen knfti-ger Politik gestellt. Wirken diese Instrumente?

    Ja, aber begrenzt. Das liegt vor allem daran, dass die Einzelstaaten bzw. deren Regierungen bei Fragen der Auen- und Sicherheitspolitik nicht das Heft des Handelns aus der Hand geben wollen. Das Beharrungsvermgen von Souver-nittswnschen ist gro. Andererseits ist dies aber verstnd-lich, solange die Demokratiedefizite in der EU bestehen. Die nationalen Parlamente haben ja sehr viel mehr Einfluss auf die Politik der einzelnen Mitgliedstaaten als das Europaparla-ment auf die Politik der Kommission bzw. des Europischen Rats. Weil man vitale Entscheidungen ber Krieg und Frieden nicht mangelhaft legitimierten Instanzen berantworten will, konzentriert man sich in der EU auf zivile und polizeiliche Missionen jenseits der europischen Grenzen.

    Kann die EU einen Beitrag zur Entmilitarisierung leisten? Oder geht von ihr ein Euromilitarismus aus?

    Ich denke, dass die EU das kann oder knnte. Die sinkenden Rstungsbudgets tragen sicher dazu bei auch

  • I N FO S

    Das Friedensgutachten 2014 erscheint am 03.06.2014 und kann demnchst beim LIT Verlag Mnster vorbe-stellt werden.

    www.friedens-gutachten.de

    www.bundesstiftung-friedensforschung.de

    www.fest-heidelberg.de

    www.inef.de

    www.ifsh.de

    www.hsfk.de

    www.bicc.de

    01 NATO und Irak entschrfen gemeinsam tdliche improvisierte Bomben (Quelle: www.nato.int)

    02 NATO und ukrainische Marine im gemeinsamen Kampf gegen Piraterie. (Quelle: NATO International Military Staff)

    03 US-amerikanische Drohne Global Hawk beim Erkundungsflug (Quelle: Wikipedia/U.S. Air Force/Bobbi

    Zapka)

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    strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 5

    wenn sie ihre Ursache in Sparzwngen haben. Andererseits drngen darum die europischen Rstungsproduzenten auf den Weltmarkt und tragen so zur Militarisierung zwi-schenstaatlicher oder innerstaatlicher Konflikte bei. Von Euromilitarismus wrde ich aber nicht sprechen. Gerade die Vielstimmigkeit der EU verhindert, dass aus ihr eine militrisch handlungsfhige Gromacht mit hegemonialem Ehrgeiz wird. Wir haben im diesjhrigen Friedensgutachten auch einen Beitrag, der sich kritisch mit der Vision einer europischen Armee auseinandersetzt. Das wesentliche Ar-gument des Autors ist, dass eine europische Armee sich mit den Sicherheitsbedrfnissen von Staaten auerhalb der EU nicht ohne weiteres vereinbaren liee und damit zu mehr Unsicherheit in der Staatenwelt beitragen knnte, dass sie zudem die Vermittlerrolle der EU schwchen und den hohen deutschen Standard demokratischer Kontrolle des Militrs untergraben wrde.

    Kriege werden heute anders gefhrt als noch vor ein paar Jah-ren: Heute gibt es den Cyberwar, unbemannte Drohnen etc. der Krieg verndert sein Gesicht. Wie gehen Sie damit um?

    Wir kritisieren den Trend zum Schattenkrieg oder auch unsichtbaren Krieg unsichtbar insofern, als er fr den tech-nologisch weit berlegenen Staat so gut wie schmerzlos ist. Es gibt ja kaum mehr eigene Opfer. Damit aber hat es die innergesellschaftliche Opposition gegen die Kriegfhrung des eigenen Staates schwer, dagegen zu mobilisieren. Mit abnehmendem eigenem Risiko sinkt die Hemmschwelle fr den Griff zu militrischen Mitteln. Zudem verschwimmt mit dieser Kriegfhrung die Grenze zwischen Krieg und Frieden. Das sogenannte gezielte Tten in Staaten, mit denen sich der Drohnen einsetzende Staat nicht im Krieg befindet, verstt gegen das Vlkerrecht. Wir haben im Friedensgutachten 2013, dessen Titelbild brigens einen Drohnensteuerstand zeigt, die Forderung aufgestellt, Kampfdrohnen vlkerrechtlich zu ch-ten. Diese Forderung haben wir nachdrcklich auf der Bun-despressekonferenz in Berlin und in unseren Gesprchen mit dem Auswrtigen Ausschuss und dem Verteidigungsausschuss sowie mit Parteifhrungen vertreten.

    Wie ist die Resonanz auf das alljhrliche Gutachten, wird es von Spitzenpolitikern z. B. den deutschen Verteidigungs-ministern anerkannt und genutzt?

    Seit 1987, als das erste Friedensgutachten erschien, hat die Resonanz im politischen Berlin (frher Bonn) kontinuierlich zugenommen. Fr-her erschien das Buch auf dem Markt und die In-stitute versorgten die Ministerien sowie die Bun-destagsabgeordneten, aber auch Journalisten, Bibliotheken und mitunter auch Netzwerke der Friedensbewegung mit ihrem Jahrbuch ber das Konfliktgeschehen und die Arbeit am Frieden. Man wartete eher auf Rckmeldung. Heute ge-hen wir viel offensiver mit unserem Produkt um. Wir knnen das aber auch, weil unsere Adressa-ten uns einladen, ihnen unsere Befunde Kritik ebenso wie Empfehlungen persnlich vorzu-stellen und darber mit ihnen zu diskutieren. Ob unsere Stellungnahmen dann auch in die Politik einflieen ist noch mal eine andere Sache. Der Fortschritt ist eben doch eine Schnecke. Manch-mal dauert es Jahre, bis man sich im politischen Berlin plausiblen Einsichten ffnet. Zum Bei-spiel sollte man, wie im Konflikt zwischen den Palstinensern und Israel, gewhlte Regierungen nicht boykottieren, wenn man einer vormaligen Widerstandsbewegung nicht den Weg zu histo-rischen Kompromissen versperren will. Oder es msste eigentlich jedem klar sein, dass man fr Krisenbewltigung in Europa keine Feindbilder gebrauchen kann. Ich bin gespannt, ob wir im Juni 2014, wenn wir mit dem Friedensgutachten in Berlin sind, hierbei noch berzeugungsarbeit leisten mssen.

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 20146 | KRIEG

    100 Jahre Erster WeltkriegSonderausstellung im Deutschen Historischen MuseumB E R I C H T : M a n u e l a P.

    Am 1. August diesen Jahres jhrt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. An ihm waren zahlrei-che Lnder auf mehreren Kontinenten zugleich beteiligt. Nicht nur das war neu, son-dern auch die Kriegstechnik und die Kriegsfh-rung. Der technische Fortschritt der vorletzten Jahrhundertwende hat etliche neue Waffen, wie Maschinengewehre, Handgranaten und Flam-menwerfer, sowie Kampfflugzeuge u. a. hervor-gebracht. Der Krieg erlebte eine neue Dimen-sion. Es starben Millionen Menschen.

    Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges haben sich die politischen Verhltnisse in Deutschland, Eu-ropa und der Welt einschneidend verndert. So wurde in Deutschland nach dem Ende der Mo-narchie und der Novemberrevolution 1918 die Weimarer Republik ausgerufen. Im Jahr 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht, die mit dem berfall auf Polen am 1. September 1939 die Welt erneut in einen Krieg strzten, den Zweiten Weltkrieg. Dem folgte die Zeit der Be-setzung Deutschlands durch die Alliierten und spter die Grndung zweier deutscher Staaten, die sich nach dem Mauerfall am 09. November 1989 am 03. Oktober 1993 wieder vereinten.

    In diesem Jahr begehen wir also nicht nur den 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges, sondern auch den 75. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges und den 25. des Mauerfalls. Wer diesen Ereig-nissen geschichtlich nachgehen mchte, dem ist ein Besuch des Deutschen Historischen Muse-ums im Zeughaus Unter den Linden zu empfeh-len. Sie knnen durch den Haupteingang an der Strae Unter den Linden starten oder durch den Eingang in der Strae Hinter dem Giehaus, der von dem amerikanischen Star-Architekten I. M. Pei gestaltet wurde.

    Die Dauerausstellung befindet sich im Zeug-haus auf zwei Etagen. Das Erdgeschoss widmet sich der neueren Geschichte und startet mit dem Jahr 1918, in der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Dort werden sie von Fotos und Dokumenten zur Novem-berrevolution 1918 sowie von Plakaten zum Aufruf zu Spenden fr rckkehrende Soldaten und zu den anstehenden Parlamentswahlen empfangen. Das Leben der Menschen war zu dieser Zeit bestimmt von den Nachwirkungen des Krieges. Es herrschte Not und Unruhe. Die politischen Verhltnisse waren alles andere als stabil. Die Frage nach dem Sinn der unmensch-

    lichen Gewalt des Krieges wurde immer wieder gestellt. Wofr die die vielen Toten?

    Wie auch im Rest der Ausstellung vermitteln die zahlreichen Fotos, Dokumente und Propaganda-materialien ein Gefhl fr das Leben und Den-ken dieser Zeit. Auf manchen Fotos schauen die Augen der Menschen die Besucher unmittelbar an. Es ist schwer sich ihnen zu entziehen. Was fr ein Schicksal sich wohl dahinter verbirgt? Die Vergangenheit bekommt hier ein Gesicht. Geschichte wird hier aber nicht nur ber Papier vermittelt. Verschiedene Objekte, wie z. B. Klei-dung, Uniformen, technische Gerte und auch Waffen ergnzen die Vorstellung der jeweiligen Zeitepoche. In die Zeit vor dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zurck in das 1. Jahrhundert vor Christus fhrt die Ausstellung im Obergeschoss.

    Das Zeughaus beherbergt aber nicht nur Zeug-nisse der deutschen Geschichte mit ihren zahl-reichen Kriegen, es hat auch selbst eine militri-sche Vergangenheit. Es ist das lteste Gebude auf der Strae Unter den Linden. Mit dem Bau wurde 1695 begonnen. Ab 1730 diente es als Waffenarsenal und nach Grndung des Deut-schen Reiches erfolgte im Jahr 1871 der Umbau

    I N FO

    https://www.dhm.de/ausstellungen/vorschau/der-erste-weltkrieg.html

    zur Ruhmeshalle der brandenburgisch-preui-schen Armee. Die Nazis nutzten es schlielich als Heeresmuseum.

    Anlsslich des 100. Jahrestages des Ersten Weltkrieges ffnet am 5.06.2014 die Sonder-ausstellung Der Erste Weltkrieg 1914-1918. Hier wird der Krieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in seinem Verlauf und mit seinen Folgen aus globaler Perspektive dargestellt. Be-gleitet wird die Ausstellung von Vortrgen, Podi-umsdiskussionen und Lesungen.

    Krieg ist schrecklich. Warum also eine solche Ausstellung anschauen? Nur wer die Vergan-genheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. (August Bebel)

    Alte Kriegswaffen im Innenhof des DHM (Foto: Manuela P.)

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 7

    Auf einer Pressekonferenz in Berlin: stellten sich Totalverweigerer des Wehrdienstes aus Ost und West den Fragen der Medienvertreter. (v.l.n.r.: Christian Herz, Sprecher aus Berlin (West), Gerhard Scherer, Berlin (West), Michael Frenzel, Berlin, Renate Khnast, Alternative Liste, Berlin (West). (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0117-025 / CC-BY-SA/Wikipedia/Klaus Oberst)

    Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik DeutschlandB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f

    Dieses geflgelte Wort flschlich Ber-tolt Brecht zugeschrieben durch-zog den Diskurs um Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik. Nie zuvor war die Frage, ob man Wehrdienst leistet oder den Anspruch des Staates darauf zurckwies, in-tensiver und breiter diskutiert worden.

    D i e re c h t l i c h e n G r u n d l a g e n

    Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-land bestimmte in Artikel 4 Absatz 3: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nhere regelt ein Bundesgesetz. Diese Entscheidung des Par-lamentarischen Rats bestimmte erstmalig in der Welt die Kriegsdienstverweigerung als ein Grund-recht im Zusammenhang mit der Freiheit des Glaubens und des Gewissens. Dies geschah 1949 zu einem Zeitpunkt, als niemand ernsthaft an eine Aufstellung einer deutschen Armee dachte, jedoch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Widerstands gegen das Unrechtsregime des Dritten Reichs noch lebendig waren.

    Wurden in den Zeiten des Deutschen Kai-serreichs und auch in nahezu allen anderen Lndern Kriegsdienstverweigerer mit Gefngnis bestraft, hatte die NS-Justiz zur Todesstrafe ge-griffen, wenigstens jedoch die Verweigerer ins KZ geschickt, wo sie oft an den Haftbedingungen verstarben. Allein die Zeugen Jehovas hatten den Tod von ber 1 200 Verweigerern zu beklagen. Zahlreiche Kriegsdienstverweigerer kamen aus den evangelischen Freikirchen, die ebenfalls den Waffendienst ablehnten. Auch unter Katholiken und Protestanten gab es Kriegsdienstverweige-rer, die fr ihr Gewissen ihr Leben opferten.

    D e r B e g i n n d e s Z i v i l d i e n s t e s

    In den Anfangsjahren der Bundesrepublik war Kriegsdienstverweigerung kein Thema. Erst mit dem Wehrpflichtgesetz von 1956 trat sie wieder in das Blickfeld. In diesem Gesetz wurde aus-drcklich auf Artikel 4 Absatz 3 Bezug genom-men und fr Kriegsdienstverweigerer ein ziviler Ersatzdienst ins Auge gefasst. 1961 erfolgte die Grndung eines zivilen Ersatzdienstes, der in keinem Bezug zur Bundeswehr oder dem Vertei-digungsministerium stand, sondern vom Minis-terium fr Arbeit und Sozialordnung organisiert wurde. Bis Mitte der 1960er Jahre machte nur eine Minderheit von zwei- bis dreitausend wehr-pflichtigen jungen Mnnern Gebrauch von ih-

    rem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Mit der breiten Diskussion um den Vietnamkrieg stieg die Zahl der Verweigerer sprunghaft an, und die Kriegsdienstverweigerung erhielt neben der individuellen Gewissensentscheidung auch einen politischen Aspekt.

    A n e r ke n n u n g s v e r fa h re n u n d D a u e r d e s E r s a t z d i e n s t e s

    In der ffentlichen Diskussion spielten vor al-lem die sogenannte Gewissensprfung und die Dauer des Ersatzdienstes eine Rolle. Mit der zu begrndenden Antragstellung auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehr-ersatzamt und die mndliche berprfung der Antragsgrnde wurde das ursprnglich solitre Grundrecht zu einem Ausnahmerecht der vor-rangigen Wehrpflicht herabgestuft. Die Versu-che, den Antragsteller mit Fangfragen in den Anhrungen beim Anerkennungsausschuss in Widersprche zu verwickeln und damit seine Glaubwrdigkeit anzuzweifeln, fhrten oft zu absurden Situationen und machten das Verfah-ren zu einem intellektuellen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Antragsteller und Ausschussvor-sitzenden. Die Dauer des Ersatzdienstes, der ab 1971 offiziell Zivildienst hie, war ebenfalls ein

    immerwhrender Streitpunkt. Bis 1973 hielt sich der Gesetzgeber an die Vorschrift des Artikels 12a des Grundgesetzes, wonach die Dauer des Ersatzdienstes die des Wehrdienstes nicht ber-schreiten darf. Als dann der Zivildienst um bis zu fnf Monate lnger als der Wehrdienst dauerte, begrndete man das mit der mglichen Verpflich-tung der Wehrdienstleistenden zu Wehrbungen nach Ende ihrer Wehrdienstzeit. Dieses Argu-ment war eher fadenscheinig. Mit der wahren Be-grndung der verlngerten Dienstzeit, nmlich einen Abschreckungseffekt zu erzielen, hielt man wohlweislich hinter dem Berge.

    Seit Ende der 1960er Jahre stieg die Zahl der Kriegsdienstverweigerer stndig an, bis sie zur Jahrtausendwende die Marke von 150 000 berschritt. Was anfnglich eine seltene Rechts-position weniger junger Mnner war, war nun die normale Entscheidung eines groen Teils der Gesellschaft geworden. 2011 setzte die Bundes-regierung die Wehrpflicht aus. Nun gibt es keine Wehrpflichtigen mehr, die einen Antrag auf An-erkennung als Kriegsdienstverweigerer stellen. Das Grundrecht des Artikels 4 Absatz 3 besteht aber weiter. Nun wird es von Berufs- oder Zeit-soldaten der Bundeswehr in Anspruch genom-men. Seit 2011 haben 164 Soldaten und Solda-tinnen einen entsprechenden Antrag gestellt.

  • 01 Friedliche Demonstranten in Istanbul (Foto: Ender)

    02 Demonstration auf dem Taksim- Platz im Gezi-Park am 3. Juni 2013 (Quelle: Wikipedia/VikiPicture)

    03 Der 15-jhrige Junge Berkin Elvan (Quelle: Wikipedia/Akinranbu)

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    strassenfeger | Nr. 7 | April 20148 | KRIEG

    Der Gezi-ParkSymbol des Widerstandes in der TrkeiE R L E B N I S B E R I C H T : E n d e r

    Die gewaltsamen und brutalen Reaktionen der Polizei bei den Brgerprotesten im Gezi-Park im Mai 2013 haben wir immer noch vor Au-gen. Es ist noch nicht so lang her, dass tausende Menschen dabei grundlos verhaftet und verletzt

    wurden. Acht Menschen kamen dabei ums Leben. Erst vor kurzem wurde ber den Tod des unbeteiligten 15-jhrigen Jungen Berkin Elvan berichtet.

    Ich stehe auf dem berhmten Taksim-Platz. Alles sieht aus, wie es aussehen sollte. Nach ein paar Jahren bin ich zum ersten Mal wieder hier. Die Stadt ist zu laut wie immer. Die Menschen laufen aneinander vorbei, und die Verkufer schreien auf der Istiklal-Strae, um mehr als die anderen verkaufen zu knnen, so als wren sie die hrtesten Kon-kurrenten. Die Kellner der Restaurants und Cafs warten vor der Tr und laden Menschen ein, hereinzukommen auch wie immer. Manche folgen den Passanten sogar und erzhlen, wie viele Etagen ihr Restaurant hat, und dass man von dort aus das Meer sehen knne. Ich gehe lieber nicht auf die Istiklal-Strae, denke ich mir, und biege rechts ab. Denn auf dem Platz stehen immer noch die Wasserwerfer und daneben die Polizisten in unmittelbarer Nhe. Frher hatte ich noch nie einen Wasserwerfer auf dem Taksim-Platz gesehen. Das, was ich jetzt sehe, erinnert mich an die Sze-nen aus dem vergangenen Jahr. Ich frage mich, ob das der einzige Unterschied zu meiner letzten Reise nach Istanbul ist Verkufer schreien weiter, Menschen laufen schneller, Kellner bedienen ihre Gste es alles wie immer und doch alles anders als frher.

    Ich gehe an den Polizisten vorbei und sehe schon die grnen Bume vor mir. Die schauen mich an und ich sie. Wir versuchen gleichzeitig einander zu erkennen. Danach merke ich, dass ich vor dem berhmten Gezi-Park bin. Der sieht eigentlich von Auen so aus, wie ich ihn beim letzten Mal gesehen habe. Diesmal jedoch mit einem Unterschied: Er will zeigen, dass er jetzt einen Sieg und eine neue Geschichte

    besitzt. Die Geschichte seiner Helden, des Grundes, warum er berhaupt noch existiert. Er fngt langsam an, mir diese Geschichte zu er-zhlen und die Erinnerungen in mir zu wecken.

    E i n e k u r z e G e s c h i c h t e d e s G e z i - Pa r k s

    Der 27. Mai 2013 war der erste Tag der Kmpfe um den Gezi-Park. Umweltschtzer gingen in den Park, um ihn davor zu schtzen, dass er ab-gerissen wird und einem Einkaufszentrum wei-chen muss. Sie machten die Nacht durch, koch-ten whrenddessen leckeres Essen, protestierten friedlich und hielten Wache fr ihren Gezi-Park. Bis zum vierten Tag verlief alles normal: Men-schen gingen weiter im Park spazieren, Kinder spielten und immer mehr Menschen nahmen an den friedlichen Protesten mit Picknicks teil. Am 30. Mai fhlte es sich sogar so an, als feierte eine groe Menge ein Fest mit Getrnken, Essen, Musik und Tanz. So berfllt war der Gezi-Park noch nie, dachten alle. Diese Solidaritt erfreute alle Gste und lie sie vermuten, dass der Sieg eigentlich schon erreicht wurde.

    Die Sonne ging langsam unter, aber die Wa-chen des Gezi-Parks blieben weiter aufmerksam vor Ort. In den frhen Morgenstunden sammel-ten sich die Polizisten langsam rund um den Park und verlangten von den Demonstranten, ihn zu verlassen. Aber es wollte keiner gehen. Da fingen die Polizisten an, die Menschen mit Trnengas zu attackieren. Pltzlich verwandelte sich der Frieden im Gezi-Park in eine Art Kriegszustand. Die Demonstranten widerstanden dem Angriff. Je lnger sie im Park blieben, desto strker wurde

  • 02 03

    strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 9

    die Gewalt der Polizei. Je unangemessener die Polizeigewalt wurde, desto mehr Menschen gin-gen zu den Protesten in fast allen Grostdten der Trkei. Denn es ging nicht mehr um die Be-wahrung des Gezi-Parks, sondern vielmehr um die Bewahrung der Menschenrechte. Sie protes-tierten gegen die Haltung der Regierung, die die Menschenrechte ihrer Brger gewaltsam zu bre-chen versuchte. Der Widerstand und die Kon-flikte zwischen den Demonstranten und den Po-lizisten hielten tagelang an. Tausende Menschen wurden von den gewaltttigen Polizisten brutal verletzt und grundlos verhaftet.

    D i e M rd e r s i n d n o c h f re i

    Zurzeit gibt es wieder Aufregung, Trauer und Wut in der Trkei: Es geht um das tragische Schicksal des 15-jhrigen Jungen Berkin Elvan. Er lag 269 Tage lang im Koma, am 11. Mrz starb er. Er sei kein Demonstrant, sagte Berkin Elvan zu den Polizisten, als er sich auf den Weg zu sei-ner Bckerei machte. Denn es gab immer noch den Widerstand, das Chaos und die Konflikte zwischen den Demonstranten und den Polizis-ten auf den Straen. Die Polizisten glaubten ihm nicht und schossen ihm mit einer Trnengaspa-trone an den Kopf. Berkin Elvan wurde schwer verletzt und kam im Koma ins Krankenhaus. Seit diesem Tag warteten seine Eltern, immer mit der Hoffnung, dass er aus dem Koma erwachen und wieder gesund werden wrde. 269 Tage spter endete sein viel zu kurzes Leben.

    Wie soll das eigentlich nun weitergehen, fra-gen sich die demokratischen Brger der Trkei. Obwohl die Antwort schon durch den Prozess

    um die Gezi-Proteste klar geworden ist, fragt man sich trotzdem: Wird der am Tod von Berkin Elvan schuldige Polizist verhaftet? Wird die Re-gierung mit dieser schrecklichen Polizeigewalt aufhren? Was machen die Demonstranten?

    Die Antwort kam schneller als gedacht: Ge-nau an dem Tag, an dem Berkin starb, am 11. Mrz 2014: Wieder gehen Demonstranten auf die Straen, diesmal zum Gedenken an Berkin Elvan. Wieder reagiert die Polizei mit Gewalt gegen die Demonstranten. Die Haltung von Mi-nisterprsidenten Erdoan gegenber den Pro-testen bleibt gleich. Zu sehen sind schon wieder viele Verhaftete und durch die gewaltttigen Polizisten verletzte Demonstranten. Der Verant-wortliche fr Berkins Tod bleibt ungeschoren.

    A u s O p fe r n m a c h t m a n T t e r

    Der Tod von Berkin darf nicht als isoliertes Er-eignis verstanden werden. Er ist das Resultat der Haltung der Regierung und ihrer gnadenlosen Polizeigewalt sowohl gegen die Gezi-Protestlern, als auch gegen die vorherigen friedlichen Protes-ten. Die TBB (Die trkische rztegewerkschaft) berichtete, dass vom Anfang der Gezi-Proteste bis zum 12. Juni durch Wasserwerfer, Trnengas und plastische Gewehrkugeln ca. 7 478 Personen verletzt wurden, 91 Menschen Traumata erlitten und zehn ihr Augenlicht verloren htten. Allein diese Zahlen beweisen ganz deutlich die unange-messene Polizeigewalt. Doch anstatt die Verhaf-tung der Verdchtigen voranzutreiben, forderte Erdoan seine Polizisten ber die Massenmedien zum Weitermachen auf. Es wurde nicht einmal versucht, die Mrder von Berkin Elvan, Abdul-

    lah Cmert und Ahmet Atakan zu finden. Selbst wenn die Verdchtigen bekanntgemacht werden und ein Verfahren gegen sie eingeleitet wird wie in den Fllen der getteten Ethem Sarslk und Mehmet Ayvalta, werden sie freigelassen. Die Polizeigewalt wird immer schlimmer. Noch schlimmer aber ist die Haltung von Erdoan: Whrend die Menschen in der Trkei hofften, dass der Verdchtigte an Berkins Tod verhaf-tet wird, nahm Erdoan die Polizei in Schutz und sagte, Berkin sei ein Terrorist gewesen. Er begrndete das mit einem Foto von Berkin, auf dem dieser auf der Strae sein Gesicht mit einem Schal bedeckte. So wurde aus dem Opfer Berkin ein Tter fr Herrn Erdoan.

    Diese Haltung von Herrn Erdoan ist uns nicht unbekannt. Wir mussten schon erfahren, dass die Verletzten bei den Protesten in be-stimmte Krankenhuser nicht gehen durften, weil die rzte dort behaupteten, sie seien Ver-rter. Darber hinaus wurde vielen Journalis-ten gekndigt, weil sie keine Handlanger der Regierung sein, sondern objektiv berichten wollten. Viele Menschen wurden verhaftet, weil sie das Recht zu protestieren fr sich in Anspruch nahmen und in einem demokrati-schen Land leben wollten.

    Seit der schlimmen Ereignisse im Gezi-Park ist die Trkei immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Der Park steht ganz symolisch fr den Anfang des Widerstandes, fr den Kampf fr Demokratie und Menschenrechte. An jedem Tag wird dieser Widerstand grer. Das trki-sche Volk hlt sich nicht mehr zurck, und die Menschen werden bewusster gegen die Regie-rung kmpfen. Ausgang offen!

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 201410 | KRIEG

    KriegEine Bankrotterklrung an die menschliche VernunftB E T R A C H T U N G : B e r n h a r d t

    Krieg bedeutet, dass Menschen sich ge-genseitig zu tten versuchen, die sich gar nicht kennen, geschweige denn ei-nen Streit miteinander haben, die aber verschiedenen Gruppen, zumeist Staaten, ange-hren. Deren Fhrer konnten sich ber irgend-ein Problem nicht einigen, oder der eine wollte den anderen mit einem Raubzug berfallen. An-statt nun, wenn keine Schlichtung mglich ist, selber zu kmpfen und den Sieger zu ermitteln, beschliet man, den anderen Staat mit einem Krieg zu berziehen und die Soldaten der bei-den Vlker gegeneinander zu hetzen.

    Damit verstt man gegen das fnfte Gebot Du sollst nicht tten sowie gegen das Naturrecht. Denn beim Beobachten der Natur lsst sich un-schwer erkennen, dass diese auf das Erhalten, Verteidigen, Fortpflanzen und Weiterentwickeln des Lebens angelegt ist; nicht auf dessen Vernich-tung. Ausnahmen sind bei Notwehr und bei Not-hilfe denkbar.

    Staatsfhrer knnen Kaiser, Knige, Herzge oder andere Adlige sein, aber auch Tyrannen, Despoten, Diktatoren und andere Gewaltherr-scher sowie demokratisch oder scheindemokra-tisch gewhlte Volksvertreter. Jedenfalls handeln sie als Landesherren, die kraft ihres Amtes fr

    die innere und uere Sicherheit ihrer Staaten zustndig sind und zur Erfllung dieser Aufgabe zumeist bewaffnete Streit-krfte beschftigen.

    Die zunchst unbeteiligten Brger, die zu den Waffen gerufen werden, mssen, wenn sie mit einigem Engagement kmpfen sollen, zunchst in eine gewisse Kriegsbegeisterung versetzt werden. Das geschieht durch Appelle an nationale Gefhle und eine psychologisch geschickt entfachte, aber oftmals verlogene Propaganda. Zweckmig ist auch der kirchliche Beistand, wenn die Kmpfer und deren Waffen von Kirchen-vertretern gesegnet werden auf beiden Seiten. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914 gab es patriotische Auf-rufe nicht nur von Kaiser Wilhelm II., sondern auch von dem damaligen Oberhofprediger Ernst Dryander. Der erklrte im Berliner Dom den Glubigen, wofr gestorben werden soll, mit den Worten: Wir ziehen in den Kampf fr unsere Kultur gegen die Unkultur. Fr die deutsche Gesittung gegen die Barbarei. Fr die freie, an Gott gebundene Persnlichkeit wider die Instinkte der ungeordneten Massen. Und Gott wird mit unseren gerechten Waffen sein (zitiert nach Deutschlandfunk, Tag fr Tag, Beitrag vom Montag, 24.02.2014)

    Ein Blick in die Geschichtsbcher zeigt, dass die Schicksale vieler Vlker geprgt sind von groen Kriegen und Schlach-ten. Der Begriff Schlacht weist deutlich auf den Zweck des Unternehmens hin, nmlich das Abschlachten von mglichst vielen Feinden. ber das gewaltige menschliche Leid der un-mittelbar Betroffenen sowie der Witwen und Waisen spricht man ebenso wenig wie ber die psychischen Traumen der berlebenden beider Seiten.

    Um dem Ganzen einen Schein von formeller Legalitt zu ver-leihen, haben sich einige Staaten 1899 auf die Haager Land-kriegsordnung betreffend die Gesetze und Gebruche des Landkriegs geeinigt. Diese gilt inzwischen als humanitres Vlkergewohnheitsrecht fr alle Staaten.

    Im Ersten Weltkrieg gab es in dem Stellungskrieg an der West-front eine denkwrdige Episode, die die Verruchtheit des Krie-ges offen legt. Dort verabredeten ber die Osterfeiertage der deutsche und der englische Frontkommandeur beide waren Christen - eine Feuerpause sowie ein Fuballfreundschaftsspiel und fhrten es auch problemlos durch. Es bedarf keiner Hervor-hebung, dass das kaiserliche Armeeoberkommando, als es da-von erfuhr, dies aufs Schrfste missbilligte und knftig verbot.

    Am Ende des Krieges bestimmt der Sieger ber die Kriegs-schuld und darber, wer welche Kriegsverbrechen began-gen hat. Von Kriegen profitiert immer die Geldindustrie, der Bankensektor. Sowohl zum Fhren der Kriege als auch fr den Wiederaufbau danach bentigen die Staaten Un-summen von Geld, das sie nicht haben. Geld, das sie der eigenen Bevlkerung abpressen, aber auch von internatio-nalen Banken erhalten, wenn es diesen opportun erscheint; gegen Zinsen und gegen Einfluss auf die Politik. Letztlich beherrschen Eitelkeit und Gier das Geschehen. Vernunft und Menschlichkeit bleiben auf der Strecke.

    Deutsche Soldaten als Kriegsgefangene in Belgien (Quelle: U.S. National Archives and Records Administration)

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 11

    Die ewige SucheDie beste Zeit des Lebens, und ab und zu ist KriegB E R I C H T : Ta n n a z

    Zugegeben, wenn man an Krieg denkt, wrde nie-mand als erstes an die Universitt denken. Doch was sich an deutschen Unis teilweise abspielt gleicht einem Krieg. Krieg zwischen Susi und Stefan und Stefan und Susi.

    S t e fa n m a g S u s i n i c h t

    Stefan mag Susi nicht. Warum wei er nicht. Schon am ersten Tag als die Uni begann wusste er, er mag Susi einfach nicht. Susi studiert mit Stefan zusammen Psychologie. Beide sind im fnften Semester und langsam beginnen sich die Studenten Gedanken um einen Job zu machen. Ein Job, in dem man reich wird und ewig arbeiten kann, weil es nie langweilig wird. Viele im Studiengang suchen sich so langsam bedeutende Stellen. Praktika werden gemacht und immer wieder die Frage: was werde ich und was werden die anderen?

    Susi fiel Stefan schon frh auf. Zu oft hatte sich Susi bereits im ersten Semester in den Seminaren gemeldet und wie die Dozenten zu sagen pflegten tolle Beitrge einge-bracht und dabei auch noch so wahnsinnig gut ausgesehen. Die bekommt bestimmt spter ohne Probleme einen Job, denkt sich Stefan. Manchmal kann er sich nicht auf das Semi-nar konzentrieren. Zu hasserfllt ist er, wenn Susi jedes Mal aufzeigt und zu allem und jedem eine Meinung hat. Stefan htte auch gerne eine Meinung, nicht nur auf Susi bezogen, sondern auf seine Zukunft, sich und sein Leben.

    D i e b e s t e Ze i t d e s L e b e n s

    Wie viele Studenten wei Stefan einfach nicht was er machen soll. Das wird die beste Zeit deines Lebens sagten seine El-tern immer. Susi feiert bestimmt jeden Tag und ist dennoch gut in der Uni.

    Im Bus stand Stefan mal mit Susi und einem Kommi-litonen zusammen. Susi berichtete, dass sie zurzeit eine Hausarbeit ber Depressionen bei Studenten schreibe. Wo-rum es genau ging, bekam Stefan nicht mit. Er hatte bereits aufgehrt zuzuhren und sich Susi vorgestellt, wie sie in ih-rer eigenen Praxis sitzt, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hat und mit ihm, als ihren Klienten, einen Tee trinkt. Ab und zu lacht sie. Sie lacht und verdient somit ihr Geld. Mit Stefan und seiner Depression. Stefan wird nicht so gut verdienen. Zumindest wei er nicht womit. Meine Hausarbeit handelt von der Verarbeitung von Albtrumen, erzhlte er ebenfalls im Bus.

    Doch er kommt nicht zum Schreiben. Auch am nchsten Tag nicht, als er sich fest vornimmt zu Uni zu fahren und den ganzen Tag in der Bibliothek zu verbringen. Er kommt nicht dazu, denn Stefan ist den ganzen Tag damit beschftigt, et-liche Bcher ber Depressionen zwischen de Bchern ber Kunstgeschichte zu verstecken. Soll Susi doch ewig suchen.

    . . . u n d a b u n d z u i s t K r i e g

    Manchmal wundert er sich selbst ber sein Verhalten. Dafr ist es jedoch schon zu spt. Der Krieg hat schon angefangen zwischen ihm und Susi. Sie will ihn herausfordern, er darf

    jetzt nicht weich werden und muss es ihr zeigen. Als er an ihrem Platz in der Bibliothek vorbeigeht und Susi dort sitzen sieht, grinst er sie an. Diesen Ausdruck hat er gestern lange vor dem Spiegel gebt. Er geht an ihr vorbei. Er wei nicht einmal wohin, er geht einfach.

    S u s i m a g S t e fa n n i c h t

    Susi schaut ihm hinterher. Susi mag Stefan nicht. Schon am ersten Tag fand sie ihn unsympathisch. Sie hasste es, dass er nicht aufzeigen musste, um sich und den anderen etwas zu beweisen. Sie hasste ihn fr seine ruhige Art und seine Gelas-senheit mit der er an sein Psychologiestudium ging. Er geniet sein Unileben und wird spter dennoch einen besseren Job haben, als sie. Und sie wird sich ihr Leben lang rgern, dass sie nicht das Leben genossen hat, sondern unzhlige Stunden am Lernen war. Neulich hat Stefan sie so aufgeregt, dass sie Ste-fan und einem Kommilitonen im Bus von ihrer Hausarbeit zu berichten anfing. So gut wie fertig sei die Hausarbeit ber die Depression bei Studenten. Doch bis auf die Depression, die Susi hat, steht kein einziger Satz.

    Stefan wird schon wahnsinnig weit sein mit seiner Haus-arbeit. Spter wird er ohne Probleme einen Job bekommen, eine eigene Praxis aufmachen und an unglaublich interessan-ten Fortbildungen teilnehmen. Irgendwann wird Susi auch in seiner Praxis sitzen und ihm von ihren alltglichen Albtru-men berichten.

    Stefan geht gerade bestimmt weitere Bcher fr seine Hausarbeit suchen. Da kann er ewig suchen, denkt sich Susi und hofft, dass Stefan nicht kunstinteressiert ist.

    Kriegsschauplatz Bibliothek (Foto: Tannaz)

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 201412 | KRIEG

    RosenkriegWozu lieben, wenn es auch anders geht?B E T R A C H T U N G : A n d r e a s P e t e r s

    Am Anfang war es Liebe, dann war es nichts anderes als eine Form des Krie-ges. Wenn eine Ehe getrennt wird, ist meist von der Liebe nichts mehr b-rig. Was bleibt, ist Wut, Hass, Rache, Geldgier, Vergeltung. Manches davon ist gerechtfertigt, manches ungerechtfertigt, manches nachvoll-ziehbar, anderes nicht. Vielfach wird dann von einem Rosenkrieg gesprochen. In dem gleich-namigen Film aus dem Jahr 1989 veranschauli-chen Michael Douglas und Kathleen Turner als tragische Helden, was es heit, wenn sich die ge-genseitige Abneigung soweit steigert, dass eine gtige Einigung nicht mehr mglich ist. Noch im Moment des Todes stt sie seine ausgestreckte Hand weg.

    D e r U r s p r u n g d e s R o s e n k r i e g s

    Der Begriff Rosenkrieg taucht erstmals im Zu-sammenhang mit dem Kampf zweier englischer Adelshuser im 15. Jahrhundert auf. Damals bekriegten sich die rivalisierenden Adelshuser

    York und Lancaster um die Krone. Es ist nicht gesichert, dass die Wappen der beiden Adels-huser eine Rose (eine rote und eine weie) als Symbol beinhalteten. Dennoch wurden die Auseinandersetzungen der Adelshuser damals als Rosenkriege bezeichnet. Der Begriff Rosen-krieg ist durchaus aktuell und in der Regenbo-genpresse omniprsent. Man mchte meinen, es ist ein dankbares Thema, wenn andere an ihrer Liebe scheitern und sich bis aufs Messer bekmpfen. Dann fallen alle Schranken, werden vernunftbegabte Menschen schamlos und setzen ihren eigenen guten Ruf aufs Spiel. Das ist bei den Groen und Berhmten nicht soviel anders, als bei dem gemeinen Brger. In vielen Fllen gilt dann: Je grer die Liebe war, umso grer ist der Hass am Ende.

    D a s B o b b e l e u n d d i e B a b s i

    Man denke nur an die Geschichte unseres rot-haarigen Tennisidols Boris Bobbele Becker und seiner Anvermhlten Babara. Erst sah alles

    aus wie ein Traum, doch dann kam der gar nicht so sportliche Seitensprung des Wimbledon-Siegers, und alles begann zu kippen. Erst ein Rechtsstreit, bei dem er letzten Endes viel zahlen musste. Dann legte Babsi noch eins drauf und setzte sich mit den beiden gemeinsamen Kindern ins sonnige Miami ab. Fr den in Deutschland weilenden Boris der ultimative Kick fr das nchste Match und der Beginn eines lange wh-renden Rosenkrieges. Dass sich beide heute wie-der freundschaftlich begegnen und die Kinder davon profitieren knnen, macht gerade jenen Mut, die mit Verzweiflung darum ringen mit dem ehemals geliebten Menschen wieder eine Basis fr Begegnung zu finden und sei es nur um der Kinder willen. Manche kommen vielleicht gar an diesem Punkt, wo deutlich wird, dass eine Schei-dung vielleicht htte vermieden werden knnen. Man muss ja nicht gleich ein zweites Mal heira-ten, wie es uns damals das Traumpaar Burton/Taylor vorgemacht hat. Aber mal im Ernst, mit Selbsteinsicht und Reflexion hatte das bei den Beiden eh wenig zu tun, dazu haben sie einfach zu tief ins Glas geschaut.

    E i n e r b e g i n n t d e n R o s e n k r i e g

    Wer sich aber jemals durch das Fremdgehen des anderen tief verletzt fhlte, der kennt sicher den Drang zur Rache und zum Fertigmachen. Ge-fhle wirken nun einmal sehr tief und fundamen-tal. Es ist nicht leicht, sie einfach rational aus-zuschalten. Hinzu kommt das ebenso unbndige Bedrfnis, dem anderen die eigenen, unschnen Gefhle anzulasten und Schuld fr alles zu ge-ben. Klar, man knnte sich sagen, je bewusster und sachlicher ich mit meiner eigenen Situation umgehen kann, desto weniger werde ich einem drohenden Rosenkrieg l ins Feuer gieen. Und, wenn der andere trotzdem weiterhin schimpft, intrigiert, lgt, schreit und manipuliert, so ist er halt noch nicht so weit.

    Ich frage mich gerade, ob es wirklich so ist, dass es zum Frieden unbedingt zweier Men-schen bedarf, whrend es zum Krieg nur eines bedarf. Es reicht schlielich, wenn einer der bei-den Rosenkrieger anfngt, den anderen auszu-spionieren, sein Vermgen zu verprassen, seine Lebensversicherung aufzulsen, den Ehever-trag anzufechten, den Neuen oder die Neue in Verruf zu bringen, seine Einknfte zu frisieren. Alles l im Feuer des Rosenkrieges. Aber Hand aufs Herz: Ist Rosenkrieg nicht auch ein wenig eine blumige Umschreibung des ganz normalen Alltags-Wahnsinns? Sich davon hin und wieder ganz bewusst eine Auszeit zu nehmen, ist dem einfachen Menschen ohne weiteres mglich. Von solch einem Luxus knnen die Schnen und Rei-chen leider nur trumen.

    Der Rosenkrieg (Quelle: Filmplakat)

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 13

    KriegsspieleDie Gefhrlichkeit von Spielen und ihre UrsachenB E R I C H T : C a D a ( v e r k a u f t d e n s t r a s s e n f e g e r )

    Unter Kriegsspielen versteht jeder Leser im ersten Moment sicher etwas ande-res. Der eine Teil denkt dabei sofort an Politiker und deren aktuelles Handeln im Tagesgeschehen, zum Beispiel die Ereignisse in der Ukraine und auf der Halbinsel Krim. Der andere Teil denkt vielleicht an Berichte in den Medien, wonach Kinder und Jugendliche nach dem Spielen von Computerspiele mit Kriegsin-halten, den sogenannten Shootergames, Amok gelaufen sind.

    Wa s s i n d K r i e g s s p i e l e e i g e n t l i c h w i r k l i c h ?

    Ursprnglich haben Feldherren und Generle damit ihren untergebenen Offizieren ihre Tak-tik im Kampf fr die bevorstehende Schlacht erklrt. Meist taten sie es dadurch, dass sie ih-nen mittels Schwertspitze die Bewegungen der einzelnen Einheiten in den Sand malten. Daraus entstand irgendwann mal der Begriff Sandkas-tenspiele im militrischen Sinne. Darber hi-naus haben in den vergangenen Generationen Jungen im Spiel ihre Krfte erprobt. Zur Kai-serzeit war dabei die Ausrichtung ihres Spieles auf den militrischen Bereich ausgerichtet, denn Kinder ahmen nun mal gerne die Groen nach, und die Kaiserzeit war nun mal sehr militrisch orientiert. Heutige Kriegsspiele am PC sind im Grunde eine Kombination von beidem.

    Wa s b i l d e t d e n R e i z a n h e u t i g e n K r i e g s s p i e l e n i m I n t e r n e t ?

    Fr einige der Spieler liegt sicherlich der Reiz im Team zu spielen, sich dabei mit Spielern in ihrer Reaktionsgeschwindigkeit und Auffassungsgabe zu messen. Es ist vielleicht auch spannend, dass man mit fremden Menschen im Internet zusam-menkommt, sie bekmpfen kann, ohne dabei real einen Menschen zu verletzen. Ihnen macht es ver-mutlich Spa, ihren vermeintlichen Gegner eher zu entdecken und ihn zu vernichten, als von ihm entdeckt zu werden. Fr andere Spieler mag es eine Mglichkeit sein, ihre angestauten Aggressi-onen abzubauen. Bei einigen dieser Spiele muss man auch nicht sonderlich viel berlegen, was man wie tun muss, um zu gewinnen.

    Andere Kriegsspiele wiederum bedingen, dass man sich als Spieler schon im Vorfeld ei-nige taktische Gedanken macht. Womit jetzt nicht die Gedanken zu den Grundeinstellungen im Spiel gemeint sind, die zu Beginn der Spiele vorgenommen werden mssen. Wie bei allen In-ternetspielen ist dabei aber der Zeitfaktor oder besser gesagt die Zeit die man am Rechner dabei verbraucht, der entscheidende Faktor. Frher hat man Gesellschaftsspiele wie Mensch rgere

    Dich nicht oder Skat gespielt und sich mitei-nander beschftigt. In heutiger Zeit beschftigt man sich nun auf diese Weise.

    We l c h e A l t e r n a t i v e n g i b t e s z u K r i e g s s p i e l e n ?

    Wenn man nicht Krieg spielen mchte, so kann man auf viele andere Spiele im Internet zurck-greifen, denn es gibt bereits sehr viele Spielplatt-formen, auch Spielseiten genannt. Dabei kann man nach Kategorien whlen, es gibt kurzwei-lige Spiele wie z. B.: Slotspiele, auch als einar-mige Banditenspiele bekannt, oder Spiele, bei denen man irgendwelche Dinge einsammeln muss. Dann gibt es Aufbauspiele, wo irgendwel-che Farmen oder andere Dinge errichtet werden mssen. Die nchst hhere Kategorie an Spie-len wre Strategie-Aufbauspiele dort muss man meist irgendwelche Knigreiche oder Stdte aufbauen und zur Blte fhren. Und als weitere Kategorie gibt es noch die Managerspiele und Handelssimulationen.

    Im Internet wie im realen Leben ist es natr-lich immer besser, sich mit seinen Mitmenschen direkt zu beschftigen. Das Internet ist doch, selbst wenn man in einem Team spielt, sehr un-persnlich, auch wenn man mittels Webcam und Teamspeak-Programm etwas persnlichere Kon-takte aufbauen kann.

    Kriegsspiele als schlecht zu verdammen, bringt aus meiner persnlichen Sicht nichts, denn es wird immer Menschen geben, die sich mit diesen Spielen im realen - wie im Cyberleben beschftigen werden. Karikatur: OL

    Fans beim Warhammer spielen (Quelle: wikimedia)

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 201414 | KRIEG

    Friedenssymbol

    Alfred Hermann Fried (1864-1921) (Quelle: Wikipedia/ George Grantham Bain Collection/United States Library of Congress)

    PazifismusKrieg prinzipiell ablehnen bewaffnete Konflikte vermeiden dauerhaften Frieden schaffenB E R I C H T : D e t l e f

    Gerade in Zusammenhang mit Krieg hat sich die Menschheit seit Grn-dung der Zivilisation darber Ge-danken gemacht, wie man Frieden stiften und lnger halten kann. Das

    vielfache Sterben, das Elend und die dadurch oft verursachten Hungersnte haben dann hufig zu Grndungen von Pazifismusbewegungen ge-fhrt. Was aber ist eigentlich Pazifismus, und wie wird er definiert? Im Online-Lexikon Wiki-pedia wird Folgendes gesagt: Unter Pazifismus versteht man im weitesten Sinne eine ethische Grundhaltung, die den Krieg prinzipiell ablehnt und danach strebt bewaffnete Konflikte zu ver-meiden, zu verhindern und die Bedingungen fr dauerhaften Frieden zu schaffen. Eine strenge Position lehnt jede Form der Gewaltanwendung kategorisch ab und tritt fr Gewaltlosigkeit ein.

    D i e A n f n g e i n D e u t s c h l a n d

    Als Schpfer des Wortes gilt der Franzose J. B. Richard de Radonville, der den Begriff erstmals definierte. Er sprach von einem System der Befriedigung des Friedens; alles was den Frie-den zu stiften und zu bewahren bestrebt ist. Es

    gelang Radonville aber nicht, seine Definition zu etablieren. Erst 1901 war das schlielich der Fall. In einem Artikel vom 15. August 1901 in der belgischen Zeitung LIndpendance Belge forderte der franzsische Notar und Prsident der Ligue internationale de la Paix et de la Li-bert Emile Arnaud, die Verwendung des Be-griffes. Er sollte die Gesamtheit individueller und kollektiver Bestrebungen bezeichnen, die eine Politik friedlicher, gewaltfreier zwischen-staatlicher Konfliktaustragung propagieren und den Endzustand einer friedlich organisierten, auf Recht gegrndeten Staaten- und Vlkerge-meinschaft zum Ziel haben.

    In Deutschland etablierte sich der Begriff genau wie die Friedensbewegung nur mhsam, whrend sie international schon weitgehend eta-bliert war, existierte sie de facto eigentlich vor dem Ersten Weltkrieg berhaupt nicht, obwohl sich der damalige Vorsitzende der deutschen Friedensgesellschaft, Alfred Hermann Fried, intensiv ffentlich darum bemhte. Der Phi-losoph Rttgers schrieb dazu 1989 im Artikel Pazifismus in Historischen Wrterbuch der Philosophie, Band 7 (Darmstadt 1989), dass der Pazifismus zur privaten Einstellung, der Frieden sei dem Krieg allgemein vorzuziehen, trivialisiert wurde. So aber knnte sich jeder-mann einen Pazifisten nennen.

    Den Pazifisten und der Friedensbewegung wurde nach dem Ersten Weltkrieg vorgeworfen, dass sie whrend des Krieges zu passiv gewe-sen wren. Helmut Gerlach, Angehriger der Bewegung, uert sich dazu folgendermaen: Uns Pazifisten ist manchmal von befreundeter Seite vorgeworfen worden, wir htten whrend des Krieges zu wenig getan. Mir scheint, wir haben unter bernahme nicht ganz unerheb-licher persnlicher Risiken getan, was wir tun konnten, ohne illegal zu werden. Im politi-schen Handwrterbuch verteidigt Paul Herre, der Herausgeber des Buches Pazifismus Po-litisches Handwrterbuch (Leipzig 1923) die Pazifisten: Der Pazifismus hat sich im Welt-kriege als Macht ersten Ranges erwiesen. () Die Geschichtsauffassung des Pazifismus ist im Kriege zur ffentlichen Meinung der Welt ge-worden und in der deutschen Revolution auch zum offenen Bekenntnis breiter Schichten des deutschen Volkes.

    Heute wird den Pazifisten hufig vorgewor-fen mit ihrer gesinnungsethischen Grundhaltung, die in frheren Zeiten berechtigt war, gbe es kei-nen Umgang mit neuen Formen der Gewalt. In

    einem Artikel in der Frankfurter Rundschau am 7. Januar 2002 sagte dazu Ludger Vollmer: Ein solcher Pazifismus setzt sich als universale Ethik, an deren Ansprchen der Pragmatismus jeder Regierung scheitert. Aber: Kann die pazifistische Gesinnung diesen Absolutheitsanspruch mit Recht erheben? Oder drcken sich nicht viele, die sich Pazifisten nennen, vor der Verpflichtung, die politische Bedingtheit ihrer Grundeinstellung zu bedenken und zur Debatte zu stellen?

    E i g e n e r B e z u g z u m Pa z i f i s m u s

    Ich erinnere mich noch an eine Protestveranstal-tung gegen den Irakkrieg, der vom damaligen amerikanischen Prsidenten George W. Bush begonnen wurde und mich tief beeindruckt hatte. ber hunderttausend Menschen waren bei dieser Veranstaltung in Berlin und bekann-ten sich zu ihrer Meinung gegen den Irakkrieg. Die Liedermacher Hannes Wader, Reinhard Mey und Konstantin Wecker sangen gemeinsam mit den Protestlern Waders Lied: Es ist an der Zeit. Ich war tief beeindruckt von dieser Ver-anstaltung und diesem ffentlichen Bekenntnis.

    Ich war schon immer ein Anhnger der pa-zifistischen Bewegung und werde es bleiben. In meinem Leben dominiert der Gedanke der Gewaltfreiheit. Das Ausben von psychischer Gewalt ist auf jeden Fall abzulehnen, weil es die Menschen krank machen kann. Ich behaupte aber nicht, dass ich nun ein Engel bin, glaube aber, dass es mir weitgehend gelingt gewaltfrei zu leben. Wenn man sieht, wie viel Leid Krieg ber die Menschheit gebracht hat, muss man ganz klar sagen: Es wird und kann im Krieg keine Sieger geben.

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 KRIEG | 15

    Httet ihr auf das Messer nicht gesetztStrukturelle Gewalt und Strukturen zur Frderung von GewaltB E T R A C H T U N G : J a n M a r k o w s k y

    Einige Gedichte haben bei mir einen be-sonderen Eindruck hinterlassen. Dazu gehrt An meine Landsleute. Ich zi-tiere die zweite Strophe: Ihr Mnner, greift zur Kelle, nicht zum Messer!/ Ihr set un-ter Dchern schlielich jetzt/ Httet ihr auf das Messer nicht gesetzt/ Und unter Dchern sitzt es sich doch besser./ Ich bitt euch, greift zur Kelle, nicht zum Messer!

    S a a l s c h l a c h t e n a l s Vo r b o t e n d e s g ro e n S t e r b e n s

    In der Danziger Strae ist Ecke Lychener Strae die Kneipe Zum Schusterjungen. Der Schuster-junge war der Treffpunkt der Nazis. Auf der an-deren Straenseite war die Kneipe der Sozis und in der Lychener Strae ist wenige Schritte von der Ecke entfernt das Fengler, bis 1933 Treff der Kom-munisten. In den 30er Jahren kam es immer wieder zu Saalschlachten, an der Ecke dort zu Massen-schlgereien. Legendr sind die ttlichen Ausei-nandersetzungen zwischen den Kommunisten und den Nazis. Beide Seiten hatten sich parami-litrisch organisiert: Die Kommunisten mit ihrem Rot Front Kmpferbund und die Nazis mit der SA. Und die Sozialdemokraten wurden weder von den Nazis noch von den Kommunisten gelitten.

    Trotz aller Prgeleien waren sich Nazis und Kommunisten bis Januar 1933 nher, als es die Propaganda der DDR glaubhaft machen wollte. In Zittau wurde mir erzhlt, dass sich nach der Saalschlacht Nazis und Kommunisten bei Bier und Schnaps getroffen und gegenseitig ihre Schlagkraft bewundert haben. Ich habe ein Bild aus den 30er Jahren gesehen, bei dem ein SA-Mann und ein Mann vom Rot Front-Kmpfer-bund eintrchtig mit dem Schild Wir streiken nebeneinander stehen. Das war zum BVG-Streik im Sommer 1932. Nichtsdestotrotz haben sie sich gekloppt wie die Kesselflicker.

    Ja, wer sich im Besitz der absoluten Wahrheit whnt, hat keinen Anlass zu reden, der haut lieber zu. Der Held der SA-Schlger war ein Diktator, der sich Adolf Hitler nannte und der Held der Rot Front Kmpfer war ein Diktator, der sich Stalin nannte. Sowohl Hitler als auch Stalin haben Mil-lionen Menschenleben auf dem Gewissen.

    U n t e r t a n e n g e i s t u n d w o r k fa re a l s H e l fe r f r D i k t a t o re n

    In einer Dokumentation wurde ein SA-Mann zitiert: Ich mache Dienst! Das Gefhl des

    Gebrauchtwerdens schweit eine Gemein-schaft zusammen. Das Leben unter Seines-gleichen macht blind fr die Welt auerhalb der Peer-Group. Das begnstigt Ausgrenzung und Diskriminierung der Menschen, die nicht zur Peer-Group gehren. Dazu kommt Angst gepaart mit dem Gefhl der Ohnmacht. In Deutschland vor der Geheimen Staatspolizei, in Russland vor der GPU.

    Im Hartz-IV-Deutschland gibt es keine Konzentrationslager wie bei den Nazis, keine Arbeitslager wie in Russland, keine industrielle Ttung von Menschen wie in den Vernichtungs-lagern der SS, keine willkrlichen Verhaftun-gen, wie es zu Lebzeiten Stalins in Russland blich war. Solche extreme Formen des Terrors haben wir nicht. Dennoch sind die Auswirkun-gen von workfare sprbar. Eine Million Sanktio-nen im Jahr 2013 gegen Empfnger von ALG II sind eindeutig zu viel. In diesem Jahr wurde im Internet ber die Wirkung von Sanktionen eine Studie aus Nordrhein-Westfahlen besprochen. Die Sanktionierten sahen ihre Strafe ein, aber als Ergebnis der Sanktion zogen sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurck. Ausgrenzung statt Aktivierung!

    Allein der Umgang in den Jobcentern mit ihren Kunden spricht Bnde. Natrlich sit-zen dort Mitarbeiter, die das Sozialgesetzbuch korrekt anwenden und kundenorientiert ent-scheiden. Die Kunden, besonders Menschen mit hohem Frderbedarf, sind aber den ande-ren Mitarbeitern in der Regel hilflos ausgelie-fert. Das Verhalten ist systemimmanent. Die Bundesregierung schrnkt die Mglichkeiten der juristischen Wehr gegen Bescheide syste-matisch ein. Der Umgang in Jobcentern hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Druck auf die Arbeitslosen erzeugt immer Druck auf die Arbeitnehmer.

    Fa z i t

    Die Bundesrepublik ist auf dem Weg zum Ob-rigkeitsstaat mit seinen zu Allem bereiten Un-tertanen. Ich kann die bernahme der Macht durch einen neuen Diktator in Deutschland nicht ausschlieen. Die Bundesregierungen haben angefangen, vom Amt Blank unter Ade-nauer systematisch die Voraussetzungen fr Beteiligung deutscher Untertanen an Kriegen geschaffen. Es ist Zeit, sich von der Politik un-abhngig zu machen. Ich bitt euch, greift zur Kelle, nicht zum Messser!

    Bertolt Brecht (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jrg / CC-BY-SA)

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 201416 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    01

    Eden im Erdgeschoss, Hlle im Himmel Die Ausstellung Making Eden von Yinka Shonibare in der Galerie Blain|Southern R E Z E N S I O N & F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Miss Utopia verweilt auf einem weien run-den Sockel so schn. Aus ihrem Hals ragt ein glnzender Globus, in dem sich Licht bricht. Sie trgt eine hochgeschlossene, puffrm-lige Robe im viktorianischen Stil, die jedoch

    aus unterschiedlich gemusterten Stoffbahnen genht wurde. Purpurrote Pumps mit schwarzen Abstzen auf grnlichem Hintergrund sind darauf zu erkennen und schwarz-weie Serpentinen, die sich auf einem blau-schwarzen, stellenweise orangenen Netz schlngeln. Nicht zu bersehen ist auch die eng anliegende, bis zu den Oberschenkeln reichende Weste, mit Glasperlen in den Farben des Kleides bestickt. Aus der bodenlangen Kluft lugt etwas verschmt der rechte Fu her-vor, mit einem plumpen Sneaker in Lila und Gelb beschuht. Tuschend echt und prchtig ist der Blumenstrau, den Miss Utopia in ihrer rechten Hand hlt: eine kstliche Komposition aus kornblumenblauen und dunkelgelben Stoffanemonen. Mit ihrer Linken macht die Lady winke winke.

    U n v e r ke n n b a r b i z a r r

    Miss Utopia ist das weibliche Pendant zu Petrus, dem Wchter der Himmelspforte. Sie ldt ein ins Paradies, das der Knstler Yinka Shonibare MBE auf seine unverkennbare ornamentale und bizarre Art in der Berliner Dependance von Blain|Southern kreiert hat. Making Eden heit seine erste, scheinbar recht kleine Einzelausstellung in den riesigen Galerierumen, in de-nen bis vor kurzem Der Tagesspiegel gedruckt wurde. Der 52-jhrige Nigerianer, ein postkolonialer Hybrid aus Lon-don und seit 2005 Trger des The Most Excellent Order of the British Empire, mit dessen Krzel MBE er seinen Namen schmckt, ist ein subversiver Artist, der Geschichte, Gepflo-genheiten und tradierte Vorstellungen kritisch mustert und sie gern auf den Kopf stellt. Deshalb hat er seinen Eden im Erdgeschoss erschaffen: ebenerdig, aber ansonsten mit all dem bestckt, was zu unserem Wunsch- und Trugbild vom Paradies gehrt. Adam und Eva stehen dort unter einem Ap-felbumchen, beide ohne Kopf und ohne Feigenblatt, denn von Hals bis Fu mit schmucken Gewndern garniert. Mit sei-nem wildgemusterten Gehrock und einer krassen Hose wirkt der Urvater der Menschheit wie ein Hipster, whrend die Urmutter in einem recht konventionellen, tiefdekolletierten und rmellosen Rschchenkleid steckt. Die Schlange guckt gebannt auf den verhngnisvollen Apfel in deren Hand. Die

    Skulptur ist dem Gemlde Adam und Eva von Lucas Cranach d. . nachempfunden. Wo sind aber die anderen Tiere?

    G e n s s l i c h s l i c h

    Keine Bange: Die niedlichen kleinen Plastiktier-chen sumen 75 runde, mit buntem Stoff berzo-gene Panels. Sie hngen auf einem himmelblauen Fries an der Wand: Katzen und Spatzen, Giraf-fen und Affen, Kfer und Klffer, Eidechsen und Fchse, Elefanten und andere Giganten wie Ka-mele und Gazellen, geschweige denn Schweine, Pferde, Muse, Insekten mit und ohne Gehuse. Es macht Spa, dass dazwischen Strass fun-kelt. Das Relief mit dem Titel Eden Painting erinnert an einen Tisch, auf dem viele lustige Geburtstagstrtchen stehen. Oder an ein Firma-ment, an dem viele Sterne aus dem Playmobile-Sortiment strahlen. Es ist niedlich und friedlich, gensslich und slich, eine heile und harmo-nische Welt, wie mit Zuckerguss berzogen. Kitsch ist der Stoff, aus dem die Trume vom Garten Eden sind. Ich habe mich fr Adam und Eva und das ganze Drum und Dran entschieden, weil ich Metaphern brauche, die im Westen all-gemein verstndlich sind. Dazu gehrt die christ-liche Ikonographie. Ich persnlich glaube nicht daran, dass Gott Eva aus Adams Rippe schuf. Es geht mir nicht um Religion, ich mchte zeigen, wie Mythen konstruiert werden und wie sie funk-tionieren, sagt Yinka Shonibare MBE. Warum sind alle drei Figuren bekleidet? Weil ich tolle Kostme machen lassen wollte. Und dass Miss Utopia statt eines Kopfes einen Himmelsglobus trgt, ist ein Symbol der endlosen Mglichkeiten des Denkens und Trumens in Zeiten der Glo-balisierung.

    G e w a l t o h n e H a l t

    Kitsch und Utopie liegen eng beieinander: Die meisten Menschen wnschen sich eine ideale und heile Welt, deren Aufgabe es ist, ihre Rechte,

    I N FO

    Yinka Shonibare MBE: Making Eden Noch bis zum 19. April in der Galerie Blain|Southern

    Potsdamer Strae 77-87, 10785 Berlin

    Montag bis Freitag: 10 18 Uhr, Samstag: 10 17 Uhr

    Eintritt frei

    www.blainsouthern.com/gallery-info/berlin

    www.yinkashonibarembe.com

    02

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

    01 Yinka Shonibare

    02 Yinka Shonibare MBE, Eden Painting (Detail), 2013

    03 Yinka Shonibare MBE, Adam and Eve, 2013

    04 Yinka Shonibare MBE, Impaled Aristocrat, 2013

    Bedrfnisse und Wrde unabhngig von der Hauptfarbe, Herkunft, religiser oder staatlicher Zugehrigkeit zu respektieren. Das Bild einer ge-rechten, friedfertigen und demokratischen Welt, in der alle glcklich, satt und zufrieden sind, wird herbeigesehnt und hufig verklrt: Utopien, die verwirklicht werden, beginnen und enden hufig gewaltsam. Aus Utopien entstehen nmlich Revo-lutionen, die oft in Blut und Flammen zu ersticken drohen. Ich bin kein Pazifist, aber als zeitgens-sischer Knstler mache ich mir Gedanken ber den Zeitgeist, ber Conditio humana und Kondi-tionierung, sagt Shonibare. Ich merke, dass es noch nie so viele News und Berichte ber Gewalt und Tote gab. Es ist eine Gewalt ohne Halt, denn die blutigen Bilder werden rund um die Uhr in die Wohnzimmer getragen. Was wollen die Leute da-mit erreichen? Revolution kann einen Neuanfang bedeuten, doch wenn die Revolutionre an die Macht kommen, werden sie noch schlimmere Des-poten als jene, die sie entmachtet haben. Robert Mugabe war Freiheitskmpfer, der sich als Dikta-tor entpuppte: gestern verehrt, heute ein Bastard.

    I d e a l i s t e n u n d Te r ro r i s t e n

    Whrend Yinka Shonibare das Paradies in der Parterre platziert hat, liegt seine Unterwelt hoch hinaus, in der obersten Etage der einstigen Rota-tion, wo er die Revolution schalten und walten lsst. Dort geht der nachdenkliche Knstler der Frage nach, warum aus Idealisten Terroristen werden. Sind alle Freiheitskmpfer Terroristen oder umgekehrt, je nachdem, wer ber ihre Hal-tung urteilt? Die Revolutionen sind grundstzlich in Ordnung, doch sie knnen sich ins Gegenteil verkehren, denn die Menschen sind dummdreist, hasserfhlt und verblendet. Sie folgen nicht dem Verstand, sondern den niedrigsten Instinkten, sodass sie leicht verfhrt und manipuliert wer-den knnen. Wenn man die Treppe zur Hlle der Revolutionre erklommen hat, begegnet man schaurig-schnen Figuren und Bildern, die Glanz und Elend unserer Spezies symbolisieren.

    Zuerst scheint dort ein kalbskpfiger Knabe na-mens Revolution Kid (Calf) ber dem Boden zu schweben. Tatschlich balanciert er auf einem Seil und hlt eine goldene Pistole in der rechten sowie ein BlackBerry in der linken Hand. Die hochkartige Knarre ist nicht zufllig Browning hnlich, die Oberst Gaddafi bis zu seinem gewalt-samen Tod bei sich trug. Auch das Smartphone ist heute eine Waffe, mit der sich Jugendliche blitzschnell zu Flaschmobs zusammenfinden, wo sie ihren Frust brachial entladen knnen.

    D c a d e n c e p a r e xe l l e n c e

    Wenn die Kalbskpfe erwachsene Revolutionre werden, steht ihnen nicht immer Gutes bevor. Schn, dass sie wenigstens Aufsehen erregend und theatralisch streben, wie zum Beispiel der sterbende Adelige: mit erhobener Hand, von ei-nem Schwert aufgespiet, kopflos. Kopflos ist ebenso die Revolution Ballerina, die sozusagen das lebende Gegenstck zum Impaled Aristo-crat bildet. Sie steht auf Zehenspitzen und be-rhrt mit zwei gekreuzten altmodischen Pistolen fast die Decke. Es ist keine unschuldige Balle-rina, doch sie hat einen aristokratischen Touch, sagt Yinka Shonibare. Ich liebe die Aristokra-tie und mchte sie zugleich tten. Rokoko das ist fr mich dcadence par exellence. Deshalb verpasst er seinen Mannequins und Puppen aus Fiberglas rokokoartige Kostme, die sich hu-fig auf die sptere viktorianische Zeit beziehen. Doch der Stoff, aus dem sie genht werden, ist weder Seidenbrokat noch Seidendamast, son-dern Duch Wax, die niederlndische bedruckte Wachsbaumwolle. Ursprnglich in Holland her-gestellt, gelangte sie im 19. Jahrhundert nach Af-rika und gilt seitdem als typisch afrikanisch. Eine typisch menschliche Version der Revolu-tion sind 14 kleinformatige Arbeiten auf Papier, ein Mix aus Collagen, Zeichnungen und 22-kar-tigem Blattgold. Darauf sind Revolver, Blumen, Zeitungsausschnitte sowie berhmt-berchtigte Kpfe zu sehen, darunter Lenin, Stalin, Trotzki,

    Franco, Zapata, Mugabe, Ted Bundy, Susan Smith oder Jonas Savimbi.

    M i t C h a r m e , I ro n i e u n d E s p r i t

    Yinka Shonibare hat sich in letzter Zeit auch als Fotograf, Filmer und Zeichner einen Namen ge-macht, ohne seine kopflosen Aristokratinnen und Aristokraten, die er seit ber 15 Jahren bauen und kostmieren lsst, zu vernachlssigen. Die Kunstwelt reit sich um ihn: Allein im vorigen Jahr reiste der an Transverser Myelitis erkrankte, einseitig gelhmte Mann nach Kopenhagen, San Diego, Danzig und Breslau sowie an viele Orte in Grobritannien, um an den Erffnungen seiner Einzelausstellungen teilzunehmen. Yinka Shoni-bare ist ein gefragter und gefeierter Knstler, was nicht wundert. Mit Charme, Ironie, einer Prise schwarzen Humors und sehr viel Esprit setzt er sich mit Klischees, Konstruktion und Dekonst-ruktion von Geschichte, Kolonialismus, Post-kolonialismus und Identitt auseinander. Diese schwierigen Themen stellt er mit einer unber-troffenen Leichtigkeit und bewundernswerter Konsequenz dar. Er spielt mit Stereotypen und Vorurteilen, indem er zeigt, dass vieles, was als selbstverstndig empfunden wird, paradox, widersprchlich und schdlich ist. Nicht jede Tradition verdient es, gepflegt zu werden. Sonst werden stets solche Menschen ihren Kopf durch-setzen, die offensichtlich keinen Kopf haben.

    03 04

  • I N FO

    www.joanbaez.com/tourschedule.html

    strassenfeger | Nr. 7 | April 201418 | TAUFRISCH & ANGESAGT I N S P

    01 Joan Baez und Bob Dylan 1963 (Quelle: U.S. National Archives and Records

    Administration)

    02 Joan Baez beim 42. Jazzfestival in Montreux am 6. Juli 2008. (Foto: REUTERS/Valentin Flauraud)

    Sozialbewusstsein, Mut und SongwritingExklusivinterview mit Joan Baez I N T E R V I E W : J a n e G r a h a m ( w w w . s t r e e t - p a p e r s . o r g / T h e B i g I s s u e U K ) B E R S E T Z U N G : L i n d a H e r r m a n n

    Die amerikanische Folksngerin Joan Baez gelangte in den 1960ern mit Songs, die auf soziale Ungerechtig-keiten aufmerksam machten, zu Be-rhmtheit. Sie spielte live in Woodstock und arbeitete mit einigen der grten Namen der Musikgeschichte zusammen. Mittlerweile ist die verehrte Musikerin und Aktivistin 73. Jane Gra-ham von Big Issue UK berichtete Joan Baez ber ihre von ngsten geprgte Teenagerzeit, ihre Beziehung zu Bob Dylan, und warum sie sich auf die Seite der Benachteiligten stellt.

    W i e a l l e s b e g a n n

    Vieles hat mich beeinflusst und meine Wurzeln sind vielfltig. Meine Mutter ist ursprnglich aus Edinburgh, und als ich die Stadt besuchte, habe ich mich voll und ganz in sie verliebt. Besonders die St Johns Kirche auf der Princes Street hat es mir angetan, nachdem ich herausfand, dass mein Grovater dort Prediger war. Ich war ge-rade mal 16, als ich Gitarre spielen lernte, und doch wurde dies schnell zu einer Leidenschaft. Als ich klein war, sind wir viel umhergereist, was es natrlich schwer machte, immer wieder neue Freunde in neuen Schulen kennenzulernen. Ich bemerkte schnell, dass das einzige, was mich mit den Menschen oder dem Schulleben verband, mein Gesang war. Ich sang immer in der Mittags-pause und alle hrten mir zu.

    Als ich Pete Seeger das erste Mal spielen sah, war ich 13. Ich versuche immer noch mit dem Gedanken klarzukommen, dass er tot ist. Bis dato hatte ich immer nur R&B und afroafrikanische Musik mit vier Akkorden gesungen, denn die Musik der weien Szene schien eher provisorisch und einfltig. Dann nahm mich meine Tante mit auf ein Konzert von Pete Seeger und es war genau diese Mischung aus Sozialbewusstsein, Mut und Songwriting, das mich komplett vernderte.

    Zw i s c h e n a m b i t i o n i e r t u n d s c h c h t e r n

    Ich war eine ziemlich ngstliche Jugendliche, und extrem schchtern noch dazu. Viele Jahre lang hatte ich groes Lampenfieber, doch wenn ich die

    Bhne betrat, war ich eine komplett andere Person. Als 16-jh-riges Mdchen verbrachte ich also viel Zeit damit, zwischen diesen zwei Persnlichkeiten hin- und hergerissen zu sein, der ambitisen Knstlerin und dem schchternen und ngstlichen anderen Ich. Und obwohl beides nicht zusammen passte, waren es beide Persnlichkeiten, die mich letztendlich ausmachten. Wenn ich jedoch ber das sang, an das ich glaubte, nmlich so-ziale Gerechtigkeit, dann machte mich das strker. Schchtern war ich natrlich immer noch, aber ich wuchs ber mich hin-aus, und das gab mir Stabilitt. Es gab mir das Gefhl, dass es einen Grund fr mein Dasein gab. Und genau das erfllte mich.

    Wenn ich zurckblicke, war ich wohl ein wenig unaus-stehlich. Ich hatte nie das Gefhl, ein Trumer zu sein, ich glaubte immer, ich sei ein Realist. Ich war besessen davon, immer das sagen zu mssen, was ich sagen musste. Und genau das brachte mich in Schwierigkeiten. Einige schreckten davor zurck, andere stimmten mir zu. Und mit vielen Dingen lag ich natrlich richtig, aber manchmal wollten andere einfach nicht hren, was ich zu sagen hatte. Ich denke, dass mich die Lehren ber Gewaltlosigkeit unter der Obhut von Ira Sand-perl strker machten. Er war sehr offen und ausgesprochen. Er lehrte mich so viele Dinge und vielleicht, wenn mein Klas-senlehrer weniger offen und ausgesprochen gewesen wre, dann htte ich die Dinge getan, die ich letztlich anders ange-gangen bin. Aber ich htte diese Dinge letztlich doch getan.

    Wa r u m i c h m i c h f r A u e n s e i t e r e i n s e t z e

    Als Teenager hatte ich ein sehr schlechtes Selbstbildnis, und das verfolgte mich bis in meine Zwanziger. Der Grund dafr war wahrscheinlich, dass ich viele meiner frhen Jahre in einer Stadt in Kalifornien lebte, die nahe der Grenze zu Mexiko lag. Mexikaner wurden nicht respektiert und auf Grund meines Namens wurde immer angenommen, dass ich Mexikanerin sei - was ich auch bin, oder zumindest ein Teil von mir. Also wurde ich nicht gut behandelt und die Leute ignorierten mich. Mexikanische Kinder naja, niemand scherte sich einen Teu-fel um uns. Dieses Leben in einer Gesellschaft, die dieses Vor-urteil gegen mich hatte, erdrckte mich. Heute denke ich, dass ich genau deshalb begann, mich fr Auenseiter einzusetzen, denn ich selbst fhlte mich wie einer.

    Im Laufe der Zeit hat sich meine Einstellung zu einigen Tcken des Ruhms verndert. Ich hatte von Anfang an eine Abneigung gegen alles, was kommerziell war. Man sagte im-mer von mir, dass es nicht mglich sei, aus mir eine Diva zu machen, denn ich bestand darauf, eine dunkle Bhne mit nur einem Licht und einem Mikrofon zu haben. Ich glaube eher, dass das mit meiner Angst zu tun hatte, mit allem, was damit

  • strassenfeger | Nr. 7 | April 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 I N S P

    einhergeht, wenn man der ffentlichkeit ausgesetzt ist. Das ganze Rampenlicht-Dasein - das war einfach nicht ich. Wenn man mich in ein berteuertes Hotel verfrachtete, dann fhlte ich mich immer unbehaglich. Es dauerte einige Jahre, bis ich letztlich in der Lage war, mich mit dem Gedanken abzufinden, dass der rote Teppich Teil meines Lebens ist und ich es so hinnehmen muss, wie es nun mal ist. Also warum sollte ich mir nicht ein angemessenes Hotel nehmen und versuchen, das Luxusleben ein wenig zu genieen, solange es mir gegeben ist. Wenn ich heutzutage auf Tour bin, dann ist es eher eine po-sitive spirituelle Erfahrung, fr kurze Zeit in einem schnen Hotel zu leben. Und ich geniee es wirklich.

    Ich glaube, ich wrde heute lachen, wenn ich einige mei-ner ersten Interviews lesen wrde. Ich begann meine Mission, als ich 17 war! Ich stritt mich mit allen und jedem. Ich ging zu rechten Radiostationen, denn ich wusste, dass man mich raus-schmeien wrde. Ich erinnere mich noch an einen Modera-tor, der mich auf meinen Glauben an Gewaltlosigkeit testete und mich fragte, was ich tun wrde, wenn mich jemand in der U-Bahn angehen wrde. Ich sagte, dass ich mich bergeben wrde. Und die gesamte Backstage-Crew jubelte wohl: Ja, weiter so! Ich konnte so gut klugscheiern, aber ich hoffe, dass ich mit dem Alter nachsichtiger und weniger aggressiv geworden bin. Ich denke jedoch immer noch, dass ich schon einige gute Antworten parat hatte, als ich jnger war.

    B o b D y l a n Wa s b l e i b t , s i n d d i e S o n g s

    Als ich mit Bob Dylan zusammen war, waren wir sehr jung. Wir verbrachten sehr viel Zeit damit, Musik zu machen und Musik zu hren, aber wir bemerkten auch, dass uns dieses Phnomen permanent umgab. Am Anfang machte das alles noch Spa, aber als ich in den 60ern mit Bob nach England ging, endete alles im Chaos. Ein Grund dafr war, dass ich keine Drogen nahm. Also fhlte ich mich komplett ausge-schlossen von diesem Kreis durchgeknallter Leute. Und un-sere Beziehung bewegte sich natrlich auf ein eher unglck-liches Kapitel zu Blablabla Ich reite nicht gern darauf herum. Es wurde alles besser und alles, was mir von dieser Zeit bleibt, sind meine Songs.

    M a r t i n L u t h e r K i n g & B a r a c k O b a m a

    Ich hielt mich von der Politik fern, bis ich begann, Obama zu untersttzen. Mein scharfsinniges 16-jhriges Ich wrde sagen: Haha, ich dir doch gesagt, dass du niemandem im Wei-en Haus trauen kannst. Obamas Reden berhrten mich und ich hatte das Gefhl, dass er wie Martin Luther King sei. Und

    ich bin froh, dieses wundervolle Gemeinschaftsgefhl erfah-ren zu haben, das wir seit 40 Jahren nicht gesprt hatten. Ich denke jedoch, dass wenn er nicht ins Weie Haus eingezogen wre und stattdessen eine politische Bewegung gefhrt htte, dann htten wir mehr Vernderungen herbeifhren knnen. Aber das kam leider anders. Es berrascht mich, dass er so weit von dem groen Traum abgekommen ist. Er hatte ein Foto von Gandhi in seinem Bro. Ich verstehe diesen Mann einfach nicht.

    Ich denke, das jngere Ich wre berwltigt von dem Anklang, den ich gefunden habe. Jedes Kind wre von dem Gedanken berwltigt, ber Nacht zum Superstar zu werden. Ich htte keine Ahnung, was das berhaupt bedeuten wrde. Alles begann damit, dass ich einen Song auf der Bhne in Ne-wport sang und Bumm! das wars. 13 000 Menschen wa-ren da, die grte Menschenmenge, die ich je gesehen habe. Ich lief von der Bhne, direkt in die Arme der Mitarbeiter des Time Magazine und der Rest ist, wie sie sagen, Geschichte. Aber wenn man mir, als ich 16 war, gesagt htte, was passieren wrde, dann htte ich gesagt: Prima!

    01

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  • strassenfeger | Nr. 7 | April 201420 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

    Kinder haben da nichts zu suchenFamilien mit Kindern in der KltehilfeB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Der Umgang mit Familien mit Kindern stand am 12. Mrz 2014 beim Plenum der Arbeitsgemeinschaft Leben mit Obdachlosenim Fokus. Das Thema wurde schon einmal in der Kltehilfesaison 2011/12 besprochen, es schien damals nicht zu einem Dauerthema zu werden.

    A k t u e l l e S i t u a t i o n

    Beim Plenum hatte es dann aber den Anschein, als ob mehr Kinder als vor zwei Jahren in die Klt-ehilfe kommen. Der Sprecherrat der AG hat deshalb nachgefragt. Von den 70 Einrichtungen und Initiativen der Berliner Kltehilfe haben sich neun Einrichtungen gemeldet. Drei hatten alleinerziehende Mtter mit Kindern gemeldet. Ein Nachtcaf hat fr eine Nacht zwei junge Frauen aus Bulgarien und zwei Mdchen aufge-nommen. Die beiden Kleinstfamilien sind dann in einer Notbernachtung untergekommen. In einer anderen Notbernachtung sind vier allein erziehende Frauen mit insgesamt fnf Kindern betreut worden. Fr eine Familie mit drei Kin-dern, die dort nicht bernachten konnte, wurde eine andere Einrichtung der Kltehilfe gefunden. Fr drei alleinerziehende Frauen und drei Jungen konnten die Mitarbeiter dieser Einrichtung keine Lsung finden. Drei Frauen kamen mit ihren Kindern aus Deutschland, drei Anfragen kamen aus Bulgarien, eine aus Rumnien und eine aus Frankreich. Die Kinder, die mit ihren Mttern kamen, waren ein Sugling, Kinder im Vorschul-alter, schulpflichtige Kinder und Jugendliche.

    Fazit: Minderjhrige in Einrichtungen der Kltehilfe sind fr die Einrichtungen der Klt-ehilfe derzeit noch kein groes Problem. Aber: Der Anstieg macht sich deutlich bemerkbar. Es ist zu befrchten, dass noch mehr Familien mit Kindern die Angebote der Berliner Kltehilfe nutzen mssen.

    E n t w i c k l u n g a u f d e m B e r l i n e r Wo h n u n g s m a r k t s o rg t f r Wo h n u n g s v e r l u s t a u c h f r Fa m i l i e n m i t K i n d e r n

    Als die Zahl der Wohnungslosen sank, nutzten neben einigen Frauen hauptschlich alleinste-hende Mnner die Kltehilfe. Das hat sich dras-tisch gendert. Der Wohnungsmarkt in Berlin hat sich seit 2007/08 vom Mietermarkt zum Vermie-termarkt gewandelt. Der soziale Wohnungsbau ist seit etwa 2000 das Sparschwein des Berliner Senats. Der Wohnungsneubau kam fast zum Er-liegen, zurzeit zieht er endlich etwas an.

    Die Situation hat sich von Jahr zu Jahr ver-schrft. Inzwischen haben selbst Menschen in normal bezahlten Jobs Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden. Auerdem ist seit 2004 in den Amts- und Landesgerichten ein Sinneswan-del vom Mieterschutz zur Wahrung der Eigen-tmerinteressen zu erkennen. Soziale Kriterien zhlen in Rumungsverfahren immer weniger.

    Prominente Opfer waren 2012 die schwer behin-derte und betagte Nuriye Cengiz und 2013 die schwer kranke 67jhrige Rosemarie F. Wer auf schwer kranke und schwer behinderte Menschen keine Rcksicht nimmt, wird sich auch um die Zukunft der Kinder keinen Deut scheren.

    S o z i a l e A u s g re n z u n g i n E u ro p a a l s w e i t e re U r s a c h e f r K i n d e r i n d e r K l t e h i l fe

    Die Grenzen nach Ost- und Sdosteuropa sind offen. Die Menschen, die in ihrer Heimat keine Chance haben, kommen hier her. Natrlich sind auch Familien mit Kindern dabei. Sie ha-ben alle das Recht dazu, auch das Recht, hier zu bleiben. Der Gesetzgeber hat sie aber von Hatz IV-Leistungen ausgeschlossen und den Bezug von Sozialhilfe eingeschrnkt. Sie ms-sen sich Nischen suchen. Die verlassenen Gar-tenlauben, die der A100 weichen mussten, und die ehemalige Eisfabrik waren solche Nischen. Aus diesen Quartieren sind sie mit Hilfe von Zivil- und Ordnungsrecht vertrieben worden. In diesem Jahr berichteten Zeitungen ber Menschen in der ehemaligen Engelhardt-Brauerei in Schneweide. Auch hier werden sie ber kurz oder lang vertrieben werden. Da bleibt nur die Kltehilfe, und Kinder bleiben da auf der Strecke.

    Zum Baby in der Kltehilfe ist zu sa-gen: Ein einmal erkmpfter Fortschritt fr die Menschen ist nicht nachhaltig gesichert. Der ehemalige Integrationsbeauftragte des Senats, Gnter Pienning, hat unter Rot-Rot durchsetzen knnen, dass fr hochschwangere Frauen und Mtter mit Suglingen ein eigenes Bleiberecht in Berlin mit Zugang zu Jobcenterleistungen ge-schaffen wurde. Er hat wegen des neuen Koali-tionspartners der SPD das Handtuch geworfen. Jetzt bleibt fr Mtter mit Suglingen wohl nur die Kltehilfe.

    M a c h t p o l i t i k m i t G e l d a l s H a u p t g r u n d

    Die Politik hat sich in Deutschland selbst Fesseln angelegt: d