strassenfeger Ausgabe 13-2015 – Berlin

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  • 7/21/2019 strassenfeger Ausgabe 13-2015 Berlin

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    Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT r

    den_die Verkuer_in

    No. 13, Juni-Juli 2015

    BERLIN

    SKURRILDie Erahrungen einesTaxiahrers (Seie )

    BERRASCHENDBerlins vergesseneFlughen (Seie )

    BEEINDRUCKENDZu Besuch bei Ahenssozialer Sraenzeiung(Seie )

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    srasseneger | Nr. | Juni-Juli | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraenzeiung srassenegerwird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V.herausgegeben. Das Grundprinzip des srassenegeris: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srassenegerwird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-senegerbiee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie knnen selbs enschei-den, wo und wann sie den srassenegeranbieen. Die Verkuer erhaleneinen Verkuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srassenegersoziale Projeke wie die Nobernachung und den sozialen TreffpunkKaffee Bankrot in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhl keine saaliche Unerszung.

    Liebe Leser_innen,Berlin ist ja so gro hat Claire Waldoff gesungen. In der Tat, esreicht wohl kein Menschenleben aus, um alle seine Schnheitenund Geheimnisse, Leistungen und Probleme kennen zu lernen,zumal ja jeden Tag auch noch etwas Neues dazu kommt. Berlinist eben nie fertig.

    Wir haben nun eine Momentaufnahme versucht, um einige As-pekte des Berliner Lebens fr Sie festzuhalten. Ein Taxifahrer,nicht der aus der Morgenpost, berichtet von seinen Erfahrun-gen. Wir machen mit Ihnen eine richtige Kreuzfahrt mit S-Bahn,Fhrschiff und Omnibus um und durch Berlin. Wie Obdachlosedie Stadt sehen, vermittelt querstadtein. Es gibt geheimnisvolleRuinen zu erkunden. Flohmrkte werden besucht und ein Blickwird in die Vergangenheit der Flchtlingsstadt Berlin geworfen,denn in Rixdorf ist nicht nur Musike. Die Knstlerin Ellen Fuhrspricht ber ihre Berlinbilder. Jazz gibt es im Yorkschlsschen.

    Auch die Problemfelder verlieren wir nicht aus den Augen. Waswird aus der Trinkerstube Knorke? Wie knnen Brger besser ander Stadtplanung beteiligt werden? Auch der Hartz IV-Ratgeber

    fehlt nicht.Viel Spa beim Lesen und Berlinentdecken.Manfred Wolff

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    BERLINBerlin aus Sich eines Taxiahrers

    Unerwegs an der Spree

    Berliner Flohmrke

    Flchlingssad BerlinBerlins vergessene Flughen

    Berlin is anders

    Das Yorckschlsschen in Berlin-Kreuzberg

    Berlin aus Sich eines Obdachlosen

    Die Ruine eines ehemaligen

    Suglingskrankenhauses in Weiensee

    Ein Plaz, viele Ineressen: Brgeriniiaiven

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n f e g e rEllen Fuhr: Malen is Mediaion

    B r e n n p u n k tTrinkraum Knorke vor dem Aus

    Rezension: Harz IV und die Folgen

    In die Rhre gucken mi Miniser Dobrind

    I N S PBesuch bei Ahens sozialer Sraenzeiung Shedia

    K u l t u r t i p p sskurril, amos und preiswer!

    P u n k t r i f f t P r o f Inerview mi Sngerin, Journalisin und Auorin

    Chrisiane Rsinger

    A k t u e l l(K)ein Nachru au Harry Rowohl

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    AUS DER REDAKTION

    H a r t z I V - R a t g e b e rEinkommen aus Ferienjobs

    K o l u m n eAus meiner Schnupabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eLeserbriee, Vorschau, Impressum

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli BERLIN |

    Mit dem Taxi durch BerlinG L O S S E : H a n s S c h w a r z l o w

    Viel erleben, und nebenbei tiefe Erkenntnisse indas Wesen des Menschen gewinnen, kann, wersich als Taxifahrer durch Berlin schlgt. DieserBerufsstand geniet nicht gerade den bestenRuf, um nicht zu sagen, er ist verrufen. Frech,

    faul, arrogant, ahnungslos, dreckig sind, um nur einige zunennen, beliebte Stigmata, denen sich die Fahrer in ihrenelfenbeinfarbenen Blechschsseln ausgesetzt sehen. Nichtganz zu Unrecht, wie der Autor, der sich gelegentlich selbstals Taxichauffeur verdingt, meint. Trifft man unter den Kol-legen nicht selten welche, die weder wissen, wo sich derKu-damm befindet, noch wie das Navigationsgert zu be-

    dienen ist. Doch wie sieht es eigentlich dahinter, auf denHinterbnken, aus, dort, wo gewhnlich die Fahrgste Platznehmen? Erfahrungsgem verdienen sich 90 Prozent derFahrgste locker das Prdikat wertvoll, sind pflegeleicht undgeben gutes Trinkgeld. Und mit den brigen zehn Prozentkann man was erleben

    Da ist der serise Geschftsmann und Familienvater, der sichhflich nach dem nchstliegenden Kinderstrich erkundigt.Da ist die gerade von ihrem Freund verlassene Verkuferin,die Rotz und Wasser heult und Schluss machen will: Nunmal halb lang, Frulein, und vorher noch bezahlen! Da istder kreative Kurzstreckenfahrer, der mit einem Fnfhunder-ter bezahlen will: Was, den knnen Sie nicht wechseln?Und dann gibts noch den berhmten Theaterintendanten,bekannt fr sein soziales Engagement, der mir, statt mich zu

    gren, genaue Regieanweisung erteilt: Radio ausstellen!Keine weiteren Fragen stellen! Zum Flughafen, aber su-bito! Trinkgeld gibts natrlich nicht. Nur eine Quittung frdie Steuer verlangt der rmste.

    Seitdem die Welt Berlin als Weltstadt entdeckt hat, wren danoch die Horden von Touristen zu erwhnen, die Heuschre-cken gleich am Wochenende easy nach Berlin gejettet kom-men, um hier mal richtig die Sau rauslassen zu knnen. Waskann man denn hier so machen?, eine Frage, die ich am liebs-ten mit nichts beantworten wrde. Doch dann fahre ich dieErlebnishungrigen direkt nach Friedrichshain und lade sie aufder Warschauer Brcke aus alles so schn bunt hier! In die-ser ansonsten eher lausigen Gegend herrscht, vor allem in derwrmeren Jahreszeit, eine Stimmung, nur vergleichbar mit

    der auf Mallorca, bevor man dort Benimmregeln einfhrte,das heit: Stark alkoholisiert und grlend am Strand rum lau-fen verboten! Zwar hat Friedrichshain keinen Strand, abersonst ist alles erlaubt.

    Dazu passt auch die Geschichte mit einer blassen Britin, dieich an einem klaren und sonnigen Sonntagmorgen gegen fnfauf eben jener Warschauer Brcke aufgegabelt habe. Obwohldie junge Dame leichte Schlagseite hatte, schien zunchstalles harmlos. Nachdem sie mir ihr Fahrziel, Zoo Station,zugelallt hatte, fuhr ich freudig los. Endlich ins alte Westber-lin, dachte ich; wie schn die Zeit, als wir hier noch unse-ren Schutzwall hatten! Ungefhr auf Hhe Hallesches Tornahm ich dann von hinten rhrende Laute wahr, die wie dieBrunftschreie eines Hirsches auf einsamer Lichtung klangen.Ich ahnte, was kommen wrde und fuhr rechts ran. Zu spt.Schon war sie aus ihr herausgebrochen: Eine gallige Masse,eine Mischung aus Dner und verschiedenen Cocktails,

    schwappte ber die Sitze, ein paar Spritzer davon landetenauf der Fensterschreibe und nur knapp entging mein Hals ei-ner Erfrischung. Whrend ich noch in einer kurzen Phase desSchocks verharrte, zischte die Lady leise sorry, ffnete dieTr und flchtete hinter einen Busch.

    Wenigstens bekommen Taxifahrer jetzt den Mindestlohn,verkndete mir stolz ein Politiker auf der Fahrt zu Jauch. Daskommt ganz darauf an, verkndete mir dagegen der Taxiunter-nehmer. Mindestens 22 Euro Umsatz pro Stunde msse ich da-fr schon bringen, und wenn nicht, eben unbezahlt lnger arbei-ten, und wenn ich das auch nicht wollte, wnsche er mir schonjetzt viel Spa beim Jobcenter. Ich rufe Dir gern ein Taxi!

    Tiee Erkennnisse in das Wesen des Menschen gewinnen (Quelle: N-Lange.de/ CC 3.0)

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    Landwehrkanal in Berlin-Schneberg

    Parkanlage des Schlosses Charlo-enburg

    Boosahr au dem Neuen See inBerlin-Tiergaren

    Boosahr au der Spree in Berlin-

    Trepow

    Sandfigur am Uer der Spree nahedes Berliner Haupbahnhoes

    Insel der Jugend in Berlin-Trepow

    Herr Fuchs leb au einem alen, ver-roseen Laskahn in der Rummels-burger Buch in Berlin-Friedrichshain

    Grillen im Berliner Tiergaren

    Rechs das Paul-Lbe-Haus, links der

    Reichsag

    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli | BERLIN

    Im Lauf der SpreeEin Fluss mit vielen Gesichtern: Impressionen entlangBerlins wichtigster WasseraderF O T O S : T h o m a s G r a b k a

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    Vom Abendkleid ber

    Erbsensuppe bis zu ZilleWas man so alles auf Berliner Flohmrkten finden kannB E R I C H T & F O T O : A s t r i d

    Fr unsere Berlin-Ausgabe meldete ich mich, als esum die Berliner Flohmrkte ging. Den grten,schnsten oder auch seltsamsten Flohmarkt zu fin-den, hie es nun. Tja, da ich nur eine begrenzte Zahlvon Tagen zur Recherche hatte, griff ich zu eigenen

    Erfahrungen und zum Internet. Sonst wre ich wohl ewig un-

    terwegs gewesen.Fangen wir also mit den fnf schnsten Flohmrkten an, zudenen, laut einer Internetseite, die am Mauerpark und Arko-naplatz, der Antik- und Buchmarkt am Bode-Museum, derAntikmarkt am Ostbahnhof und der Flohmarkt an der Straedes 17. Juni zhlen. Die Floh- und Trdelmrkte am Mauer-park, Arkonaplatz und Ostbahnhof haben am Sonntag geff-net, die am Bode-Museum und der Strae des 17. Juni aucham Samstag. brigens ist der Flohmarkt an der Strae des17. Juni, den es seit 1973 gibt, der grte und auch ltesteFlohmarkt in Berlin.

    Da Berlin aber 96 Stadtteile hat, wird es wohl noch viel mehrFlohmrkte in unserer Stadt geben. Ich wei zum Beispiel, dasses in Reinickendorf, wo ich wohne, mindestens zwei gibt, die

    ich noch nicht besucht habe. Auf dem Flohmarkt am Leopold-platz war ich dagegen schon fter, weil er samstags stattfindet,ferner eine bunte Mischung aus Familien, die ihre Wohnungausmisten, und einigen gewerblichen Vertreibern, bietet.

    Ich bin auch schon ber den Flohmarkt am Mauerpark ge-wandert, den ich aber als zu gewerblich empfinde. Zu meinerSchande muss ich gestehen, dass ich noch nicht am Bode-Museum war, was ich aber nachholen werde, da es dort, wieich erfahren habe, Bcher zu kaufen gibt. Den Ostbahnhofkenne ich, weil ich dort im strassenfeger-Verkaufswagen auch

    schon am Sonntag gearbeitet habe. Und wenn ich morgensda war, bin ich mal kurz ber den Flohmarkt geschlendert,doch ich sammle weder Briefmarken noch DDR-Andenken und fr Antiquitten reicht mein Einkommen nicht aus.Leider fehlen auch dort Familien, die ihren Ramsch loswer-den wollen. Ich sah jedenfalls keine.

    Ich komme aus dem tiefsten Westen. Aber bei uns konnteman im Gegensatz zu Berlin ein Buch erstehen, in dem alleFlohmrkte nach Landkreisen aufgelistet waren. Schade,denn viele Berliner wrden sich sicher freuen, wenn es hierauch so etwas gbe. Damit nicht genug: Wieso bringen un-sere Zeitungen keine Informationen darber, wo, wann undin welchem Bezirk am Wochenende ein Flohmarkt stattfin-det? Nicht alle Berlinerinnen und Berliner haben Internetoder kennen sich damit aus. Ist doch mal ein Vorschlag an

    die hiesigen Bltter.

    Und nun einige Worte zu meiner berschrift. Die klingtseltsam, dem ist aber nicht so. Wie gesagt, auf dem Floh-markt am Leopoldplatz war ich schon fter. Ich kramte ein-mal in einer Kiste mit Klamotten und hatte pltzlich einAbendkleid in der Hand. Ich hielt es hoch und dachte: Nichtschlecht, ich nehme es, denn ich kann es tragen, wenn ichmal in die Oper gehe. Aber nee, die Farbe steht mir nicht!Lange Rede, kurzer Sinn: Es war Pink, und ich stehe aufSchwarz oder gedeckte Tne. Ich setzte meine Wanderungdurch den Flohmarkt am Leopoldplatz fort und kramte wei-ter. Ich fand in einer Kiste Schallplatten aus meiner Jugend:von Ui, Modern Talking, Nicole, aber auch solche mit Jazz-musik. Und dann eine Platte, die mich die Flucht ergreifen

    lie: mit Blasmusik. Das Einzige, was ich an jenem Tag dortgekauft habe, war ein Buch.

    Und was hat das alles mit Zille und der Erbsensuppe zutun? Wie gesagt, gibt es am Ostbahnhof einen Flohmarkt,da traf es sich gut, dass ich einmal am Sonntag arbeitenmusste. Ich kam also eine Stunde frher dort an, weil ichden Flohmarkt erkunden wollte. Ich ging nach drauen undstaunte, denn direkt vor meiner Nase befand sich ein Stand,der Erbsensuppe, Gulaschsuppe und Bohnensuppe im An-gebot hatte. Dass es Suppen auf einem Flohmarkt gibt,hatte ich noch nie gesehen. Die sind aber lecker, besondersim Winter, wenn sie so schn von Innen wrmen. Ich fanddort auch einen Stand mit alten Postkarten und Nachdru-cken von Zeichnungen, darunter solchen von Zille. Einensolchen Nachdruck besitze ich jetzt, es war ein Schnpp-chen fr 2,50 Euro. Ein Abendkleid habe ich noch immernicht gefunden

    Jeder is anders: Hier ein Flohmark am Berliner Osbahnho

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    Flchtlingsstadt BerlinB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f | F O T O : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Berlin ist ohne Flchtlinge berhaupt nichtdenkbar. Von den ersten Anfngen derStadt bis in die Gegenwart sind Flcht-linge eines der wichtigsten Themen in der

    Stadt. Es gab Verdrngung und Willkommenskul-tur, Ablehnung und Verbrderung, Steinwrfe,Brandstiftungen und Empfnge bei Hof.

    Das begann alles schon im frhen Mittelalter,als in dem beschaulichen slawischen Fischer-drfchen auf einmal fremde Gesellen auftauch-ten und verkndeten, dass sie sich an der Spreeniederlassen wollten. Das waren nach heutigemSprachgebrauch Wirtschaftsflchtlinge, jungeMnner, die wegen der spten Geburt nicht denvterlichen Bauernhof erben konnten, somit zurArmut verdammt waren. Nun suchten sie eineneue Existenzgrundlage im Osten. Das Zusam-menleben ging nicht lange gut. Bald waren die Fi-scher verschwunden und es hatten die das Sagen,die sich spter Deutsche nannten. Die Berlinerlebten ohne nennenswerte Zuzge, wenn mandavon absieht, dass sie mit den Hohenzollerneine neue Obrigkeit erhielten.

    Unter den Hohenzollern kam es dann zu einerfr damalige Verhltnisse groen Zuwanderungvon Flchtlingen. 1685 hatte Ludwig XIV. dasToleranzedikt von Nantes, das die calvinisti-schen Hugenotten in Frankreich schtzte, aufge-hoben. Die franzsischen Protestanten musstendas Land verlassen. 20 000 von ihnen kamennach Brandenburg/Preuen. Der Groe Kur-frst Friedrich Wilhelm lud sie im selben Jahr mitdem Edikt von Potsdam ausdrcklich ein, sich inseinen Territorien niederzulassen. Das geschahnicht nur aus humanen oder religisen Grnden.Das Land war nach dem Dreiigjhrigen Kriegentvlkert und bitterarm. Der Kurfrst ver-

    sprach sich von der Ansiedlung der Flchtlingeeine Strkung der Wirtschaftskraft und letztlichauch der Staatseinnahmen. Den Hugenottenwurden Grundstcke zur Verfgung gestellt,sie erhielten Baumaterial zum Hausbau. Ihnenwurde das Brgerrecht verliehen und Anschub-darlehen fr Existenzgrndungen gewhrt.

    Die Berliner waren nicht begeistert. Unter den da-mals knapp 30 000 Einwohnern der brandenbur-gischen Residenzstadt lebten circa sechstausendHugenotten. Sie sahen anders aus, sprachen eineandere Sprache, hatten andere Sitten und wa-ren eine reale Konkurrenz fr die Ansssigen inHandwerk und Gewerbe. So gab es anfangs kaumGemeinsamkeiten. Man machte den Fremden dasLeben schwer, grenzte sich ab, und es kam auchzu gewaltsamen bergriffen, bis hin zur Brand-

    stiftung. Es dauerte ber achtzig Jahre, bis sichdas Verhltnis zu den Flchtlingen entspannteund Mischehen mit ihnen mglich wurden.

    Fnfzig Jahre nach der Hugenottenansiedlungfolgte der Knig Friedrich Wilhelm I. dem Bei-spiel seines Vaters und lud 737 Flchtlinge ausBhmen ein, sich bei Berlin niederzulassen. Dashabsburgische Regiment betrieb in Bhmen eine

    strenge Rekatholisierung, die das gesellschaftli-che und religise Leben der Protestanten erheb-lich erschwerte, sodass sie sich zum Verlassendes Landes entschlossen. Der preuische Knigwies ihnen bei Rixdorf ein Areal zur Ansiedlungzu, aus dem zusammen mit Rixdorf spter Neu-klln wurde. Bis auf den heutigen Tag ist dieDorfstruktur dieser Siedlung erhalten, und manspricht vom bhmischen Dorf. Die Straenna-men weisen auf die Ursprnge dieses Kiezes hin,bis Anfang des 20. Jahrhunderts gab es ganz of-fiziell eine Mala ulicka, Kleine Strae, die heuteKirchgasse heit. Das sind mir bhmische Dr-fer sagen wir heute, wenn wir etwas nicht ver-stehen. Die bhmischen Flchtlinge bewahrtenund pflegten die tschechische Sprache im Got-tesdienst und im Alltag, was die Berliner ber-haupt nicht verstanden.

    Im ausgehenden 19. Jahrhundert suchten zahlrei-che Juden in Berlin Sicherheit vor den russischenPogromen und wohnten unter den Berlinern imScheunenviertel in der Spandauer Vorstadt. Diearmen, meist polnischen Landarbeiter aus denpreuischen Ostprovinzen suchten ihr Glck inder aufstrebenden Industriestadt Berlin. Nachdem Ersten Weltkrieg kamen zahlreiche Russennach Berlin, die der Verfolgung durch das bol-

    schewistische Regime flohen. Es waren so viele,dass im Volksmund Charlottenburg in Charlot-tengrad umgetauft wurde. Nach dem ZweitenWeltkrieg war West-Berlin der Ort der Freiheitfr die Flchtlinge aus der DDR. Die letzte groeFlchtlingswelle im Kalten Krieg erreichte Berlin1981/82, als in Polen das Kriegsrecht herrschteund die Aktivisten der Solidarnobedroht waren.

    Und heute kommen immer noch Flchtlingenach Berlin, aus hnlichen Motiven wie die inder Vergangenheit, nur eben aus entfernterenLndern. Sie haben dieselben Hoffnungen undSorgen wie jene, die schon lange bei uns sind,und sie werden hnlich von den Berlinern auf-genommen. Es wird eine Weile dauern, aber ir-gendwann sind auch sie, was die anderen Nach-fahren der Flchtlinge sind: richtige Berliner.

    Bhmische Flchlinge. Relie am Denkmal r Friedrich Wilhelm I. im Bhmischen Dor in Berlin-Neuklln

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    Berliner FlughfenTegel, Tempelhof und Schnefeld sind in aller Munde. InVergessenheit gert dabei leicht: Auch in Gatow, Staakenund Johannisthal gab es einst FlughfenT e x t : J u t t a H e r m s

    Z e p p e l i n e , R i e s e n f l u g z e u g e , F i l m eFlugplatz Staaken (1916-1948)

    Mit Beginn des Ersten Weltkrieges stieg dieNachfrage nach Luftschiffen. Den Militrs schie-nen sie geeigneter zu sein fr den Bombenabwurfaus der Luft als Flugzeuge, deren Entwicklungsich damals noch ganz am Anfang befand. InBerlin wurde nach Produktionssttten fr dieriesigen Luftfahrzeuge gesucht; 1905 erwarb dasUnternehmen Luftschiffbau Zeppelin GmbH einweitlufiges Gelnde westlich von Spandau, inStaaken. Auf ihm entstanden zwei gigantische, je250 Meter lange und 40 Meter hohe Luftschiff-Fertigungshallen. Im November 1916 startetedas erste hier gebaute Luftschiff zu seiner Jung-

    fernfahrt. In den folgenden Jahren verlieen inStaaken elf weitere Luftschiffe die Werft.

    Die Zeppelin-Werke trieben gleichzeitig denBau sogenannter Riesenflugzeuge voran. Diesewurden in Staaken ebenso entwickelt und gefer-tigt wie eine Reihe anderer Flugzeuge.

    Anfang der 20er Jahre zogen dann Filmge-sellschaften in Staaken ein. Der Vertrag von Ver-sailles verbot Deutschland die Produktion von mi-litrischem Fluggert. So wurde eine der beidenLuftschiffhallen auf dem Gelnde des Flugplatzesabgerissen, die andere zusammen mit weiterenFlughafengebuden an Filmproduktionsfirmenvermietet. Bis 1934 entstanden in Staaken rundein Drittel der deutschen Filmproduktionen jener

    Zeit, darunter eine Reihe berhmter Filme, allenvoran Fritz Langs Klassiker Metropolis.Im zivilen Bereich ging auf dem Flugplatz

    auch das Fluggeschft weiter. 1922 wurde hier eineFlugverkehrslinie nach London ins Leben gerufen.Jedoch verlor der Flugplatz mit dem Ausbau desFlughafens Tempelhof im Jahr 1923 zunehmendals Verkehrsflugplatz an Bedeutung. Mit seinenzahlreichen Werftanlagen und einer Flugschulekonnte er sich dennoch als Standort etablieren.

    Zu einer berhmten Flugabfertigung kames in Staaken im August 1938: Eine Focke-WulfCondor der Deutschen Lufthansa brach vonhier zum ersten Nonstop-Flug nach New York auf.

    1945 traten die Briten den Flughafen in ei-nem Tauschgeschft an die sowjetische Besat-zungsmacht ab. Doch die nutzten ihn nicht, under verfiel zunehmend.

    Heute sind die verschiedensten Unterneh-men auf dem ehemaligen Flugplatzgelnde an-sssig. Das Zeppelin Gewerbegebiet locktFirmen mit Produktions- und Lagerflchen. Vielerinnert nicht mehr an den ehemaligen Flug-platz. An einer Stelle stehen noch Reste einesGaswerkes: Graf Ferdinand von Zeppelin hattees einst errichtet. Es diente der Herstellung desTreibgases fr die Luftschiffe.

    W e h r m a c h t , B r i t e n , M i l i t r m u s e u m

    Flugplatz Gatow (1935-1994)

    Ebenfalls am westlichen Rand Berlins, aber wei-ter sdlich gelegen, errichteten die Nationalsozi-alisten den Flugplatz Berlin-Gatow. Adolf Hitlerpersnlich erffnete ihn am 2. November 1935.

    Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war hiereines der zentralen Ausbildungslager der Luft-waffe untergebracht. Hitler nutzte den Flugplatzfr seine Flge in sein Feriendomizil bei Berch-tesgaden. Kurz vor Ende des Krieges floh BeateUhse, die mit 18 ihren Pilotenschein gemachthatte, von hier aus mit einem gekaperten Flug-zeug nach Norddeutschland.

    Ende April 1945 wurde Gatow von sow-jetischen Truppen besetzt. Gem den Abma-chungen der Konferenz von Jalta bergaben sieihn kurze Zeit spter an die britische Royal AirForce, die damit in ihrer Besatzungszone aucheinen eigenen Flugplatz hatte. Die Sowjets er-hielten dafr groe Teile Staakens einschlielichdes dortigen Flughafens.

    Eine wichtige Rolle spielte der Militrflug-

    Marga von Ezdor (links) lege 1927 als erse Berline-rin au dem Flugplaz Berlin-Saaken ihr Piloenexamenab (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-W0801-522 / CC-BY-SA)

    Landung des Lufschiffs LZ 127 Gra Zeppelin 1928au dem Flugplaz Berlin-Saaken (Quelle: Bundesarchiv, Bild102-00844 / CC-BY-SA)

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    platz bei der Versorgung West-Berlins whrendder Berlin-Blockade 1948/49. Rund ein Drittelder an der Luftbrcke beteiligten alliierten Flug-zeuge landete und startete hier. Die Umschlag-menge der Lebensmittel belief sich schon nachkurzer Zeit auf 1 000 Tonnen pro Tag.

    Im Kalten Krieg waren in Gatow Flugzeugestationiert, die von den Briten zur Luftaufkl-rung genutzt wurden. Nur fr kurze Zeit wurdeder Flughafen auch fr den zivilen Flugverkehrgenutzt. Ab den 50er Jahren bestand die einzige

    nichttmilitrische Nutzung aus gelegentlichenStaatsbesuchen von Knigin Elisabeth II.1994 verlieen die alliierten Streitkrfte Berlin.Der Flugbetrieb des Flugplatzes Gatow wurdekurze Zeit spter eingestellt.

    Heute befindet sich auf einem Teil des ehe-maligen Flughafengelndes das MilitrhistorischeMuseum der Bundeswehr Flugplatz Berlin-Gatow (vormals: Luftwaffenmuseum der Bundes-wehr) sowie einige Dienststellen der Bundeswehr.

    Neben Flugzeugen der letzten 100 Jahre, dieim Inneren der Hallen gezeigt werden, stellt dasMuseum auf seiner Freiflche auch ber 70 Flug-zeuge aus der Zeit des Kalten Krieges aus. Erhaltengeblieben sind zwei 830 Meter lange Landebahnen,die jeweils zum jhrlichen Flugplatzfest in Betriebgenommen werden. Auf dem anderen, grerenTeil des ehemaligen Flugplatzes entsteht seit eini-

    gen Jahren ein Wohngebiet mit Supermrkten undKindertagessttten. Sein Name: Landstadt Gatow.

    F l u g s c h a u e n , M e l l i B e e s e , L u f t p o s t

    Flugplatz Johannisthal (1909-1952/1995)

    Anfang des 20. Jahrhunderts steckte die Fliegereinoch in den Kinderschuhen. Viele, die es nicht miteigenen Augen gesehen hatten, glaubten damalsnicht, dass sich Konstruktionen aus Metall wirk-lich in die Luft erheben knnen. Als der Flugplatz

    Johannisthal 1909 im Sdosten Berlins in Betriebgenommen wurde, war er einer der ersten Motor-flugpltze in Deutschland. Auf seinem Gelndestanden jedoch auch Hallen fr Luftschiffe, zu-dem war der Kaiserliche Aero-Club hier ansssig.Fr seine Finanzierung war der Flugplatz auf dieEintrittsgelder von Besuchern von Flugschauenangewiesen, die auf einer groen, berdachtenTribne Platz fanden und sich von dort die Kunst-stcke der damaligen Flugpioniere ansahen. Trotzstndiger finanzieller Schwierigkeiten wurde derFlugplatz eine internationale Attraktion. Anteildaran hatte nicht zuletzt Melli Beese, die als erstedeutsche Pilotin dem Flugplatz einen besonderenGlanz verlieh. Melli Beese wollte als junge Frauum jeden Preis fliegen lernen und schaffte es,sich damit gegen allerlei Widerstnde aus derMnnerwelt durchzusetzen. An ihrem 25. Ge-

    burtstag bestand sie ihre Pilotenausbildung. InJohannisthal wurde sie zum Publikumsmagneten;

    einige Jahre lang faszinierte sie die Zuschauermit ihren waghalsigen Flugdarbietungen. Heutesind in der Nhe des ehemaligen Flugplatzes eineGrundschule und eine Strae nach ihr benannt.

    Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges verlo-ren die Flugschauen an Bedeutung, es kam zurMilitarisierung der Flugwirtschaft. 1919 begannin Johannisthal dann die Geschichte der zivilenLuftpost in Deutschland. Von diesem Tag anstarteten hier zweimal tglich Flugzeuge derDeutschen Luft-Reederei, um Postsendungen vor allem Zeitungen nach Weimar, dem Ta-gungsort der verfassunggebenden Nationalver-sammlung zu transportieren.

    Mit Erffnung des Flughafen Tempelhof

    1923 verlor der Flugplatz Johannisthal im zivilenLuftfahrtbereich stark an Bedeutung. Den Natio-nalsozialisten diente Johannisthal als Ort fr diegeheime Aufrstung der Wehrmacht. Nach demKrieg nutzten die Sowjets eine Zeitlang den Flu-platz. Doch mit deren Umzug nach Schnefeldverwaiste er zunehmend. 1952 landete das letzteFlugzeug in Johannisthal. 1995 wurde der Platznach einer Flugveranstaltung offiziell geschlossen.

    Heute befindet sich auf einem Teil des ehe-maligen Flugplatzgelndes ein AerodynamischerPark, der Teil des Campus der Berliner Hum-boldt-Universitt ist. Die Flche der ehemaligenStart- und Landebahnen ist inzwischen zu einemgrnen Biotop geworden, dessen zentraler Be-reich als Naturschutzgebiet ausgewiesen ist. Eswird unter der Bezeichnung gefhrt: Ehemali-ges Flugfeld Johannisthal.

    Heuiges Milirhisorisches Museum der Bundeswehr in Berlin-Gaow(Quelle: RosarioVanTulpe/ Wikimedia Commons)

    Haupeingang des Royal-Air-Force-Flughaens Berlin-Gaow 1983(Quelle: BajanZindy/ Wikimedia Commons)

    Einladen von Flugpos au dem Flugplaz Berlin-Johannishal im

    Februar 1919(Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-T0126-510 / CC-BY-SA)

    Hinweis au eine Flugveransalung 1909 au dem Flugplaz Berlin-Johannishal (Quelle: PD/ Wikimedia Commons)

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    Berlin ist andersB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f | F O T O S : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Touristen, die Berlin besuchen, sehen die Stadtmeistens gar nicht. Es ist nicht Berlin, was ihnenin den Reisefhrern zum Besuch empfohlen wird.Wer den Pariser Platz aufsucht, den CheckpointCharly, die Museumsinsel, den Reichstag mit dem

    Kanzleramt, den Gendarmenmarkt oder den Kurfrsten-damm, der bewundert ein Disneyland aus preuischer Glo-ria, demokratischer Selbstgeflligkeit, Kalter-Kriegs-Roman-tik und hitziger deutscher Einheit. Berlin ist das nicht, undBerliner trifft er auch nicht. Wer da herumluft, ist vor allemerstmal Tourist.

    Wenn ich Besuchern von auerhalb unsere Stadt zeigen will,mache ich um alle diese Orte einen groen Bogen und lade sie

    zu einer Kreuzfahrt durch das richtige Berlin ein. Nein, wirmachen nicht die Brckenfahrt, obwohl das auch ganz lustigsein kann, aber da sind auch nur Touristen auf dem Dampfer.Es beginnt dann etwas, was in Reiseprospekten als eine kom-binierte Bahn-Bus Schiffsreise angepriesen wird und meistsehr teuer ist. Meine Reise kostet nur 5,40 Euro, allerdingsohne Verpflegung und Getrnke.

    Die erste Etappe beginnt am Gesundbrunnen. Mit der Ring-bahn geht es da Richtung Westen. Wir sehen den Wedding unddie quirlige Mllerstrae. Am Westhafen die riesigen Speicherfr die Versorgung der Berliner da denkt man gern an dieSenatsreserven. Dann rechts und links Gewerbebetriebe undimmer wieder Kleingrten, die die Berliner so sehr lieben. Esgeht ber die Kanle, Lebensadern der Stadt. Rechts grtder Funkturm. Bei der Fahrt durch Wilmersdorf kann man

    sehr schn den Berliner Stau besichtigen. Durch Schnebergnach Tempelhof. Das weite und leere Tempelhofer Feld, einstder grte Flughafen Europas und dann das Tor zur Welt derWestberliner, bietet ein buntes Bild von Drachenfliegern, womal Wohnungen gebaut werden sollten. Neuklln wird durch-quert, um in den Ostteil der Stadt zu gelangen, wo uns inTreptow noch einmal die Spree begegnet. Durch die vielfltigeArchitektur der Vor- und Nachkriegszeit geht es dann durchPankow zurck nach Gesundbrunnen. Genau eine Stundedauert diese Rund- und Studienreise.

    Nicht nur der Blick aus dem Fenster bietet ein interessantesund buntes Bild. Auch die Mitreisenden, alles Berliner, sindeine groe und bunte Revue. Da sitzt der Arbeiter mit sei-nem Feierabendbier auf der Faust, der Rentner mit seiner

    Frau, beide schon sicher hoch in den Siebzigern, die etwasaufgedonnerte Witwe mit lila Haaren, der Punker mit seinemGesicht voller Metall, die Studentin mit einem Medizinlehr-buch auf dem Scho, die trkische Frau im Kopftuch, lauttelefonierend, der Dicke, der fast zwei Sitzpltze braucht, dasjunge Prchen, das so verliebt zu sein scheint. Das alles sindBerliner, sie alle machen Berlin.

    Im Bahnhof Gesundbrunnen geht es vom selben Bahnsteigmit der S1 durch den Nord-Sd-Tunnel, vieles in Berlin istunterirdisch, dann durch das brgerliche Schneberg undZehlendorf zum Zielbahnhof Wannsee (1). Es lchelt derSee, er ladet zum Bade, aber wir fahren mit dem Schiff berden Wannsee nach Kladow (2-6). Vorn sitzen die Fugnger,hinten die Radfahrer. Die Schiffsreise dauert nur 15 Minuten,und man wird auch garantiert nicht seekrank. In Kladow an-gekommen, ist es nun Zeit sich zu strken. Einige Ausflugslo-kale mit wunderbaren Biergrten (7) laden dazu ein, wo fr je-

    den Anspruch etwas geboten wird. Ganz nah kann man beimEssen den Kormoranen auf der Insel Imchen zusehen (6).

    Mit neuer Kraft empfiehlt sich noch ein kleiner Rundgangdurch das Fischerdorf Kladow (8), ehe es mit dem 135er Busdurch den grnen Westen Berlins geht, direkt in das HerzSpandaus. Unterwegs lernt man, dass es in Berlin auch eine

    Kurpromenade gibt: in Gro Glienicke. Das wissen nur we-nige. Bei Gatow blicken wir auf die schon lange stillgelegtenRieselfelder, die im Frhsommer ein wahres Blumenmeertragen. Nach einer halben Stunde Fahrzeit sind wir direktam Bahnhof Spandau (9), und von da geht es wieder mit derS-Bahn durch Charlottenburg zurck in die Stadtmitte. Dasbrgerliche Charlottenburg fliegt vorbei, noch ein Eindruckvom Savignyplatz, durch das protzige Zooviertel, wo man amBahnhof Zoo sogar einen kurzen Blick in den ZoologischenGarten werfen kann. An der Friedrichstrae steht immer nochder Trnenpalast aus unseliger Zeit. Schlielich der Alex Ende der Kreuzfahrt.

    Meine Besucher haben an einem Nachmittag wirklich Berlingesehen, so wie es nur wenige Touristen kennenlernen kn-nen. Mir macht diese Kreuzfahrt auch immer wieder Freude,denn es gibt jedes Mal auch Neues zu entdecken. Entdeckun-gen gehren bei einer Kreuzfahrt unbedingt dazu.

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    Hier war lange Zeit

    mein zweites ZuhauseDas Yorckschlsschen mit dem unverwechselbaren FlairB E R I C H T : D e t l e f F l i s t e r

    Das im Herzen von Kreuzberg gelegene Yorck-schlsschen blickt auf eine ber 120-jhrigeGeschichte zurck. In den 1960ern war daseine eher gutbrgerliche Eckkneipe, die sichseit den spten 1970ern, nachdem es von Olaf

    Dhmlow bernommen und als Jazzkneipe gefhrt wurde,immer mehr zu einem Knstlertreff, ja, zu einer Institutionentwickelt hat. Fr mich, der lange Zeit zu den Stammgs-

    ten gehrte, liegt das Besondere des Yorkschlsschens darin,dass hier weder Alter, noch sozialer Status, noch Eigenarteneinzelner Menschen eine Rolle spielen. In keiner Kneipe habeich so viel Toleranz und Akzeptanz erlebt, wie in dieser. Je-der Gast wird hier einfach freundlich aufgenommen und fhltsich auf Anhieb willkommen, unabhngig davon, ob er Jeansoder schicke Klamotten trgt. Gerade die unterschiedlichenMenschentypen, die in dieser Vielfalt woanders selten anzu-treffen sind, machen das unverwechselbare Flair dieses Ortesaus. So trifft man hier stets offene Menschen und interessanteGesprchspartner, mit denen man ber Blues und Jazz disku-tieren kann. Streitereien oder Randale gibt es hier nicht, mehrnoch: sie scheinen berhaupt nicht im Bereich des Mglichenzu liegen. Auch das trgt zu einer gewissen Lockerheit undUngezwungenheit bei und schafft eine Atmosphre, in derman sich einfach wohlfhlt und lange bleiben mchte.

    K o n z e r t e m i t G n s e h a u t f e e l i n gMit an Starrsinn grenzender Beharrlichkeit wird hier nichtsgendert, und die Zeit scheint hier einfach stehen gebliebenzu sein, schrieb Zitty (Nr.18/1995). Ich habe kein anderesZitat gefunden, das besser zum Yorckschlsschen passt. DieEinrichtung ist noch genauso wie damals, als ich sein Stamm-gast war. Die groen, schwarzen, runden Tische, die Theke,die Bhne, der dunkelbraune Holzboden sehen aus wie fr-her. Konservativ zu sein ist etwas, was mich normalerweisenervt. Hier aber bedeutet das etwas Positives, weil es fr guteStimmung und Vertrautheit sorgt. Das betrifft auch die Mu-sik mit den Schwerpunkten traditioneller Jazz, Swing, ins-besondere der schwarze Rhytm & Blues, New Orleans undSoul. Meistens erklingen hier die Klassiker, die man mitsingen

    kann, wenn man sie kennt. Musiker und Musikerinnen, dieim Yorckschlsschen gastier(t)en, darunter Eb Davis, WayneMartin, Willie Pollock, Don Marriott, Kat Baloun, Jan Hirteoder der 2010 verstorbene Rudy Stevenson, gehren zu denGren der internationalen Musikszene. Die Atmosphreder Konzerte ist einzigartig, weil man durch die Enge des Lo-kals den Knstlern auf der Bhne stets nahe ist und schnellmitgerissen wird. Wenn sie zum Singen auffordern, kann derGast gar nichts anderes als mitmachen. Diese Nhe erzeugtein Gnsehautfeeling. Die Qualitt der Musik spricht ohnehinfr sich. Wer Blues, Jazz und Soul liebt, befindet sich hier amrichtigen Ort. Die anderen kommen wegen des Flairs undweil sie hier einfach gern sind.

    B l u e s i s t d a s L e b e nDas Yorkschlsschen war lange Zeit mein zweites Zuhause,wo ich mich akzeptiert fhlte. Hier habe ich viele schneund unvergessliche Abende und Nchte verbracht. Ich bin

    brigens in der Speisekarte im Verzeichnisder Stammgste als Nerven-Detlef verewigt.Klingt zwar nicht so schn, gehrt aber auchirgendwie zu meinem Leben. Im Yorckschlss-chen entstand auch meine erste richtige Verbin-dung zu Blues und Jazz, die fr mich zu einemregelrechten Lebensgefhl wurden. Ein beson-deres Verhltnis hatte ich immer zu Eb Davis &The Superband. Ich bin noch heute ihr Fan undhabe lange Zeit keines ihrer Konzerte verpasst.Von Eb und seiner Band wurde ich immer gut

    gelaunt und freundlich begrt, sie unterhiel-ten sich oft mit mir, verschafften mir das Ge-fhl, das ich zu ihnen gehre, wofr ich ihnenbis heute dankbar bin. Eb war es, der mich vonAnfang an mit seinen neuesten CDs versorgte.Mit ihm begann meine Hrfunksendung PlayMe The Blues im Offenen Kanal Berlin. Er warmein erster Gast im Studio. Ihm folgten spterviele andere Musiker, die sogar in kleinen Beset-zungen oder als Solisten live spielten, wodurchmeine Sendungen etwas Besonderes waren. Diemeisten Musiker lernte ich im Yorckschlsschenkennen und wenn ich sie ins Studio einlud, be-kam ich nie eine Absage.

    In einer meiner Hrfunksendungen sagte EbDavis: Blues ist das Leben. Wer die Konzerteim Yorkschlsschen erlebt hat, wei, dass EdsWorte heute auch noch stimmen.

    INFO

    www.yorckschloesschen.de

    Das Yorckschlsschen in Berlin-Kreuzberg (Foo: Pierre Adenis | CC BY-NC-ND 2.0)

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    Quer durch die MitteObdachlose zeigen Berlin aus ihrer PerspektiveR E P O R T A G E : A n n a G o m e r

    Querfeldein gehen, mitten durch dasGelnde, sich nicht an geradlinigeWege und festgelegte Straen gebun-den fhlen... Das Wort querfeldein

    hat etwas Rebellisches an sich. Querstadtein, soheien die Stadtfhrungen, die der Verein Stadt-sichten e. V. zusammen mit ehemaligen Obdach-losen seit zwei Jahren organisiert.

    Die Neuprgung des Wortes liegt nahe in einervon Stdten dominierten Welt. Aber auch dasRebellische des ursprnglichen Wortes ist im

    neuen enthalten und weist in diesem Kontextauf eine innere Logik hin. Denn wie anders, alsquerstadtein, bewegen sich Obdachlose durchdie Stdte?

    Ein Otto Normalverbraucher steuert in seinemAlltag immer dieselben Orte an: Arbeitsplatz,Wohnung, Schule, Stammkneipe, Supermarkt...Orte, wie Fixsterne am Firmament, zwischenwelchen die Stadt als Mittel zum Zweck in derHektik oft verschwindet. Die Wege obdachloserMenschen mssen anders sein. Orte, die anderenur passieren und kaum wahrnehmen, sind ihrefesten Orte. Die Stadt selbst ist ihr Wohnzimmer.

    Berlin der Obdachlosen den Touristen und den

    Ortsansssigen zu zeigen, war die Idee hinterden Fhrungen des jungen Teams. Der ehren-amtliche Mitarbeiter des Vereins Johan Wagnerbetont, dass es dem Verein darum geht, die Ig-noranz den Obdachlosen gegenber abzutragen.Der Verein mchte dazu beitragen, Begegnun-gen und Austausch zwischen Teilen der Gesell-schaft zu frdern, die sich sonst nicht ohne wei-teres begegnen. Und so entstand die Idee, dassObdachlose Berlin selbst aus ihrer Perspektivezeigen, aus ihrem Leben erzhlen und davon,wie sich der Blick auf die Stadt verndert, wennman auf der Strae lebt.

    An diesem Sonntag im Juni treffen sich etwa 20

    Menschen vor dem Hauptbahnhof, um an derFhrung teilzunehmen. Es sind Touristen undBerliner dabei: einige Paare, eine junge Familiemit Kind, ein lteres Ehepaar aus Sddeutsch-land. Einige sind eher aus Zufall auf die Fhrunggestoen, andere nehmen aus beruflichem Inter-esse als Sozialarbeiterin oder als Studierende desStudiengangs Nachhaltige Touristik an der Fh-rung teil, wiederum andere haben explizit nachalternativen Fhrungen im Internet gesucht,weil sie die 0815-Stadtfhrungen, die alle Stdtegleich erscheinen lassen, satt haben.

    Unser Stadtfhrer ist heute Uwe T. Es ist khl,doch Uwe hat eine kurze Hose und ein kurzrm-liges kariertes Hemd an. Mir ist immer warm,scherzt er. Ich laufe ja auch an die siebzehn Ki-lometer pro Tag. Nach einer kurzen Einfhrung

    fhrt er uns im schnellen Schritt zu der erstenStation seiner Erzhlung und somit auch seinesdamaligen obdachlosen Lebens unter der Brckezwischen Moabit und Mitte, an der Stelle, wofrher die Mauer verlief.

    Uwes Leben ist mit dieser Grenze stark verbun-den, wir bewegen uns nicht nur an ihrem geo-grafischen Verlaufsort, sondern tauchen auchin Uwes Lebensgeschichte ein, die durch dieMauer zweigeteilt ist. Da ist die Obdachlosigkeitder neunziger Jahre mit ihren Orten an der In-

    validenstrae und in den damals leerstehendenRumen der Charit. Da ist die Grenze an derSpree am Schiffbauerdamm, wo alles begann, alser zum ersten Mal, beim Versuch, seinen Gro-vater im Westen zu besuchen, durch die Stasiverhaftet wurde.

    Uwe liebt Zahlen, dazu steht er. Seiner Erzh-lung geben sie einen festen Rahmen. Er erklrtuns den Unterschied zwischen einer sechser undeiner neuner Bank und fhrt uns auch vor, wieman liegen muss, um keine Schmerzen im Be-cken zu bekommen. Fnf Zentimeter dick mussder Karton sein, den man faltet, um sich nichtzu verkhlen. Wofr man zustzlich zum Schlaf-sack zwei Decken haben muss, wei keiner der

    Anwesenden. Wie lange der Krper braucht, umsich von einer Unterkhlung zu regenerieren,ebenfalls nicht. Dieses Frage-Antwort-Spiel, le-bendig und charmant von Uwe inszeniert, lsstdie anfngliche Scheu der Teilnehmenden nachund nach schwinden. Immer mehr Fragen wer-

    den gestellt: zu den Lebensrealien auf der Strae,zum Berliner Leben vor und nach der Mauer...

    Doch Uwe hlt sich an sein Konzept: Auf man-che Fragen antwortet er gleich sehr ausfhrlich,andere Antworten spart er sich auf, bis wir zuden Orten kommen, an welchen sich die Ge-schehnisse zugetragen haben. Er hat sich denAblauf der Fhrung gut berlegt und hlt diezwei Stunden den Spannungsbogen durch.Keine Sekunde ist die Fhrung langweilig. Esist letztendlich nicht nur eine Fhrung aus der

    Sicht eines ehemaligen Obdachlosen. Es ist einesehr persnliche Stadtfhrung, die die Stadt alsLebensort und als Geschichtsort einer nie auf-geschriebenen Geschichte, eines bewegten Le-bens wirklich spren und erfahren lsst.

    Berlin wird in den meisten Stadtfhrungen alsGrenzstadt inszeniert. Doch die Grenzen, dieUwe uns zeigte, stehen so in keinem Reisefhrer.Der Name querstadtein mit seinem rebellischenUnterton spiegelt Uwes Lebensgeschichte wider.Seine Fhrung zeigt Berlin aus der Sicht einesStadtbewohners, der die Stadt von beiden Seitender Historie als politisch nicht tragfhigesElement in der DDR und als Obdachloser in derBRD kennen gelernt hat.

    Der Verein Stadtsichten e. V. macht mit seinenStadtfhrungen sensibler fr andere Lebensrea-litten. Er lenkt unseren Blick in eine neue Rich-tung, quer zu den gewohnten (An)sichten, undzeigt uns die Stadt aus einer neuen Perspektive.

    Sadhrer Uwe T. hr seinen rheren Schlaplaz vor (Foo: Thomas Grabka)

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    Eine geheimnis-volle RuineBesuch im verlassenen Suglingskrankenhaus WeienseeT E X T & F O T O S : M a x i m i l i a n N o r r m a n n

    D

    as Berliner Wappen mit dem die Zunge her-ausstreckenden Bren an der Frontfassade istnoch gut erhalten geblieben, hinter den unzh-ligen mehr oder weniger knstlerischen Graf-fitischriftzgen lsst sich dagegen die blasse

    Frakturschrift Berliner Suglingskrankenhaus nur mitMhe erkennen.

    Ich stehe inmitten einer groen wildbewachsenen und mit al-lerhand Mll bersten Wiese direkt vor dem grten Gebu-dekomplex des ehemaligen Kinder- und Suglingskrankenhau-ses in Berlin-Weiensee. Das Gebude wirkt schon von auengespenstisch: Die Fensterscheiben sind eingeschlagen, und ausdem Gebudeeingang, dem ich mich ber eine kleine Rampenhere, dringt kein einziger Lichtschein. Was wird mich inder Ruine erwarten? Ich denke an Ratten, Obdachlose, dievielleicht dort Unterschlupf gefunden haben oder Wrter, die,Gerchten zufolge, das Objekt mit Hunden bewachen sollen.

    Vor ber 100 Jahren wurde der Gebudekomplex an der Han-sastrae als erstes kommunales Kinder- und Suglingskran-

    kenhaus in Preuen erffnet. Neben den Hauptgebuden desKrankenhauses befanden sich auf dem 29 000 Quadratmetergroen Gelnde auch einige Wirtschaftsgebude. So wurdeein eigener Kuhstall betrieben, um die Neugeborenen tglichmit frischer Milch zu versorgen. Mehr als 80 Jahre ist das Ge-lnde in Betrieb gewesen. Zu DDR-Zeiten diente das Kran-kenhaus vor allem zum Auf- und Erziehen von Waisen odervernachlssigten Kindern. Im Jahr 1997 wurde der Betriebendgltig eingestellt und der Gebudekomplex geschlossen.Trotz Denkmalschutz, dem das Areal unterliegt, verfllt einesder sptesten Symbole der sich damals dem Ende neigendenPreuischen Epoche Jahr fr Jahr.

    Denn nicht nur Sprayer entdeckten das Gelnde und die Ge-bude fr sich, sondern vor allem unzhlige Chaoten, die, ne-

    ben grobem Vandalismus an den Einrichtungsgegenstndenund Zimmern, auch ber zwanzigmal mehrere Dachsthle inBrand setzten. Allein im Jahr 2013 musste die Berliner Feu-erwehr zu 17 Brandeinstzen auf dem Gelnde ausrcken.

    S i n n l o s e Z e r s t r u n g e nDie Folgen von Vandalismus, Zerstrung und Vernachls-sigung machen das Gelnde gefhrlich. Als ich das Gebudezusammen mit einem Freund betrete, bietet sich uns ein er-schreckendes Bild. Der Boden einer groen Eintrittshalle liegtunter dem Putz der Decken begraben, und wir mssen jedenSchritt bedacht gehen, um nicht durch eines der vielen ver-steckten Lcher im Boden in das Untergeschoss zu strzen.Bunte, nicht leserliche Graffitischriftzge schmcken die altenFliesen an den Wnden. Oftmals liegen noch die leergesprh-ten Farbdosen eingestaubt vor den Werken der Knstler. Anden wenigen Stromksten in dem Gebude drften sich Me-talldiebe nur gering bereichert haben, trotzdem wurde vieles

    herausgerissen und nur Unbrauchbares zurckge-lassen. Die Zerstrung und der Dreck sind wenigeinladend, trotzdem zieht uns die abenteuerlicheAtmosphre in den Bann. Die Glasscherben dereingeschlagenen Fenster breiten sich vor uns aus

    wie ein im Licht funkelnder Teppich, der uns tie-fer in das Gebude hereinfhrt.

    Der Dachstuhl des Hauses muss vor einiger Zeitabgebrannt und in den Innenhof des Gebudesgestrzt sein; wir lassen die Finger davon undsteigen ber allerhand Gerll, ausgehobene Trenund Holzpfhle, die auch hier den Boden bede-cken. Dabei gelangt man immer wieder in grereoder kleinere Rume, die automatisch die Phan-tasie in einem erwecken, welchen Nutzen diesewohl gehabt haben knnen. Denn abgesehen vonalten Toiletten oder Duschkabinen finden sich nurselten Kennzeichen einer bestimmten Nutzung.

    Whrend man ber das verwilderte Areal zwischen

    den zahlreichen Gebuden umhergeht, kann mansich mit etwas Phantasie ein vergangenes Lebenauf dem Gelnde des Suglingskrankenhausesvorstellen. Schwangere Mtter werden hier ge-wesen seien, um in den unzhligen kleinen Ru-men, die als Arztpraxen gedient haben knnen,untersucht zu werden. Gleichzeitig wird berallein lebendiger Betrieb mit Krankenschwestern,Kindern und rzten geherrscht haben.

    Etwas mystisch und gruselig sollte sich die Er-kundung des nchsten greren Gebudes her-ausstellen. ber einen Nebeneingang gelangenwir in das Hauptgebude der Klinik. Das zwei-geschossige Haus mit seinem breiten, spitz zu-

    sammenlaufenden Dachgeschoss wirkt wie einkleines neoklassizistisches Schloss. Das Hausselbst ist in einem sehr schlechten Zustand.Die zerborstenen Decken, die unter den Schu-hen knarren, bestehen entweder aus morschemHolz oder nur noch wenige Zentimeter dickemStein, so viel Putz und Beton ist schon herabge-fallen. Die Jahrzehnte alte grne Tapete schltsich infolge der Feuchtigkeit, die ungehindert indas Gebude eindringen kann, von den Wnden.Staunend stehen wir in einem Raum, in den einBaum whrend eines Sturms hineingestrzt seinmuss. Nun steht er dort, hat tiefe Wurzeln durchden porsen Beton bilden knnen und blhtherrlich grn. Es ist interessant und auch be-ngstigend, wie sich die Natur mehr oder weni-ger durch menschlichen Einfluss das riesig groeGelnde Tag fr Tag zurckerobert.

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    berwltigt und gleichzeitig erschpft

    von den vielen so unterschiedlichen Ein-drcken beschlieen wir, nach knappzwei Stunden das Gelnde wieder zuverlassen. Ruinen, wie auf dem Gelndedes ehemaligen Suglingskrankenhau-ses, findet man in Berlin zahlreiche.Wenn man jedoch eine besichtigen will,sollte man sich stets ber die Gefahr undmgliche rechtliche Folgen bewusst sein.

    Z u k u n f t d e s G e l n d e sb l e i b t w e i t e r o f f e n2005 verkaufte die Stadt durch denLiegenschaftsfonds das 29 000 Quad-ratmeter groe Gelnde fr einen fnf-

    stelligen Betrag an einen russischen In-vestor. Dieser gab an, die damals nochintakten Einrichtungen umzubauen, umdort ein fragwrdiges Heilungszentrumzu errichten. Laut dem Investor sollte esdort mglich werden, in nur zwei Wo-chen mit Radiowellen Krebs wie auchAids erfolgreich therapieren zu knnen.Wahrscheinlich ist der Liegenschafts-fond damals auf Betrger hereingefal-len. Nach zehn Jahren wird der Bezirkdas Gelnde nun wohl zurckbekom-men. Das Landgericht entschied imJanuar, das Areal werde dem Investorentzogen. Pankows Bezirksbrgermeis-ter Matthias Khne kndigte an, aufdem Gelnde solle ein Stadtquartier mitWohnungen entstehen.

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Ellen Fuhr: Malenist MeditationNach dem Abitur und einer Ausbildung zur Biologielaboran-tin studierte die 1958 in Berlin geborene Ellen Fuhr an derHochschule fr Bildende Knste Dresden. Die Malerin undGrafikerin lebt in Pankow und auf Hiddensee.I N T E R V I E W : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    strassenfeger: Wann entstand bei Dir der Wunsch, Malerinzu werden? Warum hast Du Dich gerade fr Malerei ent-schieden und nicht fr eine andere knstlerische Disziplin?

    Ellen Fuhr: Ich habe seit allerfrhesten Kindheit gezeich-net. Ich glaube, da war eine gewisse Sprachlosigkeit als Kindoder eine gewisse Veranlagung, dass ich ber Bilder mit derUmwelt kommuniziert habe. Natrlich habe ich auch gespro-

    chen, aber bei den Bildern hatte ich das Gefhl, dass man michversteht. Aus den Reaktionen der Erwachsenen entnahm ich,dass ich mein Medium gefunden hatte. Tanz, Schriftstellereioder Schauspielerei kamen fr mich nicht infrage. Es wardiese stille, zurckgezogene Kunst der Malerei allein im Ate-lier, die zu meinem Charakter am besten passte.

    Gab es in Deiner Familie Knstler?Nee (lacht), nur Physiker: Mein Grovater Gustav

    Hertz war Physiker und Nobelpreistrger. Sein Onkel warHeinrich Hertz, der leider mit 37 Jahren an einem vereiter-ten Zahn gestorben war. Mein Bruder ist Physiker und meinMann ist Biophysiker.

    Du hast Dein ganzes Leben, auer der Studienzeit in

    Dresden, in Berlin verbracht. Berlin taucht auf DeinenBildern immer wieder auf. Du hast die Stadt vor und nachder Wende gemalt und malst sie auch heute. Was bedeutetBerlin fr Dich?

    Diese Stadt war fr mich immer etwas Symbolisches,eine Sprache, eine Metapher. In der DDR war Berlin auch eineProjektionsflche fr Romantik. West-Berlin war so ein Sehn-suchtsziel, wo man nicht hinkam. Ich habe in Dresden studiert,weil die Auswahl in der kleinen DDR nicht gro war. Aberdie damalige Zeit war nicht besonders spannend, weder inDresden noch in Berlin. Es passierte nichts, man hat sich ver-krochen, man hat seine Knstlerfreundschaften gepflegt, ichhabe damals Kette geraucht, man hat sehr viel getrunken, manhat sehr viel gejammert, in Dresden war es noch schlimmerals in Berlin. Die Stadt war ja viel kleiner, man traf sich jedenAbend, da war schon eine sehr starke Selbstbemitleidung. Daswar dann in Berlin nicht mehr so. Es gab im Prenzlauer Berg,wo ich nach dem Studium in Dresden gelandet bin, damals

    noch eine sehr romantische und melancholischeGrundstimmung, das war das Lebensgefhl dort.Hinzu kommt, dass die Szene recht berschaubarwar. Es gab ja nur viertausend bildende Knstlerin der DDR. Wir kannten uns alle untereinander.Das hatte etwas von einer Schrebergartenkolonie.

    Wie empfanden sich die bildenden Knstlerdamals in Ost-Berlin: als Subkultur oder Elite?

    Ich glaube, sie waren beides. Ich kann abernur von den 1980er Jahren sprechen, als es schoneine relative Freiheit gab und die Beschrnkun-gen der knstlerischen Ausdrucksweise nichtmehr so gro waren. Ich habe in den 1980erJahren nur zweimal einen offiziellen Grafikauf-trag annehmen mssen, ansonsten habe ich vonden Privatverkufen von Grafik an rzte undSammler ber den staatlichen Kunsthandel gutleben knnen. Es gab jedes Jahr eine jurierteAusstellung unter dem Titel 100 ausgewhlteGrafiken, und ich war jedes Jahr dabei, man ver-diente sehr gut, denn man hat die ganze Auflage

    landauf, landab verkauft. Eine Radierung kos-tete, wei ich noch, 120 Ostmark, die Radierun-gen waren alle immer weg. Nach der Wende hatsich kein Mensch fr Druckgrafik interessiert und ich habe bis zu diesem Zeitpunkt ausschlie-lich Radierungen gemacht.

    Als wir uns 1994 kennen lernten, wolltest Dudie Kunst ganz aufgeben.

    Das hing nicht nur damit zusammen, dassich keine Radierungen mehr machen konnte, weilsie niemand kaufen wollte. Als die Mauer fiel unddie ersten Kunstwissenschaftler von drben insAtelier kamen, da hatte man damit zu tun, seinSelbstwertgefhl halbwegs noch aufrecht zu er-halten. Damals war alles Figrliche verpnt. Undich habe ganz bewusst gesagt, ich bleibe beimViereck, beim klassischen, traditionellen Bild,

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    Ellen Fuhr in ihrem Aelier in Berlin-Pankow(Foo: Urszula Usakowska-Wolff)

    U-Bh. Vineasrae, 2011, Mischechnik au Lein-wand, 60 x 80 cm (Quelle: Ellen Fuhr)

    Ohne Tiel, 2011, Mischechnik au Papier,60 x 50 cm (Quelle: Ellen Fuhr)

    ich werde keine Experimente machen, ich werdekeine Collagen machen, ich werde auch nicht inden Raum gehen. Ich male mit l oder Acryl aufLeinwand und mit Acryl und Tusche auf Papier.

    Zum Glck bist Du der Kunst treu geblieben und Glck ist neben Berlin, dem Meer und den

    Portrts von Menschen, die Dir nahe stehen,darunter Schriftsteller wie Franz Kafka undVladimir Nabokov, eines der Themen DeinerGemlde, Zeichnungen und Lithografien. Wa-rum interessierst Du Dich gerade dafr?

    Die vier Themen hngen ja im Prinzip mit-einander zusammen. Die Stadt ist genauso eineMetapher oder ein Symbolthema wie das Glck.Das Glck, was ich in meinem Leben oft ge-merkt habe, hngt vom Zufall ab, doch aus reinwissenschaftlicher und philosophischer Sichtgibt es ja keine Zuflle Was ist die Ursacheist das Leben ein Zufall, was ist Schicksal? Dassind Fragen, die mich beschftigen. Auerdembin ich eine, die auch vom Literarischen oder

    von einem narrativen Ausgangspunkt ausgeht.Ich begreife das Bild nicht nur als Form, ichbrauche, ganz platt gesagt, eine Art von Restin-halt. Portrts habe ich immer gern gemacht,auch als Auftragsarbeiten. Und eine menschen-leere Landschaft ist mir zu langweilig. Ich findees schn, wenn da Gestalten oder Kpfe sind.Am meisten macht mir Spa, wenn ich entwe-der einen Kopf nehme, der aus meinem Umfeldist, den meines Mannes, den einer meiner beidenTchter oder eben der Leute, die mir bedeutsam,interessant erscheinen oder vergessen wurdenund mir einfach fehlen.

    Wer fehlt Dir denn?Das sind vorwiegend jdische Knstler, die

    auch auf Hiddensee gemalt haben. Meine neu-esten Bilder zum Thema Menschen am Meer

    sind eine Hommage an Kthe Loewenthal undJudo Levin. Kthe Loewenthal wurde 1942 (imDurchgangslager Izbica, Anm. d. R.), Judo Levin1943 im KZ Auschwitz ermordet und de factovergessen. Warum musste das so kommen? Wa-rum musste das gerade in Deutschland so kom-men? Ich denke ber Sachen nach, von denen ich

    erfahre, die ich erlebe, die ich sehe, die mir auf-fallen. Es sind Selbstgesprche, die, wie fast beijedem Knstler, zu Bildern werden. Wenn manGlck hat, gibt es Betrachter, die davon auch washaben und mehr als einmal darauf gucken. Undsich etwas dabei denken.

    Welchen narrativen Ausgangspunkt haben dieAkkordeon-Spieler, die man auf Deinen neue-ren Berlin-Bildern sieht?

    Sie sind auch eine Art Metapher. Ich sehe oftjunge Leute mit Kopfhrern, die um einen Mann,der Akkordeon spielt, herumrennen. Ich zeigeden konstruierten Gegensatz zwischen demanalogen Musikmachen und dem digitalen Mu-

    sikhren, was ich allerdings ohne Absicht einerWeltverbesserung oder ohne einen erhobenenZeigefinger mache. Manches, was so passiert,finde ich einfach komisch.

    Kannst Du Dir ein Leben ohne Malen vorstel-len?

    Nein! Ich bin glcklich, dass ich malen kann.Das ist ja die Rettung.

    Die Rettung wovor?Es gibt ein Bild von einem meiner Lieblings-

    maler, Oskar Manigk, worauf er geschriebenhat: Die Kunst rettet uns vor dem Leben. Dasist wahr, denn beim Malen ist man bei sich undhat mit dem Rest der Welt nichts zu tun. Das istsehr kontemplativ. Irgendwie ist das Malen eineArt Meditation.

    INFO

    Gl cksfa ll

    Ellen Fuhr. Arbeien au PapierNoch bis zum 6. Sepember

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  • 7/21/2019 strassenfeger Ausgabe 13-2015 Berlin

    18/32

    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli | BERLIN

    INFO

    www.sadenwicklung.berlin.de

    hp://big-berlin.land

    www.berlin.de/buergerakiv/beeiligen

    Mehr Brgerbeteiligung

    mehr InteressenabwgungT E X T & F O T O : A n d r e a s P e t e r s

    Der Protest zum Bahnhofsprojekt in Stuttgart istsicher vielen noch in Erinnerung. Unter demNamen Aktionsbndnis gegen Stuttgart 21versammelten sich eine Vielzahl von Brger-initiativen, Vereinen, Parteien, Ortsgruppen

    und unabhngigen Interessengruppen gegen den Umbaudes Stuttgarter Hauptbahnhofs. Zu den Hauptkritikpunktenzhlten die fehlende demokratische Legitimation und Brger-beteiligung. Mit der nach dem Regierungswechsel in Baden-Wrttemberg durchgefhrten Volksabstimmung konnte das

    Projekt dennoch nicht gestoppt werden. Aufgrund der hohenMedienwirksamkeit war allerdings diese Art der Brgerbetei-ligung danach in aller Munde. Viele folgten, so zum Beispieldie erfolgreiche Initiative zum Tempelhofer Feld in Berlin.

    Brgerbeteiligung wird in Berlin mittlerweile ganz offizielleingefordert. Auf dem Internet-Stadtportal Berlin.de gibt eszum Beispiel eine eigene Rubrik fr brgerliches Engage-ment, die unter anderem den Zugang zu Informationen ausder Bezirksverordnetenversammlung erffnet und Brgerndie Mglichkeit bietet, sich mit ihren Anliegen an die Stadtzu wenden. Ein anderes Internet-Portal, das der Berliner Br-gerinitiativen, hlt laufend aktuelle Termine und konkreteAktionen bereit.

    Manchmal sind es aber die kleinen Konflikte im Kiez, die Be-

    teiligung erfordern, um eigene Interessen bercksichtigt zufinden, so zum Beispiel bei der Umgestaltung von Straenund Pltzen in Berlin. Im Besonderen, wenn im Rahmen desFrderprogramms Stdtebaulicher Denkmalschutz Flchennach den Vorstellungen des ansssigen Bezirksstadtrats frStadtentwicklung und eines Landschaftsarchitekten umge-staltet werden sollen. Auf einer dazu einberufenen Infoveran-staltung im Herbst letzten Jahres sprachen sich die unmittelbarbetroffenen Kiez-Anwohner mehrheitlich gegen diese Planun-gen aus. Als vor kurzem eine weitere ffentliche Versammlung

    zu einem benachbarten Platz stattfand,klammerten beide diese Auseinanderset-zung aus. Der Sprecher der Anwohnerini-

    tiative, der ebenfalls zugegen war, sah sichjedenfalls gentigt, an das Begehren vomletzten Jahr zu erinnern. Beide Vorrednerwaren sichtbar bemht, die Wogen zugltten und fr eine konstruktive Atmo-sphre der geplanten drei Arbeitsgruppenzu sorgen.

    Widerstand zeigte sich aber auch ausanderer Sicht. Eine Anwohnerin meinte,dass es in Berlin Wichtigeres gbe, als sichmit der Gestaltung solch kleiner Pltzezu befassen. Zugegeben, ganz Unrechthatte sie nicht damit. Doch hier geht esum mehr, was die hohe Teilnehmerzahl

    belegte. Es geht wieder mal ums Prinzip:Es geht darum, dass nicht hinter ver-schlossenen Tren Kieze mit viel Geld,bzw. stdtischen Frdermitteln verndertund gestaltet werden, ohne die Bedrf-nisse der davon unmittelbar Betroffeneneinzubeziehen. Es geht um die Ignoranzeinzelner bei der Bercksichtigung der In-teressen vieler. Damit es im Gegensatz zurVeranstaltung im Herbst nicht im Streitendet, wurden zur jetzigen VeranstaltungKommunikationsprofis eingeladen. IhrKnowhow erwies sich zwar durchaus alshilfreich, um die anstehende Themen,Wnsche und Kritik zu moderieren. Obdie in der Auswertung genannten Wn-sche und Vorstellungen aber wirklich indie auf politischer Ebene stattfindendenKa

    rikatur:OL

    Entscheidungsprozesse einflieen, bliebam Ende dieser Veranstaltung fraglich.

    Dabei waren manche Vorschlge so banal,wie fundamental. Eine Forderung der An-wohner lautete, die Frderungssumme von800 000 vor allem fr Instandsetzung dervorhandenen Straen und Wege zu verwen-den. Es sollten fr ltere Brger und Kindersichere Straenberquerungen geschaffenwerden, statt landschaftsarchitektonischinteressante Visionen umzusetzen. Wich-tig war vielen bei der Umsetzung, sowohldie Funktionalitt als auch die gewachse-nen Strukturen und deren Geschichte zuerhalten. Viele vertraten die Auffassung,dass die Qualitt eines Platzes allein durchmehr Grn, Rundbnke um Bume, eine

    Litfasule oder gar einen temporrenWochenmarkt gesteigert werden kann.Die Anwohner sahen sich erneut in ihremAnliegen besttigt, das gemeinsame Mitei-nander im Kiez zu frdern, sei es nur durcheine Brgerinitiative.

    Ein Plaz, viele Ineressen

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Nur ein Wunder kann denTrinkraum Knorke rettenB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Der Trinkraum Knorke am Leopoldplatz wurdeMitte Mrz, zunchst auf unbestimmte Zeit ge-schlossen. Vorausgegangen war eine Razzia derPolizei, bei der Betubungsmittel in erheblicherMenge gefunden wurden. Der Gemeindekir-

    chenrat der Nazarethkirchengemeinde errterte am 20. Mai,ob die personellen und finanziellen Mittel fr eine Projekt-weiterfhrung vorhanden sind und ob ausgeschlossen wer-den kann, dass die Einrichtung erneut als Drogenlagerstttemissbraucht wird.

    Der Trinkraum Knorke wurde 2011 in einem damals leer

    stehenden Gebude der evangelischen Nazarethkirchenge-meinde erffnet. In dieser Einrichtung durften mitgebrachtealkoholische Getrnke konsumiert werden. Parallel dazu star-tete in der Spandauer Neustadt ein Trinkraum in der Trger-schaft von Fixpunkt. Den ersten Trinkraum Deutschlandsrichtete die soziale Straenzeitung Hempels in Kiel ein.

    Die Erffnung von Knorke hat eine lange Vorgeschichte. Aufdem Utrechter Platz trafen sich suchtkranke Menschen. Dabeisoll mit Betubungsmitteln gehandelt worden sein. In der Nheist die Erika-Mann-Grundschule. Mit einigem Aufwand wur-den die suchtkranken Menschen zum Leopoldplatz gebracht.An der Ecke der Mllerstrae und der Nazarethkirchstraehatten sie einen neuen Bereich, ihren Bereich. Anwohner undGewerbetreibende fhlten sich von diesen Menschen gestrt.Ihr Gebaren und Outfit machten Angst. Bei einer Einwohner-

    versammlung 2009 hie es: Die mssen weg!.

    Nur, Vertreibung ist keine Lsung. Das hatte sich bei den akti-ven Brgern herumgesprochen. Ebenso, dass der Frieden aufdem Platz auch von den Anwohnern und der Verwaltung eini-ges abverlangt: Aufhebung des Alkoholverbots auf dem Platz,Straensozialarbeit und eine fr die suchtkranken Menschennutzbare, also kostenlose Toilette. Zuerst wurde das Alko-holverbot fr den Leopoldplatz aufgehoben. Dann war dasTeam Leo von Gangway da. Jahre spter wurde der Aufent-haltsbereich fr die suchtkranken Menschen eingeweiht. Dortstanden zwei Chemietoiletten.

    Menschen, die in dieser Szene agierten und vorher gestrthatten, wurden angenommen, sodass sich das Verhltnis zur

    Szene entspannte. Die Krnung der positiven Entwicklungwar die Erffnung von Knorke. Die Initiative dazu kam vonHarry, der zur Szene gehrt. Er sagte eines Tages zu mir, ertrume von einem Raum fr seine Kumpel. Ich war skeptischund fragte mich, wie das bezahlt werden soll. Doch wenigeMonate spter wurde Knorke erffnet.

    Die Gemeinde hatte die suchtkranken Menschen jahrelang ig-noriert. Was soll ich machen?, fragte der Gemeindepfarrer,als ich ihn 2006 nach dem Gottesdienst auf die Menschen vorseiner Tr angesprochen hatte. Er und der Gemeindekirchen-rat hatten lange ber die strenden Suchtkranken gemeckert,ber lautstarke Auseinandersetzungen, berall herumlie-gende Scherben, Drogen, das Urinieren an der Hecke zumGemeindekindergarten. Hhepunkt war der Fund von ille-galen Drogen auf dem Gelnde des Gemeindekindergartens.Unter diesen Vorzeichen konnte ich nicht erahnen, dass dieseGemeinde die suchtkranken Menschen einldt. Es gibt auch

    positive berraschungen. Eine Sozialarbeiterin, die Gemein-demitglied war, engagierte sich fr den Trinkraum. Sie hatKnorke gemeinsam mit Harry geschmissen.

    Die Sozialarbeiterin war lange krank und hrte irgendwannganz auf. Die Gemeinde fand einen Nachfolger, der auchlange krank war. Irgendwann hat Michael Fass den Laden al-lein gemanagt, ein gutes Jahr lang. Micha gehrt zur Szene,spricht ihre Sprache, ist von ihr anerkannt. Das wre weitergut gegangen, wenn da nicht die Razzia mit dem Drogenfundgewesen wre. Im Aufenthaltsbereich der Szene gab es inden letzten Jahren Razzien. Auf dem Leopoldplatz wurde seit

    Jahren mit Drogen gehandelt, in der Regel in kleinen Mengen.Die Szene soll mit der Polizei kooperiert haben. Dealer sindins Knorke gegangen. So wurde der Stoff bei der Razzia ge-funden. Es wurde gesagt, dass er spter im Aufenthaltsbereichumgesetzt werden sollte.

    Die Gemeinde sieht sich nicht in der Lage, den Trinkraum wie-der zu ffnen. Vertreter des Bezirks haben zu verstehen gege-ben, dass es kein Geld fr Knorke gibt. Die Bezirksverordne-tenversammlung, die Stadtteilvertretung und der Runde TischLeopoldplatz haben sich fr die Wiedererffnung von Knorkeeingesetzt. Doch Geld kann keine dieser Institutionen zaubern.Die Politik hat mit fragwrdigen Weichenstellungen wie Schul-denbremse dafr gesorgt, dass den suchtkranken Menschen ihrRaum genommen wird. Das Problem verschrft sich, weil dieZukunft des Teams Leo unsicher ist. Ende August luft diederzeitige Finanzierung aus. Es gibt Hoffnung auf eine kurzfris-tige Verlngerung. Der Frieden auf dem Leo ist in Gefahr.

    Migebrache alkoholische Gernke durfen konsumier werden: Das Knorke seh vor dem Aus

    (Foo: Juta Herms)

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli | TAUFRISCH & ANGESAGT I N S P

    Wichtig ist, denMut aufzubringen,zu kmpfen!Zu Besuch bei der sozialen Straenzeitung Shedia in AthenB E R I C H T : T a n n a z F a l k n a z

    Es riecht nach frischgewaschener Wsche im Broder Shedia. Shedia, was zu Deutsch Flobedeutet, ist eine Non-Profit Organisation Grie-chenlands, der auch die gleichnamige soziale Stra-enzeitung angehrt.

    Wenn jemand neu in unserem Team ist, muss er zu allererst lernen, wie man die Wachsmaschine bedient, scherztChris Alefantis, Chefredakteur der Shedia. Chris weist aufden Wschestnder hin, auf dem etliche Fuballtrikots zumTrocknen aufgehangen sind. Sie gehren der Obdachlosen-fuballmannschaft Griechenlands und haben in der Tat einezentrale Bedeutung fr die Straenzeitung. Die Fuball-manschaft, die in Athen entstand, nahm wie andere Mann-schaften aus anderen Stdten auch am Homeless Word

    Cup teil. Die erste Teilnahme Griechenlands war 2007 inKopenhagen. Unter dem Motto Kick out Poverty, kamendie Mannschaften aus aller Welt zusammen. Dort traf Chrisauf andere Lnder und ihre Fuballvereine. Durch die Ge-sprche und den Erfahrungsaustausch, wurde er auf die Ideesozialer Straenzeitungen aufmerksam.

    E n t s t e h u n g d e r S h e d i a m i t t e n i n d e r K r i s eUnd so entstand, 2013, sechs Jahre spter auch in Grie-chenland eine soziale Straenzeitung. Wir sind den Wegrckwrtsgegangen. Die anderen Lnder hatten zuerst eineStraenzeitung und dann eine Fuballmannschaft. Wirsind durch unsere Fuballmannschaft zu einer Straenzei-tung gekommen. Stolz zeigt mir Chris seine Exemplareder Straenzeitungen aus aller Welt. Beim Durchstbern

    sehe ich auch unseren strassenfeger.

    Shedia wurde 2013 mitten in der Krise gegrndet und wirdseitdem in Athen und Thessaloniki, Griechenlands zweitgr-ter Stadt, verkauft und ermglicht wie bei uns in Berlin, Ob-dachlosen und Langzeitarbeitslosen den Weg zurck in denArbeitsalltag. 200 Verkufer gebe es und viele stehen noch aufder Warteliste. Die jngste Verkuferin ist 21, der lteste 87.berleg mal, er ist 87 und muss noch auf der Strae stehen unddie Zeitung verkaufen, merkt Chris an. Aber all die Shedia-Verkufer seien dankbar und hchst motiviert. Fast alle seienunmittelbare Opfer der Krise, haben ihre Wohnungen, ihre Ar-beit und ihre gesamte Existenz verloren.

    Einer von ihnen ist der 53 jhrige Manlis. Ich nehme amnchsten Tag an seiner Obdachlosenfhrung teil, bei dem erund Maria uns die wichtigsten Anlaufstellen fr Obdachlosein Athen zeigen. Manlis und Maria sind zwei von 5 000 offizi-

    ellen Obdachlosen in Athen. Manlis erzhlt uns, seine Elternseien Griechen, er sei aber in Brasilien geboren und groge-worden. Als die Krise ausbrach, verlie er Brasilien. berall,wo ich hinkomme, entsteht eine Krise, lacht er. In Griechen-land habe er schnell einen Job gefunden und habe in einemHotel gearbeitet, bis die Krise ausbrach und der Tourismusstark zurckging und er 2008 seine Arbeit verlor. Einen Monathabe er auf der Strae geschlafen, bis er langsam anfing, Hilfeanzunehmen und eine Obdachlosenunterkunft aufzusuchen.

    Es ist fast schon paradox, dass Manlis nun wieder in einemHotel ist. Diesmal jedoch in einem ehemaligen Hotel, welchesnun eine Obdachlosenunterkunft ist. Hier gibt es Platz fr135 Obdachlose. Hier schlafen auch Manlis und Maria.

    T h e a t e r a l s H i l f e z u r S e l b s t h i l f eEinige Straen weiter zeigt uns Maria das Nationaltheater.Die 46jhrige nehme hier an Theaterkursen teil, was fr siesehr wichtig ist, da das Theater wie ein Kraftgeber des Kmp-fens fr sie gewesen sei. Durch das Theater wurde sie selbst-bewusster, habe gelernt, auf Menschen zuzugehen, Kontaktaufzunehmen und vor Gruppen zu sprechen. Sie knnte soauch in vllig unbekannte Rollen schlpfen, so wie die einerverheirateten Frau mit drei Liebhabern. Das war brigenseine sehr gute Performance von ihr, fgt Manlis hinzu.Beide lachen.

    D i e n e u e D r o g e S h i s h a H e r o i n d e r A r m e n Weniger lustig wird es an anderen Stellen der Fhrung. Diezwei erzhlen uns von einer in Griechenland lngst verbreite-

    ten Droge, namens Shisha. Eine Droge bestehend aus Chlorund Batteriesure, was in Expertenkreisen auch als Heroinfr Arme bekannt ist und aus Argentinien stammt. Eine Dosiskoste 1,50 Euro und die die restliche Lebenszeit bei regelm-igem Konsum betrage anderthalb Jahre. In entsprechendenUnterknften, die sie uns von weitem zeigen, knne mansich nicht nur beraten lassen, sondern auch unter rztlicherPflicht einen Heroinersatz spritzen. Auch Drogenbehand-lungen seien dort mglich. Die Wartezeit hierzu vor einigenJahren: Siebeneinhalb Jahre. Inzwischen sei die jedoch nurnoch anderthalb Jahre.

    Drogen sind in der Obdachlosenunterkunft streng verbo-ten. Viele seien dennoch perspektivlos. Maria und Manlishingehen haben mit dem Theaterspielen, den Fhrungenund dem Verkauf der Straenzeitung sinnvolle und erfl-lende Aufgaben gefunden. Und so verkaufen sie die She-dia und freuen sich ber ein eigenes Einkommen. Drei

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli TAUFRISCH & ANGESAGT | I N S P

    Euro kostet die Ausgabe, die monatlich er-scheint. 1,5 Euro gehen dabei an den Verku-fer. Anders als beim strassenfeger gibt es keineTitelthemen und keine wchentlichen Redak-tionssitzungen. Ich frage Chris, wie das funk-

    tioniert. Er erklrt mir, dass die Verfasser derArtikel professionelle Journalisten sind, dietelefonisch kontaktiert werden. Die Obdach-losen und Langzeitarbeitslosen holen dann diegedruckten Exemplare im Bro ab.

    S h e d i a a l s e r f l l e n d e A u f g a b eChris und ich tauschen uns noch eine Weile aus.Ich erzhle ihm, wie beeindruckt ich bin, dasses bei uns in Berlin und hier in Athen so unter-schiedlich luft, beides jedoch so gut funktioniertund lngst in der Gesellschaft etabliert und ak-zeptiert ist. Er stimmt mir zu und erzhlt mir vonden Konferenzen, die jedes Jahr stattfinden undbei der die Kpfe hinter den Straenzeitungenzum Austausch zusammenkommen. NchstesJahr finde die Konferenz in Athen statt. Dass dieShedia lngst Alltag im Straenbild Athens ist,

    war nicht immer klar. Wenn du und ich von et-was glauben, dass es wichtig fr die Gesellschaftist, dann heit es noch lange nicht, dass es auchandere so sehen.

    Doch in diesem Fall scheint auch die Gesell-schaft in Griechenland gesehen zu haben, welcheBedeutung und Chance die Zeitung fr Obdach-lose und Langzeitarbeitslose darstellt.

    Manlis ist froh, dass er bei der Shedia ist undnebenbei auch Fhrungen mit Interessierten ma-chen kann. Er wei, dass es nicht selbstverstnd-lich ist, nach einem Monat Leben auf der Strae,wieder Fu in ein teils selbstbestimmtes Leben zufassen. Viele haben diesen Schritt nicht geschafftund zu illegalen Geldbeschaffungsmglichkeitengegriffen. Wieso er nicht auf die schiefe Bahngerckt ist, fragt einer der Fhrungsteilnehmer.Manlis antwortet, er habe auch in den schwie-rigsten Momenten immer daran geglaubt, dasses einen anderen Weg gibt. Entschieden sagt er:Wichtig ist, den Mut aufzubringen, zu kmpfen!

    Shedia-Verkuerin in Ahen (Foo: Tannaz Falknaz)

    Tielbild der Sraenzeiung Shedia

    (Quelle: Shedia Griechenland)

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    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

    skurril, famosund preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

    FEST

    Vielfalt und BegegnungEingeladen wird zum 2. Fest der Vielfalt undBegegnung, einem Kulturfest gegen Vorur-teile und Ausgrenzung. Menschen mit undohne Behinderung, Klienten sozialer undkirchlicher Einrichtungen, Schulen undJugendclubs, Senioren- und Brgertreffs,Migranten und ethnische Gruppen zeigen ihr

    Knnen. Die Gemeinsamkeit verwischt dieGrenzen zwischen krank und gesund, jungund alt, bekannt und fremd. Auf sechsBhnen und rundherum werden sichbekannte und unbekannte Berliner Talenteaus allen Sparten vorstellen. Ein Wandel imGrnen zwischen Lesungen, Modenschau,Skulpturen, Sinnespfad und Hochstelzen-Acts inmitten von Fabelwesen schafft eineriesige Erlebniswelt fr alle. Das Fest endetum 22 Uhr mit einem groenAbschlussfeuerwerk.

    Am 4.Juli, 15 bis 22 Uhr, Eintritt freiLandschaspark HerzbergeHerzbergsrae 79

    10365 BerlinIno: www.herzbergerlicher.de

    BRGERWERKSTATT

    Alte Mitte neue Liebe?

    Nach der Auftaktveranstaltung derStadtdebatte Berliner Mitte 2015 imApril und der ersten Phase desOnline-Dialogs laden die Senatsver-waltung fr Stadtentwicklung undUmwelt und das Kuratorium BerlinerMitte zu einer ersten Brgerwerkstattein. Alle interessierten Brgerinnenund Brger sind eingeladen, sich einenTag lang intensiv mit der BerlinerMitte auseinandersetzen. Es wirderarbeitet, was das Gebiet zwischenFernsehturm und Spree ausmacht, undwonach sich eine kommende Gestal-tung richten sollte. In Kleingruppenwerden Ideen fr zuknftige Nutzun-gen entwickelt, die in ein abschlieen-des Forum eingebracht werden.

    Am 4. Juli, 10 bis 17.30 UhrAnmeldung erwnsch uner:htp://saddebate.berlin.de/even-inormaionen/buergerwerksat

    Haus des Berliner VerlagesKarl-Liebknech-Srae 29

    10178 BerlinIno: www.saddebate.berlin.de

    KREATIVES

    Schreiben im Botanischen Garten

    Gemeinsam kreativ sein an lauschigen Pltzen in derNatur: Interessierte sind eingeladen, sich von denvielfltigen Reizen des Botanischen Gartens anregenzu lassen und mit den Methoden des kreativenSchreibens ganz persnliche Texte zu gestalten. BisAugust werden mehrere Termine angeboten, einEinstieg ist jederzeit mglich.

    Am 3. Juli, 16.30 bis 18.30 U hrKursgebhr: Je Termin 10 Euro.

    Inormaion & Anmeldung: Ingrid Seinbeck, Tel: 791 25 63,E-Mail: [email protected]

    Boanischer GarenKnigin-Luise-Srae 6-8

    14195 BerlinIno: www.bgbm.org/de/veransalungen-lise

    AUSSTELLUNG, GESPRCH & FILM

    Gitarren statt Knarren

    Udo Lindenberg und seine Fans im Visier der Stasi: Am25. Oktober 1983 kam es in Ost-Berlin zu einemAuftritt, der wenige Monate zuvor noch undenkbargewesen wre. Udo Lindenberg, der Rocker aus demWesten, durfte im Palast der Republik singen. Fr dieStasi bedeutete der Auftritt einen Groeinsatz. Sieobservierte jeden Schritt Lindenbergs und sicherte denPalast der Republik vor Udo-Fans. Nun widmen dasStasi-Museum und die Stasi-Unterlagen-Behrde UdoLindenberg und seinen Fans eine Veranstaltung auf demGelnde der ehemaligen Stasi-Zentrale.

    Am 2. Juli, Eintritt frei17.30 Uhr: Aussellungserffnung: Mi dem Sonderzug nachPankow - Udo Lindenberg in Os-Berlin18.30 Uhr: Zeizeugengesprch: Sonderzug in den Palas der

    Republik -Das Lindenberg-Konzer 198319.45 Uhr: Diskussion mi Schlern: Die junge Generaionund das Thema Sasi20.30 Uhr: Filmvorhrung: Die Ake Lindenberg

    Ehemalige Sasi-ZenraleRuschesrae 10310365 Berlin-Lichenberg

    Ino: www.bsu.deFoo: BSU, MS, ZOS, 1826, S. 62, Fo 10

  • 7/21/2019 strassenfeger Ausgabe 13-2015 Berlin

    23/32

    VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

    senden Sie ihn uns an:

    [email protected]

    Je skurriler, amoser und

    preiswerer, deso besser!

    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli TAUFRISCH & ANGESAGT | K u l t u r t i p p s

    TIERE

    Tag der offenen TrDas Tierheim Berlin ldt groe und kleineTierfreunde zu einem bunten Unterhaltungs-und Bhnenprogramm ein. Einer der Hhe-punkte wird das beliebte Pitbull Ballett sein,bei dem Tierheimhunde zeigen, was sieknnen. Ein Portrait-Zeichner bildet aufWunsch Hund und Herrchen oder Frauchenab. Es gibt Tierheim-Fhrungen, Infostndeund leckere vegane Kstlichkeiten. Fr diemusikalische Untermalung sorgt DJ Gorzel.Besucher sind eingeladen, sich gegen eineSpende mit bunten Handabdrcken und einerUnterschrift auf einem Buddy Bren zu

    verewigen. Fr Kinder gibt es eine Hpfburg,Kinderschminken, Malen und Basteln mit derTierschutzjugend sowie Mitmachaktionen.Besondere Gste sind die SchauspielerinnenIsabell Horn und Elena Garca Gerlach (beideGute Zeiten, schlechte Zeiten). Die Tierver-mittlung ist wie gewohnt geffnet.

    Am 5.Juli, 11 bis 16 UhrDie Anreise mi ffenlichen Verkehrsmiteln wirddringend empohlen. Ein kosenloser Bus-Shutle-Service is eingeriche.

    Tierheim BerlinHausvaerweg 3913057 Berlin

    Tel. 030 / 76 888 0Ino: www.ierschuz-berlin.de

    AUSSTELLUNG

    FIRE AND FORGETFire and Forget ist ein aus dem Militrjar-gon stammender Begriff fr Waffensysteme,die aus gefahrloser Distanz zum Feindausgelst werden. Die Ausstellung FIREAND FORGET. ON VIOLENCE nimmtden militrischen Ausdruck zum Ausgangs-punkt fr eine berprfung gelufigerVorstellungen von Krieg und Gewalt.Hierzu orientiert sie sich an den sichtbars-ten Agenten von Gewalt: den Waffen.

    Noch bis zum 30.AugustMi-Mo 12-19 Uhr, Do 12-21 Uhr, Diensag ge-schlossen, Einrit 6 Euro (ermig 4 Euro)

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    Ino: www.kw-berlin.deFoo: Timo Ohler

    STADTFHRUNG

    Dauerkolonie Togo?Der Stadtrundgang durch das Afrikani-sche Viertel im Wedding beleuchtet zumeinen die Entstehungsgeschichte desViertels, in dem sich Deutschlandsjahrzehntelanges Streben nach Weltherr-schaft spiegelt. Er thematisiert zumanderen den Umgang mit Kolonialismusund Rassismus in der Gegenwart.Stadtfhrer Abdel Amine Mohammedkommt aus Togo und studiert an derUniversitt Potsdam.

    Am 11. Juli 2015, 13 UhrTeilnahme: 8 Euro

    Treffpunk: U-Bahnho Arikanische Srae,

    NordwesausgangIno: www.berlin-poskolonial.de

    PODIUMSDISKUSSION

    Was darf Satire?Der Terroranschlag von Paris aufdie Satirezeitung CHARLIEHEBDO hat eine Debatte berSatire als Mittel der politischenKontroverse ausgelst. Nach denweltweiten Solidarittsbekundun-gen wurde zuerst hinter vorgehal-tener Hand, dann immer lauter dieFrage gestellt, ob die Zeichner derSatirezeitung diesen kriminellenAkt nicht durch ihre Werkeprovoziert haben, ob insbesondere

    durch ihre religionskritischenArbeiten Grenzen berschrittenwurden. Die BrandenburgischeLandeszentrale fr politischeBildung ldt ein zur Podiumsdis-kussion mit Andreas Platthaus(Journalist, FAZ), BarbaraHenniger (Karikaturistin) undNEL (Karikaturist).

    Am 1. Juli, 18 Uhr, Eintritt freiHeinrich-Mann-Allee 107, Haus 17,Eingang Friedhosgasse14473 Posdam

    Ino: www.poliische-bildung-brandenburg.deQuelle: Mahilde Bouvaul - Les udians du

    CESAN renden homage/ Wikimedia commons

  • 7/21/2019 strassenfeger Ausgabe 13-2015 Berlin

    24/32

    strassenfeger | Nr. | Juni-Juli | TAUFRISCH & ANGESAGT P U N K t r i f f t P R O F

    P U N K t r i f f t P R O F

    D I E P R O M I A n n A L Y s e

    Ich werde aus Kreuzberg

    wegziehen mssenDie PROMI AnnA LYseI N T E R V I E W: A n n e - L y d i a M h l e m i t C h r i s t i a n e R s i n g e r ( M u s i k e r i n , J o u r n a l i s t i n , A u t o r i n )

    AnnALYse: Wer Dich treffen will, geht am besten in die Flitt-chenbar am Kotti. Flittchen- was ist das fr eine Bar?

    Christiane Rsinger: Die Flittchenbar gab es frher schoneinmal. Am Ostbahnhof, da war ein Hochhaus, das ist heuteabgerissen. In einem ehemaligen DDR Postgebude, exis-tierte ein Techno-, Elektroclub, die Maria am Ostbahnhof und

    da war die Flittchenbar drin.Ich habe das mit zwei Freundinnen einmal die Wochegemacht. Wir haben manchmal Bands eingeladen aber eswar natrlich wahnsinnig anstrengend, weil wir immerdurchgemacht haben und extrem viel getrunken haben.Dann ist das Gebude abgerissen worden, und es warein paar Jahre lang Pause. Ich habe die Flittchenbar sehrvermisst, denn je lter man wird, umso seltener gehen dieFreunde aus. Alle bekommen Kinder oder werden frhmde. Deswegen dachte ich, ich htte gern mal wieder soetwas wie die Flittchenbar.

    Dann hat am Kotti der Sdblock aufgemacht, das ist einCaf, Veranstaltungsort und die fragten mich, ob ich einma-lig etwas machen will. Ich habe von der Flittchenbar vorge-schwrmt, und seitdem gibt es sie einmal im Monat und eskommen immer viele Leute. Die Bar luft jetzt schon das

    fnfte Jahr. Es kommen bekanntere Leute, die ich kenne, aberauch unbekannte, und es geht darum, unbekannten Leutenein Forum zu geben. Unbekannte Musiker brauchen Auftritts-orte, und da finde ich es gut, wenn man etwas hat, wo dieLeute sowieso hinkommen. Dann schauen sie sich auch etwasNeues an. Fr Bands, die es neu gibt, ist es total schwierig,wenn die irgendwo spielen, da kommt kein Mensch.

    Du bist Musikerin (Lassie Singers, Britta), aber auch Jour-nalistin und Autorin. Du hast das Buch Liebe wird oftberbewertet geschrieben. In der Bibliothek ist das Buchunter Psychologie einsortiert. Warum hast Du gerade diesesBuch geschrieben?

    Das Thema beschftigt mich schon lnger. Es gibt einLied: Liebe wird oft berbewertet von den Lassie Singers

    und auch ein anderes, die Prchenlge. Damals, gemeinsammit Almut Klotz hat uns das immer beschftigt, warum manmit Leuten nichts mehr anfangen kann, sobald sie zu Pr-chen werden. Sie sind fr die Clique verloren und interes-sieren sich nur noch untereinander. Im Lauf der Zeit ist miraufgefallen, dass dieses Prchending immer strker wird. Inden 80er Jahren, als ich zwanzig war, war das cool, alleinezu sein. Da war das fr eine Frau cool dass du niemandbrauchst. Und ich finde, dass es in den vergangenen zehnJahren immer schlimmer wurde: Vor allem Frauen wird sug-geriert, ohne Freund bist Du nichts wert. Wer alleine ist, demfehlt irgendwas.

    Dem wollte ich etwas entgegensetzen. Nicht nur in Lie-dern, sondern auch als Sachbuch. Es ist ironisch und teil-weise bertrieben, es ist ein Pamphlet. Die Grundaussage ist,dass ich wirklich finde, dass das Leben als Single genauso gutoder schlecht ist wie als Prchen. Das Prchentum ist keinGarant fr ein glckliches Leben und wird berbewertet.

    Wie ist Dir die Abkrzung RZB eingefallen?RZB, Romantische Zweier Beziehung, ist ein

    Ausdruck, den man fter mal liest. Ich habe re-cherchiert und viele Beziehungsratgeber gelesen.Und ich habe das gesehen, da waren die Anfangs-buchstaben fett gedruckt: Romantische ZweierB

    eziehung. Wenn man es abkrzt: RZB, dann istdas ein bisschen verchtlich, das finde ich gut.

    Zu Deinem Buchtitel: Liebe wird oft ber-bewertet, folgende Frage: Ist nicht Liebe dasWichtigste im Leben?

    Man muss unterscheiden zwischen RZB undLiebe. Liebe muss sich nicht automatisch auf ei-nen Partner beziehen. Liebe kann man auch zuFreunden oder zu Kindern empfinden. Oder zuHunden, zu Tieren berhaupt. Und da ist es einschnes und wichtiges Gefhl, aber diese Zwei-samkeit, dieses Mann Frau oder Frau Frauoder Mann Mann, also dieses Prchending, dasfinde ich berbewertet. Ich kenne Frauen, dietotal viel von ihrem Leben aufgeben, wenn sie

    einen Freund haben: Ihre Interessen, Hobbys,Beruf oder andere Freunde. Mir selber ist es auchso gegangen, die interessanten Sachen habe ichimmer gemacht, wenn ich allein war.

    Wrdest Du uns die Geschichte vom Trauer-schwan Petra erzhlen?

    Die kann ich fast auswendig: Es war imwestflischen Aasee, ein See mit zwei AA, inMnster. Da gibt es einen See und da gibt esSchwne und da gibt es Plastikboote, die manmieten kann. Ein Plastikboot hatte die Form voneinem weien Schwan, berlebensgro. Und derschwarze Trauerschwan Petra - die heien so,die schwarzen Schwne hat sich in dieses Boot

    verliebt. Die Petra ist die ganze Zeit neben demPlastikboot gewesen, und wenn das Boot ausge-liehen wurde, ist sie in Drohgebrden verfallenund wollte die Leute vertreiben. Sie hat fast zweiJahre lang neben diesem Boot ausgehalten.

    Das ist ein Beispiel dafr, wie sich manch-mal eine verliebte Frau verhlt. Sie verliebt sichin einen ganz verhaltensgestrten Mann undsie denkt, durch ihre Liebe und Zuwendungkann sie ihn heilen. Dem Trauerschwan Petraist bestimmt aufgefallen, dass irgendwas nichtstimmt. Das Plastikboot ist so starr und so we-nig entgegenkommend aber irgendwie hat siedann gedacht: Wenn ich einfach immer an sei-ner Seite bleibe, dann wird er sich noch ndern.Manchmal hat sie dann auch so Zeichen fehlge-deutet. Zum Beispiel, wenn er sich ein bisschenim Wind bewegt hat, dann hat sie gedacht: Na,

  • 7/21/2019 strassenfeger Ausgabe 13-2015 Berlin

    25/32

    srasseneger | Nr. | Juni-Juli TAUFRISCH & ANGESAGT | P U N K t r i f f t P R O F

    jetzt kommt er mir doch entgegen.So ist das auch oft in den Zweierbeziehun-

    gen, gerade wenn man die unglckliche Veranla-gung hat, sich immer extrem verhaltensgestrteLeute auszusuchen. Nach zwei Jahren war Petraverschwunden. Ich glaube, dass es ihr irgendwiepeinlich war. Das hat sie selber gemerkt. Und sp-ter ist sie wieder gesehen worden. Zuerst alleinund dann in einer normalen Beziehung, mit einemnormalen Schwan. Das heit, man kann ber eineunglckliche Veranlagung hinwegkommen.

    Das ist trstlich fr alle beteiligten Schwneund Frauen.

    Man muss nicht immer wieder auf die glei-chen Muster hereinfallen.

    ber dieses Thema singst Du in dem Lied Fai-ble fr Idioten von den Lassie SingersDieses Lied ist viel frher entstanden. Es ist

    1996 entstanden. Das handelt von mir und mei-nem Faible fr Idioten. Ich habe es fr die LassieSingers geschrieben und bei meiner nchstenBand Britta habe ich gedacht, das machen wireinfach nochmal.

    Du lebst in Kreuzberg, was bedeutet Dir dieserBezirk?

    Der Bezirk bedeutet sehr viel fr mich. Ichbin in einem kleinen Dorf in Sdwestdeutsch-land aufgewachsen. Es war dieser Mythos vonKreuzberg, der mich hierhergezogen hat. Ichwohne seit 30 Jahren hier, in der gleichen Woh-nung und Kreuzberg hat mich immer inspiriert,meine Tochter ist hier aufgewachsen. Meine

    Freunde waren hier, sind hier. Kreuzberg war frmich immer der einzige Ort, an dem ich leben

    wollte, und jetzt ndert sich das alles. Die Ge-gend verndert sich, und meine Wohnung ist ineine Eigentumswohnung umgewandelt worden.Das heit, der Vermieter kann mich in siebenJahren wegen Eigenbedarf kndigen. Ich kannnichts dagegen machen. Mit Musik und mit sch-reiben verdient man nicht viel, die Leute denkendas immer, weil man so viel in der Presse ist. Ichknnte mir nie im Leben eine Eigentumswoh-nung kaufen never, never. Und wenn ich ausder Wohnung hier ausziehen muss, werde ich niemehr was in Kreuzberg finden. Meine Wohnunghat noch Ofenheizung, deswegen ist die so billig.Ich werde dann wahrscheinlich aus Kreuzbergwegziehen mssen. Einerseits