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Die Roboter von Ursuf

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Nr. 1050

Die Roboter von Ursuf

Der Kampf auf dem Müllplaneten –Atlans letzter Einsatz in Vayquost

von Kurt Mahr

Mehr als 400 Jahre sind seit dem Tag vergangen, da Perry Rhodan durch seineExpedition mit der BASIS tiefe Einblicke in die kosmische Bestimmung der Mensch-heit gewann und in die Dinge, die auf höherer Ebene, also auf der Ebene der Super-intelligenzen, vor sich gehen.

In folgerichtiger Anwendung seiner erworbenen Erkenntnisse gründete Perry Rho-dan Anfang des Jahres 3588, das gleichzeitig zum Jahr 1 der Neuen GalaktischenZeitrechnung (NGZ) wurde, die Kosmische Hanse, eine mächtige Organisation, de-ren Einfluß inzwischen weit in das bekannte Universum hineinreicht.

Dennoch ist der Hanse selbst im Jahr 425 NGZ weder etwas über die GalaxisVayquost noch über die Kranen bekannt, die dort die größte Macht darstellen.

Doch diese Macht ist im Innern nicht sehr gefestigt, wie sich nach dem Tod einesder drei regierenden Herzöge alsbald zeigt. Die Bruderschaft, eine Geheimorganisati-on, trägt Unruhe unter die Bewohner des Zentralplaneten und sorgt für bürgerkriegs-ähnliche Zustände.

Atlan, der nach 200jähriger Tätigkeit als Orakel von Krandhor nun wieder körper-lich voll präsent ist, fühlt sich verpflichtet, die Kranen im Kampf gegen die Bruder-schaft zu unterstützen. Als er versucht, das Hauptquartier der Geheimorganisationauszuheben, helfen ihm DIE ROBOTER VON URSUF …

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide erweist den Kranen einen letzten Dienst.Chaktar, Pantschu und Nivridid - Atlans exotische Helfer.Der verseuchte Derrill - Der Anführer der Bruderschaft.Nilgord - Derrills Stellvertreter.Carnuum und Syskal - Zwei prominente Kranen in der Gewalt der Bruderschaft.

1.

Nach mehr als zweieinhalb Tagen schwe-relosen Falls näherte sich der erste kritischeAugenblick, der andeutete, daß die Reisebald zu Ende sein würde. Atlan hatte dasLuk geöffnet und war hinauf geschwebt, umeinen Blick in die Runde zu tun. Weit vorihm schwebte die Sichel des Planeten Ursuf,der Schwesterwelt von Kran und gleichzei-tig das Ziel dieser ungewöhnlichen Fahrt.Vom Luk aus blickte er an der glatten Stahl-wand des Müllcontainers hinab, der übersechzig Stunden lang ihr Raumschiff gewe-sen war.

Dann sah er das Feldtriebwerk. Es hattedie Form einer Plattform und näherte sichvon oben her. Atlan war schnell ins Inneredes Containers zurückgeglitten und hatte dasLuk geschlossen. Feldtriebwerke waren mitvisuellen Wahrnehmungsmechanismen aus-gestattet, mit denen sie die Last überprüften,bevor sie sich mit ihr verankerten und sieauf die Oberfläche von Ursuf hinabbeförder-ten.

Tausende von Kilometern über der Ober-fläche von Ursuf hatte die Plattform begon-nen, die Verbindung mit dem Container her-zustellen. Das Triebwerk klammerte sichvon hinten an den mit gefährlichem Müll ge-füllten Behälter. Dröhnende Schläge halltendurch die Hülle des Behälters, als Laschenund Verankerungen sich schlossen, Magnet-und Schraubverschlüsse hergestellt wurdenund schwere Bolzen in Steckverbindungenklinkten. Der Vorgang war automatisch, dasSystem eine Meisterleistung kranischer Ro-bottechnik.

Dann kam der erste Bremsversuch. An-druck von einem Viertelgravo senkte sich

über die vier blinden Passagiere im Bug desContainers, hielt zwanzig Sekunden an underlosch wieder. Das war der kritische Au-genblick!

Die optischen Sensoren der Triebwerks-plattform hatten die Beschriftung des Con-tainers geprüft und ihre Angaben mit demverglichen, was aufgrund der automatischenVorankündigung über die Fracht bekanntwar. Beide Gruppen von Daten stimmtenmiteinander überein. Das Triebwerk kannte,da es mit der Bodenstation auf Ursuf kom-munizierte, die Geschwindigkeit des Contai-ners. Aus seiner Masse und dem genau kali-brierten Schub, der bei der zwanzigsekündi-gen Bremsphase zum Einsatz kam, ergabsich ein neuer, geringerer Geschwindigkeits-wert.

Diesen errechneten Wert teilte das Trieb-werk der Bodenstation mit. Die Bodenstati-on stellte daraufhin eine neue Messung anund ermittelte die tatsächliche Geschwindig-keit des Containers. Und dann geschah es!Der errechnete Wert stimmte mit dem ge-messenen nicht überein. Denn die Masse desContainers war größer als in den Daten an-gegeben – um die Körper vier blinder Passa-giere größer. Wie würde die Automatik rea-gieren?

Die Gefährten kauerten auf dem Bodendes runden, kahlen Raumes, der zweieinhalbTage lang ihre Unterkunft gewesen war. Ni-vridid, der Prodheimer-Fenke, der die Emo-tionen anderer Wesen zu erahnen verstand –Chaktar, der Ai, der hypnotische Fähigkei-ten besaß – und schließlich Pantschu, derXildschuk, der wie ein terranischer Basset-Hund aussah und über dessen Spürsinn ver-fügte. Ihre Blicke waren auf Atlan gerichtet,als erwarteten sie von ihm das erlösendeWort. Nivridids knopfförmige Mausaugen

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sahen zu ihm auf, Chaktar reckte ihm dieAugenstiele entgegen, und Pantschu muster-te ihn mit einem Blick, in dem sich der gan-ze Jammer des Universums spiegelte. Erhörte ihr schweres Atmen im Helmempfän-ger.

Ein Ruck! Das Triebwerk hatte zu feuernbegonnen. Der Andruck verstärkte sichsprunghaft. Atlan fühlte sich wie von derHand eines Riesen an den Boden gedrückt.Er wartete, bis der Beschleunigungsdruckeinen konstanten Wert erreicht hatte. Dannmanipulierte er den Antigrav seiner Montur.Er hüllte sich in ein künstliches Schwere-feld, dessen Intensität ständig zunahm, bis erzu schweben begann. Der Andruck war aus-geglichen. Ein akustisches Kommando blen-dete den Wert des künstlichen Feldes aufden Datensektor der Helmscheibe, so daßAtlan ihn lesen konnte.

2,8 Gravos! Der Standardwert für Vor-wärtsbeschleunigung beim Start von Kranund für Bremsbeschleunigung bei der Lan-dung auf Ursuf. Die Automatik hatte dieMassendifferenz zur Kenntnis genommenund für unkritisch befunden. Der Landevor-gang war eingeleitet. »Wir haben es ge-schafft!« sagte er.

*

Die Lage, in der er sich befand, war nichtohne Ironie. Wie kam der ehemalige Impe-rator von Arkon in einen zylindrischenMüllbehälter, vierzig Meter lang und sechsMeter im Durchmesser, der auf dem Wegvon Kran nach Ursuf war?

Auf Kran war die Wachablösung vollzo-gen worden. Nach zweihundert Jahren hatteder Arkonide aufgehört, das Orakel der Her-zöge von Krandhor zu sein. Seine Stelle warvon einem jungen Betschiden eingenommenworden, einem Nachfahren der Solaner, dereine ungewöhnlich hohe Affinität zu den in-telligenzfördernden Spoodie-Mechanismenbesaß. Surfo Mallagan lag nun an seinerStatt in jenem innersten Raum des Wasser-palasts auf Kran, und über ihm schwebte ein

dichtgedrängter Pulk aus unzähligen Spoo-dies, der mit seinem Bewußtsein in Symbio-se lebte. Der Betschide nahm die Funktiondes Orakels nicht alleine wahr. Ihm vorge-setzt war Herzog Gu, verletzt, aber auf demWege der Besserung. Gus Aufgabe war, imZwiegespräch mit Mallagans Bewußtsein je-ne Empfehlungen zu entwickeln, die demWohl des Herzogtums dienten.

Die Bevölkerung war über Gus neue Rol-le unterrichtet worden. Als das Orakel sichzum ersten Mal meldete, hatte es empfohlen,das Triumvirat der Herzöge – durch den TodHerzog Zapelrows geschwächt – zu vervoll-ständigen. Die Kranen hatten mit Begeiste-rung reagiert. Das Konzil der Elektoren warzusammengetreten und hatte sich an dieAufgabe gemacht, einen dritten Herzog zubestimmen. Aber es gab eine Macht, die mitdieser Entwicklung nicht einverstanden war.Die Bruderschaft, seit jeher erbitterte Geg-nerin des Orakels und seit kurzem an einerBeteiligung an der Regierung interessiert,hatte schließlich zu erkennen gegeben, wor-auf sie wirklich aus war: die Alleinherr-schaft.

Ursuf, wo sich das Hauptquartier der Bru-derschaft befand, war hermetisch von derUmgebung abgeriegelt worden. Der sonnen-nähere Schwesterplanet Krans war dünn be-siedelt; aber der Geheimbund hatte sichnicht gescheut, die Bewohner zusammenzu-treiben und in Lager zu pferchen, wo sie alsGeiseln gehalten wurden. Die einzige Ver-bindung, die zwischen Kran und Ursuf nochbestand, war die Containerkette, ein kyber-netisches System, das mittels einer unabläs-sigen Folge von Behältern toxischen Müllvon Kran nach Ursuf beförderte. Ursuf warder Ort, an dem der giftige Abfall der fastvöllig urbanisierten Welt Kran verarbeitet,wiederaufbereitet und unschädlich gemachtwurde.

Die SOL schwebte startbereit über demDallos, dem riesigen Platz, der den Wasser-palast umgab. Die kranische Besatzung warvon Bord gegangen. Die Orakeldiener imWasserpalast, soweit sie Solaner waren,

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warteten darauf, an Bord gehen zu können.Atlans Ziel war Terra. Aber bevor er sichauf den Weg machte, hatte er noch eine Auf-gabe zu erledigen.

Die Bruderschaft war ein gefährlicherGegner. Sie war ein Geschwür, das im Leibdes Herzogtums wucherte und die Errungen-schaften der vergangenen zweihundert Jahrezunichte zu machen drohte. Der Arkonidehatte sich vorgenommen, der GalaxisVayquost erst dann den Rücken zu kehren,wenn die Bruderschaft keine Gefahr mehrdarstellte.

Und weil es derzeit nur einen Weg vonKran nach Ursuf gab, deswegen befand ersich an Bord des Müllcontainers, in einemkahlen Raum von sechs Metern Durchmes-ser und vier Metern Höhe, in Begleitung sei-ner drei Getreuen, die er aus den Reihen derSieger vergangener Lugosiaden rekrutierthatte.

Auch sein Gegner war der Gewinner einerLugosiade: Derrill, mit dem Beinamen »derVerseuchte«, das tyrannische Oberhaupt derBruderschaft.

Sein Vorhaben war im Einvernehmen mitHerzog Carnuum geplant worden. Aber kurzvor dem Aufbruch hatte Atlan erfahren, daßCarnuum und seine Beraterin Syskal, dieBefehlshaberin der kranischen Sicherheits-garde, entführt worden waren.

Es gab keine Information darüber, wer fürdie Entführung verantwortlich war. Aberwer anders als die Bruderschaft hätte es seinkönnen?

*

Das stete Summen des Feldtriebwerkswar leiser geworden; ein anderes Geräuschhatte sich hinzugesellt: das Rauschen derLuft. Der Container sank mit der Trieb-werksplattform voran auf die Oberflächevon Ursuf zu. Die Schwerkraft im Innerndes Containers betrug nur noch wenig mehrals ein Gravo.

Atlan spähte zum Luk hinauf. Die Versu-chung, die Klappe zu öffnen und sich umzu-

sehen, war fast unwiderstehlich. Er rief sichdas Bild in Erinnerung, das Syskal ihm ge-zeigt hatte: eine riesige, von grauweißerGußmasse überzogene Fläche, die sich Dut-zende von Kilometern weit von der östlichenBegrenzung des Katembi-Tals bis zu denBergen im Westen erstreckte. Hier und da,scheinbar wahllos verteilt, erhoben sich klot-zige Gebäude, die Kontrollstationen. Überdie Fläche verstreut lagen Dutzende vonhalbzylindrischen Vertiefungen: die Lande-punkte der Container. Die Müllbehälter lan-deten auf den Triebwerksuntersätzen undwurden dann zur Seite gekippt. Eine Ab-saugvorrichtung, die sich unter der Vertie-fung befand, trat in Tätigkeit und löschte diegefährliche Fracht.

Die weite Ebene war mit einem geometri-schen Muster konzentrischer und radial ver-laufender Rillen versehen. Sie hatten dieAufgabe, auslaufenden Flüssigmüll zu sam-meln, falls es ja zu einem Unfall kam. Fernim Westen zeigten sich die Umrisse derStartvorrichtung, die den letzten Rest nichtmehr verwertbaren Abfalls in den Weltraumhinausschoß, senkrecht zur Hauptebene derGalaxis Vayquost, so daß er auf dem kürze-sten Weg in die intergalaktische Leere vor-drang.

Die Spannung wuchs. Der Augenblick, indem sie den Container verlassen würden,war genau festgelegt: sobald der Kippvor-gang begonnen hatte. Machten sie sich frü-her auf den Weg, dann blieb der verantwort-lichen Kontrollstation Zeit, Schritte zu un-ternehmen, die ihnen das Entkommen un-möglich machte. Eine der denkbaren Not-maßnahmen war, daß der Container sofortauf Gegenkurs und wieder in den Weltraumhinaus befördert wurde.

Brachen sie zu spät auf, dann liefen sieGefahr, mitsamt der Membrane, auf der sieruhten, und dem darunter befindlichen Müllvon der Absaugvorrichtung erfaßt und in dieunterirdische Aufbereitungsanlagen ge-schleust zu werden.

Auf die Wahl des richtigen Augenblickskam es an! Atlan lauschte mit angehaltenem

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Atem auf das Rauschen des Fahrtwinds. DasGeräusch wurde schwächer. Das Summendes Feldtriebwerks war uneben, als das Ag-gregat die letzten Kurskorrekturen vornahm,um den Container genau am richtigen Ortabzusetzen.

Ein sanfter Ruck – die Membrane unterihren Füßen federte ein wenig: der Containerwar gelandet. Sekunden verstrichen. Sie re-gulierten die Antigravkontrollen, so daß esnur noch eines Tastendrucks bedurfte, umsie nach oben zu befördern.

Hallende Geräusche fuhren durch dieWandung des Containers. MechanischeKlauen griffen zu und preßten sich gegenden Stahl, damit der Behälter während desKippvorgangs nicht rutschte. Atlan schloßdie Augen. Jetzt war nur noch auf denGleichgewichtssinn Verlaß.

Ein Knirschen – ein sanftes Zittern durch-lief den Boden. Der Container begann zukippen.

»Los jetzt«, sagte der Arkonide.

*

Das Luk klappte auf. Greller Sonnen-schein blendete die Augen, die sich in fastdrei Tagen an das matte Licht der Helmlam-pen gewöhnt hatten. Atlan schoß zu der qua-dratischen Öffnung hinauf. Er hatte keineZeit, sich umzusehen. Nur hinaus, damit erden Gefährten nicht im Weg war!

Vorsichtig regulierte er den Antigrav. Erdurfte nicht zu weit in die Höhe schießen. Erzielte auf den Rand der Vertiefung. Hinterihm senkte sich der Container. Von irgend-wo in der Tiefe kam ein ominöses Tosen.Die Absaugvorrichtung begann, sich warm-zulaufen.

Ein Schatten schob sich über ihn – Chak-tar, der Ai. Hinter ihm kamen Pantschu undNivridid. Gut so – sie hatten es alle ge-schafft! Er berührte den Rand der Vertie-fung. Der Antigrav machte ihn gewichtslos.Der Container war nur noch wenige Gradvon der horizontalen Lage entfernt. Atlanberührte das Schaltplättchen auf der Brust-

platte seiner Montur. Das Luk am Bugendedes Behälters schloß sich. Die quadratischeÖffnung verschwand.

Das Dröhnen der Absauganlage schwollzum rumorenden Donner. Im Innern desContainers expandierten die eingesperrtenGase ruckartig und kühlten sich dabei ummehr als hundert Grad ab. Eine Schweiß-schicht von Kondenswasser erschien auf derOberfläche des Behälters, als ihm sein Inhaltbrutal entrissen wurde.

»Formation«, sagte Atlan.Sie faßten einander bei den Händen. Mit

der Linken griff Atlan nach Pantschu, demXildschuk; von der anderen Seite her klam-merte sich Chaktar an den Gürtel seinerMontur. Atlans rechte Hand blieb frei zumBedienen der Antigravkontrolle. Er war derMotor dieses seltsamen, aus vier unter-schiedlichen Wesen bestehenden Gebildes,über dessen Natur und Herkunft sich dieMüllroboter den Kopf zerbrechen mochten,bis die kombinatorische Logik rauchte.

Sein Ziel war eine der naheliegendenKontrollstationen – nicht die nächste; denndie war vermutlich für den soeben gelande-ten Container verantwortlich und befandsich daher im Alarmzustand. Ein fensterlo-ser, würfelförmiger Klotz erhob sich imSüdosten, drei Kilometer entfernt, aus dergrauweißen Fläche. Auf ihn hielt Atlan zu.

Sie bewegten sich dicht über den glattenBoden. In unregelmäßigen Abständendurchquerten sie eine der Rillen, die sichwie flache Furchen durch die Ebene zogen.Sie hielten die Körper horizontal, parallelder Oberfläche, über die sie hinwegglitten.

Schrille, kurze Pfiffe gellten über die wei-te Fläche. Atlan spürte, wie der Xildschukseine linke Hand fester packte.

»Nur ruhig«, sagte er halblaut. »Wir muß-ten damit rechnen, daß sie uns entdeckenwürden. Vorerst wissen sie noch nicht, wassie mit uns anfangen sollen. Nach ihrer Defi-nition können wir nur Müll sein. Zuerstmüssen sie feststellen, auf welche Weise wirunschädlich gemacht werden können.«

»Robotfahrzeuge schräg hinter uns«, mel-

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dete Nivridid.Atlan wandte den Kopf. Eine Horde von

unterschiedlich geformten Gebilden schoßvon Nordwesten her heran. Der Himmelmochte wissen, woher sie gekommen waren.Der Grund unter der grauweißen Gußflächewar durchlöchert wie eine Wabe. Wahr-scheinlich gab es Hunderte von Zu- undAusgängen, die dem unbewaffneten Augeverborgen blieben.

Er erkannte einen großen Roboter, dessenKörper eine Art Schüssel bildete. Der Randder Schüssel war mit flexiblen Greifwerk-zeugen bewehrt. Ein weiterer Robot hattedie Form eines großen Öltanks. Fünf Be-gleitmaschinen waren von geringerem Um-fang und hatten offenbar die Aufgabe, alleÜberreste aufzuklauben oder fortzuspülen,die den beiden größeren Maschinen entgan-gen waren.

Der Würfel der Kontrollstation war nochimmer fast zwei Kilometer entfernt!

Die Roboter schlossen auf. Die schüssel-förmige Maschine rückte vor. Es war an-scheinend die Entscheidung gefallen, daß essich bei dem seltsamen Gebilde um Müll imfesten Aggregatzustand handeln müsse. At-lan sah den Greifarm auf sich zukommen.Ein Bündel metallener Klauen öffnete sich.Er hatte die freie Hand an der Kontrolle desAntigravs. Als die Klauen sich über seinemHelm zu schließen drohten, änderte er ruck-artig den Kurs.

Das gefährliche Greifinstrument fuhrharmlos an ihm vorbei. Die Klauen schlos-sen sich mit metallischem Knirschen. DieMaschine ruckte herum und setzte zu einemneuen Versuch an – und das alles, währendVerfolger wie Verfolgte mit 25km/h überdie weite Ebene dahinglitten.

Atlan wich auch dem zweiten Vorstoßaus. Danach kam der faßförmige Roboter andie Reihe. Man zog jetzt offenbar auch dieMöglichkeit in Erwägung, daß der dahintrei-bende Müll flüssiger Natur sein könne. Einmächtiger Saugrüssel entrollte sich aus demInnern des Tanks. Das Manöver geschah soschnell, daß dem Arkoniden keine Zeit für

eine Kurskorrektur mehr blieb. Der Rüsselheftete sich auf die Oberfläche seines Raum-anzugs. Er spürte ein heftiges Zerren. Er tau-melte, verlor die Richtung. Die freie Handsuchte verzweifelt nach der Waffe, die imGürtel stak.

Ein scharfer Knall, das kurze Aufblitzeneines gebündelten Energiestrahls – der Sau-grüssel sank schlaff herab und wurde in Se-kundenschnelle wieder eingerollt. DasStück, das Atlan abgetrennt hatte, fiel zuBoden und rollte noch ein paar Meter weitmit.

»Achtung – da kommen mehr!« zischtePantschu.

*

Diesmal wurde es ernst. Die Roboter, dievon Osten her heranschossen, hatten mitAufräumen nichts mehr im Sinn. Sie kamen,um das fremde Gebilde in seine Bestandteileaufzulösen. Die Schüssel, der Tank und ihreBegleiter blieben zurück.

Atlan verlor keine Zeit. Die Kontrollstati-on war nur noch einen Kilometer entfernt.Noch immer gellten die schrillen Pfiffe überdie Ebene – das Alarmsignal, daß toxischerMüll außer Kontrolle geraten war. Er mu-sterte die Roboter mit gespannter Aufmerk-samkeit. Ein Seitenblick in Richtung derStation überzeugte ihn, daß sie sich auf demrichtigen Kurs befanden.

»Wir lösen uns voneinander, sobald dererste Schuß fällt«, sagte er.

Er spielte mit der Kontrolle des Anti-gravs. Die rasch wechselnde Gravitationtrug ihn nach oben und zog ihn im nächstenAugenblick wieder herab. Die Gefährten,die sich an ihn klammerten, machten die er-ratischen Bewegungen mit. Ihr Kurs wurdeunstet. Er ließ die Augen jetzt keine Sekun-de mehr von den Robotern, die nur noch we-nige hundert Meter entfernt waren. Derschwankende Kurs erschwerte ihnen dasZielen. Er wußte, daß sie darauf program-miert waren, einen gewissen Mindestabstandnicht zu unterschreiten. Wenn sie das Feuer

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eröffneten, konnte das Ziel explodieren. Siehatten die Pflicht, sich vor Kontamination zuschützen; ein kontaminierter Roboter mußtesich einem langwierigen Reinigungsprozeßunterziehen, bevor er wieder eingesetzt wer-den konnte.

Ein fahles Leuchten zuckte auf. DerSchuß lag tief.

»Jetzt!« stieß der Arkonide hervor.Sie ließen voneinander ab. Hände fuhren

zu den Brustplatten der Raummonturen undschalteten den Antigrav auf volle Leistung.Wie Federn im Aufwind schossen vier Ge-stalten, jetzt voneinander getrennt, in denwolkenlosen Himmel hinauf.

Die Roboter bremsten ab und hielten an.Es fiel Atlan nicht schwer, sich die Kommu-nikation vorzustellen, die sich in dieser Se-kunde mit positronischer Geschwindigkeitzwischen dem Maschinenpulk und der steu-ernden Kontrollstation abwickelte.

Unidentifiziertes Giftmüllobjekt, bisheri-ge Klassifikation fest oder flüssig, zeigt cha-rakteristisches Leichter-als-Luft-Verhalten.Reklassifizierung gasförmig?

Die schrillen Pfeifsignale änderten ihreTonlage. Sie wurden zu dumpfen Huptönen,die wie kurze Stöße aus einem Nebelhornklangen. Atlan wandte den Blick in die Hö-he. An mehreren Orten unter dem blauenHimmel waren leuchtende, glitzernde Punk-te erschienen. Die Kontrollautomatik hatteihre Meinung geändert. Das unidentifizierteMüllobjekt war gasförmig. Höhensondenwaren dafür verantwortlich, den Kurs desgefährlichen Gases zu verfolgen und dafürzu sorgen, daß es den Perimeter der Anlagenicht überquerte.

Die bewaffneten Roboter wandten sich abund kehrten zu ihrem Standort zurück.

»Sammeln über dem Dach der Station!«befahl Atlan.

Die vier Gestalten näherten sich einander.Das würfelförmige Gebäude befand sich nurnoch wenige hundert Meter vor ihnen. Sieglitten darauf zu und verringerten dabei dieFlughöhe, als hätten sie vor, auf dem plattenDach zu landen.

»Es muß alles wie eine einzige, glatte Be-wegung aussehen«, sagte Atlan. »Kein Zö-gern, kein Verharren!«

Der Rand des Daches war jetzt unmittel-bar vor ihnen. Er drosselte den Antigrav undbegann zu sinken. Seine Flugbahn verwan-delte sich in eine steile Parabel, als er diekünstliche Schwerkraft vollends löschte undwie ein Stein in die Tiefe sackte. Kurz überdem Boden fing er sich und setzte mit gerin-ger Geschwindigkeit auf. Hinter ihm kamenNivridid, Pantschu und der Ai, elegant, wieMöwen, die zur Landung ansetzten. Sie hat-ten den Boden kaum berührt, da schaltetensie die Antigrav-Aggregate aus und sankennieder. Reglos lagen sie im Schatten deswürfelförmigen Gebäudes.

»Gut so«, sagte der Arkonide. »Jetzt kön-nen sie kommen, um euch zu untersuchen.«

Er öffnete die Verschlüsse der Monturund streifte das schwere Kleidungsstück vonsich ab. Tropische Hitze umfing ihn. Der andie angenehme Kühle im Innern des Lebens-erhaltungssystems gewöhnte Körper begannzu schwitzen. Die Alarmsirenen fuhren fortzu blöken. Unter dem wolkenlosen Himmelbewegten sich Dutzende glitzernder Sondenauf der Suche nach einer gasförmigen Gift-substanz, die sich von einer Sekunde zur an-deren verflüchtigt zu haben schien. Er kram-te in den tiefen Taschen der Raummonturund brachte zwei kleine Filter zum Vor-schein, die er sich in die Nasenlöcher schob.Das war Vorschrift, solange die Sirenen Ga-salarm bliesen. Er trug unter der schwerenMontur eine Uniform nicht unähnlich der,die von der kranischen Flotte ausgegebenwurde: dunkles, reiß-, und feuerfestes Mate-rial, einen breiten Gürtel, der gleichzeitig alsGerätetasche diente, und Stiefel aus einer lu-mineszenten, lichtblauen Substanz. Er bargden Strahler und den Schocker aus demRaumanzug und schob sie in die dafür vor-gesehenen Fächer seines Gürtels.

Schließlich breitete er den leeren Anzugauf dem Boden aus, so daß er annähernd dieForm erhielt, die er gehabt hatte, als sie an-einandergeklammert über die Ebene ge-

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schwebt waren. Er musterte sein Werk undwar damit zufrieden.

Dann griff er in den Gürtel und förderteeine kleine, bunte Plakette ans Tageslicht.Von allen Ausrüstungsgegenständen, mit de-nen man ihn auf Kran versehen hatte, moch-te dieser sich als der wichtigste entpuppen:die Identifizierungsmarke eines Sonderin-spektors des Müllsystems.

»Haltet mir die Daumen«, sagte er. SeineStimme klang gepreßt infolge der Filter, dieer in der Nase trug.

*

Unweit der Stelle, an der sie gelandet wa-ren, zeichneten sich die Umrisse einer Tür inder Wand des fensterlosen Bauwerks ab. Inder Mitte des Rechtecks, das zwei Meterbreit und vier Meter hoch war, gab es einenkleinen Schlitz. In diesen schob Atlan diebunte Plakette.

Er hörte ein leises Klicken; die Marke fielihm in die geöffnete Hand. Im selben Au-genblick begann die Tür sich zu öffnen. Ergelangte in einen kahlen Korridor, der biszur Mitte des Gebäudes zu führen schien.Über ihm und hinter den Wänden zu beidenSeiten befanden sich Computer und Kom-munikationsgeräte, die die Kontrollstationbrauchte, um ihren Dienst zu versehen. Grel-le Leuchtplatten flammten in der Decke auf,als die Tür sich hinter ihm schloß.

Eine zweite Tür am Ende des Korridorsgab ihm bereitwillig den Weg frei, nachdemer sich ihr bis auf drei Schritte genähert hat-te. Dahinter befand sich ein quadratischerRaum von mäßiger Größe, jedoch ausgestat-tet mit Bequemlichkeiten, wie ein organi-sches Wesen sie erwartete: mit drei Sesseln(für Kranen gemacht), einem Tisch (so hoch,daß der Arkonide nur mit der Hälfte desOberkörpers über die Tischplatte hinausrag-te) und einem Automaten, der auf WunschGetränke und kleine Speisen verabreichte.Außerdem gab es die üblichen Installationeneiner Computerzentrale: ein Bildschirmge-rät, ein Mikrophon zur Übermittlung akusti-

scher Befehle, einen Drucker und einen All-zweckkommunikationsanschluß.

Auf dem Bildschirm erschien ein leuch-tendes Symbol, nachdem sich die Tür ge-schlossen hatte, und eine tiefe Stimme sagte:

»Willkommen in der Kontrollstation acht,Sonderinspektor.«

Der »Sonderinspektor« versuchte, es sichin einem der Sessel bequem zu machen. Un-tersuchte ihn der Computer in diesem Au-genblick? Erkannte er in ihm ein fremdarti-ges Wesen, das unmöglich den Rang einesSonderinspektors innehaben konnte?

»Wodurch wurde der Alarm ausgelöst?«fragte er und versuchte, seiner Stimme einenautoritären Klang zu verleihen.

»Ein unbekanntes Müllobjekt«, antworte-te der Computer. »Klassifikation fest, flüssigund gasförmig.«

»Eine eigenartige Klassifikation«, spotteteder »Sonderinspektor«. »Kein Plasma, keinNugas, keine Quark-Flüssigkeit?«

Die Maschine besaß keinen Humor. »MitSubstanzen dieser Aggregatzustände befaßtsich die Anlage nicht«, antwortete sie.

»Es wurde ein Fehler gemacht«, erklärteAtlan. »Bei dem fraglichen Objekt handeltes sich keineswegs um Müll.«

»Du weißt darüber Bescheid?«Unaufgefordert projizierte der Computer

ein Diagramm des fraglichen Gegenstands:vier unterschiedliche Gestalten in schwerenRaumanzügen, die sich aneinander klam-merten. Die Projektion zeigte jedoch nurUmrisse. Aus dem Bild ging nicht hervor,daß das Objekt aus vier organischen Lebe-wesen bestand. Die Computerstimme rassel-te Daten herunter: Augenblick und Ort derersten Sichtung, vermutliche Masse, Bewe-gungsrichtung, bisher getroffene Maßnah-men …

»Ja, das ist es«, unterbrach Atlan ungedul-dig. »Ich hätte es gern unbeschädigt gebor-gen; aber eure Roboter waren so wild dar-auf, das Ding auseinander zunehmen, daß esjetzt nur noch in Bruchstücken existiert.«

»Was ist es?« fragte der Computer.»Ich weiß nur, woraus es besteht«, ant-

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wortete Atlan. »Es ist aus derselben Sub-stanz gemacht, aus der die Überlebenssyste-me der Raumflotte gefertigt werden. Es siehtaus – oder vielmehr sah aus – wie vier an-einandergekettete Raumanzüge. Vor allenDingen ist es giftfrei.«

»Du hast dich davon überzeugt?«»Selbstverständlich. Im übrigen kannst du

meine Überprüfung nachvollziehen lassen.«»Das ist meine Pflicht«, erklärte der Com-

puter. »Wo befindet sich das Objekt?«»Draußen vor der Tür. Die Bruchstücke

fielen herab, nachdem die Roboter auf siegeschossen hatten. Ich brachte sie hierher.«

»Warum hierher?« fragte die Maschine.»Ich bin nicht die zuständige Kontrollstati-on.«

»Weil du mir am nächsten warst«, ant-wortete der Arkonide. »Wer will sich beidieser Affenhitze einen unnötigen Weg ma-chen?«

Der Computer reagierte nicht sofort. »Ichhabe eine Batterie von Sonden mit der Un-tersuchung der fraglichen Objekte beauf-tragt«, meldete er sich schließlich wieder.»Falls sie sich als giftfrei erweisen, wie sollmit ihnen verfahren werden?«

»Ich will sie haben«, sagte Atlan. »Ich ha-be zu untersuchen, wie Substanz, die für dieFertigung von Raummonturen verwendetwird, von Kran in die Abfallverwertungsan-lage geraten konnte.«

»Wie willst du sie befördern?«»Du stellst mir einen Transporter zur Ver-

fügung.«»Transportziel?«»Die Grenze der Anlage, östlich von hier.

Ich habe dort mein eigenes Transportmittel.«Das war der kritische Augenblick! Würde

sich die Maschine danach erkundigen, wo erseine Unterkunft hatte, wo er die Untersu-chung vornehmen wollte? Würde sie bei die-ser Gelegenheit auf den Gedanken kommen,ihn zu fragen, wo er hergekommen sei undwie er es geschafft habe, nach Ursuf zu ge-langen, wo die Kolonialwelt doch herme-tisch von der Umgebung abgeriegelt war?Sie weiß nichts von Politik, redete er sich

ein; aber der Gedanke war mehr ein Stoßge-bet als ein logisches Argument.

Warum zögerte sie so lange?»Die Untersuchung ist abgeschlossen«,

sagte der Computer. »Deine Analyse hatsich bestätigt, die Objekte sind giftfrei.«

Gut! Und was weiter? Was ist mit demTransporter?

»Ich stelle dir einen Transporter zur Ver-fügung. Er hat Auftrag, sich nach deinenAnweisungen zu richten. Der Alarm ist ab-geblasen. Du kannst dich ungefährdet bewe-gen.«

Er glitt aus dem Sessel herab. Die Erleich-terung war ihm so gewaltig in die Gliedergefahren, daß ihm die Knie zitterten.

2.

Das Wesen war eines von jener seltenenArt, die auf den ersten Blick Widerwillen er-weckt. Der Krane stand drei Meter hoch undwar dabei von erschreckender, ungesunderHagerkeit. Der linke Augapfel besaß wederIris noch Pupille und war von einheitlichmilchiggrauer Färbung. Ein Unfall – etwasanderes konnte es nicht gewesen sein – hattein der Höhe des linken Mundwinkels dasGesicht zerfressen und die Lippe zerstört, sodaß die Zähne des kräftigen, gelblichen Ge-bisses zum Vorschein kamen, als seien siezu einem teuflischen Grinsen gefletscht. DieMähne war von düsterem Grau, ihr Haar un-ordentlich und widerborstig. Das Geschöpfwar in ein Gewand von schreiender Buntheitgekleidet, als versuche es, durch ein Über-maß an Farben von der Unvollkommenheitdes Körpers abzulenken. Wenn er ging, sahman, daß der Krane hinkte.

Das war Derrill, der Anführer der Bruder-schaft, dem man den Beinamen »der Ver-seuchte« gegeben hatte. Die Verunstaltun-gen rührten von einem Unfall her, bei demDerrill mit einer Ladung konzentriertenGiftmülls in zu engen Kontakt geraten war.Er hatte darauf verzichtet, die Schädendurch kosmetische Eingriffe beseitigen zulassen. Es bereitete ihm ein grimmiges Ver-

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gnügen, wenn solche, die ihm zum erstenMal begegneten, bei seinem Anblick zusam-menzuckten. Auch der Beiname »der Ver-seuchte« trug er mit Stolz. Er hatte, was nurwenige wußten, bei seinem Unfall ein Trau-ma davongetragen. Der Gedanke an Gift-stoffe gleich welcher Art erfüllte ihn mit pa-nischer Furcht.

Derrill ging ans Fenster und blickte hin-aus auf das von tropischer Vegetation be-deckte Land. Er befand sich im fünftenStockwerk einer der alten Pyramiden, diedem ersten Kolonisten-Team als Unterkünf-te gedient hatten. Verlassen und im Zustandfortgeschrittenen Zerfalls, waren sie vor ei-nigen Jahren von der Bruderschaft übernom-men worden. Der Geheimbund hatte die Ge-bäude wiederhergestellt und sein Hauptquar-tier darin eingerichtet. Der Gebäudekomplexlag an der engsten Stelle des Katembi-Tals,unmittelbar unter den schroff aufsteigendenFelswänden der östlichen Bergkette. Weitim Norden, von Derrills Fenster aus nichtsichtbar, lag die große Abfallaufbereitungs-anlage, mit der der Anführer der Bruder-schaft sich gegen seinen Willen während dervergangenen Stunde hatte befassen müssen.

Es summte an der Tür. Derrill wandte sichum und aktivierte den Servomechanismusmit einem akustischen Befehl. Ein Kranetrat ein, ein unansehnliches Geschöpf vonmittlerer Größe, angetan mit dem herkömm-lichen, dunkelbraunen Alltagsgewand. WerNilgord sah, dem fiel es schwer, ihn für daszweitmächtigste Mitglied der Bruderschaftzu halten, für Derrills Stellvertreter. Derrillselbst hatte ihn zu diesem Amt bestellt. Nil-gord war ein rückgratloser Ja-Sager; seineHauptaufgabe bestand darin, allem zuzu-stimmen, was Derrill vortrug. Ohne es zuwissen, verriet der Verseuchte mit der Wahlseines Stellvertreters dies grundlegendeSchwäche seines Charakters. Starke Persön-lichkeiten besetzen das Amt mit dem, deram besten dafür geeignet ist. Nur derSchwächling umgibt sich mit Schwächlin-gen.

»Was ist?« fragte Derrill ungeduldig.

»Der Alarm ist abgeblasen«, antworteteNilgord.

Er trat zu dem mächtigen Arbeitstisch undschaltete das Datengerät ein.

»Es ging um dieses Objekt«, sagte er. Aufder Sichtfläche erschien ein unregelmäßiggeformtes Gebilde, das aus vier wahllos an-einandergeklebten Teilen zu bestehen schi-en. »Die Kontrollstationen sind sich nichtdarüber einig, ob es fest, flüssig oder gasför-mig ist. Es wurde analysiert und für ungiftigbefunden.«

Derrill starrte ihn aus dem gesunden Augezornig an.

»Wie kann man einen Gegenstand analy-sieren und für ungiftig befinden, ohne dabeizu erfahren, ob er fest, flüssig oder gasför-mig ist?«

Nilgord machte eine vage Geste. »Das istdie Auskunft, die ich von dem Informations-verteiler bekam«, sagte er.

»Wie groß ist der zeitliche Abstand zwi-schen der Landung des letzten Müll-Containers und dem Beginn des Alarms?«

»Vier Minuten«, sagte Nilgord.Der verseuchte Derrill explodierte mit ei-

ner Wucht, die den furchtsamen Stellvertre-ter entsetzt zusammenfahren ließ. »Siehst duden Zusammenhang nicht, zu Zwerghirn?«brüllte er. »Es landet ein Container, und imnächsten Augenblick taucht ein unbekanntesObjekt auf, mit dem die Kontrollstationennichts anzufangen wissen! Wo ist das Objektjetzt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Nilgordmit zitternder Stimme.

»Du weißt es nicht?«»Der Informationsverteiler behandelt uns

als öffentliche Anfrager ohne Priorität«, ver-teidigte sich der Stellvertreter. »Er gibt unsnicht mehr Daten, als irgendein Bewohnervon Ursuf verlangen kann. Du selbst hast esso einrichten lassen! Du wolltest nicht, daßman auf uns aufmerksam würde, wenn wireinen Antrag auf den Empfang von Vor-zugsinformationen stellten.«

Derrill beruhigte sich ebenso schnell, wieer aufgebraust war. Sein Stellvertreter hatte

Die Roboter von Ursuf 11

recht. Derrill hatte geglaubt, er werde mitdem auskommen können, was der allgemei-nen Öffentlichkeit an Informationen zurVerfügung stand. Wer hätte damals mit ei-ner solchen Entwicklung gerechnet?

»Ich will, daß die Patrouillen entlang derGrenze der Anlage verstärkt werden«, sagteer zu Nilgord. »Wir müssen in jedem Au-genblick damit rechnen, daß jemand ver-sucht, sich an Bord eines Containers hiereinzuschmuggeln.«

»Es wird geschehen«, antwortete Nilgorddemütig.

»Wie weit sind die Vorbereitungen an derintergalaktischen Abschußvorrichtung?«

»Wir haben eine Gruppe von vier Spezia-listen an den Robotwachen vorbeige-schleust. Sie sind dabei, das Steuersystemumzuprogrammieren, ohne daß die zentraleKontrolle etwas davon bemerkt. Mit demAbschluß der Arbeiten ist in zwei bis dreiTagen zu rechnen.«

»Dann können wir Müll nach Kran schie-ßen?« bellte Derrill.

»Dann sind wir bereit, die Abschußvor-richtung zu besetzen«, korrigierte ihn derStellvertreter. »Es läßt sich dann vor derzentralen Kontrolle nicht mehr verheimli-chen, daß die Abschußrichtung verändertwurde. Wir werden es mit Scharen von Ro-botern zu tun haben, die uns vertreiben wol-len.«

Derrill ballte ungeduldig die Faust. »Daswill ich nicht wissen«, knurrte er. »Wanngeht die erste Fracht Giftstoffe in RichtungKran ab?«

»In frühestens vier Tagen«, sagte Nilgord.»Die Experten rechnen damit, daß wir proTag fünfhundert Ladungen abschießen kön-nen. Die meisten wird die Erste Flotte ver-nichten, bevor sie Schaden anrichten kön-nen. Ein halbes Prozent, nehmen wir an,kommt durch.«

»Ein halbes Prozent? Zweieinhalb Behäl-ter pro Tag?« grollte Derrill.

»Erinnere dich«, bat Nilgord unterwürfig,»es ist nicht die chemische, sondern die psy-chologische Wirkung, die uns zum Erfolg

verhilft.«Der verseuchte Derrill sah zum Fenster

hinaus. Der riesige, rotglühende Ball derSonne Krandhor schickte sich an, hinter denBergen im Osten zu versinken. Der Himmelbegann sich zu verfärben. Tiefes, rötlichesViolett überzog das Firmament und wurdeam östlichen Horizont zu sattem Grün. Der-rill nahm nichts von alledem wahr.

»Bring mir den Herzog«, brummte ermürrisch.

*

Herzog Carnuum war eine hochgewachse-ne, ehrfurchtgebietende Gestalt. Große, in-telligente Augen blickten aus einem offenenGesicht. Die silberweiße Mähne zeugte voneinem fürchterlichen Erlebnis, das dem Her-zog in ferner Vergangenheit widerfahrenwar und über das er sich selbst seinen ver-trautesten Freunden gegenüber nicht äußer-te. Er trug ein uniformähnliches, mit silbri-gem Metall beschichtetes Gewand, das ihnvor gefährlichen Strahlen schützen sollte.Die unterbewußte Furcht vor der allgegen-wärtigen Gefahr kosmischer und sonstigerStrahlung war die einzige Marotte des sonstnüchternen und sachlichen Kranen.

Wie es der Bruderschaft gelungen war,unbemerkt in den Tärtras einzudringen, warihm noch immer ein Geheimnis. Wahr-scheinlich hatten sich die Entführer in denunterirdischen Gewölben versteckt, die auchvom leeren Mittelteil des Palasts her zu-gänglich waren. Er führte eine Unterredungmit Syskal, der Leiterin der Schutzgarde, alsdie Bruderschaftler sich auf ihn stürzten. Eswar alles sehr schnell gegangen. EinSchocktreffer hatte ihm das Bewußtsein ge-nommen. Als er wieder zu sich kam, befander sich an Bord eines Raumschiffes – derGAMRAAL, wie er später erfuhr. DieGAMRAAL gehörte zur Ersten Flotte. DerKommandant und ein Großteil seiner Offi-ziere waren Parteigänger der Bruderschaft.An Bord des Schiffes war ein Transmitterinstalliert, mit dem die Verräter zuerst ihre

12 Kurt Mahr

Gefangenen, dann sich selbst nach Ursuftransportierten. Bei dieser Gelegenheit hatteCarnuum Syskal zum letzten Mal gesehen.

Seit drei Tagen befand er sich in dieserzwar behaglich ausgestatteten, aber ganzund gar fensterlosen Zimmerflucht. Zweimalhatte man ihn bisher zum Anführer der Bru-derschaft gebracht, dem verseuchten Derrill,einem Wesen, dem die Bosheit im Gesichtgeschrieben stand. Er war korrekt, wennauch unfreundlich behandelt worden. DemVerseuchten ging es darum, Carnuum fürseinen Plan zur Umgestaltung der krani-schen Regierung und der Abschaffung desOrakels zu gewinnen. Der Herzog hatte sichunbeeindruckt gezeigt und keinen Hehl dar-aus gemacht, daß ihn der Plan nicht interes-siere. Man hatte ihn daraufhin in seine Un-terkunft zurückgeführt. Überraschenderwei-se hatte Derrill ihm nicht gedroht. Das gabCarnuum zu denken. Wie oft würde der Ver-seuchte sich seine Weigerung anhören, ohneihn unter Druck zu setzen? Und welcheDruckmittel standen ihm zur Verfügung?

Carnuum unternahm keinen Fluchtver-such. Die einzige Tür, die seine Zimmer-flucht mit dem Rest des Gebäudes verband,besaß ein kompliziertes elektronischesSchloß, dem er mit bloßen Händen nicht bei-zukommen vermochte. Außerdem standendraußen auf dem Gang zwei Wachtposten.Und drittens war er überzeugt, daß seine Un-terkunft Dutzende von Spionmechanismenenthielt, die jede seiner Bewegungen ver-folgten.

Er stand auf, als er die Tür sich öffnenhörte. Nilgord trat ein.

»Derrill will dich sehen«, sagte der Stell-vertreter.

*

Ein Standbild der Rechtschaffenheit, diepersonifizierte Autorität, fuhr es dem Ver-seuchten durch den Sinn, als Herzog Carnu-um seinen Arbeitsraum betrat. Zorn stieg inihm auf, als er Carnuums kühlem, verächtli-chem Blick begegnete.

Aber noch hielt er sich im Zaum.»Du hast über meinen Vorschlag nachge-

dacht?« fragte er.»Es gibt nichts nachzudenken«, antworte-

te der Herzog steif.»Ich kann dich zwingen, auf meine Vor-

schläge einzugehen!« bellte der verseuchteDerrill.

»Du kannst versuchen, mich zu zwingen«,verbesserte ihn Carnuum gelassen. »DasAusschlaggebende ist aber, daß dein Vor-schlag nichts taugt.«

»Warum nicht?«»Du willst Herzog werden. Du willst das

Triumvirat durch ein Duumvirat ersetzen.Du bietest mir an, dein Mitherrscher zu sein.Ich kann mir vorstellen, wie das aussähe: duals Machthaber und ich als Galionsfigur!Die kranische Öffentlichkeit will nichts da-von wissen.«

»Sie hat es einmütig abgelehnt, dem Ora-kel weiterhin zu gehorchen!« dröhnte Der-rill.

»Weil das Orakel ein Fremder war undseine Beweggründe nicht zu erkennen gab«,wies Carnuum ihn zurecht. »Jetzt kennenwir seine Motive, und Herzog Gu arbeitet ander Formulierung der Vorschläge, die derWasserpalast der Regierung unterbreitet.Die kranische Bevölkerung ist damit einver-standen. Sie erwartet mit Begeisterung dieWahl des dritten Herzogs, der das Triumvi-rat vervollständigt. Was aber die Bruder-schaft angeht – die hat abgewirtschaftet! Sienahm sich die Maske vom Gesicht, als sieerklärte, sie allein wolle die Macht überneh-men. Selbst wenn es dir gelänge, die Regie-rungsgewalt an dich zu bringen – das Volkhätte dich binnen weniger Tage hinwegge-fegt, zusammen mit deinen Handlangern.«

Derrills verunstaltetes Gesicht wurde zueiner Grimasse unbeherrschter Wut.

»Und doch wird es genau so geschehen!«donnerte er. »Du und ich, wir sind die neueRegierung. Du willst nichts davon wissen?Gut! Hör dir die Schreie der alten Hexe an,wenn ich sie foltern lasse, und dann sag mir,daß dich mein Vorschlag nicht interessiert!«

Die Roboter von Ursuf 13

»Spar dir die Mühe«, entgegnete Carnu-um verächtlich. »Frag Syskal, ob sie will,daß ich mich durch ihre Pein erpressen las-se.«

»Ich lasse Kran mit Müll bombardieren!«geiferte der Verseuchte.

»Immer zu! Die Erste Flotte steht bereit,deine lächerlichen Bomben unschädlich zumachen, sobald sie die Atmosphäre von Ur-suf verlassen.«

»Die Geiseln!« schrie Derrill. »Ich lassesie einen nach dem andern hinrichten!«

»Das wirst du nicht tun«, widersprach derHerzog ernst, fast drohend. »Das einzige,was die Erste Flotte davon abhält, deineRäuberbande mit Stumpf und Stiel auszurot-ten, sind die Unschuldigen, die du gefangen-hältst. Vergreif dich an den Geiseln, und dubegibst dich dieses Schutzes!«

Derrill tat zwei humpelnde Schritte aufden Herzog zu. Er hatte die Arme erhobenund die Fäuste geballt. Es sah aus, als wolleer sich auf Carnuum stürzen. Aber im letztenAugenblick besann er sich eines Besseren.Mit zitternder, gepreßter Stimme quetschteer hervor:

»Du bist so unnahbar, so hoheitsvoll!Aber ich zwinge dich in die Knie! Ich bringedich dazu, daß du mich anwinselst!«

»Ich, der Herzog«, sagte Carnuum spöt-tisch, »dich, den Buschräuber?«

Derrill stand mit offenem Mund undbrachte nur ein paar gurgelnde, ächzendeLaute zuwege. Die geballten Fäuste fuhrenhilflos durch die Luft. Die Adern auf derStirn schwollen zu dicken Strähnen, und dasblinde Auge schien aus der Höhle quellen zuwollen.

»Schafft mir diese Kreatur vom Leibe!«explodierte der Verseuchte, nachdem er dieStimme wiedergefunden hatte.

*

Sie sahen dem Transporter nach, als ermit rasch zunehmender Geschwindigkeit aufdie weite, glatte Fläche der Abfallverwer-tungsanlage hinausglitt. Im Westen ging die

Sonne unter und überzog die eintönig graueGußmasse, die den Boden bedeckte, mitbuntem, exotischem Glanz. Dort, wo die ge-gossene Fläche endete, hatte der TransporterAtlan und die Bruchstücke des»unidentifizierten Objekts« abgeladen. Eshatte keine Zwischenfälle gegeben. DerTransportrobot war jeder Anweisung bereit-willig gefolgt.

»In Ordnung«, sagte der Arkonide. »Ihrkönnt jetzt aus euren Monturen klettern.«

Er inspizierte die Umgebung im raschverblassenden Licht des Tages. Ursuf drehtesich in rund zwölfeinhalb Stunden einmalum die eigene Achse. Einbruch der Dunkel-heit und Tagesanbruch vollzogen sich mitbeachtlicher Geschwindigkeit. Das Geländeder Abfallanlage erstreckte sich, nicht bisunmittelbar an den Fuß der Berge, die dieöstliche Begrenzung des Katembi-Tals bil-deten. Es blieb eine von tropischer Vegetati-on überwucherte Fläche mit einer Breite vonwenigen hundert Metern. Atlan hatte sichmit den Gefährten unter das Blätterdach desWaldes zurückgezogen. Wie richtig dieseMaßnahme gewesen war, erwies sich jetzt,als er auf eine kleine Lichtung hinaustrat,um zwischen den Bergen nach einem beque-men Pfad zu suchen, auf dem sie das Talverlassen konnten.

Im Violett des Himmels sah er einen röt-lichgoldenen Funken, den Reflex der unter-gehenden Sonne auf der metallenen Hülleeines Flugzeugs. Er duckte sich unter dieBäume zurück und verfolgte den Flug desglitzernden Lichtpunkts aus sichererDeckung. Das Fahrzeug bewegte sich überdem östlichen Talrand und folgte der Konturder Bergkette. Es konnte nichts anderes seinals ein Aufklärer, den die Bruderschaft aus-gesandt hatte, das Gelände zu beobachten.War das Routine, oder wies es darauf hin,daß der verseuchte Derrill infolge desAlarms auf dem Gelände der Müllanlagemißtrauisch geworden war?

Atlan getraute sich erst wieder unter denBäumen hervor, als der Funke im Nordenverschwunden war. Das Hauptquartier der

14 Kurt Mahr

Bruderschaft befand sich ein paar DutzendKilometer südlich von hier. Er mußte damitrechnen, daß der Aufklärer zurückkehrenwürde. Als er von neuem zu den Bergen auf-blickte, sah er, daß er zu spät gekommenwar. Die einsetzende Dunkelheit hatte dasBergmassiv in eine finstere, dräuende Masseverwandelt, an der sich keine Einzelheitenmehr erkennen ließ.

»Pantschu, du machst den Scout«, sagteer, als er zu den Gefährten zurückkehrte.»Sieh zu, daß du einen bequemen Weg füruns findest. Nivridid, du läßt den Infrarot-sensor nicht aus den Augen. Die Bruder-schaft hat Aufklärer in der Luft.«

Sie bargen aus ihren Raummonturen, wassie in den Gürteln verstauen konnten. Atlandrang darauf, daß nur ein Minimum an Pro-viant mitgenommen wurde, so daß in denGürteltaschen mehr Platz für Instrumente,Geräte und Waffen blieb. Sie versteckten dieMonturen im tiefsten Gestrüpp, nachdem siesich vergewissert hatten, daß die Energiever-sorgung ausgeschaltet war und keine verrä-terischen Impulse mehr von sich gab, dievon den Aufklärern des Gegners hätten regi-striert werden können.

Dann brachen sie auf. Pantschu, der Xild-schuk, machte seinem Ruf als PfadfinderEhre. Er führte sie auf dem raschesten Wegdurch das Gestrüpp des Dschungels in einSeitental, das sich bemerkenswert steil in dieBerge hineinzog. Atlan hoffte, bei Anbruchdes Morgens den jenseitigen Fuß der Berg-kette erreicht zu haben.

*

Er machte sich keine Illusionen darüber,daß er seinen Auftrag ohne fremde Hilfe er-ledigen könne. Nach den Angaben, die erauf Kran erhalten hatte, besaß die Bruder-schaft auf Ursuf eine Stärke von mehrerentausend Mitgliedern. Davon war ein Teil da-mit beschäftigt, die Lager zu bewachen, indenen die gefangenen Bewohner des Plane-ten untergebracht waren. Wieder andere ar-beiteten an den Vorbereitungen für das

Müllbombardement, das der verseuchte Der-rill über Kran abzuregnen gedachte, und eindritter Teil tat als Aufklärer, Späher und der-gleichen Dienst. Trotz allem schätzte Atlandie Besatzung der Hauptquartiers auf im-merhin noch fünfzehnhundert Geheimbünd-ler. Allein mit seinen drei Getreuen hatte erkeine Chance, an Derrill heranzukommen.

Sein Ziel war die Versuchsstation Ngetu,einige Kilometer östlich des Tales gelegen.Ngetu war ein ausgedehntes, naturparkähnli-ches Gelände, in dem Wissenschaftler undTechniker an Pflanzenexperimenten arbeite-ten. Die Station besaß eine Stammbesatzungvon achthundert Wesen aus allen Teilen desHerzogtums. Ihre Unterkünfte und Laborsbefanden sich am Westrand des Parks. DieBruderschaft hatte zwar wohlweislich nichtsdarüber verlauten lassen, wo sich die Lagerbefanden, in denen die Bewohner von Ursufgefangengehalten wurden; aber Atlan warder Überzeugung, daß man beim Einsperrender Gefangenen so zweckmäßig wie mög-lich vorgegangen war. Es hätte keinen Sinnergeben, die Ngetu-Mannschaft Dutzendevon Kilometern über tropisches Dschungel-gelände bis zur nächsten Gebäudeansamm-lung zu schleppen. Die Biologen befandensich mit großer Wahrscheinlichkeit in ihrenUnterkünften am Rand des Stationsgeländesund wurden dort von der Bruderschaft be-wacht.

Er kannte die Stärke der Bewachungnicht; aber es schien ihm wesentlich leichter,in den Forschungskomplex einzudringenund die Wissenschaftler zu befreien, als un-bemerkt bis zu dem verseuchten Derrill vor-zustoßen. Wenn sich von den achthundertGefangenen auch nur die Hälfte als Kämpferverwenden ließ, standen seine Aussichtenum ein Mehrfaches besser. Wenn das Unter-nehmen gelang, brauchte er sich um die Be-waffnung seiner Mitstreiter keine Sorge zumachen. Die Bewacher würden sie liefernmüssen.

Nach drei Stunden legten sie eine kurzeRast ein und stillten den Durst an einemkleinen Rinnsal, das von der Felswand her-

Die Roboter von Ursuf 15

absickerte. Atlan sah auf, als Chaktar, derAi, in der charakteristischen Art seines Vol-kes mit den dellenähnlichen Vertiefungenseines Schädels zu blinken begann. Die Si-gnale waren schwach, denn sie beruhten le-diglich auf einer Verfärbung der Haut; aberder Arkonide verstand sie trotzdem.

»Beachte den Verlauf des Baches«, mahn-te ihn Chaktar.

Atlan folgte dem Rinnsal mit dem Licht-kegel seiner Lampe.

»Ostwärts«, stellte er verblüfft fest. »Dasheißt, wir haben die Wasserscheide über-schritten!«

Er wandte sich an den Xildschuk.»Pantschu«, sagte er, »du bist ein guter

Führer.«

*

Im Osten lichtete sich der Himmel, als Ni-vridid plötzlich stehenblieb.

»Horcht!« flüsterte er.Über ihnen grüßte ein Vogel den erwa-

chenden Tag mit schlaftrunkenem Gekrächz.Andere taten es ihm nach. Aber das war esnicht, was der Prodheimer-Fenke meinte.Atlan strengte das Gehör an. Schließlichvernahm er ein halblautes Klappern undKlirren, das von weiter unten im Tal kam.

»Pantschu«, sagte er.Der Xildschuk verschwand wortlos im

Dunkel des frühen Morgens. Ringsum er-wachte die gefiederte Welt und vollführteeinen Heidenspektakel, in dem das klappern-de Geräusch ertrank. Plötzlich erschienenLichter in der Finsternis. Eine gleißendeLichtbahn stach durch die Nacht, tanzte überFelswände und faßte schließlich den Arkoni-den, der instinktiv den Arm in die Höhe riß,um die Augen zu schützen.

»Identifiziere dieses Objekt!« sagte eineharte, schnarrende Stimme.

Atlan winkte ärgerlich ab.»Nimm die Lampe zur Seite«, knurrte er.

»Ich kann nichts sehen. Komm näher undzeige mir das Objekt.«

Auf flimmernden Schwerkraftkissen glit-

ten drei kranische Roboter heran. Sie hattendie Form einer umgestülpten Schüssel, derenÖffnung durch einen ebenen Boden ver-schlossen war. Von der Peripherie derSchüssel gingen mehrere Tentakel aus, vondenen jeder in einem besonderen Satz Werk-zeuge endete. Der vorderste Robot hielt ineiner seiner Klauen ein bejammernswertesBündel, ein Geschöpf mit riesigen Schlap-pohren und großen, traurigen Augen.

»Laß ihn sofort los!« befahl Atlan. »Dasist mein Freund Pantschu.«

»So sagte er«, erklärte der Robot und öff-nete die Klaue. Der Xildschuk fiel herab undsuchte auf der Stelle Schutz hinter den Bei-nen des Arkoniden.

»Was hattet ihr mit ihm zu schaffen?«fragte Atlan.

»Wir durchsuchten den Talgrund nachGiftstoffen, wie es unsere Aufgabe ist«, ant-wortete der Robot. »Er kam uns in die Que-re. Wir konnten ihn nicht identifizieren. DieVorschrift besagt, daß wir ihn zur nächstenKontrollstation zu bringen hatten. Er wandsich jedoch und jammerte und sagte, er seiPantschu. Du hast es bestätigt.«

»Ihr konntet sehen, daß es sich um ein or-ganisches, lebendes Wesen handelte«, tadel-te der Arkonide.

»Auch organische, lebende Wesen kön-nen toxisch sein«, hielt ihm der Robot sto-isch entgegen.

»Was habt ihr hier draußen zu suchen?Euer Bereich ist die Abfallverwertungsstati-on. Hier gibt es keine Giftstoffe!«

»Das ist ungewiß«, erklärte der Robot.»In der Anfangszeit der Anlage gab es eineReihe kleinerer Unfälle. Es wurde niemalsfestgestellt, ob dabei Giftstoffe über dieGrenze des Sperrgeländes hinweg entwi-chen. Wir sind auf der Suche nach solchenStoffen. Je mehr Zeit vergeht, ohne daß wiretwas finden, desto größer die Wahrschein-lichkeit, daß du recht hast.«

»Es gibt mehrere solcher Trupps wie deneuren?«

»Das ist richtig.«»Wie viele?«

16 Kurt Mahr

»Du hast keinen Anspruch auf diese In-formation.«

Atlan zog die bunte Plakette des Sonde-rinspektors aus der Tasche und hielt sie demRobot entgegen. »Schau her, erkennst dudas?«

»Ich erkenne es, Sonderinspektor«, bestä-tigte die Maschine. »Es gibt insgesamtzwanzig Suchtrupps. Sie arbeiten im Südendes Katembi-Tals und auch, wie wir, auf deranderen Seite der Berge.«

»Von wo aus werdet ihr gesteuert?«»Kontrollstation achtzehn. Es ist die, die

am weitesten nach Südosten vorgeschobenist.«

Atlan steckte die Marke wieder ein.»Ich danke dir«, sagte er. »Wir wollen

euch nicht weiter in eurer Arbeit behin-dern.«

Die Roboter schwebten davon. Pantschukam aus seinem Versteck hervor und schick-te ihnen eine Verwünschung hinterher. Atlantätschelte ihn auf den runden, kahlen Schä-del.

»Beruhige dich, Kleiner«, sagte er. »Essind nur dumme Maschinen, die die Schön-heit eines Xildschuk nicht zu schätzen wis-sen.«

Pantschu bedachte ihn mit einem schrä-gen Blick, als wolle er sich überzeugen, daßdie Bemerkung aufrichtig gemeint war.

*

Bei Sonnenaufgang hatten sie die Bergehinter sich. Atlan schlug zunächst eine südli-che Richtung ein. Für den Fall, daß sieDeckung brauchten, wollte er in der Näheder Bergwände bleiben, bis sie sich dem Ge-bäudekomplex gegenüber befanden.

Das Land, das sie durchquerten, war vonwilder, unberührter Schönheit. Streckendichten Dschungels wechselten mit kleinenSavannenflächen. Sie überquerten mehrereBäche, die aus den Bergen herabkamen. Daszunächst ebene Gelände im Osten wurdespäter hügelig – ein Umstand, den der Arko-nide zu schätzen wußte. Je unübersichtlicher

das Terrain, desto größer war seine Aussichtauf Erfolg.

Belustigt erinnerte er sich an die Gerüch-te, die auf Kran über Ursuf im Umlauf wa-ren: eine Gifthölle, kontaminiert mit Millio-nen von Tonnen heimtückischer Toxika – ei-ne Welt, auf die man Arbeiter, Technikerund Wissenschaftler nur locken konnte, in-dem man ihnen das Dreifache dessen anbot,was sie auf Kran verdienten. Ursufs schlech-ter Ruf hielt sich hartnäckig trotz der ganzanders lautenden Berichte der Rückkehrer.Wäre die Wahrheit über die paradiesischeSchönheit dieser Welt ans Tageslicht ge-kommen, die Administration hätte alle Hän-de voll zu tun gehabt, sich der Flut von Sied-lern zu widersetzen, die sich dann unweiger-lich über Ursuf ergießen mußte.

Mehrmals am Vormittag sahen sie Auf-klärer, die mit geringer Geschwindigkeitdurch den blauen Himmel glitten. Sobald ei-nes der geräuschlosen Fahrzeuge gesichtetwurde, hielten sie an und rührten sich nicht,bis es wieder verschwunden war. Bewegungwar das einzige, was die Sensoren der Auf-klärer in dieser Umgebung wahrnehmenkonnte. Infrarotortung war nicht zu befürch-ten. Die kräftigen Strahlen der Sonne sättig-ten das Land mit Wärme. Auf dem Bild ei-nes Infrarotorters strahlte die Landschaft ineinheitlichem Hellrot.

Am frühen Nachmittag wandten sie sichostwärts. Eine Stunde vor Sonnenuntergangerreichten sie eine Hügelkuppe, die ihneneinen weiten Ausblick ermöglichte. Kaumzwei Kilometer vor ihnen lag der Gebäude-komplex der Forschungsstation Ngetu, eineDoppelreihe unterschiedlich geformter Bau-werke. Östlich an das bebaute Geländeschloß sich ein weiter See an. Soweit stimm-te alles mit dem Kartenbild überein, das At-lan sich auf Kran eingeprägt hatte. Aberweiter ging die Ähnlichkeit nicht.

Wo die Karte dichten Wald zeigte, streck-te sich eine öde Lichtung mit frischenBrandspuren, die das üppig wuchernde tro-pische Grün noch nicht wieder hatte tilgenkönnen. Der Dschungel in weitem Umkreis

Die Roboter von Ursuf 17

um die doppelte Gebäudereihe war vernich-tet worden. Die Lichtung reichte bis zumUfer des Sees. Die Wohn- und Laborbautenvon Ngetu lagen inmitten einer mehrere Ki-lometer weiten Fläche, die keine nennens-werte Deckung bot.

Atlan hatte mit nichts anderem gerechnet.Der Anblick der Lichtung erfüllte ihn imGegenteil mit Erleichterung; denn erst jetztwußte er mit Sicherheit, daß die Wissen-schaftler und Techniker der Station Ngetusich tatsächlich hier befanden. Er sah Fahr-zeuge, die wahllos auf der niedergebranntenFläche verteilt waren. Am Nordende der Ge-bäudereihe hatten die Bewacher ein paar pri-mitive Laubhütten errichtet, um vor den un-barmherzigen Sonnenstrahlen Schutz zu fin-den. Auf der glatten Oberfläche des Seestrieben zwei Boote.

Die Bruderschaft hatte die Station einge-kreist. Es schien unmöglich, sich den Ge-bäuden zu nähern, ohne dabei gesehen zuwerden. Und doch war es gerade das, wasAtlan vorhatte.

Sie beobachteten das Gelände, bis dieSonne unterging und die Nacht hereinbrach– die zweite seit ihrer Landung auf Ursuf.

»Was habt ihr gesehen? Was ist eure Mei-nung?« fragte der Arkonide die Gefährten.

Die Vertiefungen am Schädel des Ai be-gannen zu blinken.

»Es geht nur durch den See«, entzifferteAtlan. »Einverstanden?«

Pantschu und Nivridid bekundeten ihreZustimmung.

3.

Der See war warm. Sie bewegten sich mitkurzen, flachen Schwimmstößen, um mög-lichst wenig Geräusch zu verursachen. Siehatten die niedergebrannte Fläche in weitemBogen umgangen und sich dem Ufer imSchutz des Dschungels genähert. Seit Ein-bruch der Dunkelheit brannten drüben beiden Gebäuden mehrere Heliostrahler, die dieLichtung mit greller Helligkeit übergossen.Das kam ihnen zustatten. Gegen das Licht

zeichneten sich die Umrisse der beiden Boo-te deutlich ab.

Atlan machte die Vorhut. Er war von al-len der geübteste Schwimmer. Sein Ziel wardas Boot, das dem Ufer am nächsten lag.Das zweite Fahrzeug war acht- bis neunhun-dert Meter entfernt. Sie würden sich in achtnehmen müssen, bei ihrem Vorhaben keinenLärm zu machen. Über die glatte Wasserflä-che hinweg war selbst ein geringfügiges Ge-räusch kilometerweit zu hören.

Als er sich dem Boot bis auf einhundertMeter genähert hatte, sah er, daß sich zweiKranen darin befanden. Das Fahrzeug warhochbordig – ein Umstand, der seinen Plä-nen nicht entgegenkam. Die beiden Insassenblickten zum Westufer des Sees hinüber.Das war gut. Die Helligkeit blendete sie.

Mit ausgebreiteten Armen, jetzt nur nochmit den Füßen paddelnd, glitt er auf dasBoot zu. Als er noch zwanzig Meter entferntwar, wurde einer der beiden Kranen miß-trauisch und wandte sich um. Für seine ge-blendeten Augen war der dunkle Teil derSeeoberfläche ein einziges, schwarzes Loch.Nach wenigen Sekunden richtete er denBlick wieder nach Westen.

Atlan hatte den Schocker auf minimaleLeistung geschaltet. Er wollte nicht bewußt-los machen, nur vorübergehend lähmen. DieZeit war eine kritische Größe bei diesemUnternehmen. Wann würde das Boot abge-löst werden? Darauf kam es an.

Die Waffe gab ein kaum hörbares Piepsenvon sich. Der Krane, auf den er gezielt hatte,machte eine Bewegung, als wolle er sichstrecken. Er wurde starr und sank hinüber.Sein Begleiter wandte sich überrascht um;aber bevor er etwas sagen konnte, traf auchihn eine schwache Schockladung.

Atlan packte die Bordwand und zog sichdaran in die Höhe. Er achtete darauf, die bei-den gelähmten Gestalten nicht aus demGleichgewicht zu bringen. Wenn jemand amUfer auf den Gedanken kam, das Boot durchein Nachtglas zu beobachten, mußte er dieUmrisse zweier Kranen sehen. Er wandtesich um und half den Gefährten an Bord.

18 Kurt Mahr

Das Boot begann zu schaukeln. RingförmigeWellen glitten über die bisher glatte Oberflä-che des Sees. Vom zweiten Boot her kamein Ruf in der bellenden Sprechweise derKranen. Atlan verstand ihn nicht; aber erantwortete in ähnlicher Weise. Das Bootkam wieder zur Ruhe. Das zweite Fahrzeugrührte sich nicht vom Fleck. Er atmete auf.Diese Gefahr war überstanden!

Sie kauerten auf dem Boden. Der hoheBord schützte sie vor fremden Blicken.Chaktar kauerte vor den beiden gelähmtenKranen. Ihre Augen waren offen. Sie sahenalles, was um sie herum geschah; aber siekonnten sich nicht rühren.

Die Vertiefungen an Chaktars Schädel be-gannen, auf eigenartige Art und Weise zublinken. Sie signalisierten in langsamem,einschläferndem Rhythmus, und im selbenTakt bewegten sich die kurzen Augenstieledes Ai. Atlan verfolgte den Vorgang mitgroßem Interesse. Er hatte Chaktar noch niebei der Arbeit gesehen. Schließlich abermußte er zur Seite blicken; er lief selbst Ge-fahr, dem hypnotischen Einfluß des Ai zuerliegen.

Die Kranen hatten keine Chance. Als dieLähmung von ihnen wich, standen sie hilflosunter Chaktars Bann.

»Du kannst jetzt zu ihnen sprechen«,blinkte der Ai.

»Sagt weiter nichts, als was ich von euchhören will«, befahl der Arkonide. »Sprechtnicht lauter als notwendig. Wann kommt eu-re Ablösung?«

»In anderthalb Stunden«, antwortete einerder beiden.

»Wie geht die Ablösung vor sich?«»Das Boot mit den Ablösern kommt her-

aus, und wir fahren ans Ufer.«»Habt ihr Funkverbindung mit der Mann-

schaft am Ufer?«»Wir haben einen Radiokom, damit wir

Alarm geben können, wenn wir etwas Ver-dächtiges sehen.«

Sie brauchten sich also nicht, wie Atlanbefürchtet hatte, in regelmäßigen Abständenzu melden.

»An welcher Stelle des Ufers legt ihr an?«erkundigte er sich.

»Dort, wo die Laubhütten stehen«, lautetedie Antwort. »Die Hütten sind zum Schlafenhergerichtet.«

»Wie viel Gefangene befinden sich in denGebäuden?«

»Vierzehnhundert.«»Warum so viele?« fragte Atlan über-

rascht. »Die Ngetu-Station hatte nur acht-hundert Mitglieder Personal.«

»Es sind nicht nur die von der Station«,erklärte der Krane. »Wir haben auch die vonder Fertigungsanlage im Osten festgenom-men und hier eingesperrt.«

*

Die Nacht war still und von wunderbarerKlarheit. Atlan lag im Heck des Bootes undsah zu den Sternen hinauf. Wenn er seinBlickfeld soweit einengte, daß er die hochaufragenden Gestalten der beiden hypnoti-sierten Kranen nicht mehr sah, dann fiel esihm leicht, sich einzubilden, er sei weit wegauf einer friedlichen, traumhaft schönenWelt – ein Tourist, ein Urlauber, der weiternichts zu tun hatte, als seine Zeit auf mög-lichst angenehme Art und Weise totzuschla-gen.

Da zuckte ein Blitz auf. Er schob sich indie Höhe, so daß er über die Bordkante hin-wegsehen konnte. Am Westufer war Bewe-gung entstanden. Gestalten rannten hin undher. Sekunden später ließ sich aus der Fernewirrer Lärm hören. Es blitzte ein zweitesMal. Eine Gruppe von Gestalten verschwandim Dunkel zwischen zwei Gebäuden. Au-genblicke später kamen sie wieder zum Vor-schein. Es sah aus, als schleppten sie etwas.Sie gingen zu einem der Fahrzeuge. Es star-tete nach wenigen Sekunden und ver-schwand ostwärts in der Nacht.

»Was war das?« fragte Atlan die Gefan-genen.

»Wahrscheinlich einer, der ausbrechenwollte«, wurde ihm geantwortet.

»Was tut ihr dann? Ihr schießt auf ihn?

Die Roboter von Ursuf 19

Scharf?«»Ja.«»Euch soll der Teufel holen!« knurrte At-

lan in bösem Zorn. »Wie viel Ausbruchsver-suche hat es schon gegeben?«

»Ich weiß von sechs«, sagte der Krane.Nach der kurzen Unterbrechung kehrte

bald die Ruhe wieder ein. Gegen Mitter-nacht wurde das Nachbarboot abgelöst. At-lan beobachtete den Vorgang aus sichererDeckung. Es gab nicht viel zu sehen. Dasablösende Boot nahm den Standort des ab-gelösten ein, und dieses kehrte ans Ufer zu-rück. Nach den Geräuschen zu urteilen, wur-den nur wenige belanglose Worte gewech-selt.

Weitere zwanzig Minuten vergingen.Plötzlich sagte Nivridid: »Sie kommen!«

Es war sein ungewöhnlicher Instinkt, derihm diese Mitteilung machte. Erst mehrereSekunden später löste sich ein Boot vomUfer und glitt mit leise summendem Motor,das Wasser zu eiligen Furchen aufwerfend,über den See.

»Verhaltet euch wie üblich«, befahl Atlanden Gefangenen. »Kein unnötiges Gerede.«

Er tauchte auf den Boden des Bootes zu-rück und horchte mit angespanntem Gehörauf das Summen des Triebwerks. Das Fahr-zeug geriet ins Schaukeln, als die Ablöserbeidrehten. Eine raue Stimme schallte übersWasser: »Langweilige Nacht hier draußen,wie?«

»Wie immer«, antwortete einer der beidenhypnotisierten Kranen. »Über den See ver-suchen sie nicht zu kommen.«

»Wenigstens habt ihr ein paar StundenSchlaf vor euch«, sagte die Stimme, hörbarunzufrieden.

»Wir haben's verdient«, kam die Antwort.Das Boot setzte sich in Bewegung. Der

Arkonide gab einen stummen Seufzer derErleichterung von sich.

*

»Langsamer!« befahl Atlan.Er lugte hinter einem der beiden Kranen

hervor über die Bordwand. Das Boot ver-langsamte seine Fahrt. Halblinks voraus la-gen die taghell angestrahlten Gebäude. Einpaar kleine Fenster waren erleuchtet. Nichtalle Gefangenen schliefen.

Das Ufer des Sees bildete einen flachen,sandigen Strand. Seine Tiefe schwankte zwi-schen fünf und zwanzig Metern; aber an ei-ner Stelle gab es eine Bucht, die bis dorthinreichte, wo der Schatten eines pyramidenför-migen Wohnbaus Dunkelheit erzeugte.

»Haltet auf die Bucht zu!« sagte er.Die Laubhütten standen weiter rechts drü-

ben, mehr als einen halben Kilometer ent-fernt. Es war ruhig dort. Niemand schiensich um das Boot zu kümmern. Mit den Ge-fährten brauchte er sich nicht zu verständi-gen. Sie wußten, worum es ging. Die Buchtbot ihnen die einzige Chance, die Reihe derGebäude ungesehen zu erreichen.

»Pantschu, du machst den Anfang«, sagteer halblaut.

Der Xildschuk kletterte über den rechten,der Helligkeit abgewandten Bordrand undließ sich ins Wasser gleiten. Er tauchte unterdem Boot hindurch und schwamm unterWasser auf das Ufer zu. Er machte seine Sa-che gut. Nicht die geringste Bewegung derWasseroberfläche war zu sehen. Das Boothatte inzwischen angehalten. Atlan musterteden Rand der Bucht; aber so sehr er die Au-gen auch anstrengte, er sah nicht einmal einleises Plätschern, als Pantschu an Land stieg.

Nivridid ging als nächster. Auch er hattekeine Schwierigkeiten. Dann kam Chaktaran die Reihe. Inzwischen war drüben bei denHütten Bewegung entstanden. Zwei Kranenstanden am Ufer und winkten dem Boot zu.Ihre Stimmen hallten weithin über das Was-ser. Atlan konnte nicht verstehen, was sieriefen; aber vermutlich wunderten sie sichdarüber, daß das Boot haltgemacht hatte.

»Rasch, Chaktar«, drängte er. »Werdensie vergessen, was sie erlebt haben?«

»In zwei Minuten«, blinkte der Ai.Atlan half ihm über Bord und folgte ihm

wenige Sekunden später, nachdem er denbeiden Kranen befohlen hatte, das Fahrzeug

20 Kurt Mahr

in Bewegung zu setzen und auf Kurs zubringen. Auf der Backbordseite des Bootestauchte er noch einmal kurz auf, um dieLungen mit Luft zu füllen.

Dann drückte er sich mit kräftigen Stößenin die Tiefe und glitt über den Grund desSees auf das Ufer zu. Als er zwei Drittel derDistanz zurückgelegt hatte, wandte er sichauf den Rücken, um den Wasserspiegel übersich beobachten zu können.

Er hatte noch einen halben Meter Wasserüber sich, als er das Pochen hörte. Es warein rhythmisches Geräusch und hörte sichnach Schritten an. Er griff mit den Händenunter sich und krallte sich in den sandigenSeeboden. Das Wasser trug ihm Stimmenans Ohr. Er konnte die Worte nicht verste-hen; aber die abgehackte, bellende Sprech-weise war unverkennbar kranisch.

Eine Patrouille! Die verbrauchte Luftbrannte ihm in den Lungen. Ein unwider-stehliches Verlangen überkam ihn, sich ab-zustoßen, aufzutauchen und zu atmen … zuatmen … Er lauschte hinter den pochendenSchritten her – oder war es sein eigenerPulsschlag? Er hörte die Stimmen nichtmehr, aber das mochte daran liegen, daß ihmdas Blut dröhnend in den Ohren brauste.Wie lange konnte er noch aushalten? Er hat-te die Lungen voller Luft gepumpt, den Kör-per mit Sauerstoff übersättigt. Ein Übermaßan Sauerstoff täuschte den Instinkt. Er ver-säumte, dem Gehirn zu signalisieren, wennfrische Atemluft benötigt wurde. Vielleichtwar es in diesem Augenblick schon zu spät?

Er konnte nicht mehr. Die Hände verlorenden sandigen Grund aus dem Griff; die auf-geblähte Lunge trieb ihn nach oben. FrischeLuft strich ihm übers nasse Gesicht. Mitletzter Willensanstrengung zwang er sichdazu, den verbrauchten Atem nur langsamvon sich zu geben – nicht in einem einzigenSchwall, wie es die gepeinigten Nerven ver-langten. Er paddelte vorsichtig mit den Hän-den. Die Schultern schürften über Sand. Erhatte das Ufer der Bucht erreicht.

Während er vorsichtig Luft holte, hörte ersich um. Die Schritte waren nicht mehr zu

hören, die Stimmen drangen ihm aus weiterFerne ans Ohr. Mit letzter Kraft schnellte ersich in die Höhe und fand sich plötzlich aneinem Ort, an dem es finster war – finsterund warm – finster und sicher …

Die schmerzenden Lungen pumpten Luftin kurzen, ruckenden Stößen und schütteltenden Körper mit konvulsivischen Zuckungen.Er lag auf dem Rücken und ließ sie gewäh-ren. Seine einzige Furcht war, daß die krani-sche Patrouille zu guter Letzt doch noch um-kehren würde, weil sie das wilde Pochen sei-nes Herzens hörte.

*

»Das war knapp«, schnaufte Pantschu.»Chaktar kam gerade noch durch, dann hör-ten wir die Schritte. Wir konnten dich nichtwarnen.«

Atlan machte eine beschwichtigende Ge-ste.

»Schon gut«, keuchte er. »Glaubt ihr, siehaben etwas bemerkt?«

»Nicht das geringste«, antwortete Nivri-did. »Sie waren zu sehr in ihr Gespräch ver-tieft.«

Der Arkonide spürte, wie ihn neue Kraftdurchflutete. Er richtete sich auf alle viereauf und kroch bis dahin, wo die Dunkelheitendete. Vorsichtig spähte er hinter der Kantedes Gebäudes hervor. Das Boot hatte dasUfer fast erreicht. Die beiden Kranen, diegewinkt und ihm zugerufen hatten, warennirgendwo mehr zu sehen. Es war alles inOrdnung. Das Vorhaben war gelungen.

Niemand hinderte ihn mehr daran, sichmit den Gefangenen in Verbindung zu set-zen.

Und was dann? erkundigte sich der Extra-sinn spöttisch.

Atlan achtete nicht auf den Einwand. Erkehrte zu den Gefährten zurück. Die dunkleZone, in der sie sich befanden, lag zwischeneiner typisch kranischen Stufenpyramide,die zur rechten Hand bis zu einer Höhe vonfünfundzwanzig Metern aufstieg, und einemflachen Bauwerk zur Linken, das als Lager-

Die Roboter von Ursuf 21

halle oder Laborgebäude diente und demPrinzip der kranischen Architektur nur nochdadurch verbunden war, daß es abgeschrägteStirnwände besaß.

Der Arkonide blickte an den unregelmä-ßig geformten Stufen der Pyramide empor.Er sah ein paar kleine Fenster, von denen dieMehrzahl erleuchtet war; aber er fand keineTreppe, die an der Außenwand hinaufführte,wie er es von Kran gewohnt war.

Pantschu hatte inzwischen die Basis derPyramide untersucht, soweit der Schattenreichte. »Es gibt keinen Eingang«, meldeteer bedrückt.

»Wer sucht einen Eingang?«Die Stimme kam aus der Höhe. Atlan

wandte sich um und sah die schattenhaftenUmrisse einer Gestalt, die oben auf der Ba-sisstufe der Pyramide stand. Es ließ sichnicht erkennen, wie sie dorthin gekommenwar. Es war ein Krane, der dort oben stand.

»Helfer in der Not«, antwortete der Arko-nide.

»Von wem gesandt?«»Herzog Carnuum und dem Orakel.«Nach einer kurzen Pause des Schweigens

sagte die Gestalt: »Fremder, ich warne dichund deine Begleiter. Wollt ihr uns Hilfebringen, so seid ihr willkommen. Gehört ihraber zur Räuberbande des verseuchten Der-rill und seid hier, um zu spionieren, wirdman euch den Hals umdrehen.«

»Wenn du noch lange redest, sind wir oh-nehin verloren«, antwortete Atlan ungedul-dig. »In ein paar Minuten kommt die nächstePatrouille vorbei. Wenn es ihr einfällt, hierhereinzuleuchten …«

Mit leisem Knirschen geriet ein Teil derPyramidenstufe in Bewegung. Zwei Stein-platten glitten auseinander und entblößteneine Treppe, die zur Oberkante der Stufehinaufführte. Oben hatte sich inzwischen ei-ne Tür aufgetan. Mattes Licht zeichnete einschräges Viereck auf den Boden.

»Tretet ein«, sagte der Krane.Nachdem die Tür sich geschlossen hatte,

schaltete er die Beleuchtung auf volle Stär-ke. Sein Blick blieb auf dem Arkoniden haf-

ten.»Wen sendet Uns der Herzog?« Ein deut-

lich mißbilligender Unterton schwang in sei-ner Stimme. »Das ehemalige Orakel!«

Der Arkonide hielt dem Blick mit kühlerGelassenheit stand.

»Der Herzog hat euch den geschickt, dener für am geeignetsten hält«, sagte er.

Er verstand die Reaktion des Kranen. Diekranische Öffentlichkeit war, nach den Er-eignissen der vergangenen Wochen, bereit,sich weiterhin vom Orakel leiten zu lassen –solange einer der ihren diese Position inne-hatte.

»Verzeih«, sagte der Krane. »Ich wolltedich nicht kränken. Du weißt, daß…«

»Ja, ich weiß«, fiel ihm Atlan kurzerhandins Wort. »Wer bist du?«

»Ich heiße Serigaal. Ich bin – hm, war derLeiter der Versuchsstation Ngetu.«

»Wie ist die Stimmung unter den Gefan-genen?«

»Verzweifelt.« Die Antwort kam raschund mit Nachdruck. »Die Mehrzahl ist indiesem Gebäude eingesperrt. Der Raum istso eng, daß wir einander auf die Füße treten.Mit denen, die anderswo untergebracht sind,haben wir keinen Kontakt.«

»Wie wollt ihr euch weiterhin verhalten?«erkundigte sich der Arkonide.

Die Augen des Kranen leuchteten auf.»Du meinst: gibt es Pläne, der BruderschaftWiderstand zu leisten? Auszubrechen undzu fliehen? Nein. Wir sind unbewaffnet. Aufeiner biologischen Versuchsstation gibt eskeine Waffen. Es bleibt uns nichts anderesübrig, als zu warten, bis sich das Problemvon selbst löst.« Er wandte den Blick beisei-te. »Wir sind keine Krieger. Wir wissennicht, wie man sich in einer solchen Lageverhält. Wirst du uns helfen können?«

Er sah auf den Xildschuk hinab, und einAusdruck der Verzweiflung stahl sich in sei-ne Miene, als Pantschu den Blick ausgroßen, traurigen Augen treuherzig erwider-te.

»Man gelangt oft zum falschen Schluß,wenn man ein Wesen nur nach Äußerlich-

22 Kurt Mahr

keiten beurteilt«, tadelte der Arkonide. »Wirsind gekommen, um euch zu helfen. Ob wirunsere Absicht durchführen können, wirdsich zeigen. Laß uns darüber beraten. Han-delst du alleine, oder gibt es hier so etwaswie einen … Krisenstab?«

Serigaal bleckte die Zähne und gab einschnalzendes Geräusch der Belustigung vonsich.

»Wir sind nicht gänzlich unorganisiert«,antwortete er. »Komm mit. Man wird ohne-hin neugierig sein, wen ich da aufgetriebenhabe.«

*

Serigaal hatte nicht übertrieben: die Engeim Innern der großen Pyramide war qual-voll. Die Quartiere waren überfüllt. DerRaummangel hatte verschiedenenorts zugrotesken Notmaßnahmen geführt: Räume,die für Kranen gemacht waren, hatten provi-sorische Zwischenböden erhalten, so daßsich mehr Prodheimer-Fenken darin unter-bringen ließen. Die kleinen Blaupelze mitihren hochentwickelten medizinisch-biolo-gischen Kenntnissen bildeten neben denKranen das stärkste Kontingent der Ngetu-Mannschaft. Mitglieder aller Völker desHerzogtums waren vertreten. Es herrschteeine Spannung, die selbst dem weniger sen-sitiven Gemüt auffiel. Atlan und seine Be-gleiter wurden überall angestarrt, und ob-wohl Serigaal bei ihnen war, fiel manchezornige, manche abfällige Bemerkung überden Arkoniden.

Der Krane führte seine Gaste ins obersteGeschoß der Pyramide hinauf. Auf Kran be-standen die Spitzen der pyramidenförmigenBauwerke gewöhnlich aus transparentemMaterial. Auf Ursuf hatte sich diese Art desBauens wegen der, intensiven Sonnenein-strahlung von selbst verboten. Auch so wardie Atmosphäre im Innern des Gebäudeswarm und feucht genug. Das Klimasystem,für das Doppelte der nominellen Bewohner-schaft ausgelegt, zeigte sich hoffnungslosüberfordert.

Die oberste Etage enthielt nur einen einzi-gen Raum von beträchtlichem Ausmaß, derbis vor kurzem ein Computerlabor gewesenwar. Datenstationen, Drucker und Speicherwaren achtlos an den Wänden zusammenge-schoben worden, um Platz für solche Vorha-ben zu machen, die unter den gegenwärtigenUmständen wichtiger waren als die rechner-gestützte Auswertung biologischer Experi-mente.

»Sosehr es uns auch an Platz mangelt«,sagte Serigaal mit einem verlegenen Lä-cheln, als müsse er um Entschuldigung bit-ten, »diesen Raum haben wir für unsere Be-sprechungen reserviert.«

Er hatte sein Anliegen vorausmelden las-sen. Die Mitglieder des Krisenstabs warenbereits anwesend, als Serigaal mit seinenBegleitern aus dem Antigravschacht trat. Ei-ne junge Kranin namens Delbar fungierte alsSerigaals Stellvertreterin. Tschang, einschmächtig gebauter Tart, war für dieWohnraumverteilung und den Proviant ver-antwortlich. Gikra, ein weiblicher Prodhei-mer-Fenke, versah das Amt der zentralenGesundheitsbehörte.

Atlan wiederholte die Worte, mit denen ersich Serigaal vorgestellt hatte: Er war ge-kommen, um den Gefangenen zur Freiheitzu verhelfen und dem Unwesen der Bruder-schaft ein Ende zu bereiten.

»Ich sehe an euren Blicken«, schloß er,»daß ihr nicht versteht, warum Herzog Car-nuum ausgerechnet mich für dieses gefährli-che Unternehmen ausgesucht hat. Seht euchmeine Begleiter an: sie sind Diener des Ora-kels, Sieger vergangener Lugosiaden, jedermit seiner eigenen, erstaunlichen Fähigkeit.Wir sind hier, weil wir für diese Aufgabe amgeeignetsten sind. Ich hoffe, eure Vorurteilewerden unserem gemeinsamen Vorhabennicht im Weg stehen.«

Er hatte sie an der Ehre gepackt. Die Kra-nen ließen sich ungern nachsagen, daß sieeinem Wesen nur aufgrund seiner andersar-tigen Herkunft mißtrauten, und ihre Haltunghatte auf die übrigen Völker des Herzogtumsabgefärbt. Delbar senkte verlegen den Blick,

Die Roboter von Ursuf 23

und Gikra schien mit ihren flinken Knopfäugen um Verzeihung zu bitten. Lediglichder Tart zeigte sich unberührt.

»Es dreht sich hier weniger um die Fragevon Vorurteilen.« Er hatte eine ungewöhn-lich tiefe Stimme und sprach ohne jeden zi-schelnden Akzent, mit dem Mitglieder sei-nes Volkes das Krandhorjan sonst zu verfär-ben pflegten. »Es geht vielmehr darum, daßunsere Lage völlig hoffnungslos ist und unsniemand helfen kann – es sei denn, er könneWunder vollbringen.«

Atlan lächelte ihn an. »Es geht nichts übereine gesunde Portion Optimismus«, spotteteer. »Ich sagte schon, daß meine Gefährtenerstaunliche Fähigkeiten besitzen. Sie sollenbei unserem Vorhaben zum Einsatz kom-men. Nach meiner Ansicht ist die Lage nichtso verfahren, wie du sie siehst. Über meinenPlan später. Laß mich zunächst ein paar Fra-gen stellen.«

*

»Kämpfer sind keine Schwierigkeit«, ver-sicherte Serigaal. »Die Gefangenen sind soverzweifelt, daß du mehr Freiwillige bekom-men wirst, als du brauchen kannst.«

»Langsam!« mahnte der Arkonide. »Ichbrauche zehn der tüchtigsten für ein Stoß-truppunternehmen – und weitere zwei- bisdreihundert, die gewillt sind, ihr Leben zuriskieren.«

Seine Zuhörer sahen ihn erstaunt an; aberschließlich sagte Serigaal: »Auch dabei seheich keine Schwierigkeit.«

»Nächster Punkt: Explosivstoffe«, sagteAtlan, der seine Themen so rasch wechselte,daß den Mitgliedern des Krisenstabs dieKöpfe rauchten. »Auf einer biologischenVersuchsstation muß es Chemikalien geben,die sich zu einer Bombe verarbeiten lassen.«

»Nicht hier im Gebäude«, antwortete Se-rigaal. »Aber im Lager nebenan.«

»Kein Problem«, erklärte Atlan befriedigt.»Zwischen den Gebäuden ist es dunkel. Wirholen das Zeug in der Nacht heraus. Bleibtunsere letzte Sorge: das Wetter.«

»Das Wetter?« wiederholte Delbar ver-blüfft.

»Es ist für meine Begriffe zu wolkenlos«,bekräftigte Atlan. »Ich brauche für meinenPlan einen kräftigen Sturm, mit Blitz undDonner und Regen. Gibt es so etwas in die-ser Gegend?«

Serigaal machte die Geste der Zustim-mung. »Genügend«, antwortete er. »Sieh dirdie tropische Vegetation an. Sie kommt oh-ne Regengüsse nicht aus. In den vergange-nen Tagen war das Wetter ruhig. Wir rech-nen daher jeden Augenblick damit, daß einSturm aufzieht.«

Das Klima auf Ursuf wurde künstlich ge-steuert. Die Steuerung oblag einem kyberne-tischen System, das automatisch arbeiteteund seine Entscheidung nach den jeweilsvorherrschenden klimatischen Bedürfnissenrichtete.

»Finden Regenfälle gewöhnlich zu einerbestimmten Tageszeit statt?« erkundigte sichAtlan.

»Üblicherweise in den letzten Stundenvor Sonnenaufgang.«

Der Arkonide nickte befriedigt.»Gut. Weiter brauchen wir nichts. Wir

fangen heute nacht schon an. Die Chemika-lien werden aus dem Lagergebäude geholt.Wir brauchen eine Bombe, die kräftig genugist, um ein bißchen Schaden anzurichten,und ein spektakuläres Feuerwerk veranstal-tet, das die Bruderschaftler ein paar Minutenlang in Atem hält. Serigaal – du beschaffstmir die besten zehn Kämpfer aus deinerTruppe. Delbar – du siehst dich um, woherwir die zwei- bis dreihundert bekommen, diefür den eigentlichen Einsatz erforderlichsind. Grundbedingung für alle Teilnehmer:sie müssen schwimmen wie die Fische!«

Die Gesichter waren ernst, nur TschangsMiene zeigte ein süffisantes Lächeln.

»Ich sehe, daß du hier das Kommandoübernommen hast«, sagte er. »Wäre es nichtan der Zeit, daß du uns deinen Plan erläu-terst?«

»Du hast recht«, stimmte Atlan zu. »Werseinen Hals riskiert, soll wissen, zu welchem

24 Kurt Mahr

Zweck. Hört zu …«Er erläuterte ihnen sein Vorhaben – in

groben Umrissen und nicht ganz der Wahr-heit entsprechend, was das eigentliche Zielanging. Sie hörten ihm zu, ohne ihn ein ein-ziges Mal zu unterbrechen. Als er geendethatte, herrschte eine Zeitlang betretenesSchweigen. Schließlich sagte Serigaal:

»Ich bin, wie gesagt, kein Kämpfer. AlsWissenschaftler schätze ich deine Erfolgs-aussichten auf fünfzig Prozent. Mit anderenWorten: es ist fast schon ein Selbstmordun-ternehmen.«

Er musterte Atlan mit herausforderndem,eine Erklärung heischenden Blick.

»Du hast recht«, bestätigte der Arkonide.»Aber welche andere Wahl bleibt unsnoch?«

*

Nivridid und Chaktar beschafften dieChemikalien, während Pantschu Postenstand und darauf achtete, daß die beidennicht von einer Patrouille der Bruderschaftüberrascht wurden. Es sprach für die Sieges-gewißheit der Geheimbündler, daß sie sichnicht die Mühe gemacht hatten, das Lager-gebäude zu räumen. Der Gedanke, daß dieEingeschlossenen den Inhalt verwendenkönnten, um daraus Wurfgranaten und ähn-lich primitive Waffen zu basteln, war ihnenoffenbar nie in den Sinn gekommen. Atlanwar damit zufrieden. Je sicherer die Bruder-schaft sich fühlte, um so überraschter würdesie sein, wenn er zuschlug. Freilich warf aufder anderen Seite dieselbe Überlegung einschlechtes Licht auf die Kampfbereitschaftder gefangenen Wissenschaftler und Techni-ker. Es war ihnen kein einziges Mal die Ideegekommen, daß sich mit den Chemikalienetwas hätte anfangen lassen.

Fachleute, die mit den gefährlichen Stof-fen umzugehen verstanden, gab es unter denEingeschlossenen genug. Atlan beschrieb,wie die Bombe zu wirken hatte. Die Exper-ten machten sich an die Arbeit. Im Lauf desTages entstand ein Gebilde von der Größe

eines Spielballs, wie ihn junge Kranen be-nutzten – zusammengesetzt aus mehrerenSchichten hochbrisanter, plastischer Sub-stanzen, untergebracht in einem trommelför-migem Metallbehälter und versehen mit ei-nem simplen mechanischen Zünder, auf derWirkung einer kräftigen Sprungfeder beru-hend, der mit einer primitiven Uhr gekoppeltwar. Wenn das Ding hochging, würden dieBruderschaftler ihr blaues Wunder erleben –und ihr grünes, rotes, gelbes, violettes …

Atlan und seine Gefährten hatten sich imehemaligen Computerlabor niedergelassen.Es war der einzige Raum in der ganzen Py-ramide, in dem man sich ausstrecken konnte,ohne sich vor achtlos trampelnden Füßenfürchten zu müssen. Sie hatten ein umfang-reiches Mahl zu sich genommen, die ersteHalbfrischkost seit ihrem Aufbruch vonKran, und durchgesetzt, daß eine der heißbe-gehrten Hygienezellen eine volle Stundelang für sie allein reserviert wurde, so daßsie sich einer nach dem andern den Staubund den Schweiß der langen Reise vom Leibspülen konnten.

Atlan hatte angeordnet, daß den Tag hin-durch geschlafen werde. Die kommendeNacht mochte die Entscheidung bringen. Eswar wichtig, daß sie bei Kräften waren,wenn sie ihr gefährliches Unternehmen be-gannen. Die Beleuchtung war ausgeschaltet.Der Arkonide starrte in die Dunkelheit undgab sich wohlig dem Gefühl der allumfas-senden Müdigkeit hin, das ihn hinabzog indie konturlose Schwärze traumlosen Schlafs.

Da hörte er plötzlich Nivridids Stimme.»Du hast ihnen nicht die ganze Wahrheit ge-sagt. Warum?«

Die Frage hatte er sich selbst schon ge-stellt. Welches war der Grund? Warum ließer Serigaal, Delbar, Gikra und Tschang glau-ben, sein Plan ziele darauf ab, zum nächst-gelegenen Gefangenenlager vorzustoßenund die Gefangenen zu befreien? Warumhatte er ihnen nicht gesagt, daß in Wirklich-keit das Hauptquartier der Bruderschaft seinZiel war?

»Ich glaube, es liegt an Tschang«, antwor-

Die Roboter von Ursuf 25

tete er schläfrig.»Du traust ihm nicht?«»Ich weiß nicht. Der Kerl ist so …«Bevor er »merkwürdig« sagen konnte,

war er eingeschlafen.

4.

Syskal musterte die vier Kranen, die sichzu beiden Seiten der Tür aufgebaut hatten,mit verächtlichem Blick. Dann glitten ihreAugen zu Derrill hinüber, der hager undhoch aufgerichtet hinter seinem Arbeitstischstand, und die Verachtung wandelte sich zuAbscheu. Syskal war von zierlicher Gestalt.Ihre vornübergebeugte Haltung gab Zeugnisvon ihrem Alter. Mit 126 Jahren war sie beiweitem die älteste Beamtin in den höherenRängen der kranischen Verwaltungshierar-chie.

»Was soll mit der alten Hexe geschehen?«fragte einer der Kranen an der Tür.

»Das hängt davon ab, wie sie sich zu mei-nem Vorschlag verhält«, knurrte der ver-seuchte Derrill.

»Sag deinem Hanswurst dort, die Beleidi-gung eines Beamten wird mit hohen Geld-strafen geahndet«, sagte Syskal abfällig. »Ersoll mir nur auf Kran unter die Hände kom-men, und ich nehme ihm alles ab, was er inden letzten zehn Jahren verdient hat.«

»Falls du Kran jemals wiedersiehst«, kon-terte Derrill hämisch. »Es hängt alles von dirab.«

»Was willst du?«»Ich brauche deine Unterstützung. Du

sollst Carnuum dazu bewegen, daß er mei-nem Plan zustimmt.«

»Welchem Plan?«Derrill wiederholte sein Vorhaben. Es hat-

te sich im Lauf der vergangenen zwei Tagenicht geändert: zwei Herzöge sollten Kranregieren, Derrill und Carnuum. Gu und dasOrakel wurden »abgeschafft«.

»Wozu brauchst du Carnuum?« fragte Sy-skal. »Mach dich doch zum Alleinherr-scher.«

»Carnuum genießt Ansehen bei der Be-

völkerung«, hielt ihr Derrill entgegen.»Ohne ihn fällt es mir schwerer, Fuß zu fas-sen.«

Ein müdes Lächeln erschien auf SyskalsGesicht.

»Und wenn du Fuß gefaßt hast – was wirddann aus Carnuum?«

»Dann …« Derrill hatte mit der Fragenicht gerechnet. Er brachte nur dieses eineWort hervor.

Syskal winkte verächtlich ab. »Ich verste-he schon«, sagte sie. »Dann mag ihn derTeufel holen. Dein Plan ist so verseucht wiedu selbst. Ich mag nichts damit zu tun ha-ben.«

Derrills gesundes Auge loderte in wildemZorn. Aber seine Stimme war eiskalt und ge-faßt, als er den vier Kranen befahl: »Nehmtsie und seht zu, daß sie sich eines Besserenbesinnt.«

Unbeteiligt, als gehe sie dies alles garnichts an, erkundigte sich Syskal: »Was hastdu vor?«

»Ich werde bekommen, was ich will«, er-klärte der Verseuchte hart. »Es gibt Wege,einen starren Willen zu brechen. Entwederbesinnst du dich anders, wenn der Schmerzdich von innen heraus zerreißt, oder der Her-zog wird weich, wenn er deine Schreiehört!«

»Du willst mich foltern lassen?« frage Sy-skal und lächelte dazu, als halte sie die Ideefür absolut lächerlich.

»Nenne es, wie du willst«, knurrte Derrill.»Nehmt sie …«

»Oh nein, ohne mich«, sagte Syskal gelas-sen.

Sie schien etwas zu schlucken. Im näch-sten Augenblick nahmen ihre Augen einenseltsam starren Glanz an, und dann sank siezu Boden.

*

»Verdammt – was ist das?« schrie Derrill.Einer der Kranen hatte sich über den reg-

losen Körper gebeugt.»Keine Atmung, kein Puls«, sagte er. »Sie

26 Kurt Mahr

ist tot. Vergiftet.«»Holt einen Mediker!« brüllte der Ver-

seuchte.Sie brachten einen Prodheimer-Fenken.

Derrill hatte die Gewohnheit, sich mit Kra-nen zu umgeben. Die Kranen waren dasHerrschervolk des Universums, so pflegte erbei jeder Gelegenheit zu sagen. Mitgliederanderer Völker behandelte er bestenfalls mitHerablassung, schlimmstenfalls mit Verach-tung. Aber es führte kein Weg an der Er-kenntnis vorbei, daß Prodheimer-Fenken inder Heilkunst nicht übertroffen werdenkonnten. Unter all seinem ethnischen Stolzwar der verseuchte Derrill ein Pragmatiker -und alle seine Ärzte trugen einen blauenPelz.

Der Mediker untersuchte die gebrechlicheGestalt der alten Kranin eine Viertelstundelang.

»Sie ist tot«, lautete seine Diagnose. Ermusterte ein kleines Anzeigegerät, das erSyskal auf die Stirn gesetzt hatte.»Selbstmord, vermute ich. Nicht besondersoriginell. Ein ganz gewöhnliches Gift na-mens Meskla …«

»Mich interessiert der Name nicht«, fuhrDerrill ihn an. »Scher dich fort, Mediker.«Als sich die Tür hinter dem Prodheimer-Fen-ken geschlossen hatte, wandte er sich an dieKranen.

»Schafft die Leiche fort«, befahl er.»Wohin?«»Hinaus – irgendwohin, wo niemand sie

sieht.«Und so geschah es, daß Syskal, als sie ei-

ne Stunde später wieder zu sich kam, in un-wirtlichem Gelände zwischen hoch aufra-genden Felswänden lag. Sie rührte sich zu-nächst nicht. Erst als ihr scharfes Gehör sieüberzeugt hatte, daß sich niemand in der Nä-he befand, richtete sie sich vorsichtig auf.

Die Burschen hatten sie nicht allzu sanftfallen lassen. Sie hatte Schmerzen im gan-zen Körper, und der Schädel dröhnte zumErbarmen. Sie würde darüber hinwegkom-men. In dieser vornübergebeugten Gestaltstaken mehr Kraft und Widerstandsfähig-

keit, als ihr zierlicher Bau vermuten ließ.Sie hatte schon immer gewußt, daß es ei-

ne gute Idee war, die kleine Kapsel mit Pa-ramesklanit unter der Mundspeicheldrüse zuverbergen. Eines Tages, hatte sie gedacht,würde sie ihr zustatten kommen. Der Tagwar heute – mehr als dreißig Jahre, nachdemsie sich die Kapsel in den Mund geschobenhatte. Paramesklanit erzeugte dieselbenSymptome wie das tödliche Gift Mesklanit;aber es war von zeitlich begrenzter Wirkungund erlaubte dem Körper, die in die Blut-bahn geratenen Schadstoffe binnen kurzerZeit wieder abzubauen.

Natürlich war sie ein Risiko eingegangen.Der verseuchte Derrill hätte sie einfach zumFenster hinauswerfen lassen können – zwan-zig Meter über dem Boden. Aber von sol-chen Dingen durfte man sich nichtschrecken lassen. Sie hatte gewagt – und ge-wonnen. Sie suchte sich einen Weg durchdas Felsgewirr und kam schließlich an eineStelle, von der aus sie den Gebäudekomplexdes Hauptquartiers der Bruderschaft untersich liegen sah.

Die Kapsel hatte sie nicht nur vor der Fol-ter bewahrt, sie hatte ihr außerdem die Frei-heit eingebracht. Jetzt war es an ihr, zu ent-scheiden, was sie damit anfangen solle.

*

Serigaal selbst weckte die Schlafenden.»Das Licht des Universums selbst steht

mit dir im Bund«, sagte er respektvoll zu At-lan. »Der Luftdruck hat vor zwei Stundenbegonnen zu fallen. Heute nacht gibt esSturm!«

Atlan lächelte ihn an. »Ich hoffe, deineübrigen Nachrichten sind ebenso gut. Wiesteht es mit unserem Einsatztrupp?«

»Sieben Kranen, drei Tarts«, antworteteSerigaal knapp. »Sie warten auf deine An-weisungen.«

»Und der Rest der Mannschaft?«»Es haben sich mehr als fünfhundert Frei-

willige gemeldet. Delbar und Gikra suchendie Fähigsten davon aus.«

Die Roboter von Ursuf 27

Atlan trat an eines der kleinen Fenster undblickte hinaus. Der Tag ging zu Ende. DieOberfläche des Sees war leicht bewegt. Einfrischer Wind bewegte das junge Grün, daszwischen den verkohlten Überresten der nie-dergebrannten Vegetation sproß.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagteer. »Laß mich zu den Freiwilligen spre-chen.«

Sie standen, kauerten und hockten zusam-mengepfercht in einem der größeren Räumeder Pyramide. Die Luft war zum Schneidendick. Der Arkonide machte die Sache kurz.Er schilderte ihnen die Gefahren des Vorha-bens. Er machte ihnen klar, daß sie die Bru-derschaft auf den Fersen haben würden unddaß ihr Schicksal allein davon abhing, wiegut sie es verstanden, sich im Dschungel vorden Häschern zu verbergen. Er hatte gehofft,er könne sie damit einschüchtern. Aber siewaren verzweifelt. Am Ende seiner kurzenAnsprache hatte er immer noch über fünf-hundert Wesen jeglicher Herkunft vor sich,die sich an seinem Unternehmen beteiligenwollten. Er überließ es Delbar und Gikra,dreihundert davon auszusuchen – aufs Gera-tewohl, innerhalb der nächsten Stunde.

Mit den zehn Mitgliedern des Stoßtruppsnahm er sich mehr Zeit. Sie hatten von Seri-gaal in groben Umrissen erfahren, welchessein Plan war. Jetzt weihte er sie in die Ein-zelheiten ein. Zwei Kranen und zwei Tartssollten im Schutz der Dunkelheit auf denSee hinausschwimmen und sich der beidenPatrouillenboote bemächtigen, die dort drau-ßen Wache hielten. Als Waffe erhielt jedeZweiergruppe einen Schocker.

Der Rest des Stoßtrupps hatte sich entlangdes Ufers bis zu jener Stelle vorzuarbeiten,an der die Bruderschaftler die leeren Booteverankert hatten. Es waren so viele Bootewie möglich zu erbeuten. Die Gruppe standunter Pantschus Befehl, und als einer derKranen über diese Anordnung eine abfälligeBemerkung machte, wies ihn Atlan scharfzurecht.

Das Signal für den Beginn beider Aktio-nen wurde durch das Hauptereignis der

kommenden Nacht gegeben. An diesemVorhaben arbeiteten der Arkonide undChaktar, der Ai. An Waffen behielten sie le-diglich einen einzigen Schocker; alles ande-re gaben sie dem Trupp unter PantschusFührung.

Inzwischen war die Nacht hereingebro-chen. Serigaals Vorhersage erwies sich alsrichtig. Der Wind hatte weiterhin aufge-frischt und war zum Sturm geworden. Überdie Berge im Westen schoben sich drohendeWolkenbänke heran.

Es war alles genau so, wie Atlan es habenwollte.

*

Der Sturm fauchte mit wütenden Orgeltö-nen durch die schmale Spalte, die die beidenGebäude voneinander trennten, und ver-schluckte alle anderen Geräusche. Von Zeitzu Zeit platschten schwere Regentropfen aufdie Oberfläche der Pyramidenstufe. Es wet-terleuchtete im Westen.

»Sie kommen«, blinkte der Ai.Atlan gewahrte sie erst eine Viertelminute

später, zwei hochgewachsene Gestalten, diesich seitwärts gegen den Wind stemmtenund das Seeufer entlanggeschritten kamen.Er tippte Chaktar auf die Schulter und deute-te nach unten.

Sie sprangen hinab. Chaktar zog sich inden Hintergrund des Spaltes zurück. Atlanmachte sich an dem Stück Pastiktuch zuschaffen, das er vor dem Eingang der Pyra-mide auf dem Boden ausgebreitet und mitSteinen beschwert hatte. Er entfernte dieSteine und hielt das Tuch mit beiden Hän-den.

Vorne, am Rand der Bucht, erschien einSchatten; dann noch einer. Er ließ das Tuchfahren. Es knatterte im Wind und rauschtedavon. Der Sturm trug es durch die Spaltezwischen den Gebäuden hinaus in Richtungdes Sees.

Der überraschte Aufschrei des Kranenwar im Geheul des Windes kaum zu hören.Das Tuch war dicht an ihm vorbeigesegelt.

28 Kurt Mahr

Er wandte sich um und blickte in den finste-ren Spalt. Atlan sah ihn am Gürtel fingern.Der Lichtblitz einer Stablampe zuckte auf.

Der Schocker gab nur ein harmloses Piep-sen von sich, das im Tosen des Sturmes er-trank. Der Krane tat einen merkwürdig stei-fen Schritt. Die Lampe entfiel seiner Hand.Er sank zu Boden, und nur noch seine Stie-fel ragten hinaus in den grellen Lichtkreisder Heliostrahler.

Sein Begleiter kam heran. Er hatte mit ei-ner Lampe nichts im Sinn. Atlan sah denklobigen Umriß des Thermostrahlers. Einsonnenhelles Energiebündel fauchte knal-lend durch die Spalte. Der Krane wußtenicht, wo sein Ziel war. Er feuerte aufs Ge-ratewohl. Im Widerschein des Energiestrahlserblickte er den Arkoniden, der an der Wandder Pyramide auf dem Boden kauerte. Erschwenkte den Lauf der Waffe; aber Atlankam ihm zuvor. Die winzige Entladung desSchockers fällte den Kranen, als hätte ihnder Blitz getroffen.

Chaktar huschte herbei. Gemeinsam zerr-ten sie die beiden reglosen Gestaltenvollends ins Dunkle. Der Ai richtete einender beiden Kranen an der Mauer des Lager-gebäudes zu sitzender Haltung auf und be-gann, seine monotonen Blinksignale auf ihneinwirken zu lassen. Der Krane war ge-lähmt, aber nicht bewußtlos. Nach kaummehr als einer Minute trat Chaktar zurückund bedeutete Atlan durch eine Geste, daßseine Aufgabe getan sei.

Gerade zur rechten Zeit. Am Gürtel desKranen hatte ein kleiner Empfänger zu quä-ken begonnen: »Patrouille vier, wir seheneuch nicht mehr. Meldet euch!«

»Sag ihm, ihr habt zwischen den Gebäu-den Leichen gefunden«, befahl Atlan.

»Patrouille vier. Wir haben zwischen denGebäuden Leichen gefunden«, sagte derhypnotisierte Krane gehorsam.

»Leichen?« kam die überraschte Gegen-frage. »Wie viele?«

»Wir sind noch am Zählen«, sagte derKrane auf Atlans Anweisung.

»Ihr seid nicht in Gefahr?«

»Nein.«»Ich traue der Sache nicht. Einer von euch

soll zwischen den Gebäuden hervortretenund sich zeigen.«

»Tu, was er sagt«, sagte Atlan mit unter-drückter Stimme. »Dann komm hierher zu-rück.«

Der Krane gehorchte. Er trat hinaus aufdie beleuchtete Fläche und schwenkte dieArme, um sich zu erkennen zu geben. Atlanwußte nicht wo der, der zu ihm sprach, sichbefand. Aber wenn er über ein einigermaßenleistungsfähiges Glas verfügte, mußte er denWinkenden ohne Mühe sehen können.

»Vierzehn Leichen, anscheinend Selbst-mord«, sagte Atlan.

Der Krane übermittelte die Information.»Wir schicken euch ein Fahrzeug, um sie

abzuholen«, kam die Anweisung vom ande-ren Ende.

»Ein großes«, sagte Atlan. »Mit minde-stens fünf Mann Besatzung.«

Der Krane übermittelte auch dies und er-hielt eine bejahende Antwort.

Inzwischen hatte Chaktar die Hypnosedes zweiten Gefangenen ebenfalls abge-schlossen. Die Waffen der beiden Kranenwurden eingesammelt. Atlan eilte zum Ein-gang der Pyramide und gab das verabredeteZeichen. Die Wand teilte sich; die Stufenkamen zum Vorschein. Oben, unter der offe-nen Tür, erschien Serigaal.

»Alles in Ordnung!« rief Atlan zu ihmhinauf. »Ich brauche ein paar Leute, die Lei-chen imitieren und einen Schocker handha-ben können.«

Acht Geschöpfe unterschiedlicher Her-kunft kamen die Treppe herab. Unter ihnenbefand sich Tschang, der Tart. Atlan händig-te ihm einen der erbeuteten Schocker aus.

»Nichts Kräftigeres?« fragte Tschang ab-fällig.

»Wir brauchen eine Gelegenheit zum Ent-kommen, kein Blutbad«, antwortete Atlangrimmig. »Legt euch auf den Boden undspielt tot. Es ist ein Fahrzeug mit wenigstensfünf Bruderschaftlern hierher unterwegs. So-bald sie von Bord gehen, macht ihr sie mit

Die Roboter von Ursuf 29

den Schockern unschädlich.«Ein greller Blitz zerriß die Dunkelheit.

Donner rollte hinterher. Atlan blickte aufden See hinaus. Das Wasser war aufge-wühlt; die Wellen trugen weiße Kappen.

»Nivridid?« rief er in die Dunkelheit hin-auf.

Der Prodheimer-Fenke kam mit seinenBegleitern, zwei Kranen und zwei Tarts, dieTreppe herab. Wortlos schritt er an Atlanvorbei. Am Rand der Bucht ließ er sich insWasser hinab und war einen Atemzug späterverschwunden. Der Rest des Trupps tat esihm nach. Atlan sah ihre Köpfe ein paar Maldurch die Wasseroberfläche stoßen; aber dasspielte jetzt keine Rolle mehr. Der See warso sehr in Bewegung, daß man aus der Ferneauf ein paar zusätzliche Unebenheiten nichtaufmerksam werden würde. Die Schwimmerhatten den Wind im Rücken. Das half ihnen,ihr Ziel schneller zu erreichen.

»Pantschu?«Der Vorgang wiederholte sich. Pantschu

kam an der Spitze seiner Gruppe die Treppeherunter. Auch sie gingen am Ufer derBucht ins Wasser; aber ihr Kurs führte amUfer des Sees entlang. Sie hatten den kürze-ren Weg und konnten sich Zeit lassen.

Atlan wandte sich an die beiden hypnoti-sierten Kranen.

»Von wo aus werden die Heliostrahlerkontrolliert?« wollte er wissen.

»Es gibt eine kleine, automatische Gene-ratorstation, nordwestlich der Laubhütten«,erhielt er zur Antwort.

»Wie steuert ihr eure Fahrzeuge? Gibt esAdressen?«

»Wir haben ein Koordinatenetz über dieGegend gelegt«, bestätigte einer der beiden.»Alle wichtigen Punkte sind mit Adressenversehen, die man den Autopiloten der Fahr-zeuge nennen kann.«

»Ihr kennt die Adresse der Generatorstati-on?«

»Ja.«Der Arkonide wandte sich ab. Von We-

sten her ließ sich ein weiches, rauschendesGeräusch hören. Es kam näher und verwan-

delte sich in ein trommelndes Dröhnen. At-lan blickte in die Höhe. Die Sterne warenverschwunden. Eine niedrige Wolkendeckehing über der Landschaft östlich des Katem-bi-Tals.

Regentropfen fielen ihm ins Gesicht. Siekamen immer dichter und trafen die Hautmit peitschender Wucht. Die Schleusen destropischen Himmels hatten sich geöffnet.Bald waren es nicht mehr einzelne Tropfen,sondern ein ununterbrochener Strom, der ausder Höhe herabschoß – mit solcher Macht,daß der Boden zwischen den Gebäuden bin-nen weniger Augenblicke unter mehrerenZentimetern Wasser stand.

Atlan störte es nicht. In dieser Nacht gingalles so, wie er es wollte.

*

Serigaal war die Treppe herabgekommen.Sie kauerten nebeneinander an der Wand derPyramide. Die Mauer bot ihnen indes wenigSchutz. Die Spalte zwischen den Gebäudenführte von Westen nach Osten, und das wardieselbe Richtung, in der der Sturm den Re-gen trieb. Blitze zuckten in unaufhörlicherFolge durch die Nacht. Donner rollte wieSalven schweren Artilleriefeuers über denSee.

Atlan hatte einen der beiden Kranen nachvorne geschickt, damit er ihm die Ankunftdes Fahrzeugs melde.

»Sind die Freiwilligen bereit?« Er mußteschreien, um sich über das Tosen des Gewit-ters hinweg verständlich zu machen.

»Ohne Ausnahme«, antwortete Serigaal.»Ich rechne mit vier bis sechs Booten«,

rief der Arkonide. »Sie fassen maximal ein-hundert Personen. Die übrigen werden sichanklammern und mitziehen lassen müssen.Schreckt sie das Wetter nicht?«

Serigaal verneinte. »Bis jetzt hat es sichkein einziger anders überlegt.« Er zögerteeinen Augenblick und fügte dann hinzu: »Esist erstaunlich, wie wertvoll die Freiheitnach nur ein paar Tagen Gefangenschaft er-scheint.«

30 Kurt Mahr

Er hatte noch etwas auf dem Herzen. At-lan hörte es seiner Stimme an und verzichte-te darauf, seine letzte Bemerkung zu beant-worten. Schließlich begann der Krane vonneuem.

»Ich würde gern mit euch kommen.«»Warum tust du es nicht?«»Es sähe wie Feigheit aus. Die Bruder-

schaftler werden sich an den Zurückgeblie-benen rächen, wenn sie merken, daß ihnenHunderte von uns entkommen sind.«

»Das werden sie nicht tun«, erklärte derArkonide mit Nachdruck. »Der verseuchteDerrill wird es ihnen verbieten. Der einzigeGrund, warum die Erste Flotte Ursuf nochnicht angegriffen hat, ist die Sorge um dieGefangenen. Sobald die Bruderschaft sichan Unschuldigen vergreift, ist die Schonzeitzu Ende. Derrill weiß das.«

Serigaal dachte eine Zeitlang darübernach.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Ichkomme mit euch.«

Durch wirbelnde Regenschleier sah Atlanden Kranen sich nähern.

»Sie kommen«, meldete er einfach.Serigaal und Atlan stiegen die Treppe hin-

auf. Die beiden Hypnotisierten hatten ihreAnweisungen. Sie standen vorne, wo diehelle Zone begann, und dirigierten das Fahr-zeug mit Handbewegungen. Unten, imdunklen Bereich zwischen den Gebäuden,lagen acht reglose Gestalten. Ein erfahrenerRegisseur hätte die Szene nicht besser vor-bereiten können.

Vorne, am Eingang des Spaltes, erschiendas Fahrzeug. Es war ein großer, schüssel-förmiger Schweber mit einem transparentenAufbau. Als er zur Seite kippte, um sich vor-sichtig in den Spalt hineinzumanövrieren,sah Atlan die Umrisse von sechs Gestalten.Bei allen guten Geistern des Universums –sie würden heute nacht eine Menge Waffenerbeuten!

Er schob sich nach vorne. Der Schweberhatte die Scheinwerfer eingeschaltet. Sie sta-chen durch die regenerfüllte Finsternis underfaßten die reglosen Körper. Die beiden

Kranen waren zurückgewichen, um demFahrzeug nicht im Weg zu sein.

Der Schweber hielt an. Von einem künst-lichen Schwerefeld getragen, hing er dichtüber dem Boden. Luken öffneten sich. DieBesatzung des Fahrzeugs kam zum Vor-schein. Atlan feuerte den ersten Schuß.

»Jetzt!« rief er mit einer Stimme, die mü-helos den rollenden Donner übertönte.

Es war eine Sache von Sekunden. DieBruderschaftler hatten sich zu sicher gefühlt.Hätten sie einen Sicherheitsposten im Innerndes Schwebers zurückgelassen, wäre derÜberfall längst nicht so glatt abgelaufen.

Atlan hastete mit drei Sätzen die Treppehinab.

»Sammelt die Waffen ein«, gellte seinBefehl, »und schafft die Bewußtlosen insGebäude!«

Zwei Minuten später war alles erledigt. Inder Spalte zwischen den beiden Bauwerkenbefanden sich nur noch Atlan, die hypnoti-sierten Kranen und das schwebende Fahr-zeug.

»Steigt ein und wählt die Adresse der Ge-neratorstation«, befahl Atlan.

Die Kranen gehorchten. Er sah ihnen zu,wie sie den Adreßcode eintasteten.

»Sobald ich den Befehl gebe«, sagte er,»fahrt ihr los. Geringe Geschwindigkeit.Fünfzig Meter vor der Generatorstation gehtihr von Bord, ohne das Fahrzeug anzuhalten.Verstanden?«

»Wir haben dich verstanden«, antwortetensie gleichzeitig.

Ein Blitz fuhr auf die Oberfläche des Seesherab und zog krachenden Donner hintersich her. Durch die wehenden Regenschleiernäherte sich eine hochgewachsene Gestalt.Es war Serigaal. Er hielt Atlan die Spreng-kapsel entgegen. Der Arkonide setzte denZünder auf die Zeitdauer, die er sich auf-grund der Angaben, die ihm von den Kranengemacht worden waren, ausgerechnet hatte.Er deponierte die Kapsel in der Mitte desFahrzeugs.

»Fahrt los!« befahl er. »Und sobald ihrausgestiegen seid, vergeßt ihr alles, was sich

Die Roboter von Ursuf 31

hier abgespielt hat.«Der Schweber setzte sich in Bewegung.

Er glitt aus der Spalte hinaus in den erleuch-teten Bereich und wandte sich nach links.Binnen weniger Sekunden war er ver-schwunden.

Atlan drehte sich zu Serigaal um.»Sag den Freiwilligen, es geht in wenigen

Minuten los.«

*

Er stand ganz vorne, in der Dunkelheitunmittelbar am Rand der beleuchteten Flä-che. Zu seinen Füßen schwappte das Wasserder Bucht. Der Regen rann ihm übers Ge-sicht, und er dachte beiläufig, daß er nichtmehr nässer werden würde, wenn er in denSee sprang, um eines der Boote zu errei-chen.

Da zuckte es linker Hand auf. Ein orange-roter Glutball entstand mitten in der Zonegleißender Helligkeit. Die blauweißen He-liostrahler begannen zu flackern und erlo-schen. Aber die Nacht wurde darum nichtdunkler. Der Glutball breitete sich aus. DerDonner einer mächtigen Explosion rolltekrachend durch das Geheul des Sturmes.

Hinter ihm war Bewegung. Die Freiwilli-gen drängten sich in der Spalte zwischenden Gebäuden. Der Glutball sank in sich zu-sammen und wechselte die Farbe. Er wurdezum strahlenden Grün und verschoß feurigeFontänen, die dem strömenden Regen trotz-ten. Auf dem Wasser war Bewegung. Drei… vier … fünf geduckte, schnittige Schattenbahnten sich einen Weg über die aufgewühl-te Oberfläche des Sees, pflügten durchschaumgekrönte Brecher, rüttelten undschüttelten sich, während die tobende Flutmit ihnen spielte.

Das Feuer der Explosion breitete sich aufdem Boden aus und strahlte in grellem Gelb.Eine heftige Sekundärdetonation erzeugteeinen Regen glühender Bruchteile, die wieProjektile davonschossen. Das war der Ge-nerator, registrierte er befriedigt.

Die fünf Boote bogen in die Bucht ein.

Drüben, jenseits der Laubhütten, glomm derBrand in düsterem Rot. Finsternis senktesich über die Szene, nur hier und da nochdurchbrochen von den züngelnden Blitzendes abziehenden Gewitters. Zwei weitereFahrzeuge näherten sich vom See her. Sie-ben Boote insgesamt – die Ausbeute warbesser, als er erwartet hatte.

Die Freiwilligen schoben sich an ihm vor-bei. Sie wateten ins Wasser hinaus, soweites ging, und schnellten sich an Bord derwartenden Fahrzeuge. Wissenschaftler undTechniker – sie waren keine geborenenKämpfer, aber sie besaßen Systematik. Esgab keine panischen Bemühungen, unter al-len Umständen noch einen der vergleichs-weise sicheren Plätze im Innern eines Boo-tes zu ergattern. Wenn sie merkten, daß dasFahrzeug voll beladen war, dann begnügtensie sich damit, sich an die Bordwand zuklammern, und die, die am weitesten hintenwaren, faßten die Schultern, den Gürtel oderauch die Mähne eines Vordermanns. So bil-dete sich zu beiden Seiten und am Heck je-des Boots eine Traube aus Wesen, die weiternichts im Sinn hatten, als der Gefangen-schaft zu entkommen – koste es, was es wol-le.

Atlan selbst gehörte einer solchen Traubean. Er war als letzter ins Wasser gegangen.Das Feuer drüben in der Nähe der Genera-torstation war erloschen. Der Sturm triebnach Nordosten davon. Der Lichtfinger einerLampe zuckte kurz über die Bucht undschoß in die Spalte zwischen den Gebäudenhinein. Niemand war mehr dort. Das war dasSignal. Die Boote setzten sich in Bewegung.

Es war keine bequeme Fahrt. Der Sturmzog ab, aber es würde noch Stunden dauern,bis die Seeoberfläche sich beruhigte. DieBoote mußten möglichst hohe Geschwindig-keit vorlegen; denn für immer würde dieVerwirrung unter den Bruderschaftlern nichtwähren. Unter den Geschöpfen, die zu Trau-ben geballt von den Bordwänden hingen,war manch eines, das in diesen zwanzig Mi-nuten mehr Wasser schluckte als sonst in ei-ner ganzen Woche.

32 Kurt Mahr

Sie landeten am Ostufer; aber Atlan ord-nete an, daß die Boote sofort umgedreht undmit Südwestkurs wieder aufs Wasser hinaus-geschickt würden. Leer selbstverständlich.Falls die Geheimbündler Ortergeräte benutz-ten, um ihre verschwundenen Fahrzeugeaufzuspüren, sollten sie sich den Kopf dar-über zerbrechen müssen, an welcher Stelledie Fliehenden an Land gegangen waren.

Die vier Kranen, die Nivridids Gruppebeim Kapern der Wachboote in die Händegefallen waren, wurden bewußtlos am Seeu-fer deponiert. Sie würden in vier bis fünfStunden zu sich kommen und um Hilfe ru-fen. Aber bis dahin wußte die Bruderschaftohnehin schon, welche Richtung der Truppder Flüchtlinge eingeschlagen hatte.

Im Osten rötete sich der Himmel. DerSonnenaufgang lag nur noch eine Stundeentfernt. Atlan hatte Serigaal unter den trie-fenden Gestalten gefunden.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte erernst.

Der Krane starrte ihn verständnislos an.Die Umstehenden horchten auf und drängtennäher.

»Du kommst nicht mit uns?« fragte Seri-gaal.

»Nimm zweihundert aus dieser Schar undmarschiere mit ihnen in die Richtung, in derwir das nächste Gefangenenlager vermu-ten«, trug der Arkonide ihm auf. »Beeilteuch, damit ihr so bald wie möglich bergigesGelände erreicht. Im übrigen hinterläßt zu-nächst eine möglichst deutliche Spur.«

»Und du? Und die anderen hundert?«stieß Serigaal hervor.

»Wir haben ein anderes Ziel«, antworteteAtlan ausweichend. »Eure Spur dient dazu,die Bruderschaft von uns abzulenken. Siesoll nicht wissen, daß wir uns hier getrennthaben.«

»Das … das war von allem Anfang andein Plan!« stammelte der Krane. »Warumhast du nicht darüber gesprochen?«

»Es bestand bis zu diesem Augenblick dieMöglichkeit, daß der eine oder andere vonuns dem Gegner in die Hände fiel. Mein

Plan mußte geheim bleiben.«»Wohin … ich meine … was hast du

vor?«Der Arkonide lächelte. »Man darf die

Vorsicht auch jetzt noch nicht außer achtlassen«, sagte er. »Was du nicht weißt,kannst du nicht verraten.«

»Verraten? Ich bin kein Verräter!«»Die Bruderschaft besitzt Mittel, selbst

den Aufrechtesten zum Verräter zu ma-chen.«

Eine Gestalt drängte sich durch die Men-ge. Über dem Kragen der durchnäßten Mon-tur schimmerten silberne Schuppen.

»Ich habe alles gehört«, sagte Tschangvoller Erregung. »Ich komme mit dir, At-lan.«

Atlan musterte ihn ernst. Dann nickte er.»Ich hatte nichts anderes erwartet. Gut,

mach dich nützlich. Such Nivridid, Chaktarund Pantschu sowie die zehn Mitglieder desStoßtrupps zusammen. Dazu noch neunzig,die sich vor einem gefährlichen Unterneh-men nicht fürchten. Beeil dich! Bevor dieSonne aufgeht, wollen wir unterwegs sein.«

5.

Wenn der verseuchte Derrill sich von denMühen seines Amtes erholen wollte, zog ersich in seine Privatgemächer zurück, die ermit einer Schar junger Kraninnen teilte. Un-ter der Hand, wenn der Verseuchte sich insicherer Entfernung befand, sprach man inden Kreisen seiner engsten Mitarbeiter von»Derrills Harem«.

Der durchschnittliche Bruderschaftler hat-te keine Ahnung von Derrills privaten Nei-gungen. Es ziemte sich nicht für den Anfüh-rer einer so mächtigen Organisation, füreinen zukünftigen Herzog von Krandhor, ge-gen die Gebote kranischer Moral zu versto-ßen. Derrill verstand das und machte den»Harem« zu einem streng gehüteten Ge-heimnis.

Es ging auf Mittag, als Derrill in seinemIdyll gestört wurde. Der Türsummer meldetesich mit herrischem Ton. Ein paar junge

Die Roboter von Ursuf 33

Kraninnen stoben in wilder Flucht von derSeite des Verseuchten und verschwanden inabseits gelegenen Räumen. Die Tür öffnetesich. Nilgord trat ein. Er bewegte sich ge-duckt, als fürchte er sich vor Schlägen. Derverseuchte Derrill richtete sich auf seinemLager in die Höhe.

»Du hast hoffentlich eine brauchbare Er-klärung, warum du mich mitten in der Ruhe-pause störst«, sagte er scharf.

»Die brauchbarste«, versicherte Nilgordeifrig. »Es hat ein Unglück gegeben. Ausder Station Ngetu sind etliche hundert Ge-fangene geflohen.«

»Was?« Derrill sprang auf. »Wie konntedas geschehen?«

»Niemand weiß es«, klagte Nilgord. »Esgab eine fürchterliche Explosion. Die Helio-strahler fielen aus. Ein paar Boote wurdengestohlen, und die Gefangenen entkamen imSchutz der Dunkelheit.«

»Es ist also nicht eben erst geschehen?«fragte Derrill mit gefährlich ruhiger Stimme.

»Nein. In der vergangenen Nacht.«»Warum erfahre ich erst jetzt davon?«»Der Anführer der Wachtruppen wollte

sich erst einen Überblick verschaffen, bevorer den Vorfall meldete.«

»Also gut. Wie sieht sein Überblick aus?«»Es ist den Gefangenen offenbar gelun-

gen, eines unserer Fahrzeuge in eine Falle zulocken«, berichtete Nilgord. »Die Besatzungdes Fahrzeugs, fünf Kranen, wurde unschäd-lich gemacht und eingesperrt. Das Fahrzeugselbst stattete man mit einer Bombe aus undbrachte es dann auf Kurs in Richtung derGeneratorenstation, die die Heliostrahler mitLeistung versorgte. Inzwischen waren einigevon den Gefangenen offenbar auf den Seehinausgeschwommen …«

»Nicht soviel Einzelheiten!« fuhr Derrillihn an. »In welche Richtung haben die Ent-flohenen sich gewandt?«

»Vom anderen Ende des Sees aus nachNordosten, ihr Ziel ist wahrscheinlich dasGefangenenlager in der Nähe des Ferti-gungskomplexes Swahigor.«

»Warum das?«

»Um dort ebenfalls Gefangene zu befrei-en und eine umfangreiche Streitmacht zubilden.«

»Man ist den Entflohenen auf der Spur?«erkundigte sich der verseuchte Derrill dro-hend.

»Man hat versucht, sie aufzuspüren. Abersie haben sich in den Bergen im Osten ein-genistet und sind vorerst nicht zu finden.«

Derrill ging ein paar hinkende Schritte aufund ab. Er war nicht mehr als notdürftig be-kleidet, aber das änderte nichts an dem Re-spekt und der Furcht, die Nilgord empfand.

»Man soll sie in Ruhe lassen«, knurrte derVerseuchte. »Wenn sie wirklich auf demWeg nach Swahigor sind, fängt man sie ameinfachsten, indem man dort die Wachsam-keit erhöht. Es sind nicht alle entkommen?«

»Nein, nur dreihundert, schätzt man.«Derrills gesundes Auge schien Nilgord

mit seinem Blick durchbohren zu wollen.»Man hat nicht etwa Repressalien gegen

die Zurückgebliebenen angewandt?«»Nein. Immerhin befinden sich fünf der

Unsrigen in ihrer Hand. Aber der Befehlsha-ber der Wachtruppen läßt anfragen …«

»Nichts soll er tun!« explodierte Derrill.»In Ruhe soll er sie lassen! Sie mögen diefünf Gefangenen behalten oder herausgeben,wie es ihnen beliebt. Warum waren die Ker-le auch so dumm, sich fangen zu lassen!Aber den Geiseln darf nichts geschehen. Wirhätten sonst im Handumdrehen die ErsteFlotte auf dem Hals.«

Völlig unmotiviert wechselte er das The-ma.

»Wann können wir anfangen, Kran mitMüll zu bombardieren?« fragte er.

»In zwei Tagen.«»Gut«, stieß er keuchend hervor. »Es wird

Zeit, daß wir Ernst machen.«Er machte eine herrische Geste. Nilgord –

froh, so leichten Kaufs davongekommen zusein – schob sich geräuschlos durch die Tür-öffnung, um dem Befehlshaber der Wach-truppen in Ngetu die Befehle des Anführerszu übermitteln.

Der verseuchte Derrill schritt indes unru-

34 Kurt Mahr

hig in seinem Gemach auf und ab. Die jun-gen Kraninnen, die eine nach der andernwieder aus ihren abgelegenen Zimmern her-vorkamen, scheuchte er mit unfreundlichenWorten davon. Es war ihm nicht nach Zer-streuung zumute. Er fühlte sich bedroht. Wiehatten waffenlose Wissenschaftler undTechniker ein solches Komplott zustandegebracht?

Sie mußten Unterstützung bekommen ha-ben – Hilfe von außen! Es gab keine andereErklärung. Der Gegner hatte sich heimlichauf Ursuf eingeschlichen! Der Alarm fielihm wieder ein, den die Kontrollstationenvor drei Tagen auf dem Gelände der Abfall-verwertungsanlage ausgelöst hatte.

*

Es war spät am Nachmittag, als sie denFuß der Bergkette erreichten, die die östli-che Begrenzung des Katembi-Tals bildete.Atlan hatte ihnen keine Rast gegönnt. Stun-denlang hatten sie sich in brütender Hitzedurch den Dschungel geschlagen, waren ge-wundenen Tälern gefolgt, die sich durch diehügelige Landschaft schlängelten, hattenFlüsse überquert und waren mitten in derBewegung erstarrt, wenn Atlan den entspre-chenden Befehl gab, weil er hoch im Blaudes Himmels den glitzernden Punkt einesfeindlichen Aufklärers gesehen hatte.

Fragen nach dem Ziel wurden seltener, jemehr Stunden verstrichen. Der Arkonide gabkeine Auskunft; aber je weiter sie vordran-gen, desto klarer wurde, daß es in dieserRichtung nur ein Objekt gab, das soviel Mü-he wert war: das Hauptquartier der Bruder-schaft, drüben auf der anderen Seite der Ber-ge.

Gegen Sonnenuntergang gelangten sie ineinen von hohen Felswänden umschlosse-nen, teilweise bewaldeten Talkessel. Hierendlich ließ Atlan anhalten. Sie lagerten un-ter den Bäumen, am Ufer eines frischen, kla-ren Baches. Viele waren zu müde, um mehrals ihren Durst zu stillen. Nachdem sie ausdem Bach getrunken hatten, warfen sie sich

zu Boden und waren Augenblicke spätereingeschlafen. Atlan und seine Gefährtenhatten sich ein Plätzchen ein paar DutzendMeter bachaufwärts gesucht. Der Arkonidewar mit dem bisherigen Verlauf des Unter-nehmens zufrieden. Die Zahl der Aufklärer,die über dem Gelände kreuzten, war nichtgrößer als an vergangenen Tagen. Das deu-tete darauf hin, daß man im Hauptquartierder Bruderschaft von dem Vorstoß der ein-hundert Freiwilligen keine Ahnung hatte.Am späten Vormittag hatte er von einer Hü-gelkuppe aus beträchtliche Aktivität am öst-lichen Seeufer beobachtet. Die Spuren, dieSerigaal mit seinem Gefolge hinterlassenhatte, waren gefunden worden. Es hatte je-doch keine Anzeichen dafür gegeben, daßdie Geheimbündler die Fliehenden verfolg-ten. Atlan war zunächst verwundert, bis ihmdie einzig plausible Erklärung einfiel. Ausder Richtung, die Serigaal eingeschlagenhatte, ließ sich ablesen, daß sein Ziel dieFertigungsanlage Swahigor war, in derenNähe er ein weiteres Gefangenenlager ver-mutete. Anstatt die Fliehenden in unüber-sichtlichem Gelände zu verfolgen, hatte mansich entschlossen, in Swahigor auf ihre An-kunft zu warten. Das sparte Energie, undman war dennoch des Erfolges gewisser, alswenn man den Gegner durch dicht bewalde-tes Bergland gejagt hätte.

Der Arkonide kaute an einem flachen Rie-gel Konzentratnahrung, deren salziger,durchdringender Geschmack niemand je aufdie Idee hätte kommen lassen, daß die Kra-nen ausgesprochene Feinschmecker warenund die Einnahme einer Mahlzeit fast wieein religiöses Ritual zelebrierten, als die Ge-stalt eines Tarts unter den Bäumen hervor-trat. Tschang blieb stehen, als der Arkonidezu ihm aufsah.

»Du hast vor, das Hauptquartier der Bru-derschaft zu überfallen.« Seine Stimme warruhig und enthielt nur die Andeutung einesVorwurfs. »Das ist dein Ziel. Gib es zu!«

»Ich gebe es zu«, antwortete Atlan gelas-sen.

»Du selbst hast uns gesagt, daß der ver-

Die Roboter von Ursuf 35

seuchte Derrill von mehr als tausend Kämp-fern umgeben ist«, fuhr Tschang fort. »Unterdiesen Umständen ist dein Vorhaben weiternichts als eine Selbstmordmission.«

»Serigaal hat das ganze Projekt von An-fang an als Selbstmordunternehmen bezeich-net«, sagte der Arkonide. »Bis jetzt ist nochkein einziger von uns zu Schaden gekom-men.«

»Niemand hätte sich für diese Aufgabefreiwillig gemeldet, wenn er gewußt hätte,daß dein Ziel das Hauptquartier ist«, erklärteTschang.

»Ich habe nach Freiwilligen verlangt, diedie Gefahr nicht scheuen und sich vor demTod nicht fürchten«, antwortete Atlan hart.»Unter diesen Umständen kann ich nichteinsehen, was das Ziel für eine Rolle spielt.«

»Sich vor dem Tod nicht fürchten undsich an einem Unternehmen beteiligen, dasmit Sicherheit den Tod und den Mißerfolgeinbringt, sind zwei verschiedene Dinge!«sagte Tschang.

»Glaubst du wirklich, ich halte mein Le-ben für so wertlos, daß ich es wegwerfe?«fragte der Arkonide. »So hoffnungslos, wiedu ihn siehst, ist mein Plan nicht.«

»Dann erkläre uns, was du vorhast!« ver-langte der Tart. »Setz uns deinen Plan aus-einander, damit wir selbst entscheiden kön-nen, ob wir mit dir kämpfen wollen odernicht.«

Atlan stand auf. Er war um ein paar Fin-gerbreit kleiner als der Tart; aber seine Mie-ne strahlte Entschlossenheit aus, und in denroten Augen glomm das Feuer des Zorns.

»Ich möchte wissen, wer ausgerechnetdich zum Sprecher der Allgemeinheit er-nannt hat«, fuhr er den Tart an. »Die Bruder-schaft ist ein übles Geschwür, das geschnit-ten und unschädlich gemacht werden muß.Ich habe einen Plan, der dieses Ziel errei-chen wird. Je weniger unter uns davon wis-sen, desto leichter läßt sich verhindern, daßder Gegner vorzeitig davon erfährt. MeinPlan wird offenbart, sobald es notwendig ist,und keine Sekunde früher. Auf keinen Fallwerde ich ihn enthüllen, um den Egoismus

eines Wesens zu befriedigen, das sich fürwichtiger hält, als es in Wirklichkeit ist.«

Unter seinem drohenden Blick war derTart einen Schritt zurückgewichen.

»Ist das dein letztes Wort?«»Nein! Ich habe noch eines, das du dir

einprägen solltest. Wenn du versuchst, unterden Freiwilligen Unruhe zu stiften, lasse ichdich erschießen.«

*

Pantschu, der Fährtenfinder, schlich demTart nach, als er sich entfernte. Atlan wandtesich an Nivridid.

»Was empfindest du?« fragte er.Der Prodheimer-Fenke machte eine Ge-

bärde der Ungewißheit. »Die Signale sindundeutlich«, sagte er. »Tschang ist zornig.Er hat, wie du sagst, eine übertriebene An-sicht von seiner Bedeutung. Aber da ist nochetwas. Eine weniger emotionelle, eher ratio-nale Regung. Ich kann sie nicht erkennen. Er… er führt etwas im Schild, soviel stehtfest.«

»Laß ihn nicht aus den Augen!« trug At-lan ihm auf.

Wenige Minuten später kehrte der Xild-schuk zurück.

»Er hat sich hingelegt, ohne mit jemandzu sprechen«, meldete er.

Chaktar begann zu blinken. »Ich könnteihn unter Hypnose setzen«, besagten seineSignale.

Atlan wehrte ab. »Das läßt sich nicht ma-chen, ohne daß die anderen davon erfahren.Das letzte, was wir brauchen, ist Unruhe undMißtrauen unter den Leuten.«

Er schlief fest und traumlos. Eine Stundevor Sonnenaufgang weckte ihn Pantschu wievereinbart. Noch bevor die Sonne hinter denBergen erschien, war der Trupp der Freiwil-ligen wieder unterwegs.

In Wirklichkeit war Atlan seiner Sacheweitaus weniger sicher, als er sich Tschanggegenüber den Eindruck gegeben hatte. SeinPlan war keineswegs fest umrissen. Er wuß-te nicht, wie er das Problem lösen würde,

36 Kurt Mahr

mit einhundert untrainierten Freiwilligen ge-gen fünfzehnhundert kampferprobte Bruder-schaftler vorzugehen. Die Ausbeute, die erin der Ngetu-Station erzielt hatte, war gerin-ger als erwartet. Seine Truppe war miserabelbewaffnet – nur jeder fünfte besaß entwedereinen Strahler oder einen Schocker. Zudemmußte er damit rechnen, daß der Tart nichtsunversucht lassen würde, Unruhe zu stiften.Er befand sich in einer recht hoffnungslosenLage. Die Rekognoszierung an Ort und Stel-le mußte ergeben, wie er vorzugehen hatte.Irgendwo im Hintergrund seines Bewußt-seins schwebte die Vorstellung, daß die Ab-fallverwertungsanlage in seine Pläne einbe-zogen werden könne. Es war ein vager Ein-druck, der sich nicht zu einem konkretenGedanken formulieren ließ. Er mußte weiterdarüber nachdenken und auf einen Einfallwarten.

Gegen Mittag überschritten sie die Was-serscheide. Durch einen Paßeinschnitt war-fen sie den ersten Blick hinab ins Katembi-Tal. Sie hatten Proviant noch für diesen Tag.Zwölf Stunden lang konnten sie hungern;aber spätestens übermorgen um diese Zeitmußten sie das Hauptquartier der Bruder-schaft eingenommen haben. Der Gedankeerfüllte Atlan mit Unbehagen. Er war einFeldherr, der seine Schiffe hinter sich ver-brannt hatte.

Später marschierten sie durch eine felsige,vegetationslose Schlucht. Die brütende Hit-ze des Nachmittags hatte sich im Gestein ge-fangen und hielt sie erbarmungslos in ihremBann. Atlan verlangsamte den Schritt, nach-dem er sich mit den Gefährten verständigthatte, und fiel zurück, bis er sich am Endedes Zuges befand. Falls jemand schlappmachte, würde er ihm wieder auf die Beinehelfen.

Die Qual war glücklicherweise von be-grenzter Dauer. Von vorne kam lautes, freu-diges Geschrei, als die Schlucht sich öffneteund in ein dicht bewachsenes Tal mündete.Müde Gestalten kamen plötzlich in Bewe-gung und verfielen in einen Trott, um dermörderischen Hitze zu entrinnen und mög-

lichst rasch die schattige Kühle zu erreichen.Das war der Augenblick, in dem Atlan hocham wolkenlosen Himmel den Aufklärer auf-tauchen sah.

»Steht!« donnerte sein Befehl dieSchlucht entlang.

Aber vorne, wo vor Begeisterung undFreude geschrieen wurde, hörten sie ihnnicht. Sein Befehl wurde weitergegeben. Esvergingen mehrere Sekunden, bis auch derletzte ihn gehört hatte. Die Spitze des Zugeswar nur noch ein paar Dutzend Meter vomschützenden Grün des Tales entfernt. Atlanwußte, was er von seinen Freiwilligen ver-langte. Es kostete fast übermenschliche An-strengung, sich auf den letzten Metern deskochenden heißen Gesteins zu Boden zuwerfen, wenn nur ein paar Schritte entferntkühler Schatten winkte.

Atlan preßte sich so eng wie möglich andie schützende Felswand, während er mitstarrem Blick die Bewegung des Aufklärersverfolgte. Das Fahrzeug flog nach seinerSchätzung in fünftausend Metern Höhe, einegefährliche Distanz, wenn der Beobachteraufmerksam war und über eine wirksameOptik verfügte.

Sekunden verstrichen und reihten sich zuMinuten. Mit quälender Langsamkeit sch-lich sich der silberne Reflex durch dasBlickfeld. Würde er weiterziehen – oderplötzlich abkippen und in die Tiefe stürzen,um sich die verdächtige Szene aus der Nähezu betrachten?

Ein kleiner Stein kam die Felswand her-abgekollert, und dann noch einer. Atlan sahflüchtig an der Wand in die Höhe, dann fi-xierte er den Blick wieder auf den glitzern-den Punkt des Fahrzeugs. Es näherte sichdem Rand der Schlucht, der die Sicht be-grenzte – ein kurzes Zögern, das den Schlagdes Herzens stocken ließ! – und ver-schwand.

Atlan atmete auf. Er löste den schweiß-verklebten Rücken von der heißen Felswandund blieb in vornübergebeugter Haltungnoch ein paar Minuten lang sitzen, mit auf-merksamem Blick den Himmel absuchend,

Die Roboter von Ursuf 37

bis er sicher war, daß der Aufklärer nicht zu-rückkehren würde.

»Weitermachen!« schallte seine Stimmedie Schlucht hinab.

Sie standen auf und trotteten hinaus in dasschattige Tal. Die meisten ließen sich ein-fach fallen, sobald sie ein kühles Plätzchengefunden hatten; aber ein paar Wesen mitüberschüssiger Energie drangen in denDschungel ein und suchten nach der Quelle,die die üppige Vegetation speiste. Begeister-te Schreie und lautes Platschen lieferte kurzeZeit später den Hinweis, daß ihre Mühenicht umsonst gewesen war.

Atlan machte keine Anstalten, dieSchlucht zu verlassen. Den drei Gefährten,die sich besorgt nach ihm umsahen, winkteer beruhigend zu. Als sie außer Sicht waren,trat er ein paar Schritte zur Seite und blicktedie Felswand hinauf, von der die beidenSteine herabgerollt waren.

»Wer ist dort oben?« fragte er.Unter den Felsblöcken, die den Rand der

Schlucht säumten, entstand Bewegung. Einezierliche, vornübergebeugte Gestalt erschi-en. Bei ihrem Anblick war es selbst demkühlen Denker Atlan unmöglich, seineÜberraschung zu meistern.

»Syskal!« stieß er hervor.

*

»Was ist das für ein Haufen von Schlapp-schwänzen, mit dem du da durch die Gegendziehst?« fragte sie.

Sie kannte sich in der Bergwildnis aus.Fünfzig Meter weiter schluchtaufwärts gabes einen schmalen Felssteig, der von der Hö-he herabführte. Dort war sie heruntergekom-men. Sie wirkte abgespannt und übernäch-tigt; die Augen saßen tief in den Höhlen undleuchteten in merkwürdigem Glanz. Sie hat-te keinen Durst zu leiden brauchen, aberhungrig war sie. Atlan gab ihr seinen letztenRiegel Konzentratnahrung.

»Wissenschaftler und Techniker von derNgetu-Station«, beantwortete er ihre Frage.»Das beste, was wir finden konnten.«

»Wenn du mit ihnen das Hauptquartierder Bruderschaft überfallen willst, dann gna-de dir das Licht des Universums«, sagte Sys-kal.

»Die Besatzung ist zu stark?«»Das ist nicht das Hauptproblem.« Ihre

verneinde Geste besaß Nachdruck. »Der An-führer allein nimmt es mit deiner ganzenBande auf.«

»Derrill?« fragte der Arkonide überrascht.»Ja, der verseuchte Derrill. Ich habe einen

Tag und eine Nacht Zeit gehabt, darübernachzudenken, woher ich den Kerl kenne.Der Name Derrill ist uns schon seit gerau-mer Zeit bekannt. Ich versuchte, mich daranzu erinnern, wie wir ihn in Erfahrung ge-bracht hatten. Aber damit war ich auf derfalschen Spur. Die Erinnerung, die ich such-te, reichte viel weiter zurück – bis zu einerZeit, als Derrill sich noch Khutyr nannte undeiner der gefährlichsten Bandenführer im al-ten Kernbezirk der Nordstadt war. Wir wa-ren ihm ein paar Mal dicht auf den Fersen.Das muß ihm auf die Dauer zu ungemütlichgeworden sein. Er verschwand von der Bild-fläche und tauchte erst Jahre später, unterseinem jetzigen Namen, in Couhrs-Yot auf,um sich an der Lugosiade zu beteiligen. Nie-mand ahnte, daß Derrill und Khutyr ein unddieselbe Person waren – bis jetzt.«

»Du bist deiner Sache sicher?«»Absolut. Sein hinkender Gang brachte

mich darauf. Jedermann glaubt, daß das Hin-ken ebenso wie die Entstellung des Gesichtsvon dem Giftunfall herrühren, bei dem Der-rill vor ein paar Jahren fast ums leben ge-kommen wäre. Aber das Bein haben ihm inWirklichkeit meine Schutzgardisten zer-schossen – damals, als wir fast daran waren,dem roten Khutyr endgültig das Handwerkzu legen.«

Der Arkonide schwieg. Ein vager Gedan-ke hatte im Hintergrund seines Bewußtseinszu rumoren begonnen.

»Ich nehme an, Khutyr wird nach wie vorgesucht«, sagte er.

»Nicht aktiv«, antwortete Syskal. »Aberer steht noch auf den Fahndungslisten.« Ihre

38 Kurt Mahr

Miene nahm einen grimmigen Ausdruck an.»Beim Licht von Kran – er hat jahrelang ge-wütet wie eine Bestie. Keine Zivilisationkann es sich leisten, ein solches Ungeheuerzu vergessen.«

»Man müßte Kran darüber informieren«,sagte Atlan nachdenklich. War das der hart-näckige Gedanke? »Wenn bekannt wird, daßder Anführer der Bruderschaft der rote Khu-tyr ist, verliert der Bund alle noch verblei-bende Sympathie.«

»Richtig«, stimmte Syskal zu. »Aber wiemacht man das? Sämtliche Kommunikati-onsmittel befinden sich in den Händen derBruderschaft.«

»Gibt es einen Weg, unbemerkt insHauptquartier zu gelangen?« erkundigte sichder Arkonide.

»Ich kenne mich nicht besonders gut aus.Die ganze Zeit über war ich in einer Fluchtfensterloser Räume. Zweimal wurde ichDerrill vorgeführt. Beim zweiten Malschluckte ich die Paramesklanit-Kapsel. Ichnehme an, man könnte es versuchen. Dannginge es darum, die Funkstation zu finden.Und dann, sich unbemerkt wieder zu verzie-hen.« Sie sah Atlan zweifelnd an. »Eineziemlich umfangreiche Bestellung, wie? Ichglaube nicht, daß du das alles habenkannst.«

*

Syskals Ankunft erregte unter den Frei-willigen etliches Aufsehen. Die Befehlsha-berin der Schutzgarde war eine Figur des öf-fentlichen Lebens; es gab niemand, der sienicht auf Anhieb erkannt hätte. Syskal schil-derte ihre Erlebnisse im Hauptquartier derBruderschaft. Sie besaß Umsicht genug, Äu-ßerungen zu vermeiden, die ihren Zuhörernden Mut genommen hätten. Während ihresBerichts benutzte Atlan die Gelegenheit,Tschang zu beobachten. Der Tart ließ sichnicht anmerken, was in seinem Bewußtseinvorging. Nivridid, dem der Arkonide einenfragenden Blick zuwarf, machte die Gesteder Ungewißheit.

Es drängte Atlan, die Umgebung desHauptquartiers zu rekognoszieren. Es wareine innere Unruhe in ihm, die ihm einzure-den versuchte, daß die Entscheidung näherwar, als er bisher geglaubt hatte. Syskal er-klärte, sie kenne eine Stelle, von der aus sichdas Gelände am Ostrand des Tals mühe- undgefahrlos überblicken lasse. Die Sonne warinzwischen untergegangen.

»Das nützt uns im Augenblick nichts«,sagte Atlan. »Ich brauche Tageslicht, um al-le Einzelheiten erkennen zu können.«

»Sei unbesorgt«, erwiderte Syskal. »Derverseuchte Derrill hat die Angewohnheit, dieUmgebung seines Hauptquartiers so hell be-strahlen zu lassen, daß du nachts ebenso gutsehen kannst wie bei Tage.« Sie lächelte einwenig und fügte amüsiert hinzu:»Wahrscheinlich fühlt er sich seiner Hautnicht allzu sicher.«

Es wurde vereinbart, daß Chaktar bei denFreiwilligen zurückblieb, während Pantschuund Nivridid Atlan und die Kranin begleite-ten. Die Anwesenheit des Xildschuk war At-lan besonders wichtig; denn Pantschu besaßdie Fähigkeit, brauchbare Pfade an den un-scheinbarsten Einzelheiten des Geländes zuerkennen.

Der Weg führte durch eine felsige Einöde,in der die Hitze des Tages noch hing. Insge-heim bewunderte Atlan die alte Kranin, dertrotz der Entbehrungen der vergangenen Ta-ge die Strapazen nichts auszumachen schie-nen. Syskal bestimmte das Tempo desnächtlichen Marsches. Sie war allen voranund turnte mit der Geschicklichkeit einesjungen Athleten selbst über das klobigsteHindernis. Schließlich geriet Pantschu mitseinen kurzen Stummelbeinen außer Atem,und es mußte seinetwegen langsamer vorge-gangen werden.

Syskal hatte nicht zuviel versprochen.Nach mehr als einstündiger Wanderung er-reichten sie den Rand einer Felsenbucht, diemehrere hundert Meter tief zur Sohle desTales hin abstürzte. Drunten, zum Teil vonden Wänden der Bucht umrahmt, zum Teilin die Talebene hinausgeschoben, erhoben

Die Roboter von Ursuf 39

sich fünf hell erleuchtete Gebäude, Pyrami-den einer Bauform, die seit mehr als acht-hundert Jahren nicht mehr zeitgemäß war –Denkmäler aus den Anfängen des krani-schen Raumfahrtzeitalters.

Die Helligkeit stammte von Heliostrah-lern, die in weitem Kreis um den Gebäude-komplex schwebten. Sie bildeten einenRing, der sich in langsam drehender Bewe-gung befand. Atlan schätzte die Höhe derStrahler auf achtzig Meter. Sie waren nachoben hin abgeschirmt, so daß der obere Teilder Bucht sich im Schatten befand. Die Soh-le der Bucht war, wie der Rest des Tales, mitdichter Vegetation bedeckt. Um die Gebäu-de herum waren jedoch Lichtungen geschla-gen worden. Wer sich einer der Pyramidennähern wollte, der hatte eine freie,deckungslose Grasfläche von mindestensdreißig Metern Breite zu überbrücken. Atlanbeobachtete die langsam kreisenden Helio-strahler und versuchte, sich eine Konstellati-on auszurechnen, bei der auf den LichtungenSchatten entstand.

Eines der beiden Bauwerke, die der senk-recht aufragenden Felswand der Bucht amnächsten lagen, war eine vergleichsweiseflache Pyramide mit großflächigem Grund-riß. Die oberste Pyramidenstufe bildete einQuadrat von mehr als dreißig Metern Kan-tenlänge. Auf dieser Fläche erhoben sichmehrere Gebilde von eigenartiger, unver-kennbarer Formgebung: Antennen.

»Die Funkstation hätten wir also gefun-den«, murmelte der Arkonide. »Wenn wirjetzt noch unsere Raummonturen hätten, wä-re es eine Kleinigkeit, auf dem Dach dort zulanden.«

Vor zwei oder drei Stunden noch wäreihm der Gedanke brauchbar erschienen. DieSchutzanzüge lagen ein paar Dutzend Kilo-meter nördlich von hier im Gestrüpp ver-steckt. Anderthalb Tagesmärsche vielleicht,hin und zurück. Inzwischen aber war er ge-wiß, daß er soviel Zeit nicht mehr hatte. Siewürden versuchen müssen, das Problem aufdie schwierigste Art und Weise zu lösen.Woher ihm diese Gewißheit kam, konnte er

nicht sagen; aber sie war da, und er zweifel-te nicht, daß er sich nach ihr zu richten hatte.

»Ein Spalt«, sagte Pantschu. »Schmal,aber begehbar. Er beginnt dort drüben.« Erdeutete in die Dunkelheit hinaus zum gegen-überliegenden Rand der Bucht. »Gegen dasLicht geschützt. Es wird nicht schwierigsein, dort hinabzukommen.«

»Und wenn wir unten sind – was dann?«fragte Syskal.

Atlan sah von neuem zu den kreisendenStrahlern hinaus. Plötzlich fuhr Nivridid indie Höhe und gab einen halblauten Schreivon sich. Der Arkonide sprang unwillkürlichauf.

»Was ist?« erkundigte er sich besorgt.»Tschang!« stieß der Prodheimer-Fenke

hervor. »Er hat seinen Entschluß gefaßt.«»Welchen Entschluß…«Aus der Tiefe gellte eine Sirene. Eine

zweite fiel ein, eine dritte. An den Seiten derPyramiden öffneten sich die Treppenaufgän-ge. Gestalten erschienen, die in wilder Hastdie Stufen hinabturnten. Schreie gellten bishinauf zu den vier überraschten Beobach-tern.

»Er muß ein Funkgerät bei sich tragen.«Nivridids Stimme klang erschöpft. Die Aus-übung seiner ungewöhnlichen Fähigkeit er-forderte Kräfte, über die der durch einenzweitägigen Dauermarsch ausgemergelteKörper kaum noch zur Verfügung stellenkonnte. »Er hat die Bruderschaft von unse-rem Vorhaben in Kenntnis gesetzt – ich spü-re es deutlich!«

Atlan blickte in die Tiefe. In der Basisdreier Pyramiden hatten sich Tore geöffnet.Schüsselförmige Schweber glitten daraushervor. Die Gestalten, die die Treppen hin-abgeeilt waren, schwangen sich an Bord.Die Schweber schossen in die Höhe und ver-ließen den Lichtkreis der Heliostrahler. Aberan dem summenden Geräusch ihrer Trieb-werke konnte man erkennen, daß sie in östli-cher Richtung davonflogen – über die Fels-barriere hinweg in Richtung des Talkessels,in dem die Freiwilligen lagerten. Atlanzweifelte nicht daran, daß Nivridid die Lage

40 Kurt Mahr

richtig erkannt hatte.Gedanken überstürzten sich. Es gab

nichts, womit er den Freiwilligen hätte hel-fen können. Bedurften sie überhaupt der Hil-fe? Tschang, selber Wissenschaftler, würdeden Geheimbündlern gegenüber angeben,daß sie allesamt von Atlan zu diesem Unter-nehmen gezwungen worden waren. Und derverseuchte Derrill würde, wenn er klug war,sanft mit ihnen umgehen. Der einzige, der inGefahr schwebte, war Chaktar. Würde er diedrohende Gefahr rechtzeitig erkennen undsich aus dem Staub machen? Den Ai sagteman nach, daß sie mitunter Vorahnungenhatten, als besäßen sie einen sechsten Sinnder Präkognition. Würde Chaktar wissen,was auf ihn zukam?

Bei den Pyramiden war es inzwischenwieder still geworden. Der verseuchte Der-rill hatte seine Kämpfer auf den Weg ge-schickt. Siegessicher wartete er auf ihreRückkehr. Tschang würde angegeben haben,daß Atlan mit drei Begleitern das Lager ver-lassen hatte. Die Mehrzahl der Schweber,die vor wenigen Minuten aufgestiegen wa-ren, hatte die Aufgabe, sich um die Scharder Freiwilligen zu kümmern. Aber zumin-dest einer oder zwei sollten nach den Feh-lenden suchen. Für den verseuchten Derrillgab es nichts Wichtigeres, als Atlan in dieHand zu bekommen.

Er fühlte eine Berührung am linken Arm.»Ich weiß, was dir durch den Kopf geht«,

sagte Syskal. »Aber bedenke eines. Dies istder Augenblick, in dem Derrill am wenig-sten damit rechnet, daß wir auf dem Weg insein Hauptquartier sind.«

6.

Der Abstieg war mörderisch. Er mochteeinem Xildschuk genug Halt bieten, aber je-des Wesen von mehr als zwergenhafter Grö-ße kämpfte mit Zehen und Fingerspitzen umjeden Fußbreit des erbärmlich schmalenFelssteigs, der steil wie eine Müllrutsche indie Tiefe führte.

Syskal hatte recht. Wenn es überhaupt je

eine Chance gegeben hatte, unbemerkt insHauptquartier der Bruderschaft einzudrin-gen, dann jetzt, in diesem Augenblick. Derverseuchte Derrill wußte nichts von Nivri-dids besonderer Begabung, und bis Tschangihm davon berichten konnte, verging wenig-stens eine Stunde. Die Bruderschaft würdeAtlan und seinen Begleitern zunächst eineFalle stellen, um sie zu fassen, wenn sie zumLager der Freiwilligen zurückkehrten. Spä-ter, wenn sich herausstellte, daß sie irgend-wie Lunte gerochen haben mußten, würdeman eine großmaßstäbliche Jagd veranstal-ten – in den Bergen, nicht hier unten amRand des Katembi-Tals.

Der Spalt führte eine Strecke weit in dieFelswand hinein. Eine anderthalb Meter ho-he Brüstung bot Schutz gegen das grelleLicht der Heliostrahler. Atlan rutschte aufschütterem Geröll und stieß einen unter-drückten Fluch aus. Wenn nur diese ver-dammte Kletterei schon zu Ende wäre!

Er roch den Duft von Blüten. Über derBrüstung zeichneten sich die Umrisse exoti-scher Palmwedel ab. Endlich! Das Blätter-dach des Waldes schirmte das grelle Lichtvollends ab. In tiefer Finsternis legten sieden Rest des Weges zurück. Von vorne mel-dete Pantschu, die Talsohle sei erreicht.

Der Xildschuk machte auch weiterhin denFührer. Mit untrüglichem Instinkt fand erdie Stellen, an denen der Dschungel den ge-ringsten Widerstand bot. Er schlug sich nachrechts und nach links, wie es der Wuchs desUnterholzes verlangte, und verlor dennochdie Richtung nicht. Als sie den Waldrand er-reichten, befanden sie sich der Pyramide mitden Antennen auf dem Dach unmittelbar ge-genüber.

Atlan warf sich zu Boden und kroch biszum Rand des Schattens. Angespannt spähteer über die Lichtung hinweg – über mehr alsdreißig Meter knöchelhohes Gras, auf demdas grelle Licht der Strahler ruhte. SeinBlick glitt an der Basis der Pyramide ent-lang. Dort – die Türnische! Die Tür selbstlag im Schatten. Selbst wenn sie sie nichtauf Anhieb öffnen konnten, brauchten sie ei-

Die Roboter von Ursuf 41

ne Entdeckung nicht zu fürchten. Aber wiedort hinüberkommen?

Ein durchdringendes Summen ließ ihnaufhorchen. Aus der Höhe senkten sich vierSchweber herab. Sie waren bis an die Gren-ze ihrer Kapazität mit Wesen aller Art bela-den. Befehle gellten. Die Fahrzeuge entlu-den sich. Ein Trupp bewaffneter Kranen bil-dete ein Spalier, durch das die Gefangenenauf die größte der fünf Pyramiden zugetrie-ben wurden. Atlan erkannte Tschang. Es tatgut, zu sehen, daß er nicht anders behandeltwurde als die Geschöpfe, die er verraten hat-te. Der Überfall war offenbar unblutig ver-laufen; es gab keine Verwundeten. Aber so-sehr der Arkonide die Augen auch anstreng-te, Chaktar bekam er nirgendwo zu sehen.

Er hatte keine Zeit, nach ihm zu suchen.Das Schicksal hatte ihm die Gelegenheit indie Hände gespielt, auf die er wartete. Wäh-rend dort drüben die Gefangenen entladenwurden, achtete niemand auf diesen abgele-genen Teil des Geländes. Aller Aufmerk-samkeit konzentrierte sich auf die Freiwilli-gen, die mit hängenden Köpfen auf diegroße Pyramide zutrotteten und durch einenportalähnlichen Eingang verschwanden.

»Jetzt oder nie!« zischte er den Gefährtenzu. »Alle vier zur gleichen Zeit – los!«

Nebeneinander hasteten sie über das Gras.Atlans Berechnung erwies sich als richtig.Niemand schenkte ihnen Beachtung. Als siedas Dunkel der Nische erreicht hatten,wandte er sich um. Es hatte sich nicht ver-meiden lassen, daß unter ihren Schritten dasGras niedergedrückt wurde. Die Luft warfeucht. In spätestens zwei Stunden setzte derTau ein. Vielleicht richteten die Halme sichwieder auf, bevor jemand die breite Fährteentdeckte.

Die Tür leistete keinen nennenswertenWiderstand. Sie gelangten in einen halb-dunklen Raum, der offenbar als Rumpel-kammer diente. Ausrangierte Empfänger,Verstärker, Kontrollkonsolen stapelten sichentlang der Wände. Mitten aus dem Abfallragte die Kontur eines alten Schweberobo-ters.

Wie gebannt blieb der Arkonide stehen.Der Gedanke im Hintergrund seines Be-wußtseins hatte plötzlich Gestalt angenom-men! Der Anblick des Robotwracks hatteihn den Plan erkennen lassen, der ohne seinDazutun im Lauf der vergangenen Stundenin den dunklen Windungen seines Unterbe-wußtseins entstanden war.

Er empfand Erleichterung. Jetzt wurde erendlich, wie der verseuchte Derrill zu schla-gen war.

*

Der einsame Krane, der im großen Fun-kraum mürrisch seinen Dienst versah, be-kam den Gegner nicht einmal zu sehen. At-lan schoß, sobald die Tür sich zu öffnen be-gann, und traf ihn, als er sich in seinem Ses-sel herumdrehen wollte. Er glitt aus demPolster und sank zu Boden.

Nivridid postierte sich auf der gegenüber-liegenden Seite des Korridors in einer Türni-sche. Es war ruhig im Innern der alten Pyra-mide; aber an soviel Glück, daß sich im gan-zen Gebäude nur dieser eine Krane befundenhabe, wollte Atlan nicht glauben.

Syskal übernahm die Kontrollkonsole.Von neuem empfand Atlan Bewunderungfür die alte Kranin. Die Anstrengungen dervergangenen Stunden schienen spurlos anihr vorübergegangen zu sein. Sie arbeitetekonzentriert und mit einer Geschicklichkeit,als habe sie ihr Leben lang nichts anderesgetan, als komplizierte Sende- und Emp-fangsanlagen zu bedienen. Unglücklicher-weise hatte der Adressat ihrer Sendung, einBeamter der höheren Laufbahn, der im Ver-waltungsbezirk Häskent Dienst tat, wenigVerständnis für die Dringlichkeit ihres An-liegens. Mehr als eine Minute lang kämpfteer um seine Fassung, nachdem Syskals Ge-sicht auf seinem Bildschirm erschienen war.

»Ich habe … du bist … niemand hat dichim Lauf der vergangenen Woche zu sehenbekommen«, stammelte er. »Du giltst alsverschollen … verschwunden … entführt…«

42 Kurt Mahr

»Ich bin auf Ursuf«, fiel ihm Syskal insWort. »Die Bruderschaft hat mich entführt;aber ich bin im Begriff, ihr das Handwerk zulegen.«

»Das muß ich melden!« stieß der Beamtehervor. »Augenblicklich … sonst …«

»Du bleibst, wo du bist!« fuhr Syskal ihnan.

Ihr scharfer Ton ließ ihn zusammen-zucken.

»Gut … ich bleibe, wo ich bin«, murmelteer ergeben.

»Ich brauche alle Daten, die uns über denroten Khutyr bekannt sind«, erklärte dieKranin. »In maschinenlesbarer Form!«

»Der rote Khutyr«, echote er verständnis-los. »Bei allen guten Geistern, das ist schonso lange her. Wozu …«

»Stell keine dummen Fragen und machdich auf die Beine!« gellte Syskals Befehl.

Der Krane nahm hastig ein paar Schaltun-gen vor. Der Umstand, daß er verwirrt warund niemand ihm erklärte, worum es ging,kam seiner Effizienz nicht zugute. Er mach-te mehrere Schaltfehler, wie seinem ärgerli-chen Gemurmel zu entnehmen war. Ein paarMinuten vergingen. Dann sah er auf.

»Ich habe sämtliche Informationen vorlie-gen«, sagte er.

»Schick sie mir!« befahl Syskal.Die Kontrolllichter eines kleinen Auf-

zeichnungsgeräts begannen zu spielen. DieÜbertragung nahm nur wenige Sekunden inAnspruch. Das Gerät produzierte eine kleineSpeicherscheibe, nicht größer als einmenschlicher Daumennagel. Atlan nahm siean sich.

»Laß auf Kran veröffentlichen«, trug Sys-kal dem Beamten auf, »daß der Anführer derBruderschaft, der sich Derrill nennt, inWirklichkeit der rote Khutyr ist, der sich derGerechtigkeit seit mehr als zwanzig Jahrenentzieht.«

»Und du?« sprudelte der Krane hervor.»Was soll mit dir …«

»Gib eine Nachricht an den Tärtras«, un-terbrach ihn Syskal. »Sag Musanhaar, daßdu mit mir gesprochen hast. Ich bin wohlauf

und werde in wenigen Stunden frei sein.«Sie unterbrach die Verbindung, bevor der

Beamte eine weitere Frage stellen konnte.Syskal stand auf.

»Hast du jetzt, was du brauchst?«Atlan nickte, ohne den Blick von der klei-

nen Speicherscheibe zu wenden, die in sei-ner Handfläche ruhte.

»Alles«, sagte er. »Sein Gewicht, seineGröße, seine charakteristischen Merkmaleeinschließlich der Zellgewebsmatrix und deszerebralen Oszillationsmusters. Alles in ei-ner Sprache, die Computer verstehen.«

Er grinste.»Diesmal geht es dem verseuchten Derrill

wirklich an den Kragen«, sagte er.Nivridid kam durch die offene Tür ge-

huscht.»Geräusche in den unteren Geschossen«,

sagte er hastig. »Ich glaube, sie kommen.«

*

Atlan beobachtete, wie Pantschu die Spei-cherscheibe und die bunte Identifizierungs-plakette des Sonderinspektors im Gürtel ver-staute.

»Von jetzt an liegt unser Geschick in dei-ner Hand«, sagte er. »Vergiß nicht: Kon-trollstation achtzehn, am südöstlichen Zipfelder Anlage. Sieh zu, daß du sie so schnellwie möglich erreichst.«

Der zwergenhafte Xildschuk machte einezustimmende Geste. Atlan hatte ihn ausge-wählt, weil er mit seiner Findigkeit am ehe-sten eine Chance hatte, die Müllverwer-tungsanlage im Norden des Tales zu errei-chen. Sie horchten in den Korridor hinaus.Der Lärm kam näher. Pantschu huschte da-von. Er würde sich irgendwo ein Verstecksuchen und warten, bis jedermann mit denverbleibenden drei Eindringlingen beschäf-tigt war. Wenn das Durcheinander seinenHöhepunkt erreichte – dann war es für ihnan der Zeit, sich auf den Weg zu machen.

Atlan, Syskal und Nivridid wichen in derentgegengesetzten Richtung zurück. An ei-ner Stelle, an der sich der Gang verzweigte,

Die Roboter von Ursuf 43

gingen sie in Deckung. Noch war nicht si-cher, ob der Lärm wirklich den Eindringlin-gen galt. Wie hatten sie entdeckt werdenkönnen? Waren die Spuren gefunden wor-den, die sie im Gras hinterlassen hatten?Gab es in einem der anderen Gebäude eineSignalvorrichtung, die sich meldete, wennder Sender von Unbefugten in Betrieb ge-nommen wurde?

Als die ersten Gestalten am anderen Endedes Korridors auftauchten, gab es über ihreAbsicht keinen Zweifel mehr. Sie bewegtensich vorsichtig, mit schußbereiten Waffen.Sie schlichen von einer Tür zur andern, öff-neten sie behutsam und inspizierten den da-hinterliegenden Raum. Man durfte sie nichtgewähren lassen. In einem dieser Räumemochte Pantschu sich verkrochen haben.

Atlans Schocker entlud sich mit hellem,durchdringenden Summen. Ein Schrei gellte,ein Krane stürzte polternd zu Boden.

»Dort hinten sind sie!« schrie jemand.Die Angreifer verschwanden in den Tür-

nischen. Atlan richtete sich auf und winkteseinen Begleitern zu. Sie rannten davon, inden Seitengang hinein, und achteten darauf,daß die Geräusche ihrer Schritte zu hörenwaren. Die Verfolger waren ihnen alsbaldauf den Fersen. Ein zweiter Krane ging zuBoden, als er sich dem Versteck der Ein-dringlinge ohne die nötige Vorsicht näherte.Schocker summten von allen Seiten, aberdie Verfolgten hatten abermals den Standortgewechselt. Atlan sah auf die Uhr. Seitzwanzig Minuten war das Versteckspielschon im Gang. Hatte Pantschu inzwischenentkommen können?

Das Ende kam, wie es hatte kommenmüssen. Bei ihrem Bemühen, die Verfolgernoch ein paar Minuten länger hinzuhalten,gerieten sie in einen Korridor, aus dem eskeinen Ausweg gab. Das triumphierendeGeheul der Bruderschaftler gab ihnen zuverstehen, daß der Gegner den Kampf fürgewonnen hielt.

Sie wichen bis an die Stirnwand des Kor-ridors zurück. Atlan versuchte, zu erkennen,ob es sinnvoll war, sich noch länger zu weh-

ren, als er plötzlich die Wand in seinemRücken sich bewegen fühlte. Er wirbelteherum, sah einen Spalt, der sich im Mauer-werk geöffnet hatte, und wollte die Waffe inAnschlag bringen. Aber der unsichtbare An-greifer war schneller. Der Arkonide spürteeinen Schlag gegen den Schädel, der seinGehirn bis in die Grundfesten hinab erschüt-terte. Dann wurde es finster ringsum.

*

Er kam zu sich, als kräftige Pranken ihnpackten und in die Höhe rissen. Eine dröh-nende Stimme hallte ihm ins Ohr:

»Steh auf, wenn der zukünftige Herzog zudir spricht!«

Er fühlte sich benommen, und in seinemSchädel war ein hartnäckiges Pochen. Aberder Zellaktivator war am Werk und beseitig-te die Folgen des Schocktreffers, indem erdie Nerven stimulierte und den Blutdurch-fluß erhöhte.

Er sah sich um. Er befand sich in einerweiten Halle. Durch bogenförmige Fensterflutete das Licht der Morgensonne. Wie lan-ge war er bewußtlos gewesen? Er wollte aufdie Uhr sehen; aber jemand hatte sie ihm ab-genommen. Die Waffen natürlich auch, wieer sich durch einen Griff zum Gürtel über-zeugte. An den Wänden entlang, unter denFenstern, standen finster blickende Kranendrei Glieder tief. Sie waren alle auf die glei-che Art gekleidet, eine Art Uniform, die sieals Mitglieder der Bruderschaft auswies.Weiter von den Wänden entfernt stand dertraurige Haufen der Freiwilligen, mit denenAtlan das Hauptquartier der Bruderschafthatte erobern wollen. Er erkannte Tschang.Er stand abseits. Wissenschaftler und Tech-niker mochten nichts vom Kämpfen verste-hen; aber sie verachteten Verräter wie jedesandere Wesen.

In der Mitte des weiten Raumes stand aufeinem Podest, zu dem drei Stufen hinauf-führten, ein Möbelstück – halb Sessel, halbSitzkissen –, das es durchaus verdiente, alsThron bezeichnet zu werden. Auf dem

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Thron hockte ein Geschöpf, von dem Atlanbisher noch nicht einmal ein Bild zu sehenbekommen hatte und das er an den Verun-staltungen des Gesichts dennoch sofort er-kannte. Der verseuchte Derrill hatte sich inein buntes, fließendes Gewand gekleidet.Ein hämisches Lächeln war in sein entstell-tes Gesicht geschrieben, als sein Blick überdie Reihen der Gefangenen glitt. Er hatte dieAbsicht, diesen Augenblick des Triumphsbis zur Neige auszukosten.

Syskal und Nivridid ruhten auf schweben-den Bahren. Sie hatten das Bewußtsein nochnicht wiedererlangt. Atlans Auge suchtePantschu. Aber der Xildschuk war nirgend-wo zu sehen. Bedeutete das, daß er den Hä-schern entkommen war? Auch von Chaktar,dem Ai, fehlte nach wie vor jede Spur.

Er musterte den Kranen, der zur rechtenSeite des Throns stand, und erkannte auf-grund der Informationen, die er auf Kran er-halten hatte, Nilgord, Derrills Stellvertreter.Ein Schwächling war er genannt worden,und wie ein Schwächling sah er aus. Wenner das Kommando übernahm, nachdem Der-rill unschädlich gemacht worden war, würdedie Bruderschaft aufhören, eine ernstzuneh-mende Gefahr zu sein.

Derrill winkte, und das Gemurmel in derWeite der Halle erstarb. Inzwischen war esAtlan gelungen, einen Blick hinter sich zuwerfen. Er erkannte das große Portal, durchdas in der Stunde vor Morgengrauen die Ge-fangenen getrieben worden waren. Er befandsich in der großen Pyramide. Die große Hal-le war Derrills Thronsaal.

»Da gibt es ein paar Narren«, begann derVerseuchte mit dröhnender, weithin hallen-der Stimme, »die glauben, sie könnten denmächtigen Derrill in seinem Siegeslauf hem-men. Eine Gruppe dieser Narren ist hier ver-sammelt. Die meisten unter ihnen sind indiese Lage geraten, weil sie nicht nachzu-denken verstehen. Aber einer unter ihnen istder Anstifter und verdient besondere Bestra-fung. Du dort, du Zwerg mit der Gestalt ei-nes Orakeldieners – tritt vor und verantwortedich!«

Atlan schob sich durch die Menge undblieb erst stehen, als er nur noch einenSchritt vom Podest entfernt war.

»Warum willst du gegen mich kämpfen?«fragte der verseuchte Derrill.

»Weil ich …«Drei harte Schläge donnerten durch die

Halle. Derrill fuhr von seinem Thron aufund blickte verstört in Richtung des Portals.

»Öffnen!« schrie von draußen eine Stim-me. »Sofort öffnen!«

Wer immer sich dort draußen befand, sei-ne Definition des Begriffs »sofort« war of-fenbar frei von Toleranzen. Zwei Sekundenvergingen, während der verseuchte Derrillund sein Gefolge sich von dem Schreck überdie unerwartete Störung erholten; dann hörteman von draußen ein heftiges Knallen undFauchen, und dort, wo die Flügel des Portalsin den Wänden verankert waren, entstandenzwei glühende, qualmende Linien, die sichmit atemberaubender Geschwindigkeit vonoben nach unten durch das schwere Metallfraßen.

Mit donnerndem Knall stürzten die beidenTorflügel nach innen. Bruderschaftler undGefangene wichen mit entsetztem Geschreizur Seite, um den tonnenschweren Metall-platten zu entgehen. In der hohen Öffnungerschienen die Gestalten vier mächtigerSchweberoboter, schüsselförmig, mitschwingenden Tentakeln, von denen einigein fest montierten Thermostrahlern endeten.

»Giftkontrolle!« dröhnte eine mechani-sche Stimme.

*

Derrills Gesicht hatte eine ungesunde Far-be angenommen. Die krause Mähne sträubtesich. Mit zitternder Stimme fragte er:

»Was hat die Giftkontrolle hier zu su-chen? In diesem Gebäude gibt es kein Gift!«

Die Menge wich furchtsam beiseite, alsdie vier Roboter auf das Podest zuglitten.Auch Atlan hielt es für klug, den Maschinenaus dem Weg zu gehen.

»Organisches Gift«, schnarrte die Stimme

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des vordersten Robots.»Gefährlichkeitsklasse eins. Erscheinungs-form: belebt.«

Tentakel reckten sich dem Thron entge-gen. Der verseuchte Derrill riß die Arme indie Höhe, um sich zu schützen.

»Gift? Ich?« zeterte er. »Wer wagt das zubehaupten?«

»Der Sonderinspektor«, lautete die kalte,gefühllose Antwort. »Das Gift ist identifi-ziert anhand von Gewebematrix und Oszilla-tionsmuster. Äußere Merkmale ebenfallsübereinstimmend.«

Zwei Tentakel schlangen sich um die ha-gere Gestalt des Verseuchten. Er wurde indie Höhe gehoben.

»Laßt das nicht zu!« gellte seine verzwei-felte Stimme. »Wehrt euch! Schießt die Ro-boter zusammen!«

Aber es rührte sich keine Hand. Zu gro-tesk war das Schauspiel, das sich den Augenderer darbot, die das Staunen und derSchreck in ihren Bann geschlagen hatten.Der Verstand weigerte sich, den Eindruck zuverarbeiten. Die Zuschauer waren gelähmt –Bruderschaftler ebenso wie Gefangene.

Der verseuchte Derrill landete in hohemBogen in einer der Robotschüsseln. Sein Ge-schrei verstummte. Entweder hatte er beimAufprall das Bewußtsein verloren, oder diepanische Furcht vor dem, was ihm bevor-stand, schnürte ihm die Kehle zusammen.

Die Roboter machten kehrt. Gravitätischglitten sie aus der Halle hinaus, durch diegroße Toröffnung, hinaus über das grasigeGelände. Dann gewannen sie an Höhe, undals sie den Rand des Dschungels erreichten,befanden sie sich bereits zwanzig Meterüber der Ebene der Baumwipfel.

Die Zeugen des einmaligen Vorgangs hat-ten ihren Schock noch nicht überwunden, alsman aus dem Hintergrund der Halle das Ge-räusch einer sich öffnenden Tür hörte. Atlanwandte den Kopf und gewahrte eine seltsa-me Prozession: fünf unbewaffnete Kranen,in der Uniform der Bruderschaft, dahinterHerzog Carnuum, unübersehbar in seinemweißen Pelz und der silberbeschichteten

Montur, und an seiner Seite Chaktar, der Ai.Carnuum und Chaktar trugen Waffen, einein jeder Hand. Die fünf Bruderschaftler je-doch standen offenbar unter dem Einfluß derHypnose.

*

Aus dem Hintergrund schrie jemand:»Nilgord, jetzt bist du an der Reihe!«

Mit einem Ruck sah Nilgord auf. Offen-bar war dies die Lage, auf die er sich am we-nigsten vorbereitet hatte. Er machte eine be-schwichtigende Geste und trat die erste Stu-fe zum Podest hinauf. Inzwischen hatte sichChaktar dem Arkoniden genähert, ohne be-hindert zu werden, und händigte ihm eineder erbeuteten Waffen aus. Der Ai wich zu-rück. Er und Carnuum postierten sich zu bei-den Seiten des Podests. Atlan, die Waffe inder Hand, trat auf Nilgor zu.

»Du hast hier vorläufig nichts mehr zu sa-gen«, erklärte er mit harter Stimme. »MachPlatz für den Herzog!«

Nilgord, der Stellvertreter, sah sich hilfe-suchend um. An den Wänden der Halle ent-stand Bewegung.

»Laß dich nicht einschüchtern!« rief einerder Bruderschaftler. »Wir sind ihnen überle-gen.«

Atlan wandte sich zur Seite.»Das mag sein«, antwortete er so laut, daß

man ihn bis in den hintersten Winkel derHalle hörte. »Aber ihr seid dann ohne An-führer in der Übermacht. Diesen hier habeich vor der Mündung meiner Waffe, undwenn nur einer von euch eine unbedachteBewegung macht, folgt er seinem Vorgän-ger.«

Es wurde ruhig im Hintergrund. Nilgorderkannte, daß er mit Unterstützung nicht zurechnen hatte. Ihm wurde das Schicksal desSchwächlings zuteil. Hätte er selbst die In-itiative ergriffen, es wäre ein leichtes gewe-sen, die wenigen Gegner zu überwältigen.Indem er wartete, daß andere für ihn tätigwurden, verspielte er seine Chance.

Als Atlan eine auffordernde Geste mit

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dem Lauf seiner Waffe machte, trat er wi-derspruchslos beiseite. Carnuum stieg diedrei Stufen zu Derrills Thron hinauf undmachte es sich in den Polstern bequem.

»Jetzt, da wir die Aufregung hinter unshaben …«, begann er.

Die Sonne hatte den Höhepunkt ihres Ta-geslaufs überschritten. Der Herzog hatte esfür richtig befunden, Nilgord in seiner Rolleals Anführer der Bruderschaft zu bestätigen– als Gegenleistung für das Versprechen,daß der Geheimbund von nun an die Re-formbemühungen der gegenwärtigen Admi-nistration unterstützen werde. Die Mitglie-der der Bruderschaft waren vom herzogli-chen Entgegenkommen so angetan, daß siesich bereit erklärten, als Zeichen ihrer Fried-fertigkeit die Waffen niederzulegen. Kranwar über die jüngste Entwicklung auf demschnellsten Weg in Kenntnis gesetzt worden.Raumschiffe der Ersten Flotte waren nachUrsuf unterwegs. Über Ursuf wurde das Mi-litärrecht verhängt. In den nächsten Wochenwürde die Flotte hier für Ordnung sorgen,bis die Lage sich wieder normalisiert hatte.Als das erste Schiff landete, sandte es Bei-boote aus, die nach Serigaal und seinerTruppe suchten. Die Bruderschaft hatte überihr internes Kommunikationsnetz inzwi-schen verkündet, daß alle Gefangenen frei-zusetzen seien.

Pantschu war gegen Mittag zurückgekehrtund erfuhr zu seiner großen Freude, daß seinUnternehmen erfolgreich gewesen war. Daer sich als Sonderinspektor hatte ausweisenkönnen, hatte der Kontrollcomputer nichtgezögert, seine Anweisungen entgegenzu-nehmen und den verseuchten Derrill als einStück gefährlichen, lebenden Mülls zu klas-sifizieren, das auf dem schnellsten Wege ge-funden und unschädlich gemacht werdenmußte. Pantschu seinerseits hatte der Ma-schine bereitwillig erklärt, wo das gefährli-che Objekt zu finden sei.

Chaktars Bericht erwies sich als wenigerdramatisch, als ursprünglich erwartet wor-den war. Er hatte Tschang beobachtet, alsdieser sich vom Lager entfernte, und war

ihm nachgeschlichen. Als er ihn einholte,war Tschang gerade dabei, seine Mitteilungan das Hauptquartier der Bruderschaft zu be-enden. Aus seinen Worten ging hervor, daßer nicht etwa ein Mitglied des Geheimbundswar, sondern lediglich befürchtete, bei At-lans Vorstoß »in die Pfanne gehauen zu wer-den«, wie er sich ausdrückte. Um diesesSchicksal von sich abzuwenden, hatte er denGegner rechtzeitig benachrichtigt, so daßdieser die Pläne des Arkoniden zunichte ma-chen konnte. Tschang wurde niemals zurRechenschaft gezogen, allerdings hörte manim System Krandhor auch nie wieder vonihm. Es muß angenommen werden, daß ersich nach dieser unsterblichen Blamage aufseine Heimatwelt Quonzor zurückzog.

Auf jeden Fall hatte sich Chaktar, da erden Freiwilligen nicht mehr helfen konnte,in Richtung des Hauptquartiers geschlichenund war dort gerade zum Zeitpunkt dergrößten Aufregung erschienen. Es war ihmgelungen, fünf Geheimbündler zu hypnoti-sieren und mit ihrer Hilfe bis zu der Zim-merflucht vorzudringen, in der Herzog Car-nuum gefangengehalten wurde. Der Rest istaufgezeichnet.

Von dem verseuchten Derrill hörte mannie wieder etwas. Die Kontrollstationen aufUrsuf verstehen keinen Spaß, wenn es umgefährliche Giftstoffe geht. Spötter unter denHistorikern, die die Geschichte der Bruder-schaft aufzeichnen, fragen sich, wie viel vonDerrill als nutzbare Materie irgendwie wie-der in den Nutzungskreislauf der kranischenTechnik geriet und wie viel als absolut un-verwertbar in den intergalaktischen Leer-raum geschossen wurde. Als Atlan mit Her-zog Carnuum und Syskal sowie seinen »dreiGetreuen« sich schließlich von Ursuf absetz-te, um nach Kran zurückzukehren, da vergaßman in der Eile die vier Raummonturen, dieam Rand des Dschungels unweit der Grenzeder Abfallverwertungsanlage versteckt wor-den waren. Und so kommt es, daß bis aufden heutigen Tag am östlichen Rand desnördlichen Katembi-Tals auf Ursuf vierkostbare Lebenserhaltungssysteme, maßge-

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schneidert für ihre Träger, unter tropischemGestrüpp liegen und darauf warten, daß trotzder Haltbarkeit der Substanz, aus der sie ge-fertigt sind, und der geringen Störanfällig-keit der Geräte, die sie in sich tragen, dietropische Witterung ihnen eines Tages denGaraus macht.

*

Der Abschied war kurz, aber schmerzlich.Die »drei Getreuen« kehrten in den Wasser-palast zurück. Mit anderen Gewinnern frü-herer Lugosiaden wollten sie fürderhin derHofstaat des Orakels sein, das aus SurfoMallagan und einem der Herzöge des Rei-ches bestand – Gu für den Augenblick undwahrscheinlich die kommenden Jahre. DasKollegium der Elektoren hatte sich nochnicht darauf geeinigt, wer das dritte Mitglieddes Triumvirats sein sollte.

Nilgord hatte Wort gehalten. Er war vordie Aufnahmegeräte der öffentlichen Nach-richtendienste getreten und hatte erklärt, dieBruderschaft habe nun, da die Kranen ihrGeschick wieder selbst verwalteten, keineDaseinsberechtigung mehr. Er erklärte denGeheimbund für aufgelöst, und seitdem hatniemand mehr etwas von der Bruderschaftgehört.

Für Atlan schlug die Abschiedsstunde ineinem Gelaß des Wasserpalasts, in das er diebeiden Herzöge zusammen mit anderenwichtigen Teilnehmern an den Ereignissender vergangenen Wochen eingeladen hatte.Die Diener des Orakels, soweit sie solani-scher Herkunft waren, hatten sich an Borddes Fernraumschiffs begeben. Die SOLschwebte noch immer in geringer Höhe überdem Dallos. Sie war startbereit. Tanwalzen,der das Kommando des Spoodie-Schiffsübernommen hatte, war angewiesen, daß derAufbruch noch in dieser Nacht erfolgenwürde. Alle Spoodies wurden den Kranenübergeben.

Die beiden Herzöge – Gu, noch immer anseinen Verletzungen leidend, war auf einergepolsterten Trage hereingebracht worden –

bewältigten die Stunde des Abschieds höf-lich, aber mit einer gewissen Zurückhaltung,die den Arkoniden darüber belehrte, daß dieEpoche des »Orakels Atlan« in der Tat undunwiderruflich zu Ende gegangen war. Hättesie noch länger angedauert, wäre darausmehr Schaden als Nutzen erwachsen. Erfragte sich, welche Macht die Dinge geradeso gelenkt hatte, daß die Reform im rechtenAugenblick begann.

In Ermangelung mitfühlender Gesprächs-partner wandte er sich an die beiden Bet-schiden, Scoutie und Brether Faddon, diesich ebenfalls entschlossen hatten, in derNähe des Orakels zu bleiben.

»Wie ihr wißt, habe ich die Absicht, denSektor Varnhagher-Ghynnst anzufliegen, ei-ne Ladung Spoodies aufzunehmen und dannin die Heimat der Menschheit zurückzukeh-ren – nach Terra«, sagte er.

»Oh, wer da mitfliegen könnte!« reagierteScoutie träumerisch.

»Niemand verwehrt es euch«, sagte Atlan.Sie schüttelte den Kopf.»Nein, niemand verwehrt es uns. Aber un-

ser Platz ist hier! Die Betschiden sind einVolk der Galaxis Vayquost.« Sie sah plötz-lich zu dem Arkoniden auf und lächelte einwenig. »Außerdem – was sollte Surfo Mal-lagan anfangen, wenn er plötzlich unter sei-ner Spoodie-Wolke hervorkäme und lauterFremde um sich sähe?«

Atlan blieb ernst.»Ich möchte nach Möglichkeit vermeiden,

eine Zwischenlandung auf Chircool einzule-gen.«

»Was?« fuhr Brether Faddon auf.Scoutie dagegen nickte und sah vor sich

hin, als habe sie eine solche Entscheidungerwartet.

»Sie wurden dort nur aufgewühlt«, sagtesie leise. »Sie träumen von der SOL, abermanchmal ist der Traum wichtiger als seineErfüllung. Sie haben sich ihr eigenes Lebengebaut. Sie sind stolz auf ihre Herkunft, undals stolze Menschen werden sie ein wichti-ger Bestandteil des Herzogtums von Krand-hor sein – trotz ihrer geringen Zahl.«

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»Das war meine Überlegung«, bestätigte At-lan.

*

Später, mitten durch die von Satelliten-strahlern erhellte Nacht, schritt er über dieWeite des Dallos auf die kleine Kapsel zu,die auf ihn wartete, um ihn an Bord der SOLzu bringen. Er blieb stehen, legte den Kopfin den Nacken und blickte an den gleißen-den Lichtern der Satelliten-Reflektoren vor-bei auf die matten Lichtpunkte der Sterne –Sonnen einer Galaxis, der er in Kürze denRücken kehren und die er womöglich nie-mals wiedersehen würde. Er grüßte in Ge-danken das Nest der Ersten Flotte, das großwie der irdische Vollmond über ihm dahin-zog, und schickte sich an, seinen Weg fort-zusetzen, als plötzlich eine Gestalt aus dermilchigen Helligkeit auf ihn zuglitt.

»Glück auf den Weg, Fremder«, sagte ei-ne weiche Stimme. »Ich weiß nicht, ob duzurückkehren wirst – aber selbst wenn du es

tust, wäre es für mich wahrscheinlich zuspät. Mein Leben endet bald. Ich spüre es.Früher hätte ich die Anstrengungen der ver-gangenen Tage ohne Nachwirkungen über-standen, aber jetzt schmerzt es mich in denKnochen.«

Atlan hob die Hand zur Stirn. Es gab un-ter den Kranen keine Geste, die Achtungund Ehrfurcht besser zum Ausdruck brachteals diese.

»Du bist ein außerordentliches Wesen,Syskal«, sagte er. »Dein Volk muß sichglücklich schätzen, daß es dich hervorge-bracht hat.«

»Dasselbe wollte ich über dich sagen, At-lan.« Syskal gab ein schmatzendes Geräuschvon sich, um ihre Belustigung zu zeigen.»Leb wohl!«

»Leb wohl, Syskal«, antwortete er.Dann schritt er aus – auf die Kapsel zu,

die auf ihn wartete.

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