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Nr. 1 SCHWARZ CYAN MAGENTA GELB DIE ZEIT Nr. 1 S. 1 SCHWARZ CYAN MAGENTA GELB DIE ZEIT 2006 – das wird das Jahr, in dem wir die aufregende Welt des Wachstums ent- decken. In diesem Jahrzehnt haben die Deutschen nur Stillstand erlebt. Die Hoffnung, es müsse doch aufwärts gehen, trog ein ums andere Frühjahr. Ir- gendwann glaubten sie das Gerede von Deutsch- land, dem kranken Mann Europas. Warum also sollte das kommende Jahr anders verlaufen? Zunächst einmal sind die Prognosen so optimis- tisch wie schon lange nicht mehr. »Nach fünf Jah- ren gibt es klare Signale, dass die konjunkturelle Flaute überwunden ist.« Das sagt zum Beispiel Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner ifo Insti- tuts, der sonst als der härteste aller Standortkriti- ker auftritt. Bis zur Zwei vor dem Komma wagen sich einige Kollegen Sinns schon vor – und das trotz der weiter steigenden Energiepreise. Misstrauen ist natürlich angebracht. Zu oft la- gen die Wirtschaftsmeteorologen gerade in den vergangenen Jahren falsch. Doch ihre Argumente sind diesmal gut. Nachdem die deutsche Industrie Investitionen ein ums andere Mal hinauszögerte, gibt sie nun wieder Geld aus. Unerwartete fünf Prozent mehr als im Vorjahr investierte sie 2005 in neue Maschinen, Fuhrparks, Gebäude. Im kommenden Jahr soll das Plus noch größer wer- den, selbst die Baubranche dürfte anziehen. Jeden Tag verliere Deutschland tausend Jobs, hieß es noch im Wahlkampf. Zum Jahresende ebbte diese Welle ab, obwohl einige Konzerne weiterhin ganze Betriebe dichtmachen. Nächstes Jahr würden in Deutschland 200 000 Menschen mehr arbeiten, glaubt das ifo Institut. Und die hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen dürfte ebenfalls sinken. Auch die Stimmung stützt die Statistiken. Nach einer Umfrage des Bankenverbandes ver- trauen wieder fast sechzig Prozent der Deutschen der sozialen Marktwirtschaft. Nur vierzehn Pro- zent bezeichnen ihre eigene Wirtschaftslage rund- heraus als »schlecht« – wenn auch vierzehn Pro- zent zu viel. Ist das Angela Merkels Aufschwung? Nein, noch nicht. Was sich da in Konturen ab- zeichnet, ist nicht Merkels und auch nicht Schrö- ders Werk. Es ist der Aufschwung der Bundesbür- ger. Während man in Berlin noch überlegte, wie viel Wandel das Volk ertrüge, haben sie in emsiger Kleinarbeit die Volkswirtschaft erneuert. In Tau- senden von Betrieben haben die Mitarbeiter auf Leistungen verzichtet, ihre Arbeitszeiten flexibili- siert oder ausgeweitet – teils aus Einsicht in die Zwänge der Globalisierung, teils auf massiven Druck. Erzeugt zum Beispiel durch die Drohung einiger Konzernchefs, die Produktion oder gleich die ganzen Unternehmen ins Ausland zu verla- gern. Oder Stellen zu streichen, um an der Börse aufzutrumpfen. Dadurch haben sich die Lohn- kosten für Investoren so günstig wie in kaum ei- nem anderen Land entwickelt. Heute liegen sie nur unwesentlich höher als vor zehn Jahren – aber fast niemand hebt das hervor. Die Banken können wieder mehr neues Geld verleihen. Auch ausländische Investoren stecken Kapital ins Land, egal ob sie als Heilsbringer be- klatscht oder als Plage beklagt werden. In der Spra- che der Heuschrecken ist die deutsche Wirtschaft lean and mean geworden – schlank und kampfes- lustig, bereit also für die globale Konkurrenz. Nicht nur die deutschen Unternehmen verän- dern sich. Die Universitäten verschreiben sich der Leistungsidee, die Stadtverwaltungen öffnen sich den Bürgern, die wiederum in wachsender Zahl eigene Initiativen ins Leben rufen. Das Ergebnis sollte man nicht als sozialen Flickenteppich klein- reden, sondern als gesellschaftliches Gewebe be- grüßen, das elastisch genug ist für den modernen Kapitalismus. Erstmals in diesem Jahrzehnt ist Deutschland zum Aufschwung fähig – den aller- dings eine stolpernde Weltwirtschaft noch ebenso verhindern könnte wie eine schlechte Politik. Bill Clinton und Tony Blair hatten das Glück des späten Aufschwungs, der für ihre Vorgänger zu spät kam. Es bleibt ein Rätsel, warum ihr Freund Gerhard Schröder die absehbare Belebung nicht abwarten mochte. Nun lacht Angela Merkel dieses Anfängerglück. Mit dem unternehmerfreundlichen Namen der CDU im Rücken kann sie im kommenden Jahr Rekordschulden aufnehmen, ohne dass die Wirt- schaft die Folgen dieses Sündenfalls fürchtet. Zu- gleich muss sie jetzt hart sein – gegenüber Inte- ressengruppen wie der Dienstwagen-Lobby, die ihre Steuersubventionen verteidigen. Gegenüber Pharmafirmen und Krankenversicherungen, die verhindern wollen, dass die Deutschen für weni- ger Geld besser behandelt werden. Gegenüber Kommunen, die Hartz IV als Geldquelle missver- stehen. Hohe Schulden sind, wenn überhaupt, nur dann zu rechtfertigen, wenn sie mit zukunfts- weisenden Strukturreformen einhergehen. Es reicht aber nicht, wenn sich die Kanzlerin al- lein als harte Erneuerin profiliert. In den vergan- genen fünf Jahren haben viele Deutsche den Glau- ben daran verloren, dass hier jeder eine Chance hat. Pisa beweist: Die Kinder reicher Leute genießen ei- nen riesigen Startvorteil. Viele mittellose Men- schen können gar nicht privat fürs Alter vorsorgen – entgegen der ständigen Aufforderung. Und der schnell wachsenden Zahl von Minijobbern und Subunternehmern und ewigen Praktikanten ent- gehen die meisten Segnungen sozialer Sicherung – obwohl sie doch besonders flexibel sind. Entweder ist dieser Aufschwung für alle da, oder er ist schnell wieder vorbei. Denn während erst die Exporte und nun die Investitionen in die Höhe schnellen, halten die deutschen Konsumenten ihr Geld noch zusammen, egal ob sie arm oder reich sind. Ihr Vertrauen muss erst gewonnen werden, und sie werden genauer denn je darauf achten, ob die neuen Berliner Reformen mehr Chancen- gerechtigkeit schaffen. Vor allem muss der Auf- schwung über die Hürde des Jahres 2007 kom- men, wenn die Mehrwertsteuer um drei Punkte steigen soll. Das zusätzliche Geld muss, anders als geplant, in die Sozialkassen fließen, damit die Beiträge sinken. Wenn Länder und Bund ihre Schulden verringern wollen, sollen sie sparen, statt sich aus der Mehrwertsteuer zu bedienen. Denn nichts schafft mehr Chancen als ein geringerer An- teil der Sozialabgaben an den Arbeitskosten. Man kann nicht erwarten, dass wie in China mehr als neunzig Prozent der Menschen an eine bessere Zukunft glauben. Aber eine Mehrheit soll- te es schon sein. Dafür ist Merkel auf ihr Können angewiesen – und auch auf Glück. Darauf zum Bei- spiel, dass IG Metall und Arbeitgeber ihre große Ta- rifrunde nicht für Machtspiele missbrauchen. Oder darauf, dass die Firmen ihre Angestellten in den Aufschwung mitnehmen. Viele akzeptieren das schnelle Auf und Ab der heutigen Marktwirtschaft, aber sie wollen beteiligt werden, wenn die Gewinne steigen und die Börse jubelt. Genau diese Chance bieten zu wenige Unternehmen. Und in kaum ei- nem anderen Industrieland vernachlässigen sie so sehr die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter. Die Kanzlerin selbst hat Deutschland vor der Wahl schlecht geredet – und ist wohl auch dafür vom Wähler abgestraft worden. Die schwerste Kri- se der Nachkriegszeit hat sie beschworen, obwohl Regierung und Wirtschaft vieles längst aufgeräumt hatten. Merkel wird den Aufschwung schon bald für sich reklamieren. Soll sie ruhig. Die Bürger wis- sen es besser: Sie muss ihn sich erst verdienen. Siehe auch Wirtschaft, Seite 21 DIE ZEIT M it der Liebe ist es so eine Sache. Be- sonders wenn es sich um die Liebe zum Vaterland handelt. Noch mehr, wenn dieses Vaterland Deutschland heißt. Right or wrong, my country – das geht nicht, wenn etwas einmal so furchtbar falsch gelaufen ist wie in der deutschen Geschichte. Zwar ist man hierzulande sechzig Jahre da- nach einigermaßen mit sich selbst versöhnt, dennoch steht deutscher Patriotismus unter einem Restvorbehalt. Außerdem verträgt er keine lauten Töne. Und ganz bestimmt lässt er sich, wie die Liebe, nicht verordnen. Deut- scher Patriotismus ist sensibel, er braucht be- sonders viel Dezenz und Geduld. Darum würde man sich wünschen, dass die konservativen Lauthals-Patrioten – wie jüngst wieder die aus der CSU – einfach mal aufhören, mehr Vaterlandsliebe einzufor- dern, eine Patriotismus-Debatte anzumah- nen oder in den Schulen die Nationalhymne singen lassen zu wollen. Redet nicht so viel drüber, dann wird’s schon! Schließlich ha- ben wir uns hier einen ziemlich vernünftigen und recht freundlichen Staat zusammenge- zimmert. Einen, der nicht nur verlangt, dass die Bürger etwas für ihn tun, sondern einen, der sich auch um seine Bürger kümmert und dabei im besten Fall auch sagt: Right or wrong, my citizen. In den letzten Wochen konnte man das wieder mustergültig beobachten. Die deut- sche Archäologin Susanne Osthoff wurde im Irak gekidnappt, nachdem sie sich mutwillig in Gefahr begeben hatte. Nichts deutete da- rauf hin, dass sie irgendeine innere Verbin- dung zu ihrem Heimatland hat. Gleichwohl hat die Regierung erhebliche Anstrengungen unternommen (und vermutlich viel Geld be- zahlt), um die Bürgerin Osthoff aus der Ge- fangenschaft zu befreien. Mit Erfolg: Seit elf Tagen ist sie frei. So wünscht man sich seinen Staat, als einen, der im Notfall weder Kosten noch Mühen scheut, um seine Bürger zu ret- ten, ungeachtet dessen, ob diese Bürger ihrer- seits loyal sind oder wenigstens besonnen. Allerdings hat die staatliche Pflicht zur Für- sorge auch ihre Grenzen. Susanne Osthoff macht sich gerade daran, diese Grenzen aus- zutesten. Dass sie immer noch keinen Kon- takt zu ihrer Familie in Bayern aufgenom- men hat, das geht weder den Staat noch die Öffentlichkeit etwas an. Dass sie ihr erstes Interview nicht in den deutschen Medien gibt, die ihre Entführung mit hoher Auf- merksamkeit begleitet haben, sondern sich an den arabischen Nachrichtensender al- Dschasira wendet – geschenkt. Ernstere Fragen wirft indes die Haltung Su- sanne Osthoffs zu ihren Entführern auf: »Ich hatte Glück, weil sie keine Kriminellen wa- ren, die Geld wollten.« Wenn Entführer kei- ne Kriminellen sind, was sind sie dann? Und wenn sie kein Geld wollten, was wollten sie überhaupt? Schwer zu verstehen ist auch die Aussage: »Als ich arabisch mit ihnen gespro- chen habe, erkannten sie, dass ich nicht ihr Feind war und sie mich der deutschen Bot- schaft übergeben müssen.« Hat sie erst nach drei Wochen mit ihnen arabisch gespro- chen? Und wenn da keine Kriminellen wa- ren und wenn es keine Lösegeldforderung gab und wenn die Entführte keine Feindin war, gegen wen richtete sich die ganze Aktion dann, was war ihr Zweck? Man fragt sich schon, welche Rolle Susanne Osthoff der Regierung in Berlin zumisst. Die des Rück- versicherers, der keine Fragen zu stellen, son- dern nur zu liefern hat? All das hinterließe lediglich einen bitte- ren Nachgeschmack, wenn man sicher sein könnte, dass die Sache damit ausgestanden ist. Das scheint nicht der Fall zu sein. Denn Susanne Osthoff will offenbar zurückgehen. Wenn sie das tatsächlich tut, dann über- schreitet sie nicht nur die Grenzen des Iraks, sie geht auch an die Grenzen der Fürsorge- pflicht des deutschen Staates. Einiges weist darauf hin, dass sie gegen- über dem eigenen Land von einem Geist ge- prägt ist, wie er in den siebziger und achtziger Jahren verbreitet war. Viele waren da gegen den Staat und dennoch frei von Hemmun- gen, sich von ebendiesem Staat aus jeder er- denklichen Patsche helfen zu lassen. Dieses Denken enthält einen kleinen, be- quemen Fehler. Denn den Staat gibt es nicht ohne die Bürger, vor allem nicht ohne deren Steuern. Wer also den Staat ausnutzt, der beutet den Mitbürger aus, den Bürger, der auch den Beamtenapparat finanziert, der Susanne Osthoff half, vom mutmaßlichen Lösegeld ganz zu schweigen. Patriotismus kann man nicht verordnen, Sympathie mit dem Staat nicht verlangen. Aber dass man einer solidarischen Gesell- schaft ein Minimum an Loyalität schuldet, darauf wird man sich schon einigen müssen. Bei aller Liebe Der Fall Osthoff:Ein guter Staat muss sich auch um Bürger kümmern, denen er egal ist. Aber wie lange? von bernd Ulrich Einer für alle Kaum zu glauben, der Aufschwung kommt. Den haben sich die Bürger verdient Von Uwe Jean Heuser ZEIT Online GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] Abonnentenservice: Tel. 0180 - 52 52 909*, Fax 0180 - 52 52 908*, E-Mail: [email protected] *) 0,12 ¤/Min. aus dem deutschen Festnetz Nr. 1 29. Dezember 2005 60. Jahrgang C 7451 C Preis Deutschland 3,00 ¤ Lesen, schauen, hören: Es klingt auf www.zeit.de/musik Audio a www.zeit.de/audio Audio a www.zeit.de/audio Fotos (v. links n. rechts):Werner Bartsch, SPL/Agentur Focus, AP/ullstein, Petra Schneider/IMAGO, Frauke Lehn (Illu), Gaby Gerster/laif, Gyssels/IFA-Bilderteam,TIPS/Agentur Focus, Uwe Krejci/gettyimages, Sintesi/Visum, Daniel Kölsche/photoplexus, Royalty-Free/Corbis, Julia Pfaller (Illu), Andreas Schoelzel Zur Rettung der Welt Von Helmut Schmidt bis Harald Martenstein, von Iris Radisch über Wolfram Siebeck bis Michael Naumann: So könnte 2006 gelingen LEBEN S. 55–57 DKR 38,00 · FIN 5,80 ¤ · E 4,30 ¤ · F 4,30 ¤ · NL 3,90 ¤ · A 3,40 ¤ · CHF 6,00 · I 4,30 ¤ · GR 5,00 ¤ · B 3,90 ¤ · P 4,30 ¤ · L 3,90 ¤ · HUF 1030,00 GuteWü nsche Angst, aber wovor? Foto: Int. Stock/IFA-Bilderteam Panikanfälle und Phobien machen Millionen Deutschen das Leben schwer.Wovor sich diese Menschen fürchten, ist bei der Therapie nicht entscheidend. Angst – der letzte Teil der Serie »Heimliche Volkskrankheiten« von C. Stolze und H. Albrecht Wissen S. 36 WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK•WIRTSCHAFT•WISSEN UND KULTUR 100 100

Die Zeit 2006 01

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Page 1: Die Zeit 2006 01

Nr. 1 SCHWARZ CYAN MAGENTA GELBDIE ZEIT

Nr. 1 S. 1 SCHWARZ CYAN MAGENTA GELBDIE ZEIT

2006 – das wird das Jahr, indem wir die aufregendeWelt des Wachstums ent-

decken. In diesem Jahrzehnt haben die Deutschennur Stillstand erlebt. Die Hoffnung, es müsse dochaufwärts gehen, trog ein ums andere Frühjahr. Ir-gendwann glaubten sie das Gerede von Deutsch-land, dem kranken Mann Europas. Warum alsosollte das kommende Jahr anders verlaufen?

Zunächst einmal sind die Prognosen so optimis-tisch wie schon lange nicht mehr. »Nach fünf Jah-ren gibt es klare Signale, dass die konjunkturelleFlaute überwunden ist.« Das sagt zum BeispielHans-Werner Sinn, Chef des Münchner ifo Insti-tuts, der sonst als der härteste aller Standortkriti-ker auftritt. Bis zur Zwei vor dem Komma wagensich einige Kollegen Sinns schon vor – und dastrotz der weiter steigenden Energiepreise.

Misstrauen ist natürlich angebracht. Zu oft la-gen die Wirtschaftsmeteorologen gerade in denvergangenen Jahren falsch. Doch ihre Argumentesind diesmal gut. Nachdem die deutsche IndustrieInvestitionen ein ums andere Mal hinauszögerte,gibt sie nun wieder Geld aus. Unerwartete fünfProzent mehr als im Vorjahr investierte sie 2005in neue Maschinen, Fuhrparks, Gebäude. Imkommenden Jahr soll das Plus noch größer wer-den, selbst die Baubranche dürfte anziehen. JedenTag verliere Deutschland tausend Jobs, hieß esnoch im Wahlkampf. Zum Jahresende ebbte dieseWelle ab, obwohl einige Konzerne weiterhin ganzeBetriebe dichtmachen. Nächstes Jahr würden inDeutschland 200 000 Menschen mehr arbeiten,glaubt das ifo Institut. Und die hohe Zahl derLangzeitarbeitslosen dürfte ebenfalls sinken.

Auch die Stimmung stützt die Statistiken.Nach einer Umfrage des Bankenverbandes ver-trauen wieder fast sechzig Prozent der Deutschender sozialen Marktwirtschaft. Nur vierzehn Pro-zent bezeichnen ihre eigene Wirtschaftslage rund-heraus als »schlecht« – wenn auch vierzehn Pro-zent zu viel. Ist das Angela Merkels Aufschwung?

Nein, noch nicht. Was sich da in Konturen ab-zeichnet, ist nicht Merkels und auch nicht Schrö-ders Werk. Es ist der Aufschwung der Bundesbür-ger. Während man in Berlin noch überlegte, wieviel Wandel das Volk ertrüge, haben sie in emsigerKleinarbeit die Volkswirtschaft erneuert. In Tau-senden von Betrieben haben die Mitarbeiter aufLeistungen verzichtet, ihre Arbeitszeiten flexibili-siert oder ausgeweitet – teils aus Einsicht in dieZwänge der Globalisierung, teils auf massivenDruck. Erzeugt zum Beispiel durch die Drohungeiniger Konzernchefs, die Produktion oder gleichdie ganzen Unternehmen ins Ausland zu verla-gern. Oder Stellen zu streichen, um an der Börseaufzutrumpfen. Dadurch haben sich die Lohn-kosten für Investoren so günstig wie in kaum ei-nem anderen Land entwickelt. Heute liegen sienur unwesentlich höher als vor zehn Jahren – aberfast niemand hebt das hervor.

Die Banken können wieder mehr neues Geldverleihen. Auch ausländische Investoren steckenKapital ins Land, egal ob sie als Heilsbringer be-klatscht oder als Plage beklagt werden. In der Spra-che der Heuschrecken ist die deutsche Wirtschaftlean and mean geworden – schlank und kampfes-lustig, bereit also für die globale Konkurrenz.

Nicht nur die deutschen Unternehmen verän-dern sich. Die Universitäten verschreiben sich derLeistungsidee, die Stadtverwaltungen öffnen sichden Bürgern, die wiederum in wachsender Zahleigene Initiativen ins Leben rufen. Das Ergebnissollte man nicht als sozialen Flickenteppich klein-reden, sondern als gesellschaftliches Gewebe be-grüßen, das elastisch genug ist für den modernenKapitalismus. Erstmals in diesem Jahrzehnt istDeutschland zum Aufschwung fähig – den aller-dings eine stolpernde Weltwirtschaft noch ebensoverhindern könnte wie eine schlechte Politik.

Bill Clinton und Tony Blair hatten das Glückdes späten Aufschwungs, der für ihre Vorgängerzu spät kam. Es bleibt ein Rätsel, warum ihrFreund Gerhard Schröder die absehbare Belebungnicht abwarten mochte. Nun lacht Angela Merkeldieses Anfängerglück.

Mit dem unternehmerfreundlichen Namen derCDU im Rücken kann sie im kommenden JahrRekordschulden aufnehmen, ohne dass die Wirt-schaft die Folgen dieses Sündenfalls fürchtet. Zu-gleich muss sie jetzt hart sein – gegenüber Inte-ressengruppen wie der Dienstwagen-Lobby, dieihre Steuersubventionen verteidigen. GegenüberPharmafirmen und Krankenversicherungen, dieverhindern wollen, dass die Deutschen für weni-ger Geld besser behandelt werden. Gegenüber

Kommunen, die Hartz IV als Geldquelle missver-stehen. Hohe Schulden sind, wenn überhaupt,nur dann zu rechtfertigen, wenn sie mit zukunfts-weisenden Strukturreformen einhergehen.

Es reicht aber nicht, wenn sich die Kanzlerin al-lein als harte Erneuerin profiliert. In den vergan-genen fünf Jahren haben viele Deutsche den Glau-ben daran verloren, dass hier jeder eine Chance hat.Pisa beweist: Die Kinder reicher Leute genießen ei-nen riesigen Startvorteil. Viele mittellose Men-schen können gar nicht privat fürs Alter vorsorgen– entgegen der ständigen Aufforderung. Und derschnell wachsenden Zahl von Minijobbern undSubunternehmern und ewigen Praktikanten ent-gehen die meisten Segnungen sozialer Sicherung –obwohl sie doch besonders flexibel sind.

Entweder ist dieser Aufschwung für alle da, oderer ist schnell wieder vorbei. Denn während erst dieExporte und nun die Investitionen in die Höheschnellen, halten die deutschen Konsumenten ihrGeld noch zusammen, egal ob sie arm oder reichsind. Ihr Vertrauen muss erst gewonnen werden,und sie werden genauer denn je darauf achten, obdie neuen Berliner Reformen mehr Chancen-gerechtigkeit schaffen. Vor allem muss der Auf-schwung über die Hürde des Jahres 2007 kom-men, wenn die Mehrwertsteuer um drei Punktesteigen soll. Das zusätzliche Geld muss, anders alsgeplant, in die Sozialkassen fließen, damit dieBeiträge sinken. Wenn Länder und Bund ihreSchulden verringern wollen, sollen sie sparen, stattsich aus der Mehrwertsteuer zu bedienen. Dennnichts schafft mehr Chancen als ein geringerer An-teil der Sozialabgaben an den Arbeitskosten.

Man kann nicht erwarten, dass wie in Chinamehr als neunzig Prozent der Menschen an einebessere Zukunft glauben. Aber eine Mehrheit soll-te es schon sein. Dafür ist Merkel auf ihr Könnenangewiesen – und auch auf Glück. Darauf zum Bei-spiel, dass IG Metall und Arbeitgeber ihre große Ta-rifrunde nicht für Machtspiele missbrauchen. Oderdarauf, dass die Firmen ihre Angestellten in denAufschwung mitnehmen. Viele akzeptieren dasschnelle Auf und Ab der heutigen Marktwirtschaft,aber sie wollen beteiligt werden, wenn die Gewinnesteigen und die Börse jubelt. Genau diese Chancebieten zu wenige Unternehmen. Und in kaum ei-nem anderen Industrieland vernachlässigen sie sosehr die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter.

Die Kanzlerin selbst hat Deutschland vor derWahl schlecht geredet – und ist wohl auch dafürvom Wähler abgestraft worden. Die schwerste Kri-se der Nachkriegszeit hat sie beschworen, obwohlRegierung und Wirtschaft vieles längst aufgeräumthatten. Merkel wird den Aufschwung schon baldfür sich reklamieren. Soll sie ruhig. Die Bürger wis-sen es besser: Sie muss ihn sich erst verdienen.

Siehe auch Wirtschaft, Seite 21

DIE ZEIT

M it der Liebe ist es so eine Sache. Be-sonders wenn es sich um die Liebezum Vaterland handelt. Noch

mehr, wenn dieses Vaterland Deutschlandheißt. Right or wrong, my country – das gehtnicht, wenn etwas einmal so furchtbar falschgelaufen ist wie in der deutschen Geschichte.Zwar ist man hierzulande sechzig Jahre da-nach einigermaßen mit sich selbst versöhnt,dennoch steht deutscher Patriotismus untereinem Restvorbehalt. Außerdem verträgt erkeine lauten Töne. Und ganz bestimmt lässter sich, wie die Liebe, nicht verordnen. Deut-scher Patriotismus ist sensibel, er braucht be-sonders viel Dezenz und Geduld.

Darum würde man sich wünschen, dassdie konservativen Lauthals-Patrioten – wiejüngst wieder die aus der CSU – einfach malaufhören, mehr Vaterlandsliebe einzufor-dern, eine Patriotismus-Debatte anzumah-nen oder in den Schulen die Nationalhymnesingen lassen zu wollen. Redet nicht so vieldrüber, dann wird’s schon! Schließlich ha-ben wir uns hier einen ziemlich vernünftigenund recht freundlichen Staat zusammenge-zimmert. Einen, der nicht nur verlangt, dassdie Bürger etwas für ihn tun, sondern einen,der sich auch um seine Bürger kümmert unddabei im besten Fall auch sagt: Right orwrong, my citizen.

In den letzten Wochen konnte man daswieder mustergültig beobachten. Die deut-sche Archäologin Susanne Osthoff wurde imIrak gekidnappt, nachdem sie sich mutwilligin Gefahr begeben hatte. Nichts deutete da-rauf hin, dass sie irgendeine innere Verbin-dung zu ihrem Heimatland hat. Gleichwohlhat die Regierung erhebliche Anstrengungenunternommen (und vermutlich viel Geld be-zahlt), um die Bürgerin Osthoff aus der Ge-fangenschaft zu befreien. Mit Erfolg: Seit elfTagen ist sie frei. So wünscht man sich seinenStaat, als einen, der im Notfall weder Kostennoch Mühen scheut, um seine Bürger zu ret-ten, ungeachtet dessen, ob diese Bürger ihrer-seits loyal sind oder wenigstens besonnen.

Allerdings hat die staatliche Pflicht zur Für-sorge auch ihre Grenzen. Susanne Osthoffmacht sich gerade daran, diese Grenzen aus-zutesten. Dass sie immer noch keinen Kon-takt zu ihrer Familie in Bayern aufgenom-men hat, das geht weder den Staat noch dieÖffentlichkeit etwas an. Dass sie ihr erstesInterview nicht in den deutschen Mediengibt, die ihre Entführung mit hoher Auf-

merksamkeit begleitet haben, sondern sichan den arabischen Nachrichtensender al-Dschasira wendet – geschenkt.

Ernstere Fragen wirft indes die Haltung Su-sanne Osthoffs zu ihren Entführern auf: »Ichhatte Glück, weil sie keine Kriminellen wa-ren, die Geld wollten.« Wenn Entführer kei-ne Kriminellen sind, was sind sie dann? Undwenn sie kein Geld wollten, was wollten sieüberhaupt? Schwer zu verstehen ist auch dieAussage: »Als ich arabisch mit ihnen gespro-chen habe, erkannten sie, dass ich nicht ihrFeind war und sie mich der deutschen Bot-schaft übergeben müssen.« Hat sie erst nachdrei Wochen mit ihnen arabisch gespro-chen? Und wenn da keine Kriminellen wa-ren und wenn es keine Lösegeldforderunggab und wenn die Entführte keine Feindinwar, gegen wen richtete sich die ganze Aktiondann, was war ihr Zweck? Man fragt sichschon, welche Rolle Susanne Osthoff derRegierung in Berlin zumisst. Die des Rück-versicherers, der keine Fragen zu stellen, son-dern nur zu liefern hat?

All das hinterließe lediglich einen bitte-ren Nachgeschmack, wenn man sicher seinkönnte, dass die Sache damit ausgestandenist. Das scheint nicht der Fall zu sein. DennSusanne Osthoff will offenbar zurückgehen.Wenn sie das tatsächlich tut, dann über-schreitet sie nicht nur die Grenzen des Iraks,sie geht auch an die Grenzen der Fürsorge-pflicht des deutschen Staates.

Einiges weist darauf hin, dass sie gegen-über dem eigenen Land von einem Geist ge-prägt ist, wie er in den siebziger und achtzigerJahren verbreitet war. Viele waren da gegenden Staat und dennoch frei von Hemmun-gen, sich von ebendiesem Staat aus jeder er-denklichen Patsche helfen zu lassen.

Dieses Denken enthält einen kleinen, be-quemen Fehler. Denn den Staat gibt es nichtohne die Bürger, vor allem nicht ohne derenSteuern. Wer also den Staat ausnutzt, derbeutet den Mitbürger aus, den Bürger, derauch den Beamtenapparat finanziert, derSusanne Osthoff half, vom mutmaßlichenLösegeld ganz zu schweigen.

Patriotismus kann man nicht verordnen,Sympathie mit dem Staat nicht verlangen.Aber dass man einer solidarischen Gesell-schaft ein Minimum an Loyalität schuldet,darauf wird man sich schon einigen müssen.

Bei aller LiebeDer Fall Osthoff: Ein guter Staat muss sich auch um Bürgerkümmern,denen er egal ist. Aber wie lange? von bernd Ulrich

Einer für alleKaum zu glauben, der Aufschwung kommt. Den haben sich die Bürger verdient Von Uwe Jean Heuser

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Nr. 1 29. Dezember 2005 60. Jahrgang C 7451 C Preis Deutschland 3,00 ¤Lesen, schauen, hören: Es klingt auf www.zeit.de/musik

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Zur Rettung der Welt Von Helmut Schmidt bis

Harald Martenstein, von Iris Radisch über Wolfram Siebeck bis

Michael Naumann: So könnte 2006 gelingen LEBEN S. 55–57

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Panikanfälle und Phobienmachen Millionen Deutschen dasLeben schwer. Wovor sich dieseMenschen fürchten, ist bei derTherapie nicht entscheidend.Angst – der letzte Teil der Serie»Heimliche Volkskrankheiten« von C. Stolze und H. Albrecht

Wissen S. 36

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2 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 2 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 2 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Berlin

Ulla Schmidts Lächeloffensiven ist manin Berlin gewohnt. Es gibt wenig Poli-tiker, die zu schlechten Nachrichten soausdauernd ein freundliches Gesicht

machen können wie die rheinische Gesundheits-ministerin. Und es gibt kaum Kollegen, die inTalkshows harte Angriffe von Verbandsvertreternso fröhlich parieren können. Ulla Schmidt, im-merhin seit fünf Jahren im Amt, hat meistens guteLaune und fast immer gute Nerven.

Wer mit ihr in diesen Tagen spricht, trifft al-lerdings eine Ministerin, die nicht nur fröhlich,sondern regelrecht aufgekratzt ist. Es ist die Be-geisterung einer mehrfach Totgesagten, die sichan ihrem Amt erfreut und die nun auch noch einezentrale Reform der neuen Regierung verantwor-ten soll. Auf der Kabinettsklausur am 9. Januarwollen Union und Sozialdemokraten verabreden,wie sie ihre unterschiedlichen Konzepte für die Fi-nanzierung des Gesundheitswesens miteinanderin Einklang bringen können. Vor kurzem habendas viele für unmöglich gehalten, nun soll dasVorhaben im ersten Halbjahr 2006 stehen. DieSchwierigkeiten sind fast so groß wie der Erfolgs-druck. Der Zeitdruck dürfte Schmidt eher nüt-zen als schaden: Erstens könnenweder Union noch SPD es sichleisten, so früh schon erfolglosauseinander zu gehen. Zweitensist der Wissensvorsprung der Mi-nisterin, die alle Tricks der Ge-sundheitspolitik kennt und aufein funktionierendes Ministeri-um vertrauen kann, gerade jetztbesonders groß. Der Union feh-len erfahrene Fachpolitiker; HorstSeehofer und Ursula von der Leyen haben sich an-deren Aufgaben zugewandt. Auch das Kanzler-amt und die Unionsfraktionsführung können danicht mithalten.

Was Ulla Schmidt macht, ist wichtig für dieZukunft der schwarz-roten Koalition, vielleichtsogar überlebenswichtig. Sie weiß das, und ihreUngeduld ist momentan schwer zu übersehen. Sieist zappelig, ständig rutscht sie auf ihrem Stuhlhin und her, die Füße stehen höchstens ein paarSekunden still. Jeder Satz klingt selbstbewusst.

War es klug, noch vor ihrer Vereidigung in In-terviews Reformen anzukündigen, die nicht imKoalitionsvertrag standen – und damit die Uni-on auf die Palme zu bringen? Ach was, sagtSchmidt: »Eine Ministerin muss immer auch dieRichtung vorgeben.«

War es nicht ein Fehler, ihre weitreichenden Plä-ne für den Arzneimittelbereich nicht erst den Ab-geordneten von CDU und CSU vorzulegen? Ei-nige erfuhren von Lobbyisten oder Journalistendavon und schlugen Krach. »Anfangsschwierig-keiten«, sagt Schmidt. »In der Union gibt es vie-le neue Leute, die nicht richtig einschätzen kön-nen, wie ein Ministerium funktioniert.« Das wer-de sich alles finden.

Und der erste Rüffel der Kanzlerin? »Dakommt ja meine renitenteste Ministerin«, be-grüßte Angela Merkel sie vor einigen Wochen beieiner Begegnung im Parlament unmittelbar nachihrer Vereidigung. Kein Warnsignal? Ein Scherz,sagt Schmidt. Und dass UnionsfraktionschefVolker Kauder die Gesundheitsreform nach ihrendiversen Vorstößen lieber zur »Chefsache« ma-chen wollte, hält Schmidt für »eine große Hilfe,weil es zeigt, wie wichtig das Thema Gesundheitfür die neue Regierung ist«.

Ulla Schmidt will gestalten, was einerseitsselbstverständlich, andererseits doch gewöh-nungsbedürftig ist. Denn obwohl kaum ein Res-

sort in den vergangenen Jahren den Bürgern soviele und weitreichende Veränderungen abver-langt hat wie ihres, ist es nicht leicht zu erklären,für welche neuen Gedanken, welches Sozial-staatskonzept Ulla Schmidt tatsächlich steht.

Die große Gesundheitsreform des Jahres 2003war das Kernstück von Gerhard Schröders Agen-da 2010. Sie wurde dem Kanzleramt mehr zuge-schrieben als Ulla Schmidt. Die Belastungen fürdie Bürger, etwa beim Zahnersatz, versuchte dierot-grüne Regierung als Unionsidee zu verkaufen– nur so sei der Gesundheitskompromiss über-haupt zustande gekommen. »Die Zähne sind dievon Frau Merkel«, erklärte Franz Münteferinganschließend in den Talkshows.

Und das Konzept einer Bürgerversicherung,jener Wahlkampfschlager der SPD, stammteauch nicht von Ulla Schmidt. Die Sozialpolitike-rin Andrea Nahles und der GesundheitsökonomKarl Lauterbach fochten in der Partei dafür.Schmidt hegte ursprünglich viele Einwände, spä-ter machte sie die Bürgerversicherung doch nochzu ihrem Projekt.

Auch die großen Reformen der Rentenpolitik,für die Ulla Schmidt vier Jahre lang zuständig war,werden nicht mit ihrem Namen verbunden, eher

mit dem ihres Vorgängers Walter Riester oder mitden lange Zeit auf Veränderung drängenden Grü-nen. Dabei hatte gerade Ulla Schmidt die Ries-terschen Gesetzentwürfe als Sozialpolitikerin derSPD-Fraktion maßgeblich verändert. Und nunwollen schon wieder andere auch die nächste Ge-sundheitsreform an sich ziehen und zur »Chefsa-che« erklären. Ist Ulla Schmidt also ewig die le-diglich Ausführende, der man einen eigenengroßen Wurf nicht zutraut?

Dieser Eindruck drängt sich vor allem wegenzwei Eigenheiten der Ministerin auf: Einerseitsweiß sie zu taktieren und ihre Macht geschickteinzusetzen; andererseits hat sie keinen großen in-tellektuellen Ehrgeiz. Eigenschaft eins verbindetsie mit der Kanzlerin, Eigenschaft zwei unter-scheidet sie von ihr.

Niemand käme auf die Idee, die Gesundheits-ministerin um eine zeitgemäße Definition vonGerechtigkeit zu bitten. In Grundsatzdebattenüber die Zukunft des Sozialstaats mischt sie sichselten ein, Theoriediskussionen sind nicht ihreWelt. Manchmal hat das sein Gutes: So hatSchmidt auch einige wichtige Strukturreformenauf den Weg gebracht, die viel Ärger machen undwenig öffentlichen Beifall bringen – zum Beispielden stärkeren Wettbewerb innerhalb der Ärzte-schaft. Stolz ist Ulla Schmidt weniger auf gutePresse als auf ihre Verankerung in der SPD, aufihre Wahlergebnisse von über 90 Prozent in ihremAachener Ortsverein. Ulla Schmidt ist eine durchund durch rheinische, kommunalpolitisch ge-prägte Pragmatikerin.

Gleichwohl spricht Ulla Schmidt häufiger undselbstverständlicher von »Gerechtigkeit« als vieleandere Politiker. Sie empfindet es wirklich als zu-tiefst »ungerecht«, dass 250 000 Menschen inDeutschland ohne Krankenversicherungsschutzleben oder tumorkranke Kassenpatienten oft langeauf eine ärztliche Behandlung warten müssen. Aberes geht dabei immer um konkrete Pläne. Reden

über die »Macht der Freiheit«, wie sie Angela Mer-kel gelegentlich hält, wird man von ihr nie hören.

Als Technikerinnen der Macht haben die bei-den Frauen gleichwohl einiges gemeinsam: Außerden guten Nerven verbindet sie die Erfahrung, wiesehr es helfen kann, unterschätzt zu werden. Undsie können ihre Erfolge still genießen: So hat UllaSchmidt, siehe Riester-Rente, die Politik oft mehrgestaltet, als die Öffentlichkeit wahrgenommenhat. Für die Gesundheitsreform des Jahres 2003etwa hatte Exbundeskanzler Schröder genaueVorgaben gemacht, doch Ulla Schmidts Gesetzesahen später ganz anders aus und trugen deutlichihre Handschrift. Auch die Privatisierung desZahnersatzes, von Schröder und Merkel in einemnächtlichen Telefonat festgelegt, hat Schmidtnach kurzem Abwarten im Einvernehmen mitihrem CSU-Widerpart Horst Seehofer gekippt.

Ulla Schmidt und Angela Merkel wissen beide,dass Politik manchmal wie Judo funktioniert. Oftgewinnt derjenige, der die Energie des Gegnersnutzt und im richtigen Moment einfach lächelndbeiseite tritt. Merkel hat sich so gegen EdmundStoiber durchgesetzt, und auch Schmidt hat vie-le, die sich neben ihr als die wahren »Reformer«gerierten, auflaufen lassen.

Die Rürup-Kommission etwa, von Schröderin der vergangenen Legislaturperiode zur Neu-ordnung der Sozialsysteme eingesetzt, galt langeals große Konkurrenz für Ulla Schmidt. Doch dieMinisterin hat die zerstrittenen Wissenschaftlergeschickt für sich genutzt. Die Experten forder-ten eine Praxisgebühr von 13 Euro, Schmidt führ-te später eine Gebühr von zehn Euro ein. DerGroll gegen sie war groß, aber immerhin konntesie sich auf die Expertentruppe des Kanzlers be-rufen. So hat Ulla Schmidt ihr politisches Über-leben stets gesichert. Der Preis solcher Macht-spiele: Als Reformerin wird man wenig sichtbar.

Wird das nun anders, bei der großen Gesund-heitsreform des Jahres 2006? Vermutlich nicht.Denn diesmal stehen die Chancen für eine großeErneuerung aus anderen Gründen schlecht. We-der das Unionsmodell der Gesundheitsprämienoch die SPD-Bürgerversicherung lassen sichohne Zuschüsse aus der Staatskasse finanzieren.Die Einnahmen aus einer erhöhten Mehrwert-steuer aber sind bereits anders verplant. Die Kran-kenkassen haben schon 2006, und noch stärkerin den Jahren danach, ein massives Finanzpro-blem. Für eine Senkung der Lohnnebenkostenfehlt das Geld.

Übrig bleiben dürfte deshalb eine Reform, dievor allem das Verhältnis zwischen privaten und ge-setzlichen Versicherungen verschiebt. Vermutlichwerden die Privatpatienten einen Sonderbeitragzahlen müssen, der in den Finanzausgleich derKrankenkassen fließt – schließlich hat das gesetz-liche System mehr Schwerkranke und mehrKlein- und Kleinstverdiener unter seinen Mitglie-dern. Die Vorteile der Privatversicherten wirdSchmidt verringern, weil sie die Ärztehonorare fürPatienten beider Systeme ausgleichen will. Ver-mutlich wird es für Privatpatienten am Ende auchleichter sein, zurück ins gesetzliche System zuwechseln.

All das ist besser als das heutige System undtrotzdem weit entfernt von den großen Visionender Herzog- oder Rürup-Kommissionen undauch von dem Gesundheitskonzept, das AngelaMerkel Ende 2003 ihrer Partei auf dem LeipzigerCDU-Parteitag vorgeschlagen hat.

Deshalb kann es passieren, dass diesmal amEnde Ulla Schmidt die Reform mit ihrem rhei-nischen Dauerlächeln vorstellt. Es könnte ihreSozialreform sein, zum ersten Mal. Aber nur, weilsich kein anderer damit schmücken will.

Die Gutgelaunte Auf den Schultern Ulla Schmidts ruht 2006 die größte Last. Doch das beunruhigt sie nicht Von Elisabeth Niejahr

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Ulla Schmidt 13. Juni 1949 geboren in Aachen

1968 bis 1974 Psychologie- und Lehramtsstudium

1976 bis 1990 Lehrerin für Lernbehinderte

1983 Eintritt in die SPD

seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags,besonderes Engagement für Familien- und Frauenpolitik

seit Januar 2001 Bundesgesundheitsministerin

VerteuerungDie Krankenkassenbeiträge sollen zum Jahres-wechsel wieder steigen, die Gesundheitsminis-terin ist empört, und der Wähler wundert sich.Hatten die großen Parteien nicht im Wahl-kampf die Senkung der Lohnnebenkostenzum obersten Ziel erklärt? Sollte die Mehr-wertsteuer nicht erhöht werden, um die So-zialabgaben zu verringern?

Nun steigen die Kassenbeiträge und dieSteuern – die Anhebung des Rentenbeitragsgilt ohnehin als ausgemacht. All das ist jedochnicht überraschend, sondern politisch gewollt.Die Probleme der Sozialsysteme, die wenigerbei den Ausgaben als beim Rückgang der Ein-nahmen liegen, sind seit langem bekannt.Schon in diesem Jahr wird ein Anstieg desRentenbeitrags nur durch Buchungstricks ver-mieden. Solange die Zahl der sozialversicher-ten Jobs schrumpft, ist die Finanzmisere derSozialversicherungen ohne radikale Reformennicht zu beheben.

Das wissen die Vertreter von Union undSPD. Weil ihnen die Haushaltskonsolidierungwichtiger war, haben sie dennoch dem Ge-sundheitssystem gerade weitere Steuermittelentzogen: Die Kassen müssen künftig ohneEinnahmen aus der Tabaksteuer auskommen,dadurch fehlen etwa vier Milliarden Euro. Ab2007 kommen noch Belastungen durch dieMehrwertsteuer hinzu, denn auch Arzneimittelund medizinische Hilfsmittel werden teurer.Ulla Schmidt hat die ersten Schlachten gegendie Haushaltspolitiker verloren. Beim Streit umdie Kassenbeiträge bleibt ihr nur ein Trost: Jedeutlicher in diesen Tagen die Schwierigkeitender Sozialsysteme werden, desto besser sind ihreChancen bei der geplanten Gesundheitsreformdes Jahres 2006. Elisabeth Niejahr

Prozac-PräsidentHat Bundespräsident Horst Köhler einenRhetorik-Kurs absolviert? So viel zu seinerWeihnachtsansprache. Die weiterhin drän-gende Frage, warum er das hohe Amt über-haupt innehat, beantwortete Guido Wester-welle soeben in einem Spiegel-Gespräch.

Der Oppositionsführer erinnert sich »andie Nacht, in der wir über unseren Kandida-ten für das Amt des Bundespräsidenten ent-schieden haben. Sie (Angela Merkel) war sehreinsam in ihrem Gremium, und so leicht hat-te ich es in meiner Partei … auch nicht.« Damachten sie zuerst einmal ein Fläschchen Rot-wein auf und zündeten das Kaminfeuer an?Keineswegs, vielmehr formten sie sich einenPräsidenten als eine Art Prozac-Pille wider denVerlust politischer Heiterkeit. »Hätten wir(Horst Köhler) nicht durchgesetzt … wäreFrau Merkel nicht Kanzlerkandidatin gewor-den, und ich wäre nicht Parteivorsitzender derFDP geblieben.« Here’s looking at you, kid:»Wir haben uns … in die Augen gesehen undgesagt: ›Wir machen das gemeinsam.‹«

»Gewählt wird mit verdeckten amtlichenStimmzetteln«, heißt es im Gesetz über dieWahl des Bundespräsidenten. Von einerkarrieresichernden »Schicksalsgemeinschaft«(Westerwelle) zweier notleidender Parteipo-litiker ist dort nicht die Rede. Dass HorstKöhler das unschuldige Opfer einer doppel-ten Lebensplanung ist, hatte man geahnt,und manche sehen es ihm immer noch an.Aber einen größeren Tort als Guido Wester-welles öffentliche Erinnerung an eine politi-sche Nacht in Berlin hat ihm noch niemandangetan, noch nicht einmal seine Reden-schreiber. Michael Naumann

Zertrümmerer Es gibt viele Gründe, UN-GeneralsekretärKofi Annan zu bedauern. Wann immer dieWeltorganisation etwas falsch macht, und dasist nicht selten der Fall, wann immer Geld indunklen Kanälen versickert, und das ge-schieht häufiger, als man denkt, wann immeralso etwas Skandalöses in diesem Apparat ge-schieht, wird Annan öffentlich abgewatscht.Der Ghanaer muss leiden, weil seine Organi-sation unzulänglich ist und weil sie viele er-bitterte Gegner hat.

John Bolton ist einer von ihnen. Der ame-rikanische UN-Botschafter hat Annan jetztüber das bisher bekannte Maß hinaus gede-mütigt. Der Haushalt der Vereinten Nationenfür die Jahre 2006 und 2007 ist mit 3,8 Mil-liarden Dollar veranschlagt worden. Aller-dings darf Annan zunächst nur 950 Millionendavon ausgeben. Die Begrenzung wird erstaufgehoben, wenn Reformen verabschiedetsind. Bolton feierte dies als einen »Sieg für dieVereinigten Staaten«.

Das ist eine richtige Einschätzung. DieRegierung Bush hat nie einen Hehl darausgemacht, dass sie die UN verachtet. Gnadein den Augen George W. Bushs fände dieWeltorganisation nur, wenn sie sich seinerAußenpolitik unterwürfe. In allen anderenFällen wird sie bestraft. Schade nur, dass da-mit auch eine im Prinzip richtige Idee dis-kreditiert wird. Die UN sind tatsächlichdringend reformbedürftig, und es ist nichtfalsch, sie mit finanziellem Druck anzutrei-ben. Aber Bolton ist kein Antreiber. Er istein Zertrümmerer. Ulrich Ladurner

" WORTE DES JAHRES

»Das Meer wird nicht mehr viele hergeben.«Joschka Fischer, Außenminister a. D., über die nach dem Tsunami vermissten Urlauber

»Was während einer Nachtschicht im Abu-Ghraib-Gefängnis auf der anderen Seite derWelt passiert, ist natürlich etwas, auf dasjemand in Washington keinen Einfluss hat.«Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister, zu seiner Rolleim irakischen Folter-Skandal

»Ist ja hier wie vor der Kiewer Botschaft.«Jürgen Trittin, Bundesumweltminister a. D., Grüne, zu wartenden Journalisten auf dem Höhepunkt der Visa-Affaire

»Mit dem bitteren Wahlausgang in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit infrage gestellt.«Gerhard Schröder, Bundeskanzler a. D.,warum die Bundestagswahl vorgezogen werden sollte

»Der schlimmste Moment war, als derMann, der mir das Leben rettete, in meinenArmen starb.«Giuliana Sgrena, aus der Geiselhaft befreite Journalistin,über den Tod des Geheimdienstlers Nicola Calipari

»Ich hoffe, dass allen klar ist, was das für unsbedeutet.«Heide Simonis, Ministerpräsidentin a. D., nachdem das Landesparlament von Schleswig-Holstein ihrzum wiederholten Mal die Wiederwahl verweigert hatte

»Mit tiefer Überzeugung bat ich den Herrn:›Nimm nicht mich. Du hast jüngere und bessere Männer.‹ Dieses Mal hat ermich nicht erhört.«Benedikt XVI., Papst, über seine Gebete während des Konklaves

»Es gibt keinen Schlussstrich.«Horst Köhler, Bundespräsident, in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes 1945

»Moshammer ist tot – sehr traurig – Gotthilf.«Trauerschreiben eines Obdachlosen auf der Münchner Maximilianstraße nach dem Tod des Modedesigners

»Erschossen hat mich der Rolf.«Leo Kirch, Medienunternehmer, über die Rolle, die der Ex-Vorstandschef der Deutschen Bank, Rolf Breuer, beim Konkurs seines Unternehmens gespielt haben soll

»Die Niederländer haben mit Frankreich dieVerfassung in den Mülleimer geworfen.«Ronald van Raak, niederländischer Sozialist, zum Scheiternder Referenden über die EU-Verfassung

»Beide Seiten haben sich darauf verständigt,dass zusammenwachsen muss, was zusammengehört.«Bodo Ramelow, PDS-Wahlkampfleiter, über das Wahlbündnis von WASG und PDS

»Es haben sich die geirrt, die dachten, die Gefahr sei vorüber und es brauche keineklaren und scharfen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren mehr.«Otto Schily, Bundesinnenminister a. D., SPD, nach den Anschlägen von London

»Ich akzeptiere nicht, dass der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird.Die Frustrierten dürfen nicht über Deutschlands Zukunft bestimmen.«Edmund Stoiber, CSU-Ministerpräsident in Bayern, währenddes Bundestagswahlkampfs

»Ich hätte nie gedacht, dass die Israelis einesTages tatsächlich abziehen.«Musbah Ibrahim Schamalak, Landarbeiter in Gaza,zum Rückzug der israelischen Armee

»Für einen Präsidenten reicht es nicht, mitseinem Flieger einen Schlenker zu machenund zu sagen: ›Oh, was sind das für Verwüstungen!‹«Frank R. Lautenberg, demokratischer US-Senator,zu George W. Bushs Reaktionen auf den Hurrikan Katrina

»Abdullah, wir warten. Spring ins Flugzeugund komm!«Joschka Fischer, Außenminister a. D., zum türkischen Amts-kollegen Gül vor dem Beginn der EU-Beitrittsgespräche

»Das sind unglückliche Umstände. Aber wirhaben keine Wahl.«Nadir, französischer Jugendlicher aus einer Pariser Vorstadt,über die wochenlangen Krawalle

»Einer der ostdeutschen Genossen sagte:›Gräm dich nicht, die Zahl erinnert an alteZeiten.‹«Matthias Platzeck, SPD-Vorsitzender, der mit 99,4 Prozent insein Amt gewählt wurde

»Ist die Große Koalition nun ein schwarzerMarienkäfer mit roten Punkten oder ein roter Käfer mit schwarzen Punkten? Ich weiß es nicht.«Christoph Böhr, Vizevorsitzender der CDU, zur Frage, wersich bei den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt habe

»Liebe Frau Dr. Merkel, Sie sind hiermit dieerste demokratische Regierungschefin inDeutschland.«Norbert Lammert, Bundestagspräsident, nachdem das Parlament Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt hatte

»Mir geht es gut, das darf ich Ihnen sagen.«Angela Merkel, Bundeskanzlerin, nach ihrer Wahl

»Es bleibt die Frage: Versteht CondoleezzaRice unter Folter das Gleiche wie wir?«Karsten Voigt, Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, SPD, zur Folterdebatte in der EU und den USA

»Ich kenne meine Schwester – die wird solange auf die Leute eingeredet haben, bis siesie freigelassen haben.«Robert Osthoff, Bruder von Susanne Osthoff, die im Irak entführt worden war

»Der wahre Triumph ist, dass die Leute ihreStimme abgeben.«Ibrahim al-Dschaafari, irakischer Ministerpräsident, zumVerlauf der Parlamentswahlen in seinem Land

»Dem grundsätzlichen Wesen des Sports istkapital in den Hintern getreten worden.«Oliver Kahn, Nationaltorhüter, zum Korruptionsskandal umSchiedsrichter Robert Hoyzer

Was heißt Gerechtigkeit?Niemand käme auf die Idee, die Gesundheitsministerin

um eine zeitgemäße Definition zu bitten.In Grundsatzdebatten über die Zukunft

des Sozialstaats mischt Ulla Schmidt sich ungern ein

POLITIK

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Nr. 1 S. 3 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 3 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 3POLITIK

Seit die Große Koalition regiert, ist in denMedien viel von einer »neuen Ernsthaf-tigkeit« die Rede, die man angeblich be-reits beobachten könne – oder die drin-

gend entwickelt werden müsse, um die drän-genden Probleme des Landes nun endlich zu be-wältigen. Auf den ersten Blick scheint es so, alswäre damit das große Aufräumen nach den Vor-gängern gemeint.

Rot-Grün galt allgemein als unernst, als Re-gierung gewordener Ausdruck eines hedonisti-schen, verspielten, letztlich verantwortungs-scheuen Zeitgeists. Und in der Tat konnte mansich durchaus vorstellen, dass Gerhard Schröderund Joschka Fischer beim Regieren manchmal anetwas anderes dachten, an Urlaub, schöne Sachen,bella figura. Diesen Verdacht hegt in Bezug aufAngela Merkel wirklich niemand. Wenn die neueKanzlerin auf einem der Berliner Empfänge he-rumstehe, werde in der Regel nicht viel gelacht,schrieb Kurt Kister kürzlich in der SüddeutschenZeitung. Das sei auch schon früher so gewesen,nur habe man früher eben gesagt, Merkel sei nichtbesonders witzig. Heute werde darin gleich einneuer, nüchternerer Politikstil gesehen. Dabei wardas Spontitum der rot-grünen Enkelgenerationwahrhaftig nicht der einzige unernste Zug der ver-gangenen Jahre. Welche Art der Seriosität wün-schenswert ist in Zukunft, lässt sich vielleicht ambesten mit einem Witz verdeutlichen:

Der Trainer von Schalke 04 entdeckt in Bag-dad einen 17-jährigen irakischen Fußballgottund kann den jungen Mann überreden, mitnach Deutschland zu kommen. Der neue Spie-ler übertrifft die schönsten Erwartungen undschießt im entscheidenden Spiel das entschei-dende Tor. Überglücklich ruft er seine Mutteran: »Was für ein herrlicher Tag! Ich habe den Sieggeholt!« – »Wunderbar, dass es dir so gut geht«,antwortet die Mutter sarkastisch, »lass dir er-zählen, wie unser Tag aussah. Dein Vater wurdeauf offener Straße erschossen, deine Schwesterund ich wurden fast vergewaltigt, und dein klei-ner Bruder ist jetzt Mitglied einer Straßengang.«– »Wie entsetzlich!«, jammert der Fußballer,»wie furchtbar! Das tut mir so leid …« – »Es tutdir leid?!«, fährt die Mutter aufgebracht dazwi-schen. »Es ist doch deine Schuld, dass wir jetztin Gelsenkirchen wohnen!«

Nur Roland Koch droht heute nochmit »Heulen und Zähneklappern«

Mit anderen Worten: Unseriös, unernst benah-men sich in den vergangenen Jahren auch dieje-nigen, die mit Entsetzen Scherz trieben. DieDeutschland immer am Abgrund sahen, vonKatastrophe sprachen, wo das Wort »Problem«gereicht hätte. Allzu oft konnte man da den Ein-druck gewinnen, wir schnitten selbst bei einemVergleich mit der Dritten Welt schlecht ab. Auchwenn es jetzt keiner mehr gewesen sein will: Esgab Journalisten, Verbandsvertreter, Opposi-tionspolitiker und sogar Mitglieder der rot-grü-nen Regierung, die diesen Eindruck genährt ha-ben. Und es hilft kein empörtes Leugnen, diemaßlose Überzeichnung real existierenderSchwierigkeiten nützte tendenziell dem Wirt-schaftslager und belastete die Arbeitnehmerseite– immer legitimiert durch das (bisher unein-gelöste) Versprechen, langfristig würden sich dieBelastungen in neue Arbeitsplätze verwandeln.

Die Deutschland-ist-Schlusslicht-Attitüdehat kein einziges der beschworenen Problemekleiner gemacht – nicht die (im europäischenDurchschnitt leider »normale«) Arbeitslosigkeit,nicht die (im europäischen Durchschnitt rechtunauffällige) Steuer- und Abgabenquote, nichtdie globale Konkurrenz (unserer Exportwelt-meisterökonomie), nicht die jährlichen Milliar-dentransfers von West nach Ost (die kein ande-res europäisches Land aufbringen muss), nichtdie demografische Fehlentwicklung. Doch dastheatralische Dauerlamento scheint sich über-lebt zu haben. Mit einem letzten Stückchen Ka-tastrophenrhetorik ragte der hessische Minister-

präsident Roland Koch in die neue Zeit hinein,als er während der Koalitionsverhandlungen mitlandesweitem »Heulen und Zähneklappern«drohte – wegen der zu erwartenden Einsparun-gen. Die neue, zupackende No-nonsense-Hal-tung nahm hingegen Finanzminister Peer Stein-brück ein, der von einer schwierigen Lagesprach, zugleich aber keinen Zweifel daran ließ,dass er der richtige Mann und diese Regierungdie richtige Regierung sei, sie zu verbessern.

Was allerdings das jahrelange Krisengerededer Psyche der Menschen angetan hat, die nuneinmal in diesem und in keinem anderen Landleben, lässt sich bisher nur erahnen: an der hams-terhaften Sparquote, an den depressiven Zu-kunftseinschätzungen, die manche Umfragen zuTage fördern. Vermutlich ist zum Teil auch dieum sich greifende Kinderlosigkeit ein Indiz.

Plötzlich erscheint der alte Konsenswieder als ganz attraktive Idee

Es ist kein Wunder, dass vor diesem dunkel-grauen Stimmungshintergrund das unernsteste,geschmackloseste Produkt der Krisenbesoffen-heit bei praktisch niemandem, den man fragt,gut ankommt: die kindergartenhafte Du-bist-Deutschland-Kampagne, in der die Gewinnerder Wissensgesellschaft den Verlierern begüti-gend mitteilen, manchmal müsse man sich ein-fach nur ein bisschen mehr anstrengen. Als Tief-punkt im D-b-D-Fernsehspot wird von vielendas Kind empfunden, das auf die Kamera zu-rennt und quengelt: »Geh runter von der Brem-se!« Wäre es ein Monty-Python-Film, würde dasKind (dessen kleine Darstellerin für den Textselbstverständlich überhaupt nichts kann) in dernächsten Szene von einem Porsche Cayenneüberfahren werden, in dem Deutsche-Bank-Ma-nager sitzen.

Doch die Sache ist nur begrenzt komisch.Jene neoliberale Ideologie, die in letzter Konse-quenz zu solchen Agenturglanzleistungen führt,bestimmt das gesellschaftliche Klima in unseremLand seit etwa Mitte der achtziger Jahre. Sie hatdas Lebensgefühl von Menschen verändert:Heute spielt es zum Beispiel eine weit größereRolle, wo man wohnt, was man trägt, welchesAuto man fährt, wohin die Urlaubsreise geht, alsin den siebziger Jahren. Auch wenn der Ausstat-tungsgrad mit Fernsehapparaten, Waschmaschi-nen und Handys heute höher sein mag als jemalszuvor, sind die Besitzer dieser Konsumgüternicht glücklicher als früher – weil man einenFernseher besitzen und trotzdem in der Gesell-schaft nur einen peripheren Platz haben kann.

Die einigermaßen egalitäre, einigermaßen so-lidarische Bundesrepublik verschleierte das na-gende Gefühl von Ungleichheit und Bedeu-tungslosigkeit gnädig. Doch dann setzte sich einschärferer, kälterer Ton durch, dem die solidari-sche Wärme als miefig galt: »Leistung« und »Ei-genverantwortung« wurden über Nacht zu Leit-begriffen. Dagegen ist an sich nichts einzuwen-den. Doch »Leistung« und »Eigenverantwor-tung« haben eine Bedeutungskehrseite. Wernichts oder nicht genug leistet, ist auch wenigerwert als die anderen. Wer nicht allein zurecht-kommt, dem wird nicht Pech, sondern oftSchmarotzertum unterstellt. Und wer es zum»Leistungsträger« geschafft hat, darf protzen. Die»Popper«, Teenager, die plötzlich nicht mehr an-ders aussehen wollten als ihre Eltern, sondernFreude daran hatten, sich über jene Mitschüler zuerheben, die weder Lacoste- noch Benetton-Pull-over trugen, waren die Boten dieser Veränderung.

Wie ist über die deutsche Gleichmacherei,den deutschen Egalitarismus gehöhnt worden!Heute haben wir erste Gelegenheiten, eine Ge-sellschaft zu besichtigen, die sich ausdifferenzierthat, und plötzlich erscheint (mit einem nervö-sen Seitenblick auf die Unruhen in Frankreich)der alte egalitäre Konsens als ganz attraktive Idee.Denn dieser Konsens führt ja nicht nur dazu,dass sich die »Unteren« weniger schlecht fühlen– er sorgt auch dafür, dass sie den »Oberen« ihr

Glück nicht allzu übel nehmen. Diese Toleranzfür Besserverdienende ist allerdings vor allemdurch die Protzexzesse der New-Economy-Jahreauf eine harte Probe gestellt worden. Wenn die,die genug Geld haben, sich generell keine de-monstrative Bescheidenheit mehr auferlegen,werden diejenigen, die zu wenig Geld haben, ir-gendwann ihr Missfallen zum Ausdruck brin-gen. Das ist dann ein Affekt, der sich aus-nahmsweise nicht, wie sonst gern in Deutsch-land, gegen Staat, Obrigkeit und Politik richtet– sondern gegen den Mitbürger.

Grundsätzlich scheint es nicht gut zu sein,wenn sich größere Gruppen nicht mehr als Teildieser Gesellschaft empfinden, sondern als Aus-geschlossene oder Unbeteiligte. Dann werdenihnen die Spielregeln der braven Bürger nämlichgleichgültig – eine höchst unangenehme Folgevon Differenzierung. Betrachten wir eine Szeneim Gerichtssaal eines ostdeutschen Landge-richts: Ein paar Skinheads, keine eigentlichenNazis, sondern Säufer und Kriminelle, werdenwegen eines brutalen Verbrechens verurteilt.Man könnte sich vorstellen, dass die 40 anwe-senden Zuschauer die Angeklagten wegen ihrerUntaten lynchen wollten. Aber das ist ganz undgar nicht so. Sie stehen vielmehr auf der Seite derOutlaws, und ihre ganze lautstarke Feindselig-keit richtet sich gegen Richter, Staatsanwälte,Gerichtsdiener, Anwälte und anwesende Jour-nalisten – gegen alle, die hier im weitesten Sin-ne Bürgerlichkeit verkörpern. Dieses Mal pas-siert nichts außer Gepöbel – aber es wird deut-lich, dass die Veranstaltung »Rechtsstaat« docherstaunlich stark davon abhängt, dass alle an dieMacht des Rechts glauben.

Am Pranger standen in den Jahren des Anti-Egalitarismus auch immer wieder die Gewerk-schaften, die gern für den »Stillstand« inDeutschland verantwortlich gemacht wurden.Dass sie einen erheblichen Beitrag zum sozialenFrieden leisten, weil sie den Arbeitskampf in dieBahnen eines geordneten Verfahrens lenken,wird dabei gern vergessen. Und doch dürfte essehr viel angenehmer für Manager sein, wenn siesich nicht mit dem ungefilterten Unmut aufge-brachter Belegschaften konfrontiert sehen. Daszeigten die letzten wilden Streiks bei Opel, beidenen nur die brennenden Tonnen vor denWerkstoren fehlten. Sie gemahnten leichtfertigeKrisengeneralsachverständige daran, dass stetsmit dem Feuer spielt, wer die Bürger spontan aufdie Barrikaden ruft, wogegen auch immer.

Vor diesem Hintergrund wirkt die 1997er»Ruck«-Rede des damaligen BundespräsidentenRoman Herzog wie der Ausgangspunkt allernachfolgenden Unernsthaftigkeit. Sie suggerier-te, alles sei ganz einfach, und es mangele den Ver-antwortlichen nur an der Entschlusskraft, aufden einen, einzigen, alternativlosen Reform-knopf zu drücken. Aber nichts ist einfach. Überdie Art der deutschen Anfechtungen, also überdie Arbeitslosigkeit, das Demografieproblem, dieNot der Renten- und Krankenkassen ist man sichvielleicht noch einig. Aber schon über die Größeund Beschaffenheit dieser Anfechtungen gibt esunterschiedliche Meinungen: Ein VW-Vorstandwürde diese ganz anders beschreiben als ein Al-tenpfleger, ein Polizist, eine Grundschullehrerinoder ein Orthopäde. Vor allem aber ist der Wegzur Besserung eben nicht, wie Herzog suggerier-te, quasi naturgesetzlich vorgegeben.

Wie genau bringt man allen Kindern in einerKlasse das Lesen bei? Soll man Geld für präven-tive Jugendprojekte ausgeben oder für Gefäng-nisse? Wie konnte es geschehen, dass die Ar-beitsmarktreform als zutiefst unsozial gilt, ob-wohl sie gegenüber der alten Regelung viele Mil-liarden zusätzlich verschlingt? Warum ist eineprivate Rentenversicherung besser als die staatli-che? Wie organisiert man die ideale Krankenver-sicherung? Das »Umsetzungsproblem« ist der be-rechtigte Streit darüber, welche Umsetzung manhaben will. Auch dabei geht es um Interessen,Überzeugungen, Moden: Man kann die Steuernso gewaltig senken wie Rot-Grün (60 Milliarden

Euro im Jahr) und damit schlechte Presse undkeine neuen Arbeitsplätze produzieren – oderman kündigt eine Steuererhöhung an, wie dieGroße Koalition, und schafft es doch nicht, densich anbahnenden Aufschwung zu ruinieren.

Jedenfalls wird das Ringen um eine einheitli-che Bestandsaufnahme und um die best practiceder Problemlösung nun, da das politische Berlinnicht mehr in der Mitte gespalten ist, innerhalbder großen Regierungskoalition stattfinden. Fürniemanden liegt jetzt noch Gewinn im Verhin-dern erfolgversprechender Vorschläge. Auchmuss nicht länger CDU-Oppositionspolitiküber den Bundesrat koordiniert werden.

Dass für Wirtschaftslobbyisten gänzlich un-spaßige, womöglich harte Zeiten anbrechen, liegtauf der Hand: Sie können ihre Kritik an der Re-gierung nicht länger wie in der rot-grünen Äraquasi direkt in die Oppositionsarbeit einspeisen.Ein bisschen Ehrfurcht für das innige Bemühenvon Union und SPD um gute Lösungen für dasLand erwarte sie schon, ließ Angela Merkel jeneUnternehmer wissen, die am Koalitionsvertragherumgenörgelt hatten. Miesmacherei, sagte jeneCDU-Vorsitzende, die noch vor wenigen Wochen einen Wahlkampf mit Untergangsstim-mungsplakaten bestritten hatte, gefährde die psy-chologischen Voraussetzungen des Aufschwungs.

Selbst Christiansen fragt vergnügt:Ist Deutschland besser als sein Ruf?

Unterstützt bei ihrer Abkehr von der früheren,wohl doch nicht ganz ernst gemeinten Krisenrhe-torik wird die Bundeskanzlerin von der wichtigenMeinungsmacherin Sabine Christiansen. In de-ren Talkshow hatte sich Sonntag um Sonntag einKatastrophenszenario an das nächste gereiht. Jetztfragte sie vergnügt in ihrer Jahresabschluss-sendung: Deutschland, besser als sein Ruf? DerSPD-Vorsitzende Matthias Platzeck und der lin-ke Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel durftenmit Schwung und Begeisterung eine solidarischeRepublik skizzieren und ausgiebig darauf hinwei-sen, dass die Arbeitnehmer nunmehr genug Vor-leistungen erbracht hätten. Das Wirtschaftslagersah sich überraschend auf die Herren Niebel vonder FDP und Kannegießer von Gesamtmetall re-duziert und wirkte plötzlich so rückständig undsaurierhaft wie ver.di-Vertreter noch vor sechsMonaten. Schon ist man geneigt zu fragen, wasdas eigentlich war: Neoliberalismus?

Bereits jetzt ist erkennbar, dass die schwerge-wichtige Koalition die Perspektive der Medienverändern wird. Wer Helmut Kohl, wer GerhardSchröder kritisierte oder auch lächerlich mach-te, der wandte sich ja »nur« gegen die Regierung– eine für Presseleute übliche, demokratisch er-probte Haltung. Wer aber heute frontal gegendie Große Koalition angeht, wer ihr in gleicherWeise die Regierungsfähigkeit abspricht, wie esRot-Grün gegenüber üblich war, stellt sich man-gels Alternativen de facto gegen das politischeSystem, gegen die letzte derzeit vom Wähler er-möglichte seriöse Regierungsvariante. Das wer-den die wenigsten wollen und sich also auf diesachliche Qualität der Koalitionspolitik konzen-trieren, was dieser zugute kommen dürfte: hof-fentlich ein Beitrag zur neuen Ernsthaftigkeit.

Uns steht 2006 ein interessantes Lehrstück insymbolischem Interaktionsimus bevor: Wennalle überzeugt sind, die Bank ist pleite, dann istsie pleite. Was die Menschen für real halten, istin seinen Konsequenzen real. Die neue Regie-rung scheint erstaunlicherweise auf dem Weg,die Leute glauben zu machen, dieses Land seiganz in Ordnung. »Wir haben große Möglich-keiten. Deutschland ist voller Chancen«, laute-ten zwei Kernsätze in der Regierungserklärungvon Angela Merkel. Und Matthias Platzeck sag-te auf dem Parteitag, der ihn zum SPD-Vorsit-zenden wählte: »Deutschland ist ein wunder-schönes Land.« Das muss heute extra gesagtwerden, weil es sich inzwischen nicht mehr vonselbst versteht. Lustig ist das nicht. Aber richtig.Und ganz offenbar ernst gemeint.

Viel Spaßdabei Seitdem Angela Merkel ihren Dienstim Kanzleramt angetreten hat, herrschtim Land eine neue Ernsthaftigkeit.Muss das sein?

Von Susanne Gaschke

Illustration: Beck für DIE ZEIT, www.schneeschnee.de

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Heiner Geissler (links) war von 1977 bis 1989 CDU-Generalsekretär,

Norbert Röttgen gilt als Vertrauter von Angela Merkel

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DIE ZEIT: Angela Merkel verspricht eine Politik derkleinen Schritte. Heiner Geißler beklagt dagegen,der Union fehle der Blick fürs große Ganze – dieCDU brauche eine »neue soziale und ökono-mische Philosophie«. Können Sie die liefern, HerrRöttgen?Norbert Röttgen: Ich würde sogar noch weiter ge-hen als Heiner Geißler: Seine Diagnose beschreibtnicht den Mangel einer Partei, sondern einenMangel der geistig-politischen Lage des Landes.Aber aus Sicht der CDU gibt es eine Perspektive:Unser Menschen- und Gesellschaftsbild – Perso-nalität, Subsidiarität, Solidarität – ist heute soaktuell wie bei der Einführung der sozialen Markt-wirtschaft. Globalisierung und Wissensgesell-schaft stellen unsere Grundwerte nicht infrage, wirmüssen sie lediglich neu anwenden. Umbruchzei-ten sind immer auch Zeiten der Suche.ZEIT: Die Globalisierung ist ja kein neues Phäno-men. Warum kommt die Politik trotzdem nichtvom Fleck bei der Suche nach Antworten, HerrGeißler?Heiner Geißler: Die politischen Parteien betreibeneine Inzuchtdiskussion, wie auch die Wirtschafts-wissenschaften und die Kirchen. Sie diskutierenalle Möglichkeiten innerhalb des derzeitigen öko-nomischen Systems, das aber als solches falsch ist.Deswegen kommt man zu keinem positiven Er-gebnis.ZEIT: Solange Angela Merkel keine Antwort hat,haben Sie eine?Geißler: Wir brauchen eine neue Ordnung, eineinternationale sozial-ökologische Marktwirtschaft,den Gegenentwurf zur Diktatur des Anarcho-Ka-pitalismus mit seinem Shareholder-Value.Röttgen: Ich weiß aber nicht, wer die vertritt. DieCDU jedenfalls nicht! Wir setzen auch heute aufeine wertgebundene Wirtschaftsordnung.Geißler: Vielleicht in der Theorie. In der Praxis sindHiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt Siegesmel-dungen an der Börse: ein ziemlich perverses Sys-tem, das von den Neoliberalen auch noch be-klatscht wird. Die soziale Marktwirtschaft kannteaber den geordneten Wettbewerb. Wir haben in derWeltwirtschaft keine Ordnung mehr, sie ist viel-mehr eine Welt der Anarchie. Es gibt keine Geset-ze, keine Regeln, keine sozialen Übereinkünfte.Von diesem System profitieren sowohl die Mafiaund die Drogendealer als auch der Terrorismus,weil bei diesem System nur noch ein Gesichtspunkteine Rolle spielt, nämlich das Interesse des Kapitals.Die CDU muss erkennen, dass der pure Kapitalis-mus genauso falsch ist wie der Kommunismus. Röttgen: Die CDU ist gerade mit der sozialenMarktwirtschaft einen neuen Weg jenseits vonKapitalismus und Sozialismus gegangen. Das giltauch heute. Ich fürchte aber, dass es kompliziertergeworden ist, weil die soziale Marktwirtschaft beiihrer Einführung ja darauf basierte, dass Wirt-schaftssystem und Nationalstaat deckungsgleichwaren. Jetzt aber entzieht sich die Wirklichkeit im-mer mehr dem Zugriff des Nationalstaates. Nachmeinem Verständnis muss der Staat heute deshalbanders agieren: Ein Teil der Gestaltung von Glo-balisierung ist, dass wir kulturell, politisch undwirtschaftlich an ihr teilnehmen. ZEIT: Das ist aber ein Plädoyer für den Rückzug desStaates.Röttgen: Nein, das ist ein Plädoyer für eine neueOrdnungspolitik und ein modernes Staatsverständ-nis. Der moderne Staat verhandelt nach außen mitden verschiedensten supranationalen Akteuren –UN, Weltbank, WTO und NGOs –, um gemein-same Wettbewerbsregeln und soziale und ökologi-sche Standards festzulegen. Deshalb brauchen wirkeinen Weltstaat, aber einen globalen Ordnungs-rahmen. Nach innen müssen wir unseren Standortwettbewerbsfähig machen. Wenn wir internationaleKonzerne im Land halten wollen, brauchen wir in-ternational wettbewerbsfähige Steuersätze. Geißler: Diese werden dem Staat seit Jahren von deninternationalen Konzernen abgepresst, indem sie –global aufgestellt – die Nationalstaaten gegeneinan-der ausspielen. Sie sind die eigentlich Mächtigen –nicht die UN mit ihren Dependancen.

Röttgen: Du bestreitest etwas, was einer innerenLogik folgt. Der große Trend, der dazu führt, dasswir in Deutschland Arbeitsplätze verlieren, hat sei-ne Ursache darin, dass die Produktionsbedingun-gen an anderen Orten dieser Erde günstiger sind,dass die Kosten geringer sind und dass die Produk-tivität höher ist. Hier können wir besser werden.Wir setzen deshalb vor allem auf Bildung, auf Eliteund Exzellenz, auf Förderung von Wissenschaftund neuen Technologien.Geißler: Letzterem stimme ich ausdrücklich zu –wenn wir es nur täten. Wo bleiben aber deineWettbewerbsregeln und sozialen und ökolo-gischen Standards – zumindest in der EU? Lohn-dumping ist doch nicht die Lösung der Probleme.Große Konzerne wie E.on oder Telekom machenMilliarden Gewinne, treiben die Kapitalrenditenach oben. Und anstatt in Forschung, Innovationund neue Technologien zu investieren, werdenZehntausende Menschen entlassen und dem soverachteten Sozialstaat buchstäblich vor die Türgekippt. Ist das in Ordnung? Genauso indiskuta-bel ist, dass Hedgefonds, wie etwa die Texas Paci-fic Company, eine kerngesunde Firma wie Grohehoch spekulativ mit Krediten aufkaufen, mehr alstausend Mitarbeiter feuern und die Firma imGanzen oder in Teilen mit Gewinn wiederver-kaufen kann. Das ist nicht zu akzeptieren. Röttgen: Das sagt kein Mensch. Ich habe doch ge-rade von einer neuen Ordnungspolitik mit neuenStandards gesprochen. Geißler: Endlich sagt das jemand aus der Führungder CDU. Röttgen: Ich finde, dass du es dir zu einfachmachst. Geißler: Im Gegenteil. Es könnte sonst für dieCDU ziemlich kompliziert werden.

Röttgen: Du nimmst einen Teil der Wirklichkeitfür das Ganze. Geißler: Ich fordere doch gerade, dass wir die Pro-bleme endlich angehen. Die parteipolitische Land-schaft wird in vier Jahren ganz anders aussehen,wenn die Union keine Antwort gibt, wie die Weltvon morgen aussehen soll. Denn ich muss ja auchden 15- oder 20-Jährigen eine Perspektive geben.Die fragen danach, wie sie mit 26 eine Familiegründen und Kinder in die Welt setzen sollen,wenn sie gar nicht wissen, wohin der Laden geht.Eine solche Perspektive ist nicht da. Röttgen: Dann müssen wir an ihr arbeiten! Siekönnte nach meiner Überzeugung in einerneuen Verantwortungskultur liegen, die Politik,Unternehmen und Bürger gleichermaßen ein-bezieht. Verantwortungskultur bedeutet, dasswir Leistung bejahen und den Bildungsschwä-cheren würdevolle Teilhabe in der Gesellschaftverschaffen – nicht nur einen Abstellplatz. Du,Heiner, hast in den siebziger Jahren die neue so-ziale Frage aufgeworfen: Wie kann der Staat de-nen eine Stimme geben, die keine haben? Heu-te stellt sich die neue soziale Frage anders: Wiekönnen wir all denen Teilhabe ermöglichen, dieohne Chancen sind? Die Antwort muss diegesamte Gesellschaft geben. Ich plädiere zumBeispiel dafür, staatliche Regulierung von Un-ternehmen zu reduzieren, um ihr freiwilligesEngagement für die Gesellschaft zu aktivieren.Von dieser »Corporate Social Responsibility«profitieren die Unternehmen übrigens auchökonomisch. Selbstbindung und Selbstver-pflichtung sind die Kennzeichen einer moder-nen Bürgergesellschaft der Zukunft. Geißler: Lieber Norbert, das halte ich mit Verlaubfür Lyrik. Das können die Firmen schon heute, sie-he Porsche, Bertelsmann, BMW, die im Übrigenauch nicht rücksichtslos rationalisieren. Röttgen: Was du Lyrik nennst, nehmen viele Un-ternehmen heute äußerst ernst. Im Übrigen sindRationalisierungen grundsätzlich notwendig, siesind die Voraussetzung für den Wohlstand vonmorgen. Dagegen würdest auch du nichts unter-nehmen. Geißler: Aber selbstverständlich würde ich etwasunternehmen.Röttgen: Man muss aufhören, den MenschenScheinlösungen zu präsentieren und die Allmachtder Politik zu suggerieren.Geißler: Aber Wirtschaft und Kapital sind ein Teilder Res publica und haben den Menschen zu die-nen und nicht sie zu beherrschen. Warum sollenetwa Spekulanten, Fondsvertreter, die nur inQuartalsabschnitten denken und innerhalb vondrei Monaten nur Rendite erzielen wollen und amUnternehmen selber überhaupt kein Interessehaben, auf der Aktionärsversammlung ein Stimm-recht haben?Röttgen: Entschuldigung, Heiner, dazu hat derStaat doch gar nicht das Recht. Er kann doch demEigentümer nicht sagen, er dürfe kein Interesse an

der Rendite seines Unternehmens haben, weil ersonst ein Spekulant sei.Geißler: Es geht um das langfristige Interesse, dassder Betrieb auch in fünf Jahren noch etwas wertist. Das hat der Spekulant nicht. Röttgen: Natürlich muss man Auswüchsebekämpfen, ohne aber die Freiheit des Unterneh-mens zu beschneiden. Geißler: Richtig. Aber wir zwei haben in der Aus-länder- und Menschenrechtspolitik immer dieVerfassung hochgehalten. Sie gilt auch hier:Eigentum verpflichtet und muss zugleich demAllgemeinwohl dienen, heißt es in Artikel 14Grundgesetz. ZEIT: Ist das Problem nicht eher grundsätzlich, obund wo die Politik überhaupt noch einen Fuß indie Tür bekommt? Geißler: Da haben Sie Recht. Die politischen Par-teien befinden sich im Schlepptau eines von denwirtschaftswissenschaftlichen Instituten angeführ-ten Meinungskartells. Wir brauchen eine neueAufklärung. Es kann doch nicht richtig sein, dassUnternehmen aus Geldgier wie früher die Skla-venschiffe mit Mann, Frau und Kind verkauft wer-den. Gott sei Dank gibt es noch einen Bundesge-richtshof, der das erkennt.Röttgen: Die große Herausforderung sehe auchich darin, der sozialen Marktwirtschaft internatio-nal Geltung zu verschaffen. In dieser Perspektivegeht Globalisierung dann einher mit einem Sie-geszug von Menschenwürde, Freiheit und Demo-kratie. Allerdings ist dies ein Prozess von Jahr-zehnten. Die nächste Wahl ist damit noch nicht zugewinnen. Geißler: Doch. Wir müssen den Menschen einePerspektive und eine begründete Hoffnung geben. Röttgen: Ich finde, wir müssen damit aufhören,den Bürgern etwas vorzumachen. Das ist meineKritik an dir, in Inhalt und Ton: Du versprichstmehr, als du halten kannst. ZEIT: Herr Geißler, ist der Einwand nicht berech-tigt, dass Ihre Vorschläge utopisch sind? Sie warenselbst jahrelang Minister. Wo bleibt das Wissen desRealpolitikers Heiner Geißler?Geißler: Was ich beschreibe, ist doch höchst rea-listisch. Es ist ja keine Aufgabe der Regierung, dieauf Sicht arbeiten und die konkreten Problemelösen muss, angefangen beim Gammelfleisch biszum Versammlungsrecht. Die Parteien müssteneigentlich die großen Fragen anpacken, die Kon-zeptionen für die Zukunft entwickeln. Die Gefahrfür die CDU als Regierungspartei ist, dass sie überdas Regieren das Nachdenken vergisst. Röttgen: Darum haben wir im Bundesvorstandbeschlossen, im nächsten Jahr mit einer Grund-satzdebatte in der Partei zu beginnen. Und in derBundestagsfraktion ist klar, dass wir nicht nur diefachliche Gesetzesarbeit machen, sondern auch dieinhaltliche Modernisierung der Union betreibenwollen. Politik muss vorgedacht, nicht nur ver-waltet werden. Geißler: In Zeiten, in denen die CDU erfolgreichwar, war das immer der Fall. Dagegen hat sie seit1989 einen totalen Abstieg erlebt – jetzt sind wirbei 35 Prozent gelandet –, weil sie auf eine per-spektivische Politik verzichtet hat. Ich nenne nurdas Beispiel Zuwanderung: Hier hat die kurzsich-tig orientierte Politik, die in den neunziger Jahrenbetrieben worden ist, dazu geführt, dass wir viel zuspät zu einem vernünftigen Integrationskonzeptgekommen sind. ZEIT: Ist die CDU unter Angela Merkel zum Vor-denken in der Lage? In ihren sieben Jahren als Ge-neralsekretärin und Parteivorsitzende hat FrauMerkel zur programmatischen Erneuerung derUnion eher wenig beigetragen. Das einzige Schlag-wort, das blieb, war »Neue soziale Marktwirt-schaft«. Geißler: Den Begriff hat sie sich stehlen lassen. Fürmich ist es ein Riesenärgernis, dass diese kryptischeInitiative Neue Soziale Marktwirtschaft unter Vor-sitz von Herrn Tietmeyer den Begriff der CDUusurpiert hat. Röttgen: Weißt du, warum der Begriff bis heutenicht erfolgreich war? – Weil wir mit ihm keine

Vorstellungen verbunden haben. Ein Begriff, derohne Vorstellungen ist, ist tot.Geißler: Richtig, aber er war einmal sehr erfolg-reich und könnte eine globale Renaissance erleben. ZEIT: Herr Röttgen, Sie sitzen mit dem Hauptgeg-ner der Union, der SPD, in einer Regierung. Fälltes in einer Großen Koalition nicht noch schwerer,das Profil der CDU zu schärfen? Röttgen: Ich glaube, dass man durch die Befreiungaus der Oppositionskonfrontation vielleicht sogarmehr Souveränität findet, um sich diese Fragen zuleisten. Es gibt doch eine einfache Ursache, warumdiesen Fragen bisher nicht nachgegangen wordenist: Sie sind schwierig zu beantworten. Wir alle indieser Gesellschaft sind auch auf der Suche – bisauf Heiner Geißler.Geißler: »Trial and Error« haben Politik und Wirt-schaftswissenschaften nun lange genug geübt.Man kann nicht immer auf »letzte Erkenntnisse«warten. Armut und Arbeitslosigkeit sind inzwi-schen die Treibsätze des Terrorismus geworden. Röttgen: Ich glaube, wir müssen die politischeKultur des Landes verändern. Wir dürfen unange-nehme Fragen nicht aus Angst tabuisieren. Außer-dem dürfen wir die Lösung unserer Probleme nichtnachfolgenden Generationen übertragen – etwabei der Verschuldung. Darum lag in der ehrlichenWahlkampfführung der Union ein wichtiger Bei-trag zur Veränderung der politischen Kultur. Geißler: Die Ehrlichkeit nützt gar nichts, wenn dieehrlichen Vorschläge falsch sind. Röttgen: Wenn wir die großen Probleme unseresLandes – Gesundheit, Rente und Haushalt – wirk-lich lösen wollen, dann dürfen wir in Zukunft da-mit nicht mehr konfrontativen Wahlkampf ma-chen. Das ist für mich die wichtigste Erkenntnisdes letzten Wahlkampfs. Wenn immer eine Volks-partei die Vorschläge der anderen diskreditiert, hatam Ende keine von beiden mehr die Kraft, das

Nötige für die betroffenen Menschen zu tun. Dasführt zu Politikunfähigkeit. ZEIT: Aber braucht es den politischen Streit nicht,gerade um die großen Reformprojekte?Röttgen: Der erschreckende kollektive Vertrauens-entzug der Bevölkerung in die Politik hat seine Ur-sache darin, dass die Politiker und die Parteien sichund ihren Erfolg, also ihre machtpolitischen Inte-ressen wichtiger genommen haben als ihre sach-politische Aufgabe. Das ist jahrzehntelang so prak-tiziert worden. Das ist meine Kritik am Parteiensys-tem: der Exzess der machtpolitischen Interessen derParteien gegenüber ihrer sachpolitischen Aufgabe.Wir sind damit sowohl moralisch als auch ökono-misch gescheitert. Dies zu ändern ist die eigentlicheAufgabe und Legitimation einer Großen Koalition. Geißler: Einverstanden. Aber nur für die nächstenvier Jahre. Es gibt keinen Fortschritt ohne denWettbewerb der Ideen und Argumente. Wo alledasselbe denken, wird nicht viel gedacht, und dieEskalation nach unten beginnt: konform, uni-form, chloroform.

DIE FRAGEN STELLTEN GUNTER HOFMANN UND

PATRIK SCHWARZ

4 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 4 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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»Aber Norbert, das ist doch Lyrik!«Wie viel Kapitalismus tutDeutschland gut? Und wie viel Sozialismus braucht die CDU? Ein Streitgespräch zwischen dem CDU-Veteran Heiner Geißlerund dem Geschäftsführer der Unionsfraktion Norbert Röttgen

»Du versprichst mehr,als du halten kannst«

»Was ich beschreibe, istdoch höchst realistisch«

POLITIK

Page 5: Die Zeit 2006 01

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29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 5POLITIK

Ewig spukt der Heidemörder

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selbst unter Verdacht, dass ihr im Auto auf demHeimweg nach Flensburg plötzlich der Gedankedurch den Kopf schießt: Sollte der …? Und immernoch kreisen die Fantasien um die Stimmzettel vondamals, auf denen sich Fingerabdrücke befindenmüssen und die, wie Innenminister Stegner zu wis-sen meint, demnächst wohl vernichtet werden.

Andererseits, sagt Holger Astrup, der parla-mentarische Geschäftsführer der SPD, habe natür-lich jeder seinen Hauptverdächtigen. »Aber manvergisst immer häufiger, daran zu denken, wennman ihn auf dem Gang trifft.« Astrup war selbstunter Verdacht geraten, weil er schon seit Jahrenauf seinem Fraktionsposten verharrt, obwohl erkeinen Hehl daraus macht, dass er sich für einengeeigneten Bewerber um ein Ministeramt hält.

29 Abgeordnete hat die SPD, mindestens 28haben für Heide Simonis gestimmt. Dass der Ab-weichler, der »Heidemörder«, wie die taz spottete,kein Abgeordneter der Grünen oder des SSW war,darüber herrscht Einigkeit in der Fraktion.

Allenfalls unter vier Augen rede man über denVerräter in den eigenen Reihen, sagt der stellver-tretende Fraktionsvorsitzende Jürgen Weber.»Man gibt sich zu verstehen, dass man denselbenim Auge hat.« Ein einziges Mal, erzählt IngridFranzen, die noch von Heide Simonis abgesetztefrühere Ministerin, habe die Fraktion das Themain größerer Runde behandelt, und das auch nur imScherz. Auf einer Reise, die der Bewältigung desgemeinsamen Traumas dienen sollte, sei jeman-dem eine Bild-Zeitung in die Hände gefallen, da-rin die Nachricht, der anonyme Informant, der inden USA die Watergate-Affäre ins Rollen gebrachthatte, habe sich im Alter von 91 Jahren zu erken-nen gegeben. Da habe man gewitzelt, wie alt manselbst wohl sein werde, wenn es endlich heraus-komme. »Das hatte durchaus etwas Befreiendes.«

Viele in der Fraktion haben Frieden mit ihrenGenossen nur gefunden, weil sich ihr Verdacht aufwenige Personen konzentriert. Von Anfang an, sagtFraktionsvize Weber, habe er drei Leute im Augegehabt. Inzwischen sei noch einer übrig. Der Kreisder Verdächtigen sei sehr klein, sagt auch GünterNeugebauer, der Alterspräsident des Parlaments.Lothar Hay, der Fraktionsvorsitzende, geht so weit,sich das Nachdenken über die Motive des oder derUnbekannten zu versagen. »Wenn ich von einembestimmten Täterprofil ausgehen würde, könnteich nicht mehr unbefangen mit den Kollegen ausder Fraktion umgehen.«

Andere legen sich in dieser Frage weniger Zu-rückhaltung auf. Das sei »ein gewiefter Taktiker«,sagt Hays Stellvertreter Weber über seinen persön-lichen Hauptverdächtigen. Und es sei »jemand,der im Umgang mit anderen, was die persönlichenInteressen angeht, nicht zimperlich ist«. Wird derUnbekannte sich je zu erkennen geben? »Ich binder festen Überzeugung, diese Person wird es we-der dem Ehepartner noch dem persönlichen Um-feld noch sonstwie verraten. Das ist eine Person,die das mit sich selbst abmacht, weil sie glaubt, esvor der Geschichte rechtfertigen zu können.«

Wie das? Nun, sagt Weber, wäre die SPD inSchleswig-Holstein und womöglich sogar in Nord-rhein-Westfalen an der Macht geblieben, dann wäreeine schwere Niederlage bei der Bundestagswahl imkommenden Jahr unausweichlich gewesen. So aberkönne man im Land wie im Bund auf Jahre hinausmitregieren. »Darum glaube ich, dass die Person fürsich eine plausible politisch-historische Begründunggefunden hat.« Dass er selbst diesen Gedankengangnicht abwegig findet, das räumt der stellvertretendeFraktionschef mit erkennbarem Ingrimm ein.

Um Webers Zorn zu verstehen, muss man sichdie Handlungsweise des oder der Unbekannten ver-gegenwärtigen. Es war ja nicht damit getan, viermalnacheinander im Plenum des Landtags anonym ge-gen Heide Simonis zu stimmen. Zwischenzeitlichhatte sich die Fraktion zu einer Krisensitzung ver-sammelt. Abgeordnete der Grünen waren hinzuge-kommen. Tränen flossen, die SSW-AbgeordneteAnke Spoorendonk, die wegen ihrer Unterstützungfür Rot-Grün anonyme Morddrohungen erhaltenhatte und unter Polizeischutz stand, stürmte in denRaum und las den verdatterten Sozis die Leviten.Schließlich kam es zu jener geheimen Probeabstim-mung, die dem Abweichler Gelegenheit verschaffensollte, der Ministerpräsidentin anonym mitzuteilen,dass sie mit seiner Unterstützung nicht rechnenkönne. Doch der Unbekannte, der ihr politischesEnde wenige Minuten später besiegeln würde, wieg-te Heide Simonis in Sicherheit.

Dafür, sagt Jürgen Weber, muss man »einenganz besonderen Charakter« haben.

Der Täter müsse ein Mann sein, »der sich als et-was Besseres fühlt«. Das hat Heide Simonis selbstüber den Unbekannten gesagt. Und dass es jemandsei, dem sie »etwas vorenthalten habe, was er glaub-te, nur durch mich« bekommen zu können.

Am Ende der Spurensuche in Kiel hat auch derAutor seinen persönlichen Verdächtigen. Er hat ei-

nen Mann von umwerfender Arroganz getroffen,der mit Blick auf die eigene Fraktion wie selbst-verständlich zwischen jenen, »mit denen zu spre-chen sich lohnt«, und den Übrigen unterscheidet.Beobachter und Weggefährten sagen ihm nach, erhabe sich unter Heide Simonis vergeblich um allemöglichen Ämter bemüht, was er entschieden be-streitet. Sich selbst charakterisiert der Mann als»Brecher« und »harten Hund«; über den unbe-kannten Abweichler sagt er verständnisinnig, die-ser werde »nicht froh, weil er seine Freude mit nie-mandem teilen kann«. Und wenn er das geschei-terte rot-grüne Regierungsgebilde, das der SSWhatte tolerieren sollen, zum Projekt verklärt, dasdem Land »gut zu Gesicht gestanden« hätte, ja eine»Vorbildfunktion für Deutschland« hätte habenkönnen, klingt es ebenso unglaubwürdig wie seineKritik an der Großen Koalition: Stabilität sei jaauch ein »Synonym für Langeweile«.

Aber was beweist all das? »Wer einen Namennennt, der muss die Beweise liefern«, sagt LotharHay. »Man kann einem Menschen auch Unrechttun«, sagt Alterspräsident Günter Neugebauer.

Vielleicht ist diese Frage auch gar nicht so wich-tig. Das Ende von Rot-Grün war wohl ohnehinunvermeidlich, wenn nicht in Kiel und Düssel-dorf, dann spätestens bei der folgenden Bundes-tagswahl. Heide Simonis, das zeigen die Umfragenvor und nach der Landtagswahl, verdankte ihreChance, im Amt zu bleiben, nur einem politischenZwischenhoch. Und dass diese Ministerpräsiden-tin womöglich schon zu lange im Amt war, räu-men selbst Weggefährten ein. Der 17. März, sagtSimonis’ langjähriger Redenschreiber ThomasMaess, der inzwischen eine Schlüsselposition imKieler Sozialministerium innehat, sei die Folge ei-nes »Verschleißprozesses« gewesen, den er selbsthabe beobachten können. »Da werden Loyalitätenbedient und nicht mehr daran gedacht, dass manfür eine neue Aufbruchstimmung eher kritischeGeister braucht.«

Was da in Kiel am 17. März zusammenbrach,das wäre demnach schon vorher brüchig gewesen.Das Opfer war möglicherweise nicht völlig frei vonSchuld. Und der Täter, so hinterhältig er gehandelthat, bewies durch seine Tat womöglich nur, dassdie Ministerpräsidentin abgelöst werden musste,weil sie nicht mehr imstande war, eine stabile Re-gierung zu bilden.

Audio a www.zeit.de/audio

Ohne ihn – oder sie – wäre 2005 anders verlaufen: Welcher Unbekanntestürzte Heide Simonis? Eine Spurensuche in Kiel Von Frank Drieschner

Kiel

Ob er gezögert hat? Oder sie? Der Stimm-zettel war ein A4-Bogen, einfach gefal-tet, darauf zwei Namen. Einmal in dieUrne geworfen, würde er eine Kette

von Ereignissen in Gang setzen, an deren Ende dasEnde der Kanzlerschaft Gerhard Schröders stand. Eswar der 17. März 2005, gegen 16.15 Uhr im KielerLandeshaus. Die SPD verfügte mit ihren Partnernvon den Grünen und dem Südschleswigschen Wäh-lerverband (SSW) über eine Stimme Mehrheit, dieMinisterpräsidentin konnte damit rechnen, im Amtbestätigt zu werden. Die Namen auf dem Stimm-zettel lauteten Heide Simonis und Peter Harry Cars-tensen. Angekreuzt war der Name Carstensen. Ober gezögert hat? Oder sie?

Wenigstens diese Frage lässt sich beantworten.Die Leute, sagt Schleswig-Holsteins neuer Innen-minister, der Sozialdemokrat Ralf Stegner, »sinddoch bei der Stimmabgabe von den Kameras förm-lich seziert worden«. – »Wir haben alle ganz genauhingeguckt«, erzählt einer der Beobachter. »Es warnichts zu erkennen.« Was immer der Unbekanntewollte, was immer ihn antrieb, im entscheidendenMoment hat er entschlossen gehandelt.

An den Folgen dieses Handelns gibt es kaumZweifel. Erst nach der verpatzten Ministerpräsi-dentinnenwahl von Kiel, als Heide Simonis auchim vierten Wahlgang gescheitert war und im Bun-desrat weitere drei Stimmen fehlten, erst da erör-terte Gerhard Schröder mit seinen Vertrauten dieMöglichkeit vorgezogener Neuwahlen im Bund.Ohne den Unbekannten gäbe es also aller Wahr-scheinlichkeit nach keine Kanzlerin Merkel, esgäbe die Große Koalition weder in Kiel noch imBund. Selten einmal hat eine Person so tiefe Spu-ren hinterlassen und zugleich so wenig, das auf sieselbst verweisen würde.

Wer war’s? Die Zeit der öffentlichen Verdächti-gungen ist längst vorbei, zur Ruhe gekommen istKiel bis heute nicht. Immer noch machen Fotos ausden Minuten nach der Abstimmung die Runde, aufdenen dieser Akteur, jene Akteurin in einem Mo-ment echter oder gut gespielter Fassungslosigkeit zusehen ist. »Wie soll man denn gucken, wenn mankonsterniert ist?«, fragt der Innenminister, der zeit-weise als Hauptverdächtiger gehandelt wurde, bisdie abgewählte Ministerpräsidentin selbst eine Eh-renerklärung für ihn abgab. Immer noch passiert esder SPD-Abgeordneten Ingrid Franzen, vormalsLandwirtschaftsministerin und zwischenzeitlich

Die Blumen wurden zur Trauerfloristik:Der Platz der Ministerpräsidentin am 17. März

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Nr. 1 S. 8 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 8 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Jener sagenhafte Ort unterm Gernbergkopf …

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hast den Bayern den Stolz genommen. Und vor der am3. Januar beginnenden Klausur der CSU-Landesgrup-pe in Wildbad Kreuth, jenem sagenhaften Ort untermGernbergkopf an der Straße zum Achenpass, an demdie CSU so sehr zu sich selbst findet.

Zum Mythos der Volkspartei CSU hat Ernst Hins-ken einen Artikel im Bayernkurier geschrieben, den ergerne rausholt. Leider stehen nur Floskeln drinnen.Doch dann stößt man plötzlich auf diese Zeilen: »Beiuns gehen die Uhren nicht anders. Aber wie keine an-dere Partei hat die CSU die Kraft, sie anders zu stellen.«

Ein hübscher Satz. Der italienische Kommunist An-tonio Gramsci hat das »kulturelle Hegemonie« ge-nannt, die Fähigkeit, »eigene Interessen als gesell-schaftliche Allgemeininteressen zu definieren unddurchzusetzen«. Die CSU ist da nach dem Krieg rein-gewachsen. Aber spätestens seit den siebziger Jahren hatsie diese Hegemonie bewusst angestrebt: Das war dasWerk des Generalsekretärs Gerold Tandler. Politik alsProdukt. Die Partei als Marke. Optimismus und Ver-trauen, Tradition und Modernität. Das war damals neu.Und Tandler hat überall die blaue Raute und den gol-denen Löwen hindrucken lassen. Weil Bayern und dieCSU eins sein sollten. Und weil sich auf diese Weise dieCSU unter die Segenshand mogeln kann, die in »Gottmit dir, du Land der Bayern« besungen wird. Marke-tingexperten würden das »positiven Imagetransfer«nennen. Tandler hat diese revolutionäre Strategie fürdie Landtagswahl 1974 gemeinsam mit der legendärenWerbeagentur Team 70 entwickelt. Die CSU gewanndie Wahl mit 62,1 Prozent der Stimmen. Der Kurs wirdseitdem gehalten.

Im machtvollen Viereck aus Landesgruppe, Par-teizentrale, Staatsregierung und Landtagsfraktion hatdie CSU eine eigentümliche Mischung aus Traditionund Moderne erschaffen, aus Ideologieferne und Po-pulismus, aus professionellem Politmanagement undpersoneller Regenerationskraft. Was das in Wahrheitbedeutet, kann man als Außenstehender, als Fremder,als Ausländer aus dem Norden der Republik ohnehinnur erahnen, vielleicht am besten in der Kirche.

Zum 60. Geburtstag der Partei, neulich in Mün-chen. Fast alle sind da: Seehofer und Glos und Huberund Glück und Söder. Diese Männer, diese Herrscherdes Landes, ihre Gesichter kantig und grob und gewitztund mild. Ihre dunklen Limousinen auf dem Platz vorder Mariahilf-Kirche, die Leibwächter davor, von ei-nem Bein aufs andere tretend, rauchend. Die Polizei hatalles abgeriegelt, dunkle Mäntel, Händeschütteln undSchulterklopfen vor dem Portal, leises Nicken im Mit-telschiff, und zuletzt der Ministerpräsident mit seinerGemahlin, der ganz nach vorn geht, wo sein Platz re-serviert ist. Man denkt noch: Das hier ist wahrhaftigeuer Land. Dann wird zusammen gesungen, das Lobeden Herren, so laut, wie man es im Norden selten hört!Scorsese und Coppola haben solche Szenen gedreht.

Diese Männer haben ihre Interessen erfolgreich mitdenen Bayerns verschmolzen und vertreten sie vonihrem vornehmen 30-Millionen-Palais an der RueWiertz im Herzen der Brüsseler EU-Politik bis hin andie Ufer des Starnberger Sees, wo GeneralsekretärMarkus Söder sogleich die Ortsverbände Berg undTutzing besucht, wenn diese, wie neulich, laut überden Parteichef maulen. »50 + x, das ist konstitutiv fürdie CSU«, sagt Söder, »das zwingt uns zur Geschlos-senheit. Harmonie ist unser oberstes Gebot.« Ideolo-gie, Extreme, Flügelkämpfe – wenn man über fünfzigProzent der Stimmen haben will, kann man sich alldas gar nicht leisten. Diesem Ziel muss sich alles undjeder unterordnen. Das ist eine eiserne Disziplin, dersich diese Partei unterwirft.

Aber gilt das noch? In Berlin verabschiedet sichselbst der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestagleise von der magischen Marke. »Unsere Wahlforschersagen uns: Für euch heißt es nicht mehr 50 + x, son-dern 30 + 20 + x. Unser Sockel ist bei 30 Prozent, umdie 20 müssen wir hart kämpfen, und das x ist danndas Sahnehäubchen«, sagt Peter Ramsauer. Da ist eskein Wunder, dass in München einer wie Franz Ma-get frohlockt: »Die CSU war ein Projekt zum Macht-erhalt, und das Projekt ist jetzt am Ende.« Maget istChef der bayerischen SPD-Landtagsfraktion. Wennman bedenkt, dass es kein reines Vergnügen sein dürf-te, in Bayern SPD-Politiker zu sein, kann man seineganz und gar unverhohlene Freude nachfühlen. Alleindie Tatsache, dass die CSU sich nicht gleich nach sei-ner Rückkehr aus Berlin von Stoiber getrennt habe,sei ein Zeichen dafür, dass die alten Regeln nicht mehrgälten, sagt Maget. Und dann setzt bei ihm eine Artmagisches Denken ein: Wenn die Regeln nicht mehrgelten, ist der Zauber gebrochen. Eine revolutionäreWendung im ewigen Kampf gegen die Schwarzen, in

dem die Roten bislang immer unterlagen: Die CSUist besiegbar. Sie ist eine normale Partei. Vom Zwei-drittel-Ergebnis der Landtagswahl 2003 zu den 49Prozent in der Bundestagswahl 2005. »Vom Olympzum Politlumpen in zwei Jahren«, beschreibt Magetden tiefen Fall Stoibers.

Man muss nicht mal zu Sozialdemokraten gehen,um solche schlimmen Urteile zu hören. Der Stadt-pfarrer vom Alten Peter zum Beispiel ist neulich ausder CSU ausgetreten. Nach 35 Jahren. Der Alte Peterist nicht irgendeine Kirche. Er liegt mitten in Mün-chen, gleich beim Marienplatz, der hohe Turm ist über305 Stufen zu besteigen, und die Touristen sehen vonda aus in die Ferne, nach Süden, zu den Bergen hin.Das ist schon ein wahres Stück Bayern hier. Und Her-bert Kuglstatter, der ein bisschen aussieht wie ein Ma-jor der Bundeswehr und der seiner Gemeinde zwei-felos ein harter, grantiger, liebenswürdiger Pfarrer istund alles andere als ein Schwätzer und Heißluftbläser,von dem man sich nicht vorstellen kann, dass er etwasfür den Effekt macht, sondern immer nur für die Sa-che, der hat also in diesem Jahr der CSU den Rückengekehrt, jener Partei, der er seit 1970 angehörte. Weilder Hauptschuldige in der Wahlfälschungs-Affäre derMünchner CSU nicht ausgeschlossen worden war.Kuglstatter wollte mit dem einfach nicht in einer Par-tei sein. Und zu Stoiber sagt der Pfarrer: »Es geht janicht nur um seinen Berliner Eiertanz. Es war schonrichtig, dass er wiedergekommen ist. Das eigentlicheProblem ist das Auseinanderleben von Staatskanzleiund Fraktion. Die Verwurzelung der Partei in Bayernhat sich gelöst.« Das macht dann schon nachdenklich,wenn einer wie dieser Pfarrer die CSU verlässt.

Und Stoiber? Ecce Homo! Er ist als Schmerzensmanndurch Bayern gezogen, auf dem Passionsweg der Po-litik, das Gesicht hager, die Stirn zerfurcht, die Naselang und schmal, tiefe Falten in den Wangen. Abernicht um Vergebung zu bringen, sondern sie zu er-langen: »Es tut mir Leid, dass ich mit meiner Ent-scheidung unsere Partei und Sie alle hier in eine nichteinfache, auch in eine schwierige Lage gebracht habe.Ich leide natürlich selbst außerordentlich darunter –ehrlich gesagt, ich leide wie ein Hund.« Das waren sei-ne Worte, als er aus Berlin zurückgekehrt war. In derFraktion ließ er sich »zur Sau« machen, wie ein frühe-rer Staatsminister formulierte. Und in den Bezirkenhörte er sich Sachen an, »die hätt ich mir nicht ange-hört«, wie ein Staatsminister formuliert.

Von einer Bank der Mariahilf-Kirche aus gesehen,Nacken und lodenbewehrte Schultern der CSU-Granden im Blick, stellt sich das politische Strategie-spiel um die Macht in Bayern so dar: Edmund Stoi-ber (bayerischer Ministerpräsident und CSU-Chef)schwächelt. Die natürlichen Nachfolger Beckstein(bayerischer Innenminister) und Huber (bis EndeNovember Staatskanzleichef, jetzt Wirtschaftsminis-ter) blockieren sich gegenseitig. Außerdem ist Beck-stein loyal und will nicht an Stoibers Stuhl sägen.Herrmann (Fraktionschef im Bayerischen Landtag)ist für einen Putsch noch zu schwach. In Berlin hal-ten sich Ramsauer (Chef der Landesgruppe im Bun-destag) und Glos (Bundeswirtschaftsminister) aus derSache raus, während Seehofer (Bundeslandwirt-schaftsminister) dem Angeschlagenen den Rückenstärkt. Ausgerechnet Seehofer, der vor Jahresfrist denRückzug antrat, nachdem Stoiber ihn im Stich gelas-sen hatte. Mögliches Ergebnis: Stoiber hält durch bisAnfang 2008 und tritt kurz vor der Landtagswahl ab,Seehofer wird Parteichef, Herrmann bayerischer Mi-nisterpräsident. Anderereits: Wie wahrscheinlich istdas, wenn es jetzt schon alle schreiben? Und zu wes-sen Lasten geht das? Zu Seehofers, der dann nicht Mi-nisterpräsident wird? Oder zu Stoibers, der dann garnicht erst bis dahin durchhält?

Aber das sind alles Sachen, zu denen will der Ab-geordnete Hinsken gar nicht so viel sagen. »Ich bin si-cher, dass wir wieder durch gute Ergebnisse überzeu-gen werden«, murmelt er und: »Erklärungsnot? Ein ge-wiefter Politiker findet sich immer zurecht. Mit Über-zeugungskraft kann man vieles zurechtbiegen.« Unddann unterbricht er sich mit Begeisterung: »UnsereStärke ist die Frische.« Wie? »Die Frische. Wir benut-zen keine Konservierungsstoffe für die Lebkuchen.Das schmeckt man.« Da denkt man dann, es kann sein,dass in Bayern die Sehnsucht nach Harmonie so großist, dass vielleicht demnächst in der CSU doch wiederso was passiert, wie Oskar Maria Graf es 1918 beo-bachtet hat. Da war gerade die Republik ausgerufenworden, und es stieg ein Mann, sichtlich irritiert vomaufständischen Geschrei um ihn herum, auf den Bier-tisch und brüllte: »Ja, da machen wir halt a Revolution,dass endlich a Rua is!«

8 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1POLITIK

»Dass endlich a Rua is!« Spielpause auf der Berliner Bühne. Wo sonstdas Presse- und Informationsamt über diewichtigsten Termine der Kanzlerin und ihrerMinister informiert, findet sich zwischen denFeiertagen nur ein Verweis auf Haiti: »Präsi-dentschaftswahl (2. Wahlgang)«. Doch selbstdie wurde mittlerweile verschoben.

Vermutlich liegt Deutschland inzwischen aufallen möglichen Pisa-, WM-, UN- und sonsti-gen Weltranglisten weit hinter Haiti, aber einenPräsidenten haben wir immerhin schon, passendzur Saison derzeit sogar mit kompletter Christ-baumdeko. Aber was macht eigentlich unser Prä-sident Horst Köhler alias »Super-Horst« (Bild)?Und wo wohnt Köhler eigentlich? In Deutsch-land offenbar nicht, denn in seiner Weihnachts-ansprache berichtete Köhler gerührt von seinenverblüffenden Erlebnissen bei seinen »Besuchenim Lande«. Echte Menschen hat Köhler da beob-achtet, die versuchen, gemeinsam etwas zubewirken, und sich dabei überhaupt »nicht vonihren unterschiedlichen politischen Überzeu-gungen stören lassen«. Klingt das nicht ermu-tigend? Moment mal, klingt das nicht sogar – ge-nau, nach unserer Regierung?

Erst ließ sich Gesundheitsministerin Schmidt(SPD) nicht von der Kanzlerpartei CDU beiihren Plänen für eine Bürgerversicherungstören; Innenminister Schäuble ließ sich nichtdavon stören, dass die SPD einer strikten Tren-nung von Polizei und Bundeswehr anhängt;Wirtschaftsminister Glos lässt sich nicht vonden Koalitionsvereinbarungen zum Atomaus-stieg stören, und von der Familienministerin biszur Kanzlerin lassen sich alle zusammen nichtvon den Sparzielen ihres Finanzminister PeerSteinbrück stören. Man sei eben jetzt im »Taldes Alltags« angekommen, stellt VizekanzlerFranz Müntefering ernüchtert fest.

Über den Wipfeln aber zieht Super-Horstseine Kreise und hält eine neue Botschaft füruns bereit: »Man fliegt immer nur so weit, wieman im Kopf schon ist.« In diesen Tagen gehtübrigens auch das Einsteinjahr zu Ende. Vonihm stammt der Satz: »Man soll die Dinge soeinfach wie möglich machen. Aber nicht einfa-cher.« Wenn man beides zusammendenkt, hatdie Politik bereits ein Motto für 2006 geprägt:Nicht einfacher denken, als Super-Horst schongeflogen ist! Tina Hildebrandt

Mein Kopf, so weit" BERLINER BÜHNE

Ein grantiger Pfarrer, ein nachdenklicher Landesgruppenchef und ein Ministerpräsident im Büßerhemd: In Wildbad Kreuth sucht dieCSU nach einem Neuanfang Von Jakob Augstein

Nehmen wir den AbgeordnetenHinsken. Der ist seit 25 Jahren imParlament. Ein kleiner, kräftigerMann mit mächtigen Kiefern und

kräftigen Händen. Er ist Erststimmenkönigdes Deutschen Bundestages: 68 Prozent inStraubing. Sauber. Übrigens wurden die drei-zehn besten Erststimmenergebnisse bei derBundestagswahl von Abgeordneten der Parteieingefahren, zu der auch Ernst Hinskengehört. Das ist natürlich die CSU.

Ja, ja, war schon schön, sagt Hinsken, aberdoch auch ein Aderlass. 2002 habe er noch74,6 Prozent erreicht. Glatt 6,6 Punkte verlo-ren. Aber Herr Hinsken, Sie sind über zweiDrittel gekommen! Und das nennen Sie einenAderlass? Da nimmt einen der Abgeordnetemit zusammengekniffenen Augen in denBlick, eine kleine Politkanonenkugel von demganz eigenen Erz, aus dem sie in Bayern ihrePolitiker machen, und man denkt, das war diefalsche Frage. Wollen Sie einen Lebkuchen?,fragt Hinsken. Er hat Bäcker gelernt, und seineigener Betrieb stellt die Lebkuchen her.

Verluste sind für die CSU eine Katastrophe.Die Möglichkeit allein, dass es auch bergab ge-hen könnte! Seit 1957 stellt die CSU den Mi-nisterpräsidenten in Bayern. Seit 1962 regiertdie Partei allein, seit 1970 mit absoluter Mehr-heit. Dabei ist diese Einstellung eigentlich garnicht bayerisch, dass irgendwas von Dauer sei.»Was ist so ein Mensch scho’? Nackert ist er,nackert«, hat die Mutter von Oskar Maria Grafgesagt. »Und wenn er gestorben ist, ist er einHaufen Dreck.« Der bayerische Dichter, derim New Yorker Exil nie die Lederhose ablegte,schlussfolgerte daraus eine ernste Welter-kenntnis, die sich, schreibt er, tief in das ganzebayerische Wesen gegraben habe: »Alles, wasauf der Welt ist, vergeht. Das Leben ist von An-beginn ein unabänderliches, langsames Zu-Ende-Gehen, ein zäh dahinrinnendes Abster-ben.« Gilt das auch für den Mythos der unbe-siegbaren Volkspartei? Nach der Bundestags-wahl, bei der die CSU unter fünfzig Prozentgerutscht war. Nach den Berliner Eskapadenihres Vorsitzenden Stoiber, die ein CSU-Fürstmit den Worten kommentierte: Edmund, du

Page 7: Die Zeit 2006 01

Die Tsunami-Katastrophe Ende 2004 war für Isla-misten in Südostasien eine günstige Gelegenheit,ihre Ziele voranzutreiben. Indonesien ist mit etwa230 Millionen Einwohnern, davon 85 ProzentMuslime, die größte muslimische Nation der Welt.Viele Muslime dort sahen im Tsunami eine StrafeAllahs dafür, dass ihre Regierungen Touristen dul-den, die nicht nur Alkohol trinken, sondern auchihre sexuellen Fantasien ausleben. Da die Schariaall dies verbietet, wurde der islamistische Ruf nachden Gesetzen des Korans populär. Hat der Tsuna-mi also den prekären »politischen Islam« gestärkt?

Dazu müssen wir drei Gruppen unterscheiden:erstens die leider immer schwächeren Kräfte des zi-vilen Islams Indonesiens, welche die Idee der Ein-heit des Landes mit dem zivilgesellschaftlichen Ver-ständnis von Islam und Demokratie verbinden.Zweitens den ethnischen Islamismus aus Aceh, ver-körpert in der separatistischen Bewegung GAM.Diese Bewegung hat ihre Führung im StockholmerExil und kämpft seit Jahrzehnten gewaltsam für dieAutonomie und einen islamischen Staat in Aceh;sie verbindet politischen Islam mit ihrer lokalenIdentität. Drittens die aktive Minderheit von glo-

Nr. 1 S. 9 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 9 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

HilfsmaschineDie Spendenflut nach dem Tsunami hat gezeigt: Das Geld sollte nichtan einen einzigen Zweck gebunden sein Von Isabell Hoffmann

schwendet worden sei. Manche Hilfsorganisatio-nen, heißt es, hätten sogar staatliche Stellen be-zahlt, um Projektaufträge zu bekommen.

Korruption also. Mit ihr haben alle Hilfsor-ganisationen zu kämpfen, aber keine spricht gerndarüber. Indonesien gilt als eines der korruptes-ten Länder der Welt, weshalb es überrascht, dassauch zwölf Monate nach Beginn der milliarden-schweren Hilfsaktion noch kein großer Skandalpublik wurde. »Ein gutes Zeichen« sei das, sagtPeter Rooke von der Antikorruptionsorganisa-tion Transparency International.

Größtmögliche Transparenz, klare Regeln,genaue Absprachen – mit diesen Leitlinien ver-sucht die Welthungerhilfe der Korruption in denNehmerländern zu begegnen. Diese durchzuset-zen ist aber nicht immer einfach. Natürlich gäbees »Grauzonen«, die nur schwer kontrolliert wer-den könnten, sagt Stefan Grund, der sich bei derWelthungerhilfe um Finanzen und Controllingkümmert. Kulturelle Hierarchien und familiäreAbhängigkeiten gehörten zur Realität vor Ort.

Von Hilfsorganisationen wird häufig erwar-tet, immer einsatzbereit zu sein, aber nichts odernur wenig zu kosten. »Realitätsfern« nennt Burk-hard Wilke vom Institut für soziale Fragen dieseVorstellung. Er beobachtet und bewertet die Ar-beit von Hilfsorganisationen und vergibt Qua-litätssiegel nach strengen Richtlinien. »Heile-Welt-Fantasien« über NGOs hält er für absurd:»Große NGOs funktionieren wie Unternehmen.Sie dürfen zwar nicht gewinnorientiert arbeiten,brauchen aber angemessene professionelle Struk-turen.« Deshalb plädiert er für mehr Vertrauen.»90 Prozent aller Spenden in Deutschland gehenan große seriöse Organisationen. Sie setzen dasGeld sinnvoll ein. Da sollte nicht immer zweck-gebunden gespendet werden.« ZweckgebundeneSpenden müssen nämlich ausschließlich in dasbenannte Katastrophengebiet fließen und kön-nen nicht für andere Projekte verwandt werden.

Klassische Entwicklungshilfeorganisationenkönnen damit gut umgehen, reine Nothilfe-NGOs stoßen dagegen schnell an ihre Grenzen.Die Deutsche Welthungerhilfe etwa engagiertsich in Südostasien bis mindestens 2009 – genugZeit, um die rund 30 Millionen Euro, die sie vonprivaten Spendern für die Tsunami-Opfer erhal-ten hat, sinnvoll einzusetzen. Die schnelle Ein-greiftruppe der Ärzte ohne Grenzen dagegennahm wenige Wochen nach der Flutwelle keinzweckgebundenes Geld mehr an. Nicht zuletztdiese Einsicht gehört zur Bilanz der Katastro-phenhilfe 2005: Zweckgebundene Spenden,etwa unter dem Eindruck dramatischer Fern-sehbilder, sind zwar gut gemeint, aber nicht im-mer sinnvoll. Mitunter verhindern sie sogar, dassHilfe dorthin fließen kann, wo sie wirklich ge-braucht wird.

" TRIBÜNE BASSAM TIBI

bal vernetzten Dschihad-Islamisten und Al-Qaida-Anhängern. Auf ihr Konto gehen die An-schläge von Bali 2002, von Jakarta 2003 undnochmals Bali 2005. Nach dem Tsunami ström-ten ihre Gefolgsleute unter dem Deckmantelder Wohlfahrt als Helfer nach Aceh. Die sepa-ratische GAM und die eingereisten Dschihadis-ten sind scharfe Konkurrenten.

Das nutzten die indonesischen Streitkräfteaus, die den Insel-Archipel als Vielvölkernationmit brutaler Gewalt zusammenhalten. Sie brach-ten eine Gruppe von Dschihadisten in Barackender Luftwaffe unter, um Druck auf die GAMauszuüben. Der Sprecher der indonesischenTruppen lobte die Dschihadisten gar als »guteHelfer, die ausgezeichnete humanitäre Leistun-gen erbringen«. Die von US-Geheimdienstennachgewiesenen Verbindungen der Gruppe zual-Qaida störten die Generäle nicht. Das Kalkül:Die Macht und hohe Popularität der separatisti-schen GAM sollten durch Förderung von Dschi-hadisten unterminiert und die GAM so zu Zuge-ständnissen gezwungen werden.

Das Spiel mit dem Feuer funktionierte. DieGAM schloss Frieden mit der Regierung, auchum den Dschihadisten zuvorzukommen. InStockholm stimmte die GAM im August 2005nach Zugeständnissen der indonesischen Re-gierung (Autonomie, Anwendung der Scharia)einem Abkommen zu, das den »dreißigjährigenKrieg« um Aceh beendete. Natürlich war es fürdie Regierung besser, die GAM zu gewinnen,als mit den Bewegungen des globalen Dschihadzusammenzuarbeiten. Die GAM will einen aufAceh begrenzten Staat, wohingegen ihre isla-mistische Konkurrenz nichts weniger will alseine radikalislamische Ordnung für ganz Indo-nesien. Der Auslöser für die Einigung aber warder Tsunami Ende 2004.

Bassam Tibi forschte 2005 an den Universitäten von Singapurund Jakarta. Er lehrt in Göttingen und an der Cornell University

Welle der Radikalen

Der Tsunami hatte diese Häuser im indonesischen Banda Aceh völlig verwüstet.Heute ist vieles wieder instand gesetzt

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POLITIK29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 9

i 2005, Jahr der Prüfungen – Rückschau in Bildern und Textenwww.zeit.de/rueckblick2005

i Lesen Sie zum gleichen Thema einen Essay von Bassam Tibiwww.zeit.de/tibi

»Schlächters« Abschied

Zakir Almatow verdrückt sich

Noch prüft der Generalbundesanwalt in Karls-ruhe, ob er gegen den usbekischen Innenminis-ter Zakir Almatow wegen Folter und Verbre-chen gegen die Menschlichkeit ermitteln soll(ZEIT Nr. 51 und 52/05), da ist der Mannnicht nur aus Deutschland verschwunden, son-dern obendrein auch nicht mehr Minister. Al-matow ist unmittelbar nach seiner fluchtarti-gen Rückkehr aus Deutschland von seinemAmt zurückgetreten – aus Gesundheitsgrün-den, wie es in Taschkent offiziell hieß.

Ist das der wahre Grund? Almatow leidetan Rückenmarkkrebs, er hatte sich deswegenin einer Spezialklinik in Hannover behandelnlassen. Viel spricht allerdings dafür, dass derusbekische Diktator Karimow die Krankheitdes Ministers zum Anlass nahm, den Mann,den Menschenrechtler den »Schlächter vonAndischan« nennen, vorsorglich aus dem Ver-kehr zu ziehen. Nicht dass er Almatows Re-pressionsarbeit nicht zu schätzen gewusst hät-te, im Gegenteil. Aber wie man weiß, ist Kari-mow an guten Beziehungen zu Deutschlandinteressiert. Da mochte es ihm sinnvoll er-scheinen, den anrüchigen Minister verschwin-den zu lassen.

Den Generalbundesanwalt sollte das nichthindern, die Ermittlungen gegen Almatow end-lich aufzunehmen. Er ist dem Recht verpflich-tet, nicht außenpolitischem Kalkül. Almatowgilt immerhin als Hauptverantwortlicher fürdas Massaker in Andischan vom 13. Mai desJahres, bei dem nach Zeugenaussagen an die700 Menschen von Sicherheitskräften erschos-sen wurden. Die völkerrechtlich begründeteStrafanzeige in Karlsruhe stützt sich, neben us-bekischen Fällen von Folter mit Todesfolge, ge-rade auf dieses Massaker. WERNER A. PERGER

Bonn

Diesmal hat das Telefon nicht geklingelt.Die Feiertage, immerhin, verliefen ruhig– anders als in den vergangenen Jahren.Heinz Peters arbeitet bei der Deutschen

Welthungerhilfe in Bonn, und wenn irgendwo aufder Welt eine Naturkatastrophe Zerstörung undElend über die Menschen bringt, klingelt seinDiensthandy. Vor zwei Jahren riss ihn und seineKollegen das Erdbeben im iranischen Bam aus derWeihnachtspause. Zehntausende Menschen star-ben. Im vergangenen Jahr dann, ebenfalls am zwei-ten Feiertag, zerstörte die Flutwelle SüdostasiensKüsten. »Hoffentlich nicht schon wieder«, sagtPeters und spricht aus, was viele seiner Kollegenwünschen: ein paar ruhige Tage am Ende eines tur-bulenten Jahres. 2005, das Jahr der Naturkatastro-phen, fing mit dem Tsunami an und endete mit demErdbeben in Pakistan. Endet? Hoffentlich.

Zur Jahresbilanz Tsunami-Hilfe gehören unbe-streitbare Erfolge: Es sind keine Seuchen ausge-brochen, es gab keine Hungersnot, die Kinder-sterblichkeit ist nicht angestiegen. Aber trotzdembrachten Ausmaß der Krise und Ausmaß der Hil-fe Probleme mit sich, die auch erfahrenen Kri-senmanagern Probleme bereiteten.

600 Millionen Euro spendeten allein die Deut-schen aus ihren Privatschatullen, 500 MillionenEuro wird der deutsche Staat bis 2009 in die Tsu-nami-Länder schicken. 13,6 Milliarden Dollar sam-melten die Vereinten Nationen weltweit für dieüberschwemmten Gebiete. »Überfinanziert« nenntHeinz Peters diese Krise mit dem Blick des Helfers,der weiß, wie viele andere Katastrophen unterfi-nanziert bleiben. Andere meinen das Gleiche, dre-hen es aber anders. Jan Egeland, Chef der UN-Un-terorganisation Ocha, die sich um Katastrophenko-ordination kümmert, sagte Anfang des Jahres: »Wirhoffen, dass die nach dem Tsunami gezeigte Groß-zügigkeit nun bei anderen Notfällen zur Regelwird.« Dass das ein frommer Wunsch bleibt, ist spä-testens seit dem Erdbeben in Pakistan klar. Wennsich Sympathie in Spendengeld ausdrückt, dannliebt keiner dieses Land im Mittleren Osten.

»Die humanitäre Hilfe hat ihre Unschuld verlo-ren«, sagt Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeckmit Blick auf die Hilfsmaschinerie, die nach demTsunami ins Rollen kam. Nichtstaatliche Hilfsorga-nisationen hätten ihre Aktionsfreiheit gegen gute Fi-nanzierung eingetauscht. Die Profis vor Ort sehenaber vor allem in Semiprofessionalität und gut fi-nanziertem Tatendrang das Problem. »Aufbauarbeitmuss sinnvoll geplant werden, und das brauchtZeit«, sagt Heinz Peters. Er koordiniert die Hilfspro-jekte der Welthungerhilfe in den Flutregionen undbeobachtet immer wieder, dass Mitarbeiter vonNichtregierungsorganisationen (NGO) Druck ausihren Zentralen bekommen, endlich Geld abzuru-fen. Die Spender daheim wollen Ergebnisse sehenund bringen die Helfer in Rechtfertigungsnot. Des-halb sei auch in Südostasien ein richtiger Wettlaufum Projekte entstanden, bei dem viel Geld ver-

i Lesen Sie die Anzeige gegen Almatow im Wortlautwww.zeit.de/almatow

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Page 8: Die Zeit 2006 01

DIE ZEIT: Sie haben bei der CIA das System der»renditions« mitentwickelt. Terrorverdächtige wur-den im Ausland aufgegriffen und an Drittländerausgeliefert. Waren diese »Sonderüberstellungen«aus der Sicht der CIA ein Erfolg?Michael Scheuer:Absolut. Es war ein Jahrzehnt langdas erfolgreichste Anti-Terrorismus-Programm derVereinigten Staaten.ZEIT: Warum?Scheuer:Weil die Ziele so klar definiert waren. Ers-tens wollten wir Mitglieder und Kontaktleute derTerrorgruppe al-Qaida identifizieren und ins Ge-fängnis bringen. Und zwar solche, die entweder aneinem Angriff auf die Vereinigten Staaten oder ei-nen Verbündeten teilgenommen hatten oder einenAngriff möglicherweise planten. Zweitens solltenPapiere und Elektronik beschlagnahmt werden. Inden Medien wird behauptet, wir hätten Menschenaufgrund irgendwelcher Vermutungen aufgegrif-fen und verschleppt, um sie zu verhören. Aber dasstimmt so nicht. ZEIT: Sie wollten nicht verhören?Scheuer: Wenn es möglich war zu verhören, dannsahen wir das als Sahnehäubchen auf dem Kaffee.Wir wollten nur den Mann und seine Dokumente.ZEIT: Warum?Scheuer: Aus Erfahrung wussten wir, das aggres-sive Befragungen, die an Folter grenzen, nichtsbringen. Die Leute sagen alles, was der Verhör-Beamte hören will. Entweder logen die Leuteoder sie gaben uns präzise, aber veraltete Infor-mationen. ZEIT: Wer hat das System der »Sonderüberstellung«erfunden?Scheuer: Präsident Clinton, sein Sicherheitsbera-ter Sandy Berger und sein TerrorismusberaterRichard Clarke haben die CIA im Herbst 1995 be-auftragt, al-Qaida zu zerstören. Wir fragten denPräsidenten: Was sollen wir mit den Leuten ma-chen, die wir festsetzen? Darauf Clinton: Das istIhre Sache. Die CIA wandte ein: Wir sind dochkeine Gefängniswärter. Uns wurde nochmals ge-sagt, wir sollten das Problem irgendwie lösen. Alsoentwickelten wir ein Procedere, und ich war Mit-glied dieser Arbeitsgruppe. Wir konzentrierten unsauf Al-Qaida-Mitglieder, die in ihren Heimatlän-dern zur Fahndung ausgeschrieben waren oderschon in Abwesenheit verurteilt worden waren.ZEIT: Wie entschieden Sie, wer aufgegriffen werdensollte?Scheuer: Wir mussten einer Gruppe von Anwäl-ten ungeheuer viel belastendes Material präsen-tieren.ZEIT: Anwälte? Beim Geheimdienst?Scheuer: Ja, überall Anwälte. Bei der CIA, im Jus-tizministerium, beim Nationalen Sicherheitsrat.Unter deren Aufsicht entwickelten wir eine Ziel-liste. Dann mussten wir die Person finden, undzwar in einem Land, das bereit war, mit uns zu-sammenzuarbeiten. Schließlich musste die Personauch noch aus einem Land kommen, das bereitwar, ihn zurückzunehmen. Ein furchtbar mühsa-mes Verfahren für eine sehr begrenzte Zielgruppe.ZEIT: Warum wollten Staaten mit Ihnen auf demeigenen Territorium kooperieren? Das hätten diedoch selbst erledigen können?Scheuer: Die glaubten, nur Amerika sei bedroht.Und sie würden selbst erst zum Terrorziel, wennsie Verdächtige festnähmen. Wenn wir die Sachenicht ins Rollen gebracht hätten, hätte es niemandgetan. ZEIT: Ihre Partnerländer wollten sich von der CIAdie Arbeit abnehmen lassen?Scheuer: Ja, aber sie hatten kein Interesse daran, die-se Leute im eigenen Land festzuhalten. Die CIA hatja selbst niemanden festgenommen oder gefangengehalten.ZEIT: Wie bitte?Scheuer: Das machte die örtliche Polizei oder einörtlicher Geheimdienst. Wir blieben jedenfalls im-mer im Hintergrund. Die US-Regierung ist vollerFeiglinge. Sie lässt die CIA doch gar nicht eigen-ständig arbeiten. ZEIT: Fanden die Verhöre im Zielland statt?Scheuer: Wir haben Fragen immer schriftlich ein-gereicht. ZEIT: Die CIA war niemals bei Verhören dabei?Scheuer: Davon habe ich nie gehört. Das haben dieAnwälte untersagt.ZEIT: Hatten Sie keine Bedenken wegen der Folterin diesen Ländern?Scheuer: Nein, mein Job war, amerikanische Bür-ger zu schützen, indem ich Al-Qaida-Leute von derStraße holte. Die Exekutive unserer Regierung mussentscheiden, ob sie das für heuchlerisch hält odernicht. Diese Operation war zu 90 Prozent ein Rie-senerfolg und nur zu 10 Prozent ein Desaster.ZEIT: Worin besteht das Desaster?Scheuer: Alles wurde öffentlich. Die Europäerwerden uns jetzt viel weniger helfen, weil sie fürch-ten müssen, dass alles in der Washington Post ste-hen wird. Und dann ist da diese Windmaschine im

Senat, Senator John McCain, der quasi einräumt,dass die CIA foltert. Alles völlig falsch. Aber sowird das ganze Programm kaputtgemacht.ZEIT: Warum brachten Sie die Leute in ihre Hei-matländer statt in die USA? Hätten Sie die Leuteso nicht sicherer hinter Schloss und Riegel bringenkönnen?Scheuer: Es ging immer um Gewaltverbrechen.Wir hatten wenig Zweifel, dass diese Länder nie-manden freilassen würden. Und in die VereinigtenStaaten brachten wir sie nicht, weil Präsident Clin-ton das nicht wollte. ZEIT: Warum nicht?Scheuer: Unsere Führung wollte sie nicht wieKriegsgefangene behandeln, sondern am liebstenwie Kriminelle. Zugleich fürchteten sie, man wer-de nie genug Beweise zusammentragen können,um vor unseren Gerichten zu bestehen.ZEIT: Ist das so schwer?Scheuer: Um jemanden in den USA zu verurtei-len, muss ihm schon bei der Verhaftung ein ame-rikanischer Justizbeamter seine Rechte vorlesen.Das ist im Ausland unmöglich. Zweitens müssendie Ermittler dem Gericht bestätigen, dass keinesder beschlagnahmten Dokumente verändert wur-de. Wenn niemand das beschwören kann, nimmtdas Gericht automatisch an, die Dokumente seienmanipuliert. So wird es fast unmöglich, ein Urteilzu bekommen. ZEIT: Andererseits: Wie kann man nicht genügendgerichtsfeste Beweise haben, sich aber gleichzeitigsicher genug fühlen, jemanden im Ausland aufzu-greifen? Wird die Operation nicht schon dadurchillegal und auch illegitim?

Scheuer: Nein, gegen die meisten dieser Leute gabes ja schon Haftbefehle in ihren Heimatländern.Auch wenn wir das ägyptische oder jordanischeJustizsystem nicht mögen, bleibt es doch ein Jus-tizsystem. Wir halfen einfach dabei, Leute in ihreHeimatländer zurückzubringen, damit sie für Ta-ten bestraft würden, die sie im Ausland begangenhatten.ZEIT: Die CIA sah sich also als globale Polizei-truppe?Scheuer: Nein, wir sind eine US-Regierungs-behörde, die den Auftrag hat, Amerikaner zuschützen. Wir hätten es vorgezogen, die Leute alsKriegsgefangene nach Amerika zu bringen. Im-merhin hatte Osama bin Laden uns zweimal denKrieg erklärt, 1996 und 1998. Aber PräsidentClinton wollte das einfach nicht. Und PräsidentBush auch nicht. Beide nahmen an, dass wir Al-Qaida-Mitglieder irgendwie legitimieren, wennwir sie wie Kriegsgefangene behandeln. Aber dasist Unsinn. Bin Laden und seine Leute sind Hel-den in der islamischen Welt. Nichts, was wir tun,legitimiert sie mehr, als sie es ohnehin schon sind.Außerdem ist es einfacher, die Jordanier oderÄgypter die Drecksarbeit machen zu lassen.ZEIT: Die Menschenrechte spielten für die Clin-ton-Regierung keine Rolle? Scheuer: Die CIA warf diese Frage auf. In Kairowerden die Leute eben nicht so behandelt wie inMilwaukee. Die Clinton-Regierung fragte uns:Glauben Sie, dass die Gefangenen nach den Vor-gaben des dortigen Rechts behandelt werden? Undwir sagten: Ja, ziemlich sicher. ZEIT: Die Clinton-Regierung wollte also nicht sogenau wissen, was dort geschah?Scheuer: Genau. Die zuständigen CIA-Mitarbei-ter waren sich von Anfang an sicher, dass wir amEnde als die Schuldigen dastehen würden. Und Siemerken es ja selbst: In dieser Debatte ist kein Wortvon Bill Clinton, Sandy Berger oder RichardClarke zu hören.ZEIT: Welche Gesetze wurden gebrochen?Scheuer: Weiß ich wirklich nicht. Jedenfalls keineamerikanischen Gesetze. Die CIA hat ja das Recht,jedes Gesetz zu brechen, nur nicht amerikanisches– wie jeder Geheimdienst. Und im Ausland habenwir immer mit Zustimmung der lokalen Behördengehandelt. ZEIT: CIA-Anti-Terror-Chef Cofer Black sagtenach dem Anschlag vom 11. September, nun wür-den »die Handschuhe ausgezogen«. Was bedeute-te das im Inneren der CIA?Scheuer: Viel mehr Erfolgsdruck. Und wir began-nen, die Leute in eigenen Einrichtungen unterzu-bringen – in Afghanistan, im Irak und in Guantá-

namo. Die Regierung Bush wollte die Leute selbstfesthalten, machte aber den gleichen Fehler wie dieRegierung Clinton, indem sie diese Leute nicht alsKriegsgefangene behandelte. ZEIT: Wie viele Menschen griffen Sie auf?Scheuer: Weiß ich nicht genau. Kurz nach demAnschlag vom September 2001 sagte CIA-Direk-tor George Tenet dem Kongress, es seien bis dahinetwa 100 gewesen. Die Operationen, die ich per-sönlich geleitet habe, betrafen damals knapp40 Personen. 100 erscheint mir viel zu hoch.ZEIT: Und seither?Scheuer: Es nehmen doch immer weniger Ländernoch solche Leute zurück. Deshalb sind die meis-ten in amerikanischer Hand. Die Zahl ging natür-lich hoch. Wir reden jetzt über Hunderte, sichernicht Tausende.ZEIT: Einer Ihrer früheren Kollegen wird mit derBemerkung zitiert, bei »Sonderüberstellungen«handele es sich um »eine Scheußlichkeit«.Scheuer: Wenn es eine »Scheußlichkeit« ist, Ame-rika zu verteidigen, dann würde sich dieser Kritikerim linken Flügel der Demokratischen Partei wohl-fühlen. Ich halte es vielmehr für Mangel an Mut,die eigene Drecksarbeit nicht selbst zu machen.ZEIT: Interne Kritiker behaupten, das Programmsei nach 2001 außer Kontrolle geraten.Scheuer: Die Zustimmung der Anwälte für eineOperation zu bekommen, ist bis zum heutigen Tagein quälender Prozess. Europäer sollten die läh-mende Natur des amerikanischen Verwaltungs-systems nicht unterschätzen.ZEIT: Was hat sich rechtlich verändert seit 2001?Scheuer: Na ja, weil wir die Leute jetzt selbst fest-halten, sind wir nicht mehr solche Pharisäer. Manmuss der Regierung Bush immerhin attestieren,dass sie sich ein wenig mannhafter verhält und ihreeigene Drecksarbeit macht. Und in der Zeitunghabe ich gelesen, dass es so genannte »verbesserteVerhörtechniken« gibt. Das klingt, als könne manjetzt ein wenig gröber sein als vorher. ZEIT: Wie erklären Sie, dass Menschen starben,während sie von der CIA festgehalten wurden?Scheuer: Davon weiß ich nichts. Ich habe das nurin der Zeitung gelesen. ZEIT: Es gibt Berichte schwer misshandelter Men-schen, auch Bilder …Scheuer: So wie ich die neuen Verhörmethodenverstehe, sollte keine davon zum Tode führen.Wenn es also zu Toten gekommen sein sollte, sowürde ich annehmen, dass es einen Exzess gab.Und das ist natürlich nicht in Ordnung.ZEIT: Es gab offenbar Hunderte von CIA-Flügenquer durch Europa. Warum war das notwendig?Scheuer (lacht): Irgendwie surreal, das alles. DieCIA operiert in der ganzen Welt. Wir befördernMenschen, Ausrüstung und Geld rund um denGlobus. Wenn man die CIA im Irak versorgen will,muss man über Europa fliegen und tanken. Dasbedeutet doch nicht, dass in jeder dieser Maschi-nen ein »böser Kerl« ist.ZEIT: Verstehe ich Sie recht, dass Sie sich über dieAufregung in Europa amüsieren?Scheuer: Sehr amüsant, wirklich.ZEIT: Wozu brauchen Sie Gefängnisse in Ost-europa?Scheuer: Ich bin nicht sicher, dass es dort wirklichwelche gibt. Würde mich überraschen. ZEIT: Ich hatte gehofft, Sie würden verraten, wo siesind.

Scheuer (lacht): Ich halte mich an Franklin D.Roosevelt und sage: Ich glaube, sie sind in Shan-grila. Nur so viel: Ich wüsste nicht, warum wir sol-che Gefängnisse brauchen sollten. Wir habendoch ausreichend Kapazitäten an anderen Orten,besonders im Irak und Kuba. Ich wusste nichtsvon diesen Gefängnissen in Osteuropa, als ich imDienst war. Das muss noch nichts bedeuten. Viel-leicht musste ich es nur nicht wissen. Und wennes sie gab, kann ich nur annehmen, dass unsereeuropäischen Verbündeten glaubten, sie unter-stützten eine Operation, die sie selbst genausoschützte wie uns.ZEIT: Wie verlief die Zusammenarbeit mit euro-päischen Verbündeten, besonders mit Deutsch-land?Scheuer: Vor 2001 im besten Falle wechselhaft.Ich glaube nicht, dass Deutschland zu den Bestenunserer Verbündeten zählte. Die Italiener warenimmer gut, die Briten einigermaßen. Das wesent-liche Problem in Europa ist grundsätzlicher Na-tur: Die Einwanderungs- und Asylgesetze habendie Etablierung eines harten Kerns anderenortsverurteilter Terroristen ermöglicht, die jetzt Bür-ger europäischer Staaten sind. Kommt dazu, dassniemand in ein Land deportiert werden kann, dasdie Todesstrafe hat. ZEIT: Die Haltung zur Todesstrafe hat also die Zu-sammenarbeit behindert?Scheuer: Nicht nur behindert. Das war wie eineStraßensperre. Wir haben im Prinzip nicht in Eu-ropa gearbeitet. Da gibt es die Vereinbarungen ausdem Kalten Krieg, nach denen wir keine eigenenOperationen in Europa machen. Daran ist die CIA

bis heute gebunden. Wir sind einfach dorthin ge-gangen, wo es funktioniert. Es macht doch keinenSinn, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.ZEIT: Warum war die Zusammenarbeit auch jen-seits der Frage der Todesstrafe wechselhaft?Scheuer: Churchill sagte in den späten dreißigerJahren: Die Europäer hoffen immer, dass der Alli-gator sie zuletzt frisst. Solange das Ziel der Terro-risten die Vereinigten Staaten waren, fragten sichviele in Europa, warum man sich mit den Ameri-kanern zusammen in Gefahr bringen sollte.ZEIT: Wie verlief das, wenn Sie Informationen ha-ben wollten in einem Ihrer Fälle? Sagen wir: vonIhren deutschen Kollegen?Scheuer: Manchmal gab es einfach keine Antwort.Manchmal wurde ein Teil der Fragen beantwortet.Manchmal hieß es: Wir haben nicht viel. Hier istdas wenige, das wir haben. Alles war einfach sehrstockend. ZEIT: Hat sich das nach dem Anschlag von 2001 ver-ändert?Scheuer: Ja, durchaus. Aber es gibt immer noch die-sen Glauben in Europa, sogar nach den Anschlägenvon New York und Madrid und London, wonachman sich nicht zu sehr einmischen sollte. Dieser Ge-danke, dass man sich nur in Gefahr bringe, wennman die Amerikaner unterstütze. ZEIT: Die Invasion im Irak hat dieser Ansicht vieleAnhänger zugetrieben.Scheuer: Die Irak-Invasion hat uns ohne jedenZweifel das Rückgrat gebrochen, unserer gesamtenAnti-Terrorismus-Operation. Und langfristig wirdder Krieg sicher bewirken, dass eine zweite Genera-tion gut trainierter Kämpfer, europäische Muslimeund europäische Konvertiten, nach Europa zurück-kehren wird. Die erste Generation kam in den neun-ziger Jahren vom Balkan und aus Tschetschenien. ZEIT: Da gibt es den Fall des Deutsch-Syrers Mo-hammed Haydar Zammar, der Verbindungen zurso genannten Hamburger Zelle hatte, die den An-schlag auf das World Trade Center vorbereitete.Die deutsche Justiz konnte keinen Nachweis einerStraftat führen. Die CIA griff den Mann in Ma-rokko auf und brachte ihn nach Syrien. Wie mussich mir die Zusammenarbeit mit den Deutschenin so einem Fall vorstellen?Scheuer: Es würde mich überraschen, wenn nichtirgendjemand bei den deutschen Geheimdiensteninformiert war, vielleicht aber erst hinterher. Esgibt in Washington große Angst vor der Kritik derEuropäer. Das klingt vielleicht komisch angesichtsdieses Präsidenten, aber bleibt doch wahr.ZEIT: Könnte es vielleicht umgekehrt sein? Dass diedeutschen Dienste Sie informierten, wohin derMann fuhr, als er Deutschland verließ?

Scheuer: Nichts ist unmöglich, aber ich habe kei-nen Grund, das anzunehmen. ZEIT: Der neue Innenminister Wolfgang Schäubleließ wissen, die Vernehmungen von Zammar inSyrien hätten brauchbare Ergebnisse gezeitigt.Stimmt das?Scheuer: Das stimmt für das gesamte »Sonder-überstellungsprogramm«. Mir kommt es als un-ehrlich von Seiten der Europäer vor, diese Ope-ration so hart zu kritisieren. Denn alle Informa-tionen aus den Verhören und Dokumenten, al-les, was mit Spanien, mit Italien, mit Deutsch-land, mit Frankreich, mit England zu tun hatte,wurde doch weitergegeben. Und wenn man de-ren Geheimdienste fragte, würden sie sagen: DieInformationen, die wir aus dem »Sonderüber-stellungsprogramm« der CIA erhielten, habenuns geholfen.ZEIT: Die Deutschen waren also die NutznießerIhrer Methode?Scheuer: Natürlich. ZEIT: Der deutsche Innenminister hat im Parla-ment über drei Fälle gesprochen, in denen deut-sche Beamte im Ausland in den Gefängnissen beiden deutschen Staatsbürgern waren. Wäre es eineÜbertreibung zu sagen, dass die CIA für uns Deut-sche die Drecksarbeit machte?Scheuer: Wie gesagt: Manche Kritik erscheint mirheuchlerisch.ZEIT: Würden Sie ausschließen, dass Fehler ge-macht und die falschen Leute gekapert wurden?Scheuer: Ich bin sicher, dass es Fehler gab. Clau-sewitz hat über die Nebel des Krieges gesprochen.Da sind wir momentan mittendrin. Wenn ein Feh-ler gemacht wurde, sollte Schadenersatz gezahltwerden.ZEIT: Einer dieser Fälle scheint einen deutschenStaatsbürger zu betreffen, Khaled El-Masri, der aufdem Balkan aufgegriffen, nach Afghanistan ge-bracht und Monate später auf dem Balkan wiederfreigelassen wurde.Scheuer: Das ist ja gerade so ein Symbol für dieKonfusion in einem Krieg. Er wäre sicher nichtaufgegriffen worden, hätte es nicht bedenkliche In-formationen gegeben. ZEIT: Der Fall scheint eher ein Symbol dafür zusein, dass es besser ist, Polizei, Staatsanwälte undGerichte und nicht die CIA mit solchen Fragen zubetrauen.Scheuer: Wenn Sie al-Qaida als eine Frage der Straf-verfolgung ansehen wollen und so lange warten wol-len, bis wir verloren haben, dann haben Sie Recht.Wir befinden uns aber im Krieg. Und je schnellerwir solche Dinge aus der Strafverfolgung rauskrie-gen und unter die Regeln der Genfer Konventionen,desto besser wird es für Amerika sein, für Europaund auch für Deutschland. Wenn diese LeuteKriegsgefangene sind, gibt es keinen Rechtsweg.ZEIT: Herr El-Masri sagt, er sei gefoltert worden.Er war in einem CIA-Gefängnis in Afghanistan.Scheuer: Wenn er in einem CIA-Gefängnis war,wurde er sicher nicht gefoltert. Punkt.ZEIT: Aber er behauptet das.Scheuer: Wundert mich nicht. Vielleicht will erjetzt Geld sehen. Jeder will das.ZEIT: Er behauptet ferner, ein Deutscher habe ihnin Afghanistan verhört. Wie ist das möglich?Scheuer: Ich weiß nicht, ob das stimmt. Möglichist es. Unsere Regierung und unsere Geheimdiens-te versuchen doch, Nato-Alliierten zu helfen.Wenn die Deutschen ihn verhörten, legt das dochnahe, dass auch die Deutschen glaubten, dass manetwas von ihm erfahren könne.ZEIT: Wie viele solcher Fälle mit europäischenMuslimen gibt es?Scheuer: Nicht sehr viele, weil die Europäer meis-tens nicht kooperieren. Also versuchten wir, dieLeute zu kriegen, wenn sie nicht auf europäi-schem Boden waren.ZEIT: El-Masri wunderte sich, dass seine amerika-nischen Verhör-Beamten Details aus seinem tägli-chen Leben kannten. Die Kenntnisse können nurvon den deutschen Geheimdiensten stammen.Oder hat die CIA in Deutschland spioniert?Scheuer: Ich bin sicher, solche Informationen ka-men nicht von uns. Wenn wir Informationenüber El-Masris Aktivitäten in Deutschland hat-ten, dann kamen sie von einem der deutschenDienste. Und auch das legt nahe, dass es etwasmehr als nur ein Gerücht oder eine Vermutungwar, die zu seiner Festnahme führte.ZEIT: Was ist die Zukunft der »Sonderüberstel-lungen«?Scheuer: Das Programm ist wahrscheinlich tot.Durch die Lecks, die Veröffentlichungen unddie Kritik. Und für jene, die in den Geheim-diensten Verantwortung tragen, ist der Effekternüchternd: Keiner von denen, die uns befah-len, so zu handeln, wie wir es taten, bekennt sichnun dazu.

DIE FRAGEN STELLTE THOMAS KLEINE-BROCKHOFF

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10 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 102. Fassung SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 102. Fassung SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

POLITIK

Ein CIA-Jet kurz vor derLandung in Frankfurt a. M.

am 6. Dezember 2003

»Die CIA hat das Recht,jedes Gesetz zu brechen«

»Wir fragten Clinton: Wassollen wir mit den Leutenmachen, die wir festsetzen?Darauf er: Das ist Ihre Sache«

»Es ist einfacher, dieJordanier oder die Ägypterdie Drecksarbeit machenzu lassen«

verließ die CIA im November 2004nach 22 Dienstjahren. Von 1995 bis1999 leitete er jene Einheit, die Osamabin Laden jagte. Seit 2000 war er einerder Chef-Terroristenbekämpfer derCIA. Noch während seiner Dienstzeitschrieb er eine Kritik der amerikani-schen Anti-Terror-Politik (»ImperialHubris«). Michael Scheuer gilt in derCIA inzwischen als Nestbeschmutzer.Er lebt mit seiner Familie in Virginia

Michael Scheuer

Darf der US-Geheimdienst mutmaßliche Terroristen entführen? Michael Scheuer, ein Hauptverantwortlicher, gibt erstmals Antworten

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Nr. 1 S. 12 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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POLITIK

Port-au-Prince

Der Schotter staubt, die Tore habenkeine Netze, und das Spiel plätschertso dahin. Doch alle sind zufrieden indem winzigen Stadion in Martissant,

einem Slum im Südwesten von Port-au-Prince,der Hauptstadt Haitis. USAid, die amerikani-sche Hilfsorganisation, hat ein »Match für denFrieden« organisiert, und 5000 Menschen drän-geln sich am Spielfeldrand.

Dann kommen die Polizisten. Rund 30sind es, manche haben Kapuzen über den Kopfgezogen, in einigen Händen blitzen Macheten.Erst klatschen die Leute, weil sie denken, auchdie Polizisten wollten zuschauen – bis einervon ihnen zum Stadionsprecher läuft und insMikrofon brüllt, jeder solle sich auf den Bodenwerfen. Brunet Esterne, der einen der bestenPlätze ergattert hat, ganz vorn am Spielfeld,sieht, wie die Polizisten einem Mann die Pis-tole an den Kopf halten. Schüsse knallen, undEsterne weiß: »Die wollen uns umbringen,weil wir für Aristide sind.« Er sprintet los, zumAusgangstor, durch das schon drei Leutegleichzeitig schwer durchpassen und vor demsich nun Hunderte stauen. Als Esterne endlichdraußen ist, stolpert er fast über drei Körper –sie wurden aufgeschlitzt mit Macheten.

Auf Esternes T-Shirt steht »The time is to behappy now«, er erzählt von diesem 20. Augustohne Stocken oder Tränen. Er hat die Geschich-te oft erzählt. 20 Menschen seien im Stadion vonPolizisten umgebracht worden. Er ist 37, ar-beitslos, seine Haare schimmern tiefgrau. »WirArmen haben immer Angst«, sagt Esterne. »Vorder Polizei, vor den Banden. Und die UN tunnichts.«

Sie schafft auch nach 18 Monaten Minustah, soder offizielle Namen der Friedensmission inHaiti, keine Sicherheit. Im Sommer 2004 ka-men 7000 Blauhelme in das Land, um der Inte-rimsregierung des ehemaligen UN-FunktionärsGérard Latortue zu helfen. In den Monaten zu-vor hatten Ex-Militärs und das kleine Bürgertumso lange Unruhen gegen den einstigen Armen-prediger Jean-Bertrand Aristide angeheizt, bisAmerikaner und Franzosen ihn aus dem Präsi-dentenamt ins Exil nach Südafrika drängten.Doch seit Eintreffen der UN-Soldaten sind rund1500 Menschen durch Banden- und Polizeige-walt ums Leben gekommen. Der Menschen-rechtsbeauftragte von Minustah, Thierry Fagart:»Die Lage ist katastrophal.«

Rot unterlaufen vor Müdigkeit sind die Au-gen von Urano da Matta Bacellar, dem Ober-befehlshaber der Blauhelme. Bacellar ist Brasi-lianer. »Niemand hat uns gerufen,um das Spielzu schützen«, sagt er über das Massaker im Sta-dion. Aber als sie informiert wurden, konntensie nicht hinfahren? Immerhin gab es einenStützpunkt gleich in der Nähe. »Der Verkehrwar ja so dicht.

So schleppt sich das dahin, bis eine Frage Ba-cellar elektrisiert. »Wer, bitte schön, ist hier ei-gentlich der Feind?«

Gute Frage. So gut, dass sie das Dilemma die-ser UN-Mission zusammenfasst. Haiti ist dasärmste Land der westlichen Hemisphäre, daskorrupteste der Welt – und statt eines Aggressorsgibt es jede Menge.

Da sind die Banden. Die haben Maschinen-gewehre, Sturmgewehre, Automatikgewehre.Die neuesten Modelle. Die Bevölkerung nenntdie Trupps chimères, Schimären. Ihr Reich sinddie Slums, wo fast jeder Baum für Brennholz ab-geholzt wurde und Hundekadaver in den Trink-wasserkanälen treiben. Sie raubten und morde-ten schon unter Aristide, und sie wollen ihnzurück. Die Interimsregierung steckte sie kurzins Gefängnis, aber sie konnten ausbrechen. Sieleben vom Drogenhandel und von Entführun-gen. Bis zu zehn Fälle soll es pro Tag geben,manchmal für 30 Dollar Lösegeld. In der ver-

gangenen Woche entführten Banden einen Busmit elf Schulkindern und gaben sie nur gegenLösegeld den Eltern zurück. Und manchmal er-wischen sie ein paar der verhassten haitianischenPolizisten. Dann hacken sie deren Köpfe ab undstellen sie auf den Straßen der Slums aus.

Denn auch die Polizei ist brutal. Selbst ihr Bosshält mindestens jeden vierten seiner Männerfür korrupt. Vermutlich sind es mehr. Viele vonihnen waren Schergen der Militär- und Duva-lier-Diktaturen. Der brutale François Duvalier– »Papa Doc« – folterte von 1957 bis 1971, seinluxusvernarrter Sohn Jean-Claude – »BabyDoc« – plünderte bis 1986. Kurz darauf über-nahmen Militärs das Herrschen und Foltern.Viele aus deren Mörderschwadronen jagen nunals Polizisten offiziell die »Banditen«, oft abereinfach Aristide-Anhänger. Das sind noch im-mer fast alle Bewohner in den riesigen Slumsvon Port-au-Prince. In Bel Air, in Cité Soleil, inMartissant. »Aristide ist der Einzige, der uns Ar-men zugehört hat«, sagt Brunet Esterne, und ersagt das noch, nachdem auch Aristides Regie-rung versank im Strudel von Korruption, Dro-genschmuggel und Gewalt. Die Mörder unterden Polizisten wollen die Armen für die Zeit derHoffnung büßen lassen. Die Interimsregierungkann (oder will?) die Polizei kaum kontrollie-ren, und die UN sollen der Truppe laut Man-dat zur Seite stehen.

Oberbefehlshaber Bacellar steht vor einerKarte Haitis. Der Staat erstreckt sich über dieWesthälfte der Karibikinsel Hispaniola. Im Ost-teil grenzt die Dominikanische Republik an, dasUrlaubsziel vieler deutscher Touristen. »Hier gibtes Probleme«, umkreist Bacellar mit seinengroßen Händen den kleinen Teil von Port-au-Prince, in dem Cité Soleil liegt. In den Dörfernhingegen sei es völlig sicher, sagt er. Doch in denSlums der Hauptstadt lebt rund jeder zehnte deracht Millionen Haitianer. Die UN-Truppenbrauchen dort Frieden. Sie müssen die Bandenbekämpfen und die Polizei zügeln.

Aber wie? Bacellar reißt die Hand hoch, si-muliert ein Sturmgewehr, ruft: »Peng, peng,peng! Wollen wir Bandenchefs von Haus zu Hausjagen wie die Marines in Bagdad?« Seine Solda-ten, darunter Truppen aus Nepal, Jordanien oderMalaysia, sind dafür nicht ausgebildet. Am 6. Julihaben die UN es trotzdem versucht, nachdemreiche Haitianer und der US-Botschafter wo-chenlang geklagt hatten, die Blauhelme versag-ten gegen die Bandengewalt. »Iron Fist« hieß derEinsatz, 400 Blauhelme marschierten um dreiUhr morgens in Cité Soleil ein, mit 41 Panzern.Festnehmen sollten sie einen der berüchtigtstenBandenchefs, Emmanuel Wilmer. Sie schossennicht zuerst, doch sie wussten, dass jemand ausdem Viertel schießen würde, »und dann«, sagtBacellar, »haben auch wir geschossen«. Und fürfünf Stunden nicht aufgehört. Am Ende war Wil-mer tot. Doch viele andere Slumbewohner auch.Getötet von wem? Getötet im Kampf oder un-

schuldig? In Cité Soleil stellen viele diese Fragen.Edeline Pierre-Louis etwa, die ihr gelbes T-Shirtmit dem »Nations Unies«-Aufdruck hochzieht,um eine breite Narbe quer überm Bauch zu zei-gen. Sie war im siebten Monat schwanger, dasBaby mussten Ärzte rausschneiden, weil eine Ku-gel es erwischt hatte. Pierre-Louis streckt einemihre Brustwarze entgegen, man soll sehen, dassdurch die ebenfalls eine Kugel geschlagen ist.»Danke, Minustah, danke!«, schreit sie. Andereaus dem Viertel zeigen Farbfotos von sieben To-ten, angeblich von dem Tag des UN-Einsatzes,die meisten mit Kopfschusswunden. Sie sagen:»Die konnten wir fotografieren, bevor die Hun-de sie gefressen haben.« Bacellar sagt, man versu-che zivile Opfer zu vermeiden und untersuche dieEinsätze. Doch eine UN-Diplomatin, die ano-nym bleiben will, klagt: »Wir schließen nie eineUntersuchung ab.«

Es ist in der Tat knifflig. Derart blutigeEinsätze bringen die Armen weiter gegen dieBlauhelme auf. Doch sie schüchtern auch dieBanden ein. Am deutlichsten zu sehen ist dasderzeit in Bel Air, dem zweitgrößten Slum. VorJuli sah es dort noch aus wie in Cité Soleil. 170brasilianische Blauhelme sind hier stationiert,im Sommer sei fünfmal am Tag auf sie ge-schossen worden, »jetzt ist seit fünf Tagen keinSchuss gefallen«, berichtet der Soldat JorgéSmicelato. Auf dem Gang durchs Viertelklatscht er sich entspannt mit Kindern ab.Doch kann der Frieden halten? »Dafür müss-ten Investoren kommen. Haitis Feind ist dieArmut«, sagt Juan Gabriel Valdés, ziviler Lei-ter der UN-Mission. 1,4 Milliarden Dollar hatdas Ausland versprochen, aber in den Slums istkaum etwas angekommen.

Selbst die versprochenen Wahlen wurdenviermal verschoben. Nun sollen sie am 8. Ja-nuar stattfinden. Die meisten Haitianer kennenweder die Kandidaten noch deren Programme.Sofern sie welche haben. Unter den 35 zur Wahlzugelassenen Präsidentschaftsbewerbern tum-meln sich Duvalier-Funktionäre, die vor den Au-gen von Schulkindern eigenhändig Oppositio-nelle umbrachten – oder Kandidaten wie MarcBazin. Der war Premier unterm Militärregime,sein Bruder ist Finanzminister in der Interims-regierung. Bazin trägt im Büro blaue Nadelstrei-fen, sitzt hinterm Empire-Schreibtisch, blättertin der International Herald Tribune und fragt dendeutschen Besucher nach Angela Merkel. Ir-gendwie hat sich Bazin die Spitzenkandidaturfür Aristides Armenpartei Lavalas unter den Na-gel gerissen. Ausgerechnet. In die Armenviertel,wo die Basis lebt, geht er nicht. Zu gefährlich.

Samba Boukman, der Lavalas-Boss in Bel Air,ein junger Mann mit Rastalocken, würdigt ei-nen wie Bazin keines Wortes. »Nur Aristidekönnte einen neuen Parteichef bestimmen.«Die meisten Bewohner der Slums werden RenéPréval wählen. Leute wie Boukman organisie-ren bereits große Demonstrationen für ihn.Préval war von 1996 bis 2001 schon Präsident,die Armen erinnern sich daran, dass er Schu-len und Straßen bauen ließ. Aber warum soll-ten Militär und Oberschicht sich mit Préval,einem engen Aristide-Freund, anfreunden?Rund 130 000 private Waffen kursieren inHaiti, die UN haben bei der Entwaffnungkaum Fortschritte gemacht. Wahlverliererkönnten die Gewalt weiter anheizen.

Immerhin kämpft ein neuer Polizeichef nungegen Schergen in den eigenen Reihen. 15 Poli-zisten müssen sich wegen der Morde im Stadionvon Martissant vor Gericht verantworten. Bru-net Esterne freut das natürlich, doch die Nach-richt hört er vor verkohlten Grundmauern.Nachbarn, die für die mörderischen Polizistenim Stadion als Spitzel arbeiteten, wurden wütendauf Esterne. Er redete zu viel. Sie haben ihm ei-nen Besuch abgestattet – und Esternes Ein-raumhütte komplett abgefackelt.

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Wo, bitte, ist der Feind? 7500 Blauhelme stehen in Haiti zwischen allen Fronten. Nun soll es Wahlen geben Von Gregor Schmitz

Bürgerkrieg in der Karibik

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AtlantischerOzean

Haiti

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HAITI D O M I N I K A N I S C H ER E P U B L I K

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Bandenkriege und Polizeibrutalität prägen den Alltag in Port-au-Prince.Täglich werden zehn Menschen entführt. Die UN sind machtlos

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Nr. 1 S. 13 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

LÄNDERSPIEGEL 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 13

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Bad Frankenhausen

B ei fünf Metern ist Schluss, 4,22 Meter sinderreicht, jährlich kommen sechs Zentime-ter hinzu. Das ist die Ausgangslage. In we-

nigen Jahren wird, mit anderen Worten, derschiefe Turm von Bad Frankenhausen so weit ausdem Lot sein, dass rund tausend Tonnen Kalk-sandstein aus 56 Meter Höhe auf den alten Kerndes Städtchens am Südhang des Kyffhäusers stür-zen werden. Seit 622 Jahren steht der Kirchtturm»Unser lieben Frau am Berge« jetzt schon – aber,nun, alles ist endlich.

Bislang konnte der Ort mit der spektakulärenSchieflage seines Wahrzeichens gut leben. Nichtohne Befriedigung wurde es vermerkt, dass derschiefe Turm von Bad Frankenhausen dieses Jahrden Campanile von Pisa, rein neigungswinkel-mäßig betrachtet, überholte. Doch inzwischenbeträgt der Neigungsvorsprung einen halbenGrad, und dass die jüngsten Prognosen ihremKirchturm noch allenfalls zehn Jahre geben, dashat die Stadt nun doch aufgeschreckt. Zumal esauch schneller gehen kann.

»Dass er kippt, ist sicher«, sagt der ArchitektVolker Trautvetter, der das Projekt Oberkirchebetreut. Dennoch sind die Bad Frankenhausenerangesichts der bedenklichen Neigung ihrer Kir-che erstaunlich gelassen – vielleicht weil sie schonseit gut hundert Jahren mit der Gefahr eines fal-lenden Turms leben. Von 1984 bis 1993 war dasGelände gesperrt, zurzeit darf den Turm nie-mand betreten.

Von einer neuerlichen Sperrung des Arealswill in Bad Frankenhausen indes kaum jemandetwas wissen. »Wir wünschen uns, dass Touristenwegen unseres schiefen Turms herkommen«, sagtBürgermeister Karl-Josef Ringleb (CDU). Erhofft, dass der schiefe Turm Bad Frankenhausenberühmt machen werde. So ähnlich begründetauch Bärbel Köllen ihr Engagement für dieOberkirche. Die 65-jährige Stadtführerin ist Vor-sitzende des Fördervereins, der 1992 zur Erhal-tung der Kirche gegründet worden ist. Der Ein-satz der 160 Mitglieder gilt nicht nur dem Turm;sie möchten die ganze Kirche retten, die im Som-mer für Freilichtgottesdienste und Konzerte ge-

nutzt wird. Ein Dach hat das Kirchenschiff seit1962 nicht mehr. Schwammbefall hat es zerstört.

Nun ist die Idee einer Bürgerbewegung zurBewahrung der alten Gemäuer nicht neu. Schonzu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gab eseine Initiative mit Namen »Hilfe, ich stürze«, diemit einem so genannten Spendenfünfziger Geldzum Erhalt des schiefen Turms sammeln wollte.Seit 1999 versucht die Kirchgemeinde, wenigs-tens den Turm zu stabilisieren.

Einen Plan gibt es immerhin schon: Der Bo-den unter dem Turm, ergab eine Untersuchung,müsste stabilisiert werden. Denn dort liegt dasProblem. Der Boden ist unterschiedlich beschaf-fen, eine Diagonale trennt festen Felsen vonSchotter. Aus der jetzt losen Hälfte des Bodens ha-ben Niederschläge im Laufe der JahrhunderteGips ausgespült. »In diesen losen Untergrundmüsste buchstäblich Geld, also Beton, gepumptwerden«, beschreibt der Bürgermeister das Unter-fangen. Von 400 000 Euro ist die Rede. Zu viel fürKirchgemeinde und Stadt. 100 000 Euro fehltennoch, schätzt Architekt Trautvetter. Findet sichkein Mäzen, wäre die jüngste Attraktion von BadFrankenhausen ein temporäres Kunstwerk.

Andererseits gibt es auch keine realistische Al-ternative zu den Rettungsbemühungen. Das Ge-bäude abzureißen wäre nicht billiger, als es zu sa-nieren, das weiß man, seit im Jahr 1929 ein Kos-tenvoranschlag für beide Möglichkeiten erstelltwurde. Und was es kosten würde, den Turm ein-fach auf die Altstadt von Bad Frankenhausen kip-pen lassen, das wagt niemand zu ermitteln.

»Ich habe hier meine Wurzeln und bin mitdem Kirchturm verwachsen«, sagt BürgermeisterRingleb. Kippt der Turm, dann kippt, mit ande-ren Worten, auch der Bürgermeister.

»Wir haben inzwischen mit der Stadt Pisa Kon-takt aufgenommen«, erzählt Stadtführerin Köllen.Post gab es schon – eine Baugeschichte der Turm-aufrichtung. Nur: Aufrichten will den schiefenTurm von Bad Frankenhausen niemand. Den jet-zigen Zustand einzufrieren, damit wären alle zu-frieden. Wenn das nicht gelingt, dürfte Bad Fran-kenhausen über kurz oder lang noch berühmterwerden als Pisa. Wenigstens für kurze Zeit.

Hilfe, er stürzt! Ein schiefer Kirchturm bedroht den Stadtkern von Bad Frankenhausen in Thüringen. Dennoch will ihn niemand aufrichten Von Katja Müller

Nordrhein-Westfalen

Brandenburg

Thüringen

Frankfurt (Oder)

Mehr als 30 Skelette hat Erwin Ko-walke schon gefunden. Seit Stun-den steht er in einem Erdloch, umsterbliche Überreste ehemaliger

Wehrmachtsoldaten zu bergen. Wenige Meterweiter liegen noch mehr Tote – es müssen Hun-derte, womöglich Tausende sein, da ist Kowalkesicher. Die meisten wurden wahrscheinlichschon im Sommer oder Herbst 1945 dort ver-scharrt. »So wie das aussieht, sind die Toten voneinem Lkw aus abgekippt worden«, sagt Kowal-ke. Er kennt sich aus; er arbeitet als Umbetter fürdie Deutsche Kriegsgräberfürsorge, an die20 000 Kriegstote hat er schon geborgen. Dannmacht er sich daran, den nächsten Schädel ausetwa 1,20 Meter Tiefe zu bergen.

Frankfurt an der Oder, Anfang Dezember,eine Brache in der Nähe des Polizeipräsidiums.Eine Stadt stellt sich ihrer Vergangenheit. Odertut sie es nicht? Erwin Kowalke, der Kriegsgrä-berfürsorger, gibt seine Arbeit bald auf. DieFundstelle wird wieder eingeebnet – und ob dieExhumierung je fortgesetzt wird, ist ungewiss.

So oder so, das Massengrab, das Anfang De-zember in der deutsch-polnischen Grenzstadt ge-funden wurde, dürfte die Behörden in Branden-burg noch lange beschäftigen. Denn viele Jahrelang gab es nur Vermutungen darüber, was sichin den ersten Nachkriegsjahren in Frankfurt ab-gespielt hatte. Jetzt deutet vieles darauf hin, dassZehntausende Menschen dort umkamen, die an-schließend in Massengräbern unter Aufsicht derRoten Armee verscharrt wurden.

Im Sommer 1945 hatte die Rote Armee be-gonnen, kranke und nicht mehr arbeitsfähige

Kriegsgefangene aus sowjetischen Lagern nachDeutschland zurückzubringen. Fast immer en-deten die Transporte in Frankfurt, wo die frühe-ren Wehrmachtsoldaten entlassen wurden. Dochviele der Kranken erreichten den deutschenGrenzbahnhof nicht lebend. Ihre Leichen blie-ben in Güterwaggons liegen, bis Arbeitskom-mandos sie in unmittelbarer Nähe vergruben.

Auch in der so genannten Hornkaserne, ei-nem Auffanglager, kamen Heimkehrer zu Tau-senden ums Leben. Dort mussten die Kriegsge-fangenen oft wochenlang auf ihre Entlassungs-papiere warten, ständig beäugt von der RotenArmee und vom sowjetischen GeheimdienstNKWD. Der protokollierte auch die Sterbefällepenibel. Der Frankfurter Ortshistoriker JoachimSchneider, der sich seit langem mit Archivunter-lagen aus der früheren Sowjetunion beschäftigt,bekam aus Moskau eine bis dahin geheime Liste.Die Namen von 3300 Tote sind darin aufgeführt,dazu das jeweilige Todesdatum.

Schon 1945 sei von 30 000 Toten dieRede gewesen, sagt ein Zeitzeuge

Insgesamt dürfte das Ausmaß der Tragödie weit-aus größer gewesen sein. Rolf Pächnatz war Ende1945 als 19-Jähriger selbst in der Hornkaserneinhaftiert. Damals heuerten ihn die Sowjets an,ihnen beim Verscharren der Leichen zu helfen.Heute, 60 Jahre später, erinnert sich Pächnatznoch genau daran, wohin man die Toten brach-te und wie sie letztlich in einem Massengrab en-deten, einfach »draufgeworfen« auf andere Tote.Beim Erzählen treten dem Zeitzeugen Tränen indie Augen. »So ging das wahrscheinlich laufend

GrasdrüberIn Brandenburg wurde ein Massengrab mit den ÜberrestenTausender Wehrmachtsoldaten entdeckt. Doch für ein würdigesGedenken fehlt angeblich das GeldVon Frank Berger

weiter«, sagt er. Und dass schon damals von30 000 Toten die Rede gewesen sei.

Wie ist es möglich, dass Massengräber aus denfrühen Nachkriegsjahren erst im Jahr 2005 ent-deckt werden? Die Kriegsgräberfürsorge hatte dieAuskünfte von Rolf Pächnatz den zuständigen Be-hörden in Frankfurt übermittelt. Doch die Stadtzeigte sich zunächst wenig interessiert daran, ih-nen nachzugehen. Dabei hätte ein Blick in die Un-terlagen der Stadt genügt, um festzustellen, dass inder DDR in Zusammenhang mit den Heimkeh-rer-Transporten nur etwa 5600 Tote registriertwurden. Sie waren auf zwei heruntergekommenen»Heimkehrer-Friedhöfen« bestattet worden undfanden später fast alle auf dem Frankfurter Haupt-friedhof eine letzte Ruhestätte.

Natürlich waren die DDR-Zahlen geschönt,wie so vieles im Sozialismus. In Berlin arbeitet nochimmer die Deutsche Dienststelle daran, Schicksaleehemaliger Wehrmachtsoldaten aufzuklären. In denvergangenen Jahren, sagt Referatsleiter Walter Dö-nigus, habe man aus den GUS-Staaten viele Perso-nallisten bekommen, die auch Sterbefälle in Frank-furt/Oder dokumentieren. Bis jetzt, sagt Dönigus,seien »etwa 8000 Namen« von Soldaten bekannt,die zwischen 1945 und 1948 in der Stadt umge-kommen sind. Doch sei die Auswertung der Un-terlagen noch nicht abgeschlossen.

Dokumente des Ortshistorikers Joachim Schnei-der zeigen ein noch dramatischeres Bild. Fast jederfünfte Heimkehrer hat demnach in der Zeit un-mittelbar nach dem Krieg den Transport nachFrankfurt nicht überlebt. In einer Studie für dasbrandenburgische Innenministerium kommt derVolksbund zu dem Schluss, dass in Frankfurt/Oderbis zum Sommer 1946 etwa 30 000 Heimkehrer

gestorben sein dürften. Und in den folgenden vierJahren seien noch bis zu 5000 weitere Exsoldatenums Leben gekommen.

Aufgeschreckt durch solche Zahlen, rang sichschließlich die Stadt dazu durch, verdächtige Stel-len zu überprüfen. Doch als Anfang Dezember daserste Massengrab geöffnet worden war und sein In-halt die schlimmsten Befürchtungen bestätigte,wurde die Suche jäh gestoppt. Die Kommune siehtsich finanziell und organisatorisch überfordert.Frankfurt ist arm. Es sei »nicht unbedingt erforder-lich«, sagt Oberbürgermeister Martin Patzelt(CDU), »mit einem großen Aufwand eine Exhu-mierung aller nur möglichen Verstorbenen zu be-treiben«. Ihm schwebt die Einrichtung einer klei-nen Gedenkstätte am Ort des Massengrabes vor.Aber selbst dafür fehle der Stadt das Geld.

Rolf Hübner vom Volksbund in Frankfurt fin-det den Vorschlag des Oberbürgermeisters nichtakzeptabel. Keinesfalls dürften die Skelette in denMassengräbern bleiben. Sie müssten umgebettetund ordentlich begraben werden. »Wir sind dochein Kulturstaat!« Unterdessen reisen die erstenAngehörigen vermisster Soldaten nach Frankfurt,um ihren toten Verwandten die letzte Ehre zu er-weisen. Ein Besucher aus dem Ruhrgebiet ramm-te nahe dem geöffneten und wieder verschlossenenMassengrab ein Holzkreuz in den Boden – einestille Mahnung an den Oberbürgermeister, sichfür eine würdevolle Bestattung der Toten ein-zusetzen.

Ob es dazu je kommen wird, ist unklar. DasBrandenburger Innenministerium hat vorsichtigsignalisiert, dass Frankfurt nur dann mit Unter-stützung des Landes rechnen könne, wenn die To-ten auf eine Kriegsgräberstätte umgebettet würden.

Erwin Kowalke (links) will die Toten umbetten. Nur ein Holzkreuz markiert bisher das Grauen

Düsseldorf

E in- bis zweimal die Woche erkundige ichmich bei der Bundespolizei, welche Ab-schiebungen anstehen. Dann entscheide

ich, bei welchen ich dabei sein will«, berichtet UliSextro. Der 38-Jährige war bislang Europas ersterund einziger hauptberuflicher Abschiebungsbeo-bachter, angestellt bei der Evangelischen Kirche, fi-nanziert vom Land Nordrhein-Westfalen. Jahre-lang hat die graue Kulisse der Wirtschaftsgebäudedes Düsseldorfer Flughafens seinen Horizont be-schnitten, wenn er vom Schreibtisch aus zum Fens-ter hinausschaute. Hinter ihm hing der Wandka-lender mit Kürzeln für die regelmäßigen Abschie-bungsflüge nach Istanbul, Belgrad und Prishtina.

Ein Handy zum Verleihen, etwas zusätzlichesGeld für Mittellose oder auch nachträglich ein-gereichtes Reisegepäck hatte Uli Sextro dabei,wenn er sich auf den langen Weg über das riesi-ge Areal machte, um die Abschiebung einesMenschen von der Übergabe durch die Behör-de an die Bundespolizei bis hin zur Gangway zubegleiten. Sieben dicke Aktenordner von Le-bensgeschichten enthalten seine persönliche Bi-lanz. Die meisten dieser Lebensgeschichtenmündeten im Abschiebungsterminal F, für»Fracht«. Tausende Schicksale hat Uli Sextrosachlich dokumentiert, Tendenzen im Vollzuganalysiert und seine Kritik in ein Fachgremiumaus Behörden und NGOs getragen.

»Abschiebung hat immer mit Gewalt zu tun,und Gewalt lässt sich nicht humanisieren«, sagter. Was nicht heißt, dass seine Arbeit vergeblichgewesen wäre. In NRW etwa darf kein Ausländermehr mittellos abgeschoben werden. »Dass Bun-despolizisten Abzuschiebende misshandeln, habeich nicht erlebt«, versichert Sextro. Einmal hat erum den Austausch eines Beamten gebeten, derimmer lauter schrie, als die gefesselte Frau, dienach Nigeria abgeschoben werden sollte, ihn an-spuckte.

Vier Jahre täglich reproduziertes Drama ha-ben auch den Abschiebungsbeobachter abge-stumpft. Doch ohne den notwendigen Zornfühle er sich dem Job nicht mehr gewachsen,sagt Sextro. Im Januar übernimmt ein Nachfol-ger seine Aufgabe. Angelika Calmez

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Uli Sextro Europas einziger Abschiebungs-beobachter quittiert seinen Job

Page 11: Die Zeit 2006 01

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14 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005 IN DER ZEIT

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Die Kunst, die Liebe, die Illusionen – in seinem neuen Film »Matchpoint« hatWoody Allen die ganze Seelenpolsterungseines Kinos herausgerissen. Entstanden ist ein harter, gnadenloser Film über die Schlechtigkeit des Menschen – der beste Allen seit langemFEUILLETON SEITE 39

ANGIE IST NICHT MAGGIE

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Tennislehrerlieben nichtVON KATJA NICODEMUS

Champagner ist ein Mythos. Am besten versteht man ihn in der

kleinen Stadt Épernay. Oben, an der Avenue de Champagne, geht es

um den Genuss des Champagners, unten,in den über hundert Kilometern von

Kellern und Gängen, um sein Geheimnis REISEN SEITE 67

Der reine Augenblick

VON GEORG DIEZ

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POLITIK2 Regierung An Gesundheitsministerin

Ulla Schmidt hängt die Zukunft derGroßen Koalition VON ELISABETH NIEJAHR

3 Deutschland Alle reden von der neuenErnsthaftigkeit – aber was heißt das?VON SUSANNE GASCHKE

4 Globalisierung Wie viel Spielraumbleibt der Politik?Ein Streitgespräch zwischen Heiner Geißler und Norbert Röttgen

5 a Kiel Wer war der »Heidemörder«?Eine Spurensuche VON FRANK DRIESCHNER

8 CSU Stoiber & Co. fürchten um den Nimbus ihrer Überpartei VON JAKOB AUGSTEIN

9 Spenden Am Ende eines turbulentenJahres ziehen die HilfsorganisationenBilanz VON ISABELL HOFFMANN

Tribüne Wie der Tsunami radikalenIslamisten half VON BASSAM TIBI

10 CIA-Entführungen Erstmals spricht einInsider des Geheimdienstes über die»Sonderüberstellungen« von Terror-verdächtigen an Folterstaaten

12 Haiti Wahlen im Chaos – warum dieUN-Soldaten auf der Karibikinselverzweifeln VON GREGOR SCHMITZ

13 LÄNDERSPIEGEL

Brandenburg Wie die Stadt Frankfurt/Oder mit einem jüngst entdeckten Massengrab umgeht VON FRANK BERGER

Thüringen Warum ein schiefer Kirchturm in Bad Frankenhausen nicht aufgerichtet werden soll VON KATJA MÜLLER

Nordrhein-Westfalen Europas einziger Abschiebungsbeobachter quittiert seinen Dienst VON ANGELIKA CALMEZ

DOSSIER15 Blauhelmmissionen Fast nur noch

Soldaten aus armen Ländern dienen den UN – wie Zahirul Islam aus Bangladesch, der im Kongo ums Leben kam VON JÖRG BURGER

WIRTSCHAFT21 Arbeit Wer weniger Arbeitslose will,

muss die Menschen weiterbildenVON MARC BROST

30 Sekunden für 6104 PunkteVON MARCUS ROHWETTER

a Konjunktur Die Aussichten für 2006sind nicht schlecht VON KLAUS-PETER SCHMID

22 TV-Kabel Bundesliga und RTL digital– wie die Betreiber der Kabelnetze dasFernsehen verändern VON K.-H. RENNER

23 Springer Wie die Übernahme von ProSiebenSat.1 neutralisiert werdensollte. Ein medienpolitisches LehrstückVON GÖTZ HAMANN

24 Karstadt Nach ihrem Verkauf stehendie kleinen Warenhäuser überraschendgut da VON STEFANIE BILEN

Wirtschaftsbuch »Europas Wirtschaftwird gewinnen« von Donald KalffVON REINHARD BLOMERT

25 Verkehr Wolfgang Tiefensee über Mautund die Zukunft der Bahn. Interviewmit dem Verkehrsminister

26 Landwirtschaft In Amerika wächst der Widerstand gegen gentechnischveränderte NahrungsmittelVON THOMAS FISCHERMANN

28 Autos aus China Erstmals kommen sienach Europa – zu Kampfpreisen VON ULRICH VIEHÖVER

30 Das war 2005 Der Jahresrückblick ausSicht der Wirtschaft

32 a Mannesmann-Prozess Auch künftigkönnen Manager übermäßig vielkassieren VON RAINER FRENKEL

WISSEN33 a Bioethik In den USA werden

überzählige eingefrorene Embryos adoptiert VON ELKE BINDER

Evolutionstheorie Ein US-Gerichtnimmt Darwin in Schutz VON THOMAS KLEINE-BROCKHOFF

Klonen Hwang Woo-Suk ist als Fälscher überführt VON ULRICH BAHNSEN

34 Unendlichkeit Gespräch mit dem Kosmologen John Barrow über den Urknall und das ewige Leben

35 Bildung Deutsche Hochschulen entdecken das Spendensammeln VON MARTIN SPIEWAK

36 Volkskrankheiten (8) Angst VON CORNELIA STOLZE UND HARRO ALBRECHT

FEUILLETON39 a Kino Woody Allen hat mit

»Matchpoint« einen unversöhnlichenFilm gedreht VON KATJA NICODEMUS

Theater Zum 10. Todestag von Heiner Müller VON PETER KÜMMEL

40 Kino Andreas Dresens Einsamkeitsfilm»Sommer vorm Balkon« VON CHRISTOPH DIECKMANN

Radio Die BBC feiert Weihnachtenmit Bach VON REINER LUYKEN

41 Interview Peter Greenaway und dasRembrandt-Jahr

42 Diskothek

Pop Die Strokes beschleunigen denRock ’n’ Roll VON THOMAS GROSS

Hörbuch Ingeborg Bachmanns »Der gute Gott von Manhattan« VON MIRKO WEBER

Filmklassiker (47) »Der eiskalte Engel« von Jean-Pierre Melville VON GEORG DIEZ

43 Geburtstag Michael Blumenthal, der Leiter des Jüdischen Museums in Berlin, wird 80 VON MICHAEL NAUMANN

Kunst Der Berliner Palast der Republik zeigt Kunst, bevor die Bagger kommen VON THOMAS E. SCHMIDT

46 Völkerrecht Wann ist ein Krieg gerechtfertigt? VON THOMAS ASSHEUER

47 Kunst Die Frankfurter Schirn zeigt James Ensor VON MIRJA ROSENAU

Türkei Religiöser Extremismus an denUniversitäten VON ALEXANDER BÜRGIN

LITERATUR49 Zeitreise durch das 20. Jahrhundert

Geert Maak »In Europa« VON KARL SCHLÖGEL

Die Erinnerung verklärtVON ULRICH GREINER

50 Europäisches Tagebuch Worüber Londoner Leser sprechen VON RÜDIGER GÖRNER

Buch im Gespräch Eberhard Rathgeb»Die engagierte Nation« VON RUDOLF WALTHER

51 Roman Ernst Augustin »Eastend«VON DIETER HILDEBRANDT

Richard David Precht »Lenin kam nur bis Lüdenscheid«Bernd Cailloux »Das Geschäftsjahr1968/69« VON JOSEPH VON WESTPHALEN

52 Kunst Martin Warnke »Velázquez«VON ANDREAS BEYER

Wolfgang Ullrich »Was war Kunst?«VON ELKE VON RADZIEWSKY

54 Kaleidoskop Aus politischen Zeitschriften; Stillleben mit Buch; Büchertisch; Gedicht; ZEIT-Liste

LEBEN55 100-mal Gutes Was sich die Redaktion

der ZEIT für das neue Jahr wünscht

58 Mein Jahr mit der ZEIT Leser berichten von ihren Erlebnissen

60 Pendelverkehr In Berlin wohnen, inHamburg arbeiten – geht das? VON JAN-MARTIN WIARDA

Ein Rentner sieht rotRespekt, bitte!

Dichter am Ball (13) VON LUDWIG HARIG

62 Siebeck Volk der Köche

63 Katz & Goldt

64 Autotest Der Maserati QuattroporteVON MARGIT STOFFELS

65 Spielen

66 a Ich habe einen Traum Desmond Tutu, Erzbischof

REISEN 67 Frankreich In den Kellern von

Épernay reifen 200 Millionen Flaschen Champagner VON GEORG DIEZ

69 Magnet Ballnächte in WienReisen ins All

70 Gute Vorsätze Elf erfahrene Reisendeverraten, was sie im nächsten Urlaubbesser machen wollen

72 Lesezeichen

CHANCEN75 Schule Der Schriftsteller

Gabriel García Márquez bildet Journalisten aus VON HANS-VOLKMAR FINDEISEN

76 Beruf Warum sich Hochschulen umberufliche Weiterbildung kümmernVON SABRINA EBITSCH

Gefragt Professoren als Unternehmer

Studium Die Hochschule für Kunstund Design in Halle VON INGE AHRENS

ZEITLÄUFTE84 Gedenktage Mozart, Rembrandt,

Heine und Kolumbus werden gefeiert –vor allem aber Josephine Baker, die2006 hundert Jahre alt geworden wäre VON FRANZ ANTON CRAMER

RUBRIKEN2 Worte der Woche20 Leserbriefe32 Macher und Märkte34 a Stimmt’s?

Erforscht und erfunden47 a Das Letzte

Impressum48 Kunstmarkt

ANZEIGEN18 Sidestep43 Museen und Galerien60 Spielpläne63 Kennen lernen und heiraten76 Bildungsangebote und Stellenmarkt

Die so a gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich von ZEIT.de unter www.zeit.de/audio

ZEIT i ONLINELiebe, Tod und Politik in Teheran

Lernen Sie Woche für Woche Iran kennen, Geschichte für Geschichte, ein Jahr lang. AufZEIT online erscheint an diesem Donnerstagdie dritte Folge: Wie die jungen Männer amAsadi Platz um die schöne Robabe werben. Besuchen Sie www.zeit.de/asadis

ZEIT online in der Kritik

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DIE ASADIS

Page 12: Die Zeit 2006 01

Als der Gefreite Zahirul Islam die Taschenpackte, standen neben ihm seine Frauund sein Sohn. Seine Frau reichte ihmzehn Seifenstücke der Marke Imperial,

im Dorf gekauft in einer Wellblechhütte. Reichteihm mehrere Tuben Kool Shaving Foam, Deostif-te der Marke Do it!, Talkumpuder von Pond’s.Reichte ihm das Nescafé-Glas mit den Medika-menten, sie hatte es in ihrer Sorge randvoll ge-stopft. Kein gesunder Mann braucht so viele Ta-bletten und Zäpfchen, nicht einmal in einem Jahr,aber seine Frau hätte Zahirul gern noch mehr mit-gegeben, ihre Liebe, ihren Schutz. Es war unmög-lich, die blaue Tasche war voll.

Sie traten vor die Tür des sandfarbenen Hausesaus Lehm, die Erde war aufgeweicht vom Monsun-regen, er drohte das Haus wegzuspülen zwischenden Eukalyptusbäumen – Zahiruls Familie, seineEltern, die sechs Geschwister, das Dorf im NordenBangladeschs und seine 1000 Menschen. Zahirulhatte für sich und seine Frau ein neues Haus gebaut,eines aus Stein, wie es reiche Leute tun, näher amDorfplatz, auf dem die Kühe grasen. Das Haus waraber nicht rechtzeitig fertig geworden.

»Betet für mich«, sagte er zu Vater und Mutter,dem älteren Bruder, den fünf Schwestern. Zu seinerFrau und seinem Sohn sagte er: »Betet für mich,dann wird mir nichts geschehen.« – »Er hatte keineAngst«, sagt heute sein Bruder.

Der Sohn, sechs Jahre alt, willKampfpilot werden, den Vater rächen

Es war der 12. August 2004, ein Donnerstag, Za-hirul fuhr zurück in die Kaserne. Er holte zwei Uni-formen aus dem Spind, eine Jacke, zwei Hemden,hellblau und dunkelblau, vier Unterhemden inTarnstoff, zwei Polohemden, weiß, einen Trai-ningsanzug, hellblau, eine kurze Hose, vier PaarFrotteesocken, sechs Taschentücher, drei Baseball-mützen, zwei Barette, das zweite Stiefelpaar. Ernahm vier Lungis, bunte Wickelröcke, die in sei-ner Heimat auch Männer tragen, dazu den Ruck-sack, zwei Bettbezüge, Wolldecke, Blechtasse, zweiPlastikteller, Besteck, Moskitonetz, Taschenlampe,Reinigungsbürste. Er stopfte alles in die größereder beiden Taschen, tat den Gebetsteppich hinzu,die Gebetsmütze, den Schlafsack, den Regenman-tel, das Survival-Kit mit Messer und Angelschnurund Tabletten, die man ins Wasser tut, um Keimezu töten – für den Fall, dass er im Dschungel ver-loren ging. Er dachte auch an das Erste-Hilfe-Setund vergaß nicht das Passfoto seiner Mutter.

Zahirul trug schwer, als er zum Flughafen vonDhaka fuhr, bereits im Kampfanzug. Gefreiter Za-hirul Islam, 31 Jahre alt, Dienstnummer 4009330der Armee von Bangladesch. Er schleppte klaglos,wie alle 450 Soldaten des 5. Infanterieregimentsauf dem Weg in die Demokratische Republik Kon-go, Ablösung für bereits dort stationierte Truppen.Von morgen an war Zahirul UN-Soldat. Er wür-de seinen Teil des Weltfriedens tragen – fürDeutschland, die USA, für jene reichen Länder un-ter den 191 Mitgliedern der Vereinten Nationen,

die es ablehnen, das Leben ihrer Söhne in Afrikazu riskieren. Die vor allem Geld geben, sich frei-kaufen von der moralischen Verpflichtung. SeitEnde der achtziger Jahre waren junge Männer ausBangladesch unter der Flagge der Vereinten Na-tionen in 30 Länder ausgerückt. Nun standen sieim Kongo, in Sierra Leone, Liberia, an der Elfen-beinküste, in Äthiopien, im Sudan. Sie trugenschwer an dieser Aufgabe, wie Zahirul.

Es war seine erste Auslandsreise, und sie führteihn an einen Ort außerhalb seiner Vorstellungs-kraft. Auch die Aussicht, ein Jahr lang nicht nachHause zu kommen, erhöhte das Gewicht seiner Ta-schen. Nur Stolz linderte die Last. Alle Ausrüs-tungsgegenstände mit UN-Aufdruck – die Polo-hemden, die Bettwäsche, den Trainingsanzug –hatte er selbst bezahlt.

»Er ging für Bangladesch«, sagt sein Vater.Die Familie sitzt vor dem Haus aus Lehm, Za-

hirul ist seit mehr als einem Jahr fort. Die Wändedes Hauses, das Dach, alles scheint der Erde ent-wachsen, dem Boden, der den Reis großzügignährt und den Bauern nur das Nötigste gibt. JederZweite ist ohne Arbeit in dem kleinen Land amGolf von Bengalen, kann nicht lesen, schreiben.Zahiruls Familie gehört nicht zu den Ärmsten, zurReisernte stellt sie ein Dutzend Tagelöhner ein.Der jüngste Sohn wollte trotzdem weg aus demDorf Mashimpur Chalunga, die schlammigenWege hinter sich lassen, die Hütten aus Lehm. Mit19 kehrte er dem Dorf den Rücken, er wurde Be-rufssoldat. Seine Eltern sagten ja ohne Bedenken.Zahirul lebte in Kasernen, tat Dienst bei immerneuen Regimentern. Nach Hause kam er nur allepaar Monate, auch als er später verheiratet war.

Sein Bruder Hamidur sitzt auf einem wackli-gen Holzstuhl, in Hemd, Anzughose, mit polier-ten Schuhen. Er ist der Einzige, der lächelt. Wenner den Mund öffnet, dann, um Gutes zu sagen. Za-hiruls Schicksal hat Größe, Bedeutung. Der Bru-der ist zwölf Jahre älter, klein gewachsen, zu kleinfür die Armee. Er arbeitet bei einer Versicherung.Die Mutter blickt düster und schweigt.

Die Frau, die der jüngste Sohn liebte, heißtSamsunnahar. Sie ist schmal, kindlich, 26 Jahre alt.Ihre Name bedeutet »Sonnentag«. Zahiruls besterFreund arrangierte die Ehe, sie sprachen kein Wortvor der Hochzeit, da war er schon sieben Jahre Sol-dat. Samsunnahar hat die Augen niedergeschlagen,auf dem Schoß sitzt der Sohn. Ihr Kleid ist langund braun. Kopf und Brust sind mit einem weißenTuch umschnürt. Sie trägt ein Foto bei sich, auf-genommen kurz vor dem Abschied. Sie hat es inKunststoff schweißen lassen: Zahirul im weißenHemd, neben ihr. Er hatte sanfte Augen, einenernsten Mund. Seine Brauen sind zweifelnd hoch-gezogen. Sie blickt vorwurfsvoll, er melancholisch,als wäre er in Gedanken schon fort.

Der Sohn, sechs Jahre alt, will Kampfpilot wer-den, Vater rächen. »Er wird Arzt«, sagt die Mutter.

Das Flugzeug der Linie Orient Thai, in das Za-hirul stieg, flog nach Bangkok, das Essen war scharfgewürzt. Das nächste Flugzeug blieb lange in derLuft. Das dritte, ein UN-Transporter, sank nieder

in einer Stadt voller Straßenkinder und verrotteterKolonialgebäude. Zahirul und die anderen 33 Sol-daten seiner Einheit bezogen in einer KaserneQuartier. Zahirul bekam noch mehr zu tragen:eine schusssichere Weste, zwölf Kilogramm. EinenHelm, zwei Kilogramm. Eine AK 47, chinesischeMaschinenpistole mit ausklappbarem Bajonett,vier Kilogramm, dazu 120 Schuss Munition, zweiHandgranaten. Er war in Kinshasa, der Haupt-stadt der Demokratischen Republik Kongo, woseit zwei Jahren offiziell Frieden herrschte.

Kein Land schickt der UN so vieleSoldaten wie Bangladesch

Zahirul litt an Heimweh, wie all seine Kameraden.Nie hatte er sich mit Ausländern unterhalten. Er stu-dierte das dünne Buch, das Ausbilder ihm gegebenhatten, 20 Seiten mit Sätzen auf Französisch, Eng-lisch, Suaheli: Wie ist Ihr Name? Wohin gehen Sie?Hände hoch!

Nach zehn Jahren in der Dorfschule, einer Ba-racke ohne Fensterscheiben und Strom, und zweiJahren an einer Wirtschaftsschule konnte Zahirulkeine Fremdsprache, nur Bengali. Er hatte studie-ren wollen, als Erster der Familie, aber sein Englischwar zu schlecht. Er schummelte bei der Abschluss-prüfung. Der Lehrer erwischte ihn, ließ ihn zur Stra-fe aufstehen. Zahirul stand zehn Minuten. Die Uhrtickte, die Prüfung ging weiter. Hinterher kriegte ernichts mehr hin. Sein Englisch war schuld, dass erdurchfiel und zur Armee ging. Sein Englisch war

schuld, dass es ihn nach Kinshasa verschlug an je-nem Augusttag 2004, sein Englisch war schuld, dasser als einer von 8019 Soldaten Bangladeschs zuglobaler Mission auszog. Doch es war nicht schuldallein.

In einem New Yorker Büro hoch über dem EastRiver sitzt der Mann, der die Last von Friedensein-sätzen auf die Schultern von Soldaten legt. EinLächeln ist in sein hageres Gesicht gepresst, un-nachgiebig wie eine Bügelfalte. General RandhirKumar Mehta hat 37 Jahre in der indischen Armeegedient, für die UN focht er in Sierra Leone. ImFrühjahr 2005 stieg er auf den Gipfel seiner Karrie-re, weißhaarig. Er zog in den 36. Stock des UN-Ge-bäudes in Manhattan, Abteilung für Friedensmis-sionen, als Military Adviser. Unter ihm die Lichterder Stadt, über ihm der Generalsekretär.

»Zahirul Islam?« General Randhir Kumar Met-ha nickt. Seine Arme liegen fest auf dem creme-weißen Leder seines Sessels. Vielleicht hat er denNamen tatsächlich schon einmal gehört.

Auf dem Schreibtisch aus dunklem Holz ruht einTelefon, der Apparat ist weiß, der Griff kantig undleicht. Nach ihm greift Mehta, um Soldaten zu or-dern, auf Anweisung des Sicherheitsrates. Er ruft dieUN-Botschafter der Mitgliedsstaaten an, stellt eineVerbindung her zu fremder Leute Leben, die Befeh-len gehorchen wie Zahirul. Keine Nummer wählt erhäufiger als die der Bangladescher. Ihr Büro liegt inder 45. Straße, ein paar Blocks entfernt. Kein Landschickt der UN so viele Soldaten.

Mehtas Lächeln wird breiter. Gerade waren Of-fiziere der Fidschi-Inseln in seinem Büro, botenTruppen an. Vor kurzem hat Burkina Faso ange-fragt, die Türkei, auch Vietnam drängt, viele auf-strebende Staaten wollen Blauhelme schicken.China ist neuerdings in Afrika vertreten, die Phi-lippinen helfen in Haiti aus. »Eine Frage des Pres-tiges«, sagt Mehta, »des nationalen Willens, etwasfür den Frieden zu tun.« Er redet langsam, präzi-se. Er lässt die Wörter marschieren.

Noch Anfang der neunziger Jahre stellten west-liche Armeen den Großteil der Blauhelmtruppen.Sie verzweifelten an Bosnien, Somalia, Ruanda.Seitdem wagen sich praktisch nur noch Soldaten derärmsten Länder an die abgelegenen Brandherde derWelt – neben Bangladesch vor allem Pakistan, In-dien, Nepal, Äthiopien, Ghana, Nigeria. Die gutgerüsteten Armeen Europas treten der UN höchs-tens je ein paar Hundertschaften ab. Für die USAist es sogar offizielle Doktrin, sich nicht an derleiEinsätzen zu beteiligen. Die Bundeswehr, in Afgha-nistan und Bosnien gebunden, gewährt der Welt-gemeinschaft in Afrika genau acht Soldaten. Aufden Fluren des Hochhauses am East River schimp-fen manche auf diese »Klassengesellschaft«.

General Mehta sagt: »Die Europäer und Ame-rikaner haben wegen anderweitiger Verpflichtun-gen nur begrenzte Kapazitäten.« Was er nicht sagt,ist, dass die Globalisierung neben Geld und Wa-ren nun auch die Risiken bewaffneter Konflikteneu und ungerecht verteilt.

Zahirul setzte den schweren Helm auf, zog dieWeste an. Er heftete ein neues Namensschild an das

Klettband der Jacke, sein Name in lateinischerSchrift. Der Helm, die Weste leuchteten himmel-blau. Auch das Emblem darauf leuchtete, ein Lor-beerzweig, um einen Globus geschlungen. Zahirulging auf Patrouille in Kinshasa. Die Stadt war ruhig.Für ein paar Tage schien es, als sei seine Aufgabe le-diglich, der Welt das Emblem mit dem Lorbeer-zweig zu zeigen, diese Botschaft der Hoffnung. Inder Kaserne genoss Zahirul zum letzten Mal den Lu-xus einer Klimaanlage. Die Feldbetten waren hart,ohne Matratzen. Zahirul dachte an seinen Sold, 750Dollar im Monat. Zu Hause hatte er nur 100; vie-le seiner Landsleute leben von weniger als einemDollar am Tag.

Zahirul dachte an sein Haus am Dorfplatz, dasnoch nicht fertig war. Vielleicht würde er darin ei-nen Laden eröffnen und Düngemittel verkaufen,wenn er aus der Armee entlassen würde, frühestens2006. Er dachte an seine Frau. Sie lebte nun alleinin dem Zimmer im Erdgeschoss. Es gab darin zweiSchränke, einen Tisch, ein Bett. Boden und Wändewaren aus Lehm, die Decke mit Bambus verstärkt.Die Fenster waren vergittert, als könnten auch hierjederzeit Mörder kommen.

Seine Ausbilder hatten ihm Dias mitgrausamen Szenen gezeigt

Das Bett war viel zu groß für Samsunnahar, zu vielRaum für ihre Ängste. Nachts versperrte sie die Türmit einem Hängeschloss. Tags half sie in der Kücheunter dem Wellblechdach im Hof, stellte Töpfe aufdie Feuerlöcher im vom Regen aufgeweichten Bo-den, in dem alles zu versinken schien. Sie hegte denZiergarten hinter dem Haus. Zahirul hatte ihn an-gelegt und sorgfältig umzäunt mit gespitzten Bam-busstöcken: Guaven- und Granatapfelbäume, Blu-men. Sogar Rosen hatte er gepflanzt und Wein-trauben.

Am 9. September, einen Monat nach ZahirulsAnkunft, rückte die Einheit aus Kinshasa ab. DerFlug dauerte lange, so lange wie eine Busreisedurch Bangladesch mit seinen schmalen, ewig ver-stopften Straßen. Das Flugzeug landete auf einerzerschossenen Piste. Zahirul hievte sein Gepäckauf einen Lastwagen. Der Konvoi rollte in eineStadt, begleitet von Schützenpanzern. Nur wenigeLäden waren geöffnet. Menschen liefen auf derStraße, ärmlich gekleidet. Kinder winkten, riefen:Bangladesh, good friends! Auf den Panzern die Flag-ge Bangladeschs, ein roter Kreis auf grünemGrund, die Farbe des im eigenen Unabhängig-keitskampf vergossenen Blutes, die Farbe der Fel-der. Über den zerschossenen Häusern der Geruchvon Hass und Zerstörung.

In Bunia hatte der Krieg, der 1996 begann undnie richtig endete, am längsten gewütet. Mindestens60 000 Menschen waren in der Provinz Ituri ge-storben, im ganzen Land drei Millionen, durchMassaker, Malaria, Typhus, Hunger. In die Kämp-fe waren auch Soldaten aus Ruanda, Uganda, Ango-la, Namibia und Simbabwe verwickelt, unterstützt

Samsunnahar, die Witwedes Gefreiten Zahirul Islam,

mit ihrem Sohn Niamul

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15 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005

Gefallen für unseren FriedenEines Tages zog Zahirul Islam ausBangladesch in den Krieg. Als Blauhelmsoldat der UN im Kongowollte er gutes Geld verdienen.Zu spät merkte er, dass man ihn verheizte VON JÖRG BURGER

Fortsetzung auf Seite 17

ZEIT-Grafik

A S I E N

Indischer Ozean

A F R I K A

E U R O PA

800 km

Reise ins Kriegsgebiet

DemokratischeRepublikKongo

Bangla-desch

Page 13: Die Zeit 2006 01

von lokalen Milizen. Wer gegen wen kämpfte undwarum, war für Zahirul schwer zu verstehen. Dieeinen unterstützten den Präsidenten Laurent Ka-bila, die anderen wollten ihn stürzen. Es ging auchum Bodenschätze, Diamanten. Erst Kabilas SohnJoseph war es gelungen, Frieden zu schließen undmit den wichtigsten Bürgerkriegsparteien eine Re-gierung zu bilden. Als letzte ausländische Armeerückten die Ugander ab. Das war 2003, ein Jahrvor Zahiruls Ankunft.

Dann waren nur noch die UN da, hilflos,überfordert. Seit 1999 hielt sie dem Kriegstrei-ben mit ein paar hundert Soldaten stand. In derGegend um Bunia begann das Morden erneut.

Die UN forderten eine europäische Eingreif-truppe an, sie blieb drei Monate. Dann trafenmehr Blauhelme ein, als Erstes Bangladescher.Sie nannten die Täler um Bunia den »Kessel desTeufels«, wegen der Grausamkeiten verfeindeterVolksgruppen, die größten von ihnen hießenHema und Lendu. Die Ausbilder daheim hattenZahirul Dias gezeigt, auf denen Schwarze abge-schnittene Köpfe in die Kamera hielten undlächelten.

Auf diesen Fotos herrscht der Schrecken, demZahirul im Dickicht des Dschungels begegnensollte. Neun Bangladescher würden ihr Lebenverlieren. Auch der Gefreite Mohamad Abdul hatden Schrecken gesehen.

»Reden Sie«, sagt der Major, der MohamadAbdul im Hauptquartier der Armee in Dhaka ge-genübersitzt. Die Armee hat eine Untersuchungeingeleitet zum Tod ihrer Soldaten. Der Raum istfensterlos, hinter Glas die Berichte aller UN-Ein-sätze, rot gebunden. An der Wand ein Poster mitFlaggen sämtlicher UN-Staaten. Auf dem Bordein Globus, made in USA.

Gefallenfür unseren …

Fortsetzung von Seite 15

Links: Mashimpur Chalunga, das Dorf, aus dem Zahirul stammt. Rechts: Weltuhren im Hauptquartier der Armee in Dhaka

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29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 17DOSSIER

Mohamad Abdul kam aus dem Kongo im Sep-tember 2005 zurück, ohne seinen Freund Zahirul,seine Augen sind gezeichnet von tiefen Schatten. Erwürde am liebsten schweigen, nichts hinzufügen zumSurren der Ventilatoren, dem Gehupe draußen. DieHauptstadt Dhaka ist Lärm, Chaos. Ein ganzes Vier-tel gehört der Armee, nur dort ist etwas Ruhe, Ord-nung, Zukunft für 140 000 Mann unter Waffen.

»Es geht mir gut«, sagte er. Sie wagtenicht zu fragen, wo der Kongo liegt

»Reden Sie«, sagt der Major. Sein Gesicht gleicht ei-ner Maske, er ist zehn Jahre älter als Mohamad, aus-gebildet an einer französischen Militärakademie,Englisch fließend, zu wertvoll, der Mann, um imKongo auf Patrouille zu gehen. Er plante, organi-sierte. Sorgte für den Transport der Toten, in Holz-särgen mit versiegelten Edelstahlkapseln. Sie reistenzurück, wie sie gekommen waren, über Entebbe,Uganda. Sie brauchten länger als zuvor, nach vierTagen kehrten sie heim zu ihren Lieben. Die Fami-lien begruben sie in der Nähe der Häuser. Zahirul

sollte zurückkehren in den heimischen Lehm, ne-ben Reisfelder, Spinatbeete. Die Familie will eineMoschee errichten. Der Gouverneur hat verspro-chen, eine Teerstraße zu bauen.

»Reden Sie«, sagt der Major. »Erzählen Sie alles.«Zahirul fühlte sich leer, wie Mohamad. Er schlief

im Hauptquartier der UN in Bunia auf einer Plastik-matte in einem Zelt neben 1000 Männern. 16 000Blauhelme aus 34 Staaten sicherten den Frieden imKongo, groß wie Europa, vor allem Soldaten ausBangladesch, Pakistan, Südafrika, Nepal, Marokko,Uruguay. Sie hatten nach Kapitel sieben der UN-Charta das Recht, Gewalt anzuwenden, zu töten –nicht nur Puffer zu sein zwischen Kriegsparteien, dasalte Konzept des peace keeping von Blauhelmen seitüber fünf Jahrzehnten. Das hier war eine neue Artvon Krieg, noch sinnloser, fremder als jeder andere.Nachts hörte Zahirul Schüsse auf der anderen Seiteder Mauer.

Er rief zu Hause an. Er hatte sich ein Handy be-sorgt und wählte die Mobilnummer des Bruders. »Esgeht mir gut«, hörte Samsunnahar ihn sagen. DieVerbindung brach öfter ab, doch Zahiruls Stimme

klang verblüffend nah. Er verschwieg, dass in allenUN-Einsätzen der Bangladescher 53 Männer ge-storben waren, die meisten bei Unfällen, fünf inKämpfen. Er behielt für sich, dass Staat und UN denFamilien für jeden toten Soldaten 10 000 Dollarzahlen. Seine Frau wagte nicht zu fragen, wo derKongo genau war.

Zahirul stieg wieder auf einen Laster, er brachteihn in ein kleines Camp im Dschungel. Ein paar hun-dert Soldaten taten dort Dienst unter Führung derBangladescher. Die Baracken waren aus Stein ge-mauert, die Dächer aus Wellblech. Zahirul stellte sei-ne Taschen ans Kopfende des Feldbetts, neben 40 an-dere. Das Klima war ungewohnt kühl und trocken.Tagsüber waren es 20 Grad, nachts kühlte es weiterab. Selbst der Regen war anders als daheim, heftiger,unberechenbarer. Oft hörte er schon nach einer Stun-de wieder auf. Nichts erinnerte Zahirul an daheim,außer dem Passfoto seiner Mutter.

Er lernte, seinen Teil des Weltfriedens zu tragen.In den Nächten war die Last am schwersten, 20

Fortsetzung auf Seite 18

Zwischen 2000 und 2002 sandte UN-Ge-neralsekretär Kofi Annan seinen Vertrau-ten Manfred Eisele mehrmals nach Sierra

Leone. In dem westafrikanischen Staat tobte einBürgerkrieg, und General a. D. Eisele sollte dieschwierige Friedensmission mit ihren rund17 000 Blauhelmen beraten. Dem deutschenUN-Veteranen, lange Jahre für Blauhelmeinsät-ze verantwortlich, bot sich ein buntes Spiegelbildder Weltgemeinschaft. »Die Blauhelmsoldatenstammten aus Nigeria und Malawi, aus Jordanienund Indien, später aus Bangladesch und Pakis-tan«, erinnert er sich. Nur ein Teil der Welt-gemeinschaft war auffällig abwesend. »Kein ein-ziger Blauhelm kam aus westlichen Industrie-nationen«, sagt Eisele. Bloß Großbritanniensandte schließlich Truppen, doch die agiertennicht unter UN-Mandat.

Eiseles Erfahrung ist symptomatisch für diederzeit 18 Blauhelmmissionen weltweit. In der ak-tuellen Rangliste der Landeskontingente für dieseEinsätze finden sich unter den Top 10 Staaten wieBangladesch (9200 Soldaten), Pakistan (8568),Äthiopien (3395) oder Ghana (2854). Zum Ver-gleich: Großbritannien stellt aktuell 272 UN-Sol-daten, Kanada 212, Deutschland nur 31. Westli-che Nationen schicken weniger Soldaten, weil siedurch andere Auslandsverpflichtungen an denGrenzen ihrer militärischen Kapazitäten ange-kommen sind. Ihre ohnehin kleinen Armeenkönnten die rasant gestiegene Nachfrage nachBlauhelmen kaum stillen. Seit dem Ende des Kal-ten Krieges ist deren Zahl auf derzeit über 60 000gestiegen. Höchstens die USA wären unter denwestlichen Militärmächten in der Lage, genugKämpfer beizusteuern.

Ärmere Länder der südlichen Welthalbkugel,die oft große Armeen unterhalten, senden hin-gegen nicht ungern Truppenkontingente. Siehoffen auf diplomatische, finanzielle und mi-litärische Rendite. Brasilianische Diplomatenetwa machen keinen Hehl daraus, dass sie dasstarke Engagement ihres Landes bei der Frie-densmission in Haiti als Pfund in ihrem Ringenum einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat sehen.Von den rund 1000 Dollar pro Monat, welchedie Vereinten Nationen je Blauhelm zahlen, ge-ben vor allem afrikanische Staaten ihren Solda-ten nur einen Bruchteil weiter. Andere sehen dieMissionen als gutes Militärtraining.

Aber Trainingszwecken sollen die Missioneneigentlich nicht dienen. Der Charakter aktuellerBlauhelmeinsätze hat sich in den vergangenen Jah-ren radikal vom historischen Ansatz bloßer »Frie-densbewahrung« fortentwickelt. Nach dem Versa-gen der Vereinten Nationen in Ruanda und Bos-nien, wo sie Völkermord und Massaker nicht ver-hindern konnten, ließ Kofi Annan im Jahr 2000

ein Konzept für »robuste« Friedensmissionen er-arbeiten. »Seither gehen Blauhelme Bedrohungenweitaus aggressiver an«, sagt Nancy Soderberg, un-ter Präsident Clinton bei der amerikanischen UN-Mission für Friedenseinsätze zuständig.

Doch um diese neue Robustheit glaubhaft um-setzen zu können, brauchten die Vereinten Natio-nen glänzend ausgebildete und ausgerüstete Sol-daten. Manfred Eisele erinnert sich daran, wie aufeiner Mission in Kroatien Mitte der 1990er Jahreein Kontingent aus Bangladesch ohne Winterbe-kleidung und fast ohne Waffen ankam. »Das hatsich geändert, mittlerweile sind Soldaten aus die-sen Ländern eine ordentliche Hilfe«, sagt der Ge-neral. Aber Mängel in Ausrüstung und Trainingbestehen fort. Eisele nennt als Beispiel den Einsatzim Kongo. Derzeit sind in dem Land von derGröße Westeuropas 11 000 Blauhelme stationiert,nur wenige kommen aus den führenden Industrie-nationen. »Wenn dort beispielsweise Bundeswehr-einheiten mitwirkten, wäre ein Ende des Konfliktszumindest weit wahrscheinlicher.«

Probleme bereiten jedoch nicht nur die mili-tärischen Defizite. In den Herkunftsländern vie-ler neuer Soldaten gehört die Allgemeine Er-klärung der Menschenrechte nicht zur Soldaten-ausbildung. Das macht sich etwa in deren Um-gang mit Frauen bemerkbar. Voriges Jahr er-schütterte der Skandal um Sexattacken von Blau-helmen gegen einheimische Frauen bei der Mis-sion im Kongo die Vereinten Nationen. Kofi An-nan ließ einen Verhaltenskodex verabschieden,der UN-Soldaten selbst Besuche bei Prostituier-ten untersagt. Doch ein aktueller Bericht derMenschenrechtsorganisation Refugees Interna-tional kommt nach Recherchen bei Missionen inHaiti und Liberia zu dem Schluss, dass sexuelleVergehen immer noch häufig vorkommen undmeist vertuscht werden.

Die UN müssen derlei Probleme lösen, dennan der Zusammensetzung der Missionen wirdsich kurzfristig wenig ändern. Pläne für eineUN-Eingreiftruppe zirkulieren immer, doch siesind illusorischer denn je, da die meisten Indus-trienationen ihre Militärbudgets beschneidenund auf ihre finanziellen und zivilen Beiträge zuFriedensmissionen verweisen. Mehr Soldatenwerden sie schon deshalb nicht senden, weil die»robusten« Blauhelmeinsätze mittlerweile einziemlich blutiges Geschäft sind. 2004 kamen 91UN-Soldaten ums Leben, im abgelaufenen Jahrwird die Zahl noch höher liegen. So zeichnet sicheine weitere Spaltung der Weltgemeinschaft ab.Diplomat Jean-Marie Guéhenno umschreibt sieso: »Es gibt Nationen, die Friedensmissionengroßartig mit viel Geld unterstützen – und Län-der, die sie mit Soldaten und mit Blut unter-stützen.« Gregor Peter Schmitz

Die mit dem Leben bezahlenAls Blauhelme dienen – und sterben – fast nur noch Soldaten aus armen Ländern

Page 14: Die Zeit 2006 01

Mann auf Patrouille, ein Offizier, Unteroffizier, 18 Ge-freite. Sie stapften auf Pfaden durch den Dschungel,trugen Helm, Weste, Waffe, den Rucksack mit drei Li-ter Wasser, Fertiggericht, Kochgerät, Brennstofftablet-te, Feuerzeug, Kaffeenapf, Besteck, Moskitomittel, Ta-schenlampe, Sonnenbrille, Erste-Hilfe-Set. Das Gelän-de war hügelig, unübersichtlich. Zahirul kannte Ur-wald aus Chittagong, Bangladeschs Grenzgebiet zuMyanmar. Dort hatte er die Grundausbildung absol-viert, sechs Monate lang. Er hatte schießen gelernt, aufPappfiguren. Er hatte Pflanzen mit wächsernen Blät-tern gesehen, Mango- und Zitronenbäume, mannsho-hes Elefantengras, perfekte Deckung für Angreifer. ZurSicherheit marschierten die Bangladescher in langerReihe, 20 Meter Abstand zu Vorder- und Hintermann.Manchmal, wenn Zahirul im Dschungel die Kamera-den aus den Augen verlor, fand er sich völlig allein.

Er hatte die AK-47 gegen ein Maschinengewehr ge-tauscht, chinesisches Modell, 7,4 Kilogramm. Der Le-derriemen schnitt ins Fleisch, auch die Tasche mit derRolle Munition, 100 Schuss, Kaliber 7,62. Ein Kame-rad trug weitere vier Rollen. Das Gewehr war die stärks-te Waffe der Bangladescher, jede Patrouille hatte zwei.Man feuerte es vom Boden aus, auf Klappstützen. Mankonnte auch im Stehen schießen, aber das Gewehr warschwer zu halten, es bäumte sich auf unter dem Rück-stoß. Die Milizen hatten die gleichen Waffen, billig undrobust. Ohne zu murren, hätte Zahirul ein Zielfernrohrgeschleppt, ein Nachtsichtgerät, wie es moderne Ar-meen benutzen, aber Bangladescher hatten keins.

»Auf einmal kamen Bewaffnete.Ich sah Kameraden fallen«

Er rief zu Hause an. »Ja, es geht mir gut.« Wie der Kon-go aussehe, drängte Samsunnahar. »Nur Dschungel,Felsen, Hügel, nichts Interessantes.« Zahirul schriebauch Briefe, sie waren spröde, stumm. Selbst der Fern-seher beantwortete keine Fragen. Jeden Abend saß dieFamilie vor dem kleinen Gerät, es hing an einer Auto-batterie und zeigte nur ein Programm, Bangladesh TV.Nie hörte Samsunnahar ein Wort über den Kongo.

Zahirul lernte, dass es möglich war, auch die Angstzu tragen. Er trug sie wie die Bauernsöhne seines In-fanterieregiments. Wie Belal Hossain, 24, Schulabbre-cher auch er, ein mürrischer, strenggläubiger Mann.Den Großteil seines Solds lieferte er bei den Eltern ab.Sein Bruder war arbeitslos. Er hatte es sich in den Kopfgesetzt, viel Geld zu verdienen, um den älteren Schwes-tern die Hochzeit zu bezahlen. Er wollte selbst heira-ten, sobald er nach Hause kam. Wie Sohrab Hossain,Unteroffizier, mit 40 einer der Ältesten. Auch er hattekeinen Schulabschluss, er holte Medaillen als Bajonett-kämpfer. Sein älterer Bruder arbeitete als Chauffeur inSaudi-Arabien, in vier Jahren war er kein einziges Malnach Hause gekommen. Er schickte Geld, wie Sohrab.Dieser hatte eine Cousine geheiratet, zehn Jahre jüngerals er. Mit ihr hatte er zwei Söhne, eine Tochter. Er hat-te beim Abschied geweint.

Die beiden Gefreiten und der Unteroffizier tatenDienst, ohne zu murren. Standen um fünf Uhr auf, be-teten. Allah war groß, er gebot über acht Paradiese undsieben Höllen, aber noch häufiger als an ihn dachtensie an die Eltern, die Frauen. Statt Reis gab es zum Früh-stück Brot und Marmelade. Abends briet der KochFleisch und Gemüse, auch Zahiruls Lieblingsessen,Eier und Hühnchen. Die Woche hatte sechs Arbeits-tage. Wasser holen, Wache schieben, Patrouille. Sams-tags eine Tablette Mefloquin, Vorbeugung gegen Ma-laria. Sonntags Volleyball, Fußball, Schach. ZahirulsLieblingssport war Carambole, eine Art Billard, beidem man Holzscheiben mit dem Finger schnippt.

»Es geht mir gut«, sagte Zahirul am Telefon. Sam-sunnahar wagte es nicht mehr, ihn mit Fragen zuquälen. Zahiruls Schwager hatte in dem Steinhaus amDorfplatz einen Laden eröffnet. Er verkaufte Mund-wasser, Zahnpasta, Haarentfernungscreme, er führtden Laden noch heute. Das Haus ist unverputzt. Aufder Rückseite, im ersten Stock, klafft eine Öffnung.Es fehlt die Tür, es fehlt ein Weg hinauf. Das Hauswartet darauf, dass jemand eine Treppe baut.

Auch im Kongo war das Leben auf Lehm errichtet,ärmliche Hütten mit schiefen Bambusdächern. Die

Menschen waren freundlich; man wusste aber nie, werzu welcher verfeindeten Volksgruppe gehörte, werHema oder Lendu war. Zahirul lernte Suaheli. Händehoch! Wie ist Ihr Name? Wohin gehen Sie? Der mür-rische Belal schrieb der Familie: »Die Dörfer sindschön, wie zu Hause.« Er bat seine Mutter, sich für ihnnach einer Ehefrau umzusehen. Der strenge Sohrab riefseine Eltern an. »Es gibt keine Probleme«, sagte er.

Keiner der drei Soldaten verriet etwas über dieGräuel. Im September sperrten Milizen die Bewoh-ner eines Dorfes in ihre Hütten und zündeten sie an.Die UN retteten die meisten. Milizen entführten ei-nen marokkanischen Soldaten und ließen ihn frei. ImFastenmonat Ramadan teilte man die Patrouillen inzwei Schichten. So war es leichter, den ganzen Tagnichts zu trinken und zu essen. Die Dorfbewohner be-richteten von unglaublichen Grausamkeiten. Kanni-balismus. Immer wieder überfielen die Milizen Dör-fer, stahlen Nahrung, töteten. Doch die Patrouillenblieben unbehelligt.

Zahirul gewöhnte sich an die Fliegen auf dem Ze-mentboden der Baracke, die ihm die Füße zerstachen,wenn er in Flip-Flops zur Dusche ging, in einen bun-ten Lungi gewickelt. An ereignislosen Tagen redete ersich wohl ein, sie seien das Schlimmste am Kongo.

Anfang Dezember flammten die Kämpfe um Buniaherum wieder auf. Milizen weigerten sich, ihre Waffenabzugeben. Mitten in der Nacht rückte Zahiruls Ein-heit aus, umzingelte ein Militärlager. Zahirul lag imGras, neben dem Maschinengewehr. Am Morgenschickten die Milizen einen Unterhändler zurück underöffneten das Feuer. Zahirul schoss. Er schoss zum ers-ten Mal auf Menschen, er sah nicht, auf wen. Vielleichtwar es ihm auch egal, Hauptsache, er konnte endlicheinmal den Abzug durchdrücken, die Macht der Waf-fe spüren – jene Macht, deren berauschende Wirkunger in den Gesichtern der Milizionäre gesehen hatte, Ge-stalten in zerrissenen T-Shirts und bunten Trainingsan-zügen, viele noch Kinder. Zahirul schoss in die Dun-kelheit, auf die gesichtslose Bedrohung, die bei jedemGang durch den Dschungel auf ihn lauerte. UN-Heli-kopter griffen das Lager mit Raketen an. Eine Einheitder Nepalesen stürmte.

»Es geht mir gut«, sagte Zahirul am Telefon. SeinSohn war gerade in die Schule gekommen. »Ich möch-te ihm einen Computer kaufen.« Es gab viele Tote un-ter den Milizionären. Davon sagte er nichts.

Der Dschungel war auf einmal voller Flüchtlinge.Die UN richteten neue Lager ein. Das Camp Kafe wardas achte, über das die Bangladescher wachten. Es lagam Ufer des Albertsees, der das Einsatzgebiet der UNim Osten begrenzt. Vom 70 Kilometer entfernten Bu-nia führt keine Straße dorthin, daher fehlten Schüt-zenpanzer. Am 22. Januar 2005 flogen Helikopter 103Soldaten ein. Darunter waren Zahirul, der mürrischeBelal, der strenge Sohrab. Sie stellten Dreimannzelte inden Uferschlamm. Stacheldraht trennte sie von 15 000Flüchtlingen, jeden Tag starben welche an Cholera.Statt Duschen gab es Wassereimer. Am dritten Tag be-schossen Milizen das Camp von den umliegenden Hü-geln. Die Soldaten verteidigten sich mit Granatwerfern,Kaliber 82, Reichweite drei Kilometer. Nachts schlie-fen Zahirul, Belal und Sohrab auf ihren Pritschenmit den Waffen im Arm.

Als Zahirul zum letzten Mal anrief, standdas muslimische Eidul-Azha-Fest bevor.»Ich möchte, dass du dir etwas zumAnziehen kaufst«, sagte er zu Sam-sunnahar. Er hatte für sie einBankkonto eingerichtet. Sieantwortete: »Aber kauf du dirauch was.« Sie dachte, dort,wo Zahirul sich befand,gebe es Läden.

»Wir hatten furchtbareAngst«, sagt MohamadAbdul, der auch in Kafe war.

Am Morgen des 25. Januar brachen 20Soldaten zur Patrouille auf. Um sieben Uhrwaren es bereits 25 Grad. Über dem See erwärmte sichdie Luft schneller als im Landesinneren, der Tag kün-digte große Hitze an. Die Soldaten hatten selbst ge-machtes Brot gefrühstückt, Kartoffeln, Blumenkohl.Im Gänsemarsch stiegen sie die braunen, verbranntenHügel hinauf. Sie kannten die Gegend nicht, in der sieein Lager der Milizen suchten. Vorneweg lief CaptainShahid Ashraf, der ranghöchste Offizier im Camp. Sie

18 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 18 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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DOSSIER

Oben: Kinder im Heimatdorf von Belal Hossain. Unten: Die Maschinenpistole AK 47

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Gefallen für unseren …Fortsetzung von Seite 17

überquerten zwei Hügel, legten eine kurze Pause ein,erschöpft vom Gewicht der Ausrüstung. Auf dem drit-ten Hügel fanden sie verlassene Beobachtungsposten.Sie zerstörten sie. Beim Abstieg öffnete sich vor ihneneine Ebene, versunken in Elefantengras. Sie verteiltensich über einen halben Kilometer, rasteten wieder. Nurder sonst so mürrische Belal schien gut gelaunt. Bei sei-nem letzten Telefonat hatte seine Mutter gesagt: »Ichhabe eine Frau für dich.« Die Soldaten tranken Was-ser, aßen Biskuits. Die Pause dauerte 20 Minuten. Eswar kurz nach zehn.

Der letzte Brief von Zahirul war der siebte in fünfMonaten. »Nachts wird es kühler«, schrieb er. »Sonstist alles wie immer.«

Als die Soldaten aufstanden, fielen Schüsse. Mo-hamad Abdul, in der Mitte der Patrouille, sah 150 bis200 Milizionäre. Sie rannten im hohen Gras auf die20 Bangladescher zu, schossen.

»Wir warfen uns auf den Boden, doch das Gras ver-sperrte uns die Sicht. Wir standen wieder auf. Wirschossen zurück.« – »Und dann?« Der Major runzeltdie Augenbrauen, als glaube er ihm kein Wort. »Viel-leicht waren es auch 300«, sagt Mohamad.

Um 10.15 Uhr traf im UN-Hauptquartier in Bu-nia der erste Funkspruch ein. Captain Ashraf melde-te, die Patrouille werde angegriffen, ein Gefreiter seiverwundet. Sie brauchten Verstärkung, Helikopter.Die Bangladescher hatten keinen. Sie forderten einenbei den Indern an.

»Auf einmal kamen Bewaffnete nicht nur von vorn,sondern auch von den Flanken«, sagt Mohamad. »Ichsah Kameraden fallen. Wir zogen uns zurück – alle, diein der Mitte der Patrouille standen.«

Um 10.20 Uhr meldete sich Captain Ashraf zumzweiten Mal. Er sei selbst getroffen. Er brauche drin-gend Verstärkung, Helikopter. In seiner Nähe warenZahirul und Belal. Auf der anderen Seite der Patrouillestand Sohrab. Zahirul lud das Maschinengewehr.

Um 10.22 Uhr traf der dritte Funkspruch ein. Cap-tain Ashraf sagte, er sei zum zweiten Mal getroffen,schwer verletzt. »Ich werde nicht überleben. Betet fürmich.« Erst gegen 11 Uhr hob der Helikopter ab.

Sein blauer Helm und seine Westeleuchteten im Elefantengras

Der Major geht kurz aus dem Raum, der kalt ist wieein Kühlschrank. Mohamad Abdul wischt sich mitder Hand über die Stirn. Er sagt, er und die anderenzehn Überlebenden seien nach ihrer Rückkehr ausdem Kongo nicht wie üblich in Urlaub geschickt wor-den. Sie würden in der Kaserne festgehalten. Die Ar-mee werfe ihnen Feigheit vor. Sind ihr tote Helden lie-ber als lebende Soldaten? Mohamad Abdul, Bauern-sohn, 28 Jahre alt, hat keine Angst vor dem Tod. Erhat nur Angst, die Armee könnte ihn entlassen.

Zahirul stand aufrecht, das Maschinengewehr inHänden, so muss es gewesen sein, chinesisches Modellmit hölzernen Griffen, gut geölt, 7,4 Kilo schwer. Ersah die Milizen kommen, hörte die Trillerpfeifen, mitdenen sie Kommandos gaben. Er hatte wohl die Knieleicht angewinkelt, um den Rückstoß abzufedern, 500Schuss Munition in fünf schweren Rollen, Kaliber7,62, acht Schüsse die Sekunde, Reichweite 2,3 Kilo-meter. Er feuerte. Milizionäre fielen. Das Gewehr tanz-te, die Mündung sprang hin und her wie der Kopf ei-nes zornigen Tiers. Zahiruls Helm und Weste leuchte-ten – der Lorbeerkranz, die Weltkugel, das schöne lich-te Blau, die vergebliche Botschaft der Hoffnung. Viel-leicht dachte er an seine Frau. Witwen heiraten nichtin Bangladesch, so will es die Sitte. Sie bleiben allein.

Als der Helikopter eintraf, fand er neun Leichen, da-runter den Captain, Belal, Sohrab, Zahirul. Einige Sol-daten hatten offenbar noch gelebt, als die Milizen sieüberrannten. Die Körper waren übersät mit Macheten-hieben, der Offizier und der Unteroffizier verstümmelt.

Zahirul hatte mehrere Schusswunden. Seine Waf-fe war fort, der Helm, die Weste, der Rucksack. Diebeiden blauen Taschen waren im Zelt zurückgeblie-ben, die Seife, der Rasierschaum, die Deostifte, dasGlas mit den Medikamenten, voller Tabletten undZäpfchen, sie füllten es bis zum Rand. Zahirul muss-te nichts mehr tragen. Die Milizen hatten ihm allesgenommen, sogar die Uniform. Er war nackt.

Weitere Texte und Fotos i im Internet:www.zeit.de/2006/01/bangladesch

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Page 16: Die Zeit 2006 01

Nr. 1 S. 20 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 20 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

20 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005 LESERBRIEFE

Der Autor hat mit dem Beispiel aus derLandwirtschaft Recht, und es gibt sichermassenhaft Beispiele aus dem Bereichder Produktion.Was wir aber heute erleben, das ist ebennicht Rationalisierung, wie er sie be-schreibt, sondern häufig Qualitätsver-schlechterung und Arbeitsverdichtungohne technischen Fortschritt nur aufdem Rücken der noch Beschäftigten.Das Gleiche gilt, und das erleben vieleMenschen täglich hautnah, für Dienst-leistungen bei Post und Bahn: Es gibtinzwischen Orte, die nicht einmal mehreine Postagentur haben, was hat dies mitRationalisierung zu tun? Hier geht esnur um Sparen durch Einschränkunglebensnotwendiger Dienste. Ebenso bei der Bahn: Wie viele techni-sche Pannen gibt es, seit die Wartungeingeschränkt wurde, wie häufig standich am Bahnhof, und der Zug kamnicht, ohne dass es irgendeinen Hinweisgegeben hätte. Nachher hört man dannvon Schäden an der Lok, zum Beispiel.Ist das ein Beispiel für gelungene Ratio-nalisierung? Streckenstilllegung, Aus-dünnung der Fahrpläne und Ähnlicheszeigen doch, dass es nicht mehr um denursprünglichen Auftrag von Unterneh-men geht, auch nicht um Fortschritt,sondern um Gewinnstreben. Und sobin ich dann den Autoren, die vielleichtauch etwas zugespitzt formulieren,durchaus dankbar. HELGA BERTSCH-MESSERSCHMIED

PER E-MAIL

Weiter so? Die Entwicklung währendder letzten 300 Jahre lief unter Voraus-setzungen, die in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts aufgehört haben zuexistieren.Herrn Pfeiffer scheint zum Beispiel ent-gangen zu sein, dass wir Bewohner der»reichen« Länder seither aufgehört ha-ben, mit einer Mangelwirtschaft zu le-ben. Wir werden erstmals in der Ge-schichte der Menschheit vom Überflussan Gütern und Dienstleistungen über-

schwemmt. Damit vermindert sich dieNachfrage nach weiteren Arbeitsplätzen. Mangel und Produktionsbedarf herrschthingegen an Lösungen für die Ressour-cen- und Umweltprobleme, die unsereWelt seit dem 20. Jahrhundert plagen.Wer wird diese planen und bezahlen?Mangel herrscht ferner an lebenswich-tigen Gütern und Dienstleistungen fürdie Völker in den Entwicklungsländern.Diesen Bedarf zu decken verspricht kei-ne Beschäftigung bei uns. Die dafür nö-tigen Arbeitsplätze sind vor Ort zuschaffen. Wer bezahlt das? Herr Pfeifferhat Recht, zu behaupten, dass die Poli-tik versagt habe. Wer aber ist »die Poli-tik«, wenn nicht wir alle?GUNTER GOOSSENS, TRIN, SCHWEIZ

Spätestens jetzt müssten die 5 MillionenArbeitslosen und ihre ebenso betroffe-nen Angehörigen erkennen, wer anihrem Schicksal nicht unwesentlichMitschuld trägt: Es sind die Heerscha-ren von selbst ernannten »Wirtschafts-beratern«. Für sie gibt es offenbar nurKostensenkung durch Personalkosten-reduzierung.Es müsste Berater von Wirtschaftsbe-ratern geben, die ihnen mal verständ-lich erklären können, dass ein wechsel-seitiger Zusammenhang die Effekti-vität bestimmt. Denn das Verhältnisvon Produktivität zu Kosten kanndurch Innovationen positiv beeinflusstwerden; und diese bestehen nicht inerster Linie in der Ermittlung der An-zahl zu entlassender Arbeitskräfte. Dieerste Frage müsste vielmehr sein: Wiekann ich mit den vorhandenen Ar-beitsplätzen mehr bessere absatzfähigeProdukte billiger produzieren und da-mit meinen Unternehmensgewinn er-höhen? Damit aber scheinen die mo-dernen »Wirtschaftsberater« zumeistüberfordert zu sein …Diese Wortmeldung hat mir jedenfallsvor Wut eine schlaflose Nacht beschert.Hoffentlich muss ich nicht öfter so wasin der ZEIT lesen – sonst kann ich ja

gleich wieder zu Tageszeitungen zu-rückkehren.BERND ENGEL, POTSDAM

Herrn Pfeiffer ist zuzustimmen, dassin der Vergangenheit wirtschaftlichesWachstum und steigende ProduktivitätVoraussetzungen für größeren individu-ellen Wohlstand bei gleichzeitiger ge-waltiger Umwälzung in der Beschäfti-gungsstruktur gebracht haben.Der schwungvollen Schilderung der Ver-gangenheit geht jedoch die Puste aus, jenäher wir der Gegenwart kommen undsich ideologische Grabenkämpfe andeu-ten. Es geht nicht darum, einen 300-jährigen Evolutionsprozess abzuwürgen,sondern es geht darum, die zu Scheu-klappen verkommene Rationalisierungwieder als einen Aspekt von einer Viel-zahl sozialökonomischer Parameter zubegreifen, für deren Ausgestaltung nichtnur die Politik, sondern in hohem Maßedas Management und die Verbandsre-präsentanten in fairer öffentlicher Dis-kussion gefordert sind. Das wäre ein Zei-chen für Aufbruchstimmung im Den-ken und Handeln. Die Wirtschaftselitekönnte dabei zeigen, dass auch für sie diewirtschaftliche Evolution nicht nur vomRentabilitätsdenken und durch Globali-sierungsstrategien vorangebracht wird.Alle Akteure sollten mehr Weitblick be-wahren und nicht zu schnell den »Ver-drängungsprozess« als Argumentations-keule handhaben.Zwar wird die Agenda 2010 oft als ers-ter Schritt begrüßt, doch nicht nur inder Politik hält man sich bedeckt, wennPlanspiele zur langfristigen Ausgestal-tung der Arbeitsmarktsituation ange-sagt sind. Natürlich ist Rationalisierungnichts Unanständiges, aber auch diegrößeren Gewinne und höheren Mana-gergehälter sind keine Werte an sich.Hier werden in der Zukunft der Kapi-talmarkt und die Unternehmen ein ste-tig wachsendes Legitimitätsproblem be-kommen.UDO MARTENS, WINTERBACH

Berater für WirtschaftsberaterUlrich Pfeiffer:»Gut rationalisiert«, ZEIT Nr. 51

Verbale Vergewaltigung ist keinorientalisches BrauchtumJörg Lau:»Brutale Prinzen«, ZEIT Nr. 51

Für einige Monate habe ich inNeukölln gelebt. Nach Einbruch derDämmerung tummelten sich auf denBürgersteigen und in den U-Bahn-höfen Cliquen arabisch-, albanisch-und türkischstämmiger Jugendlicher.Wenn ich als junge Frau vorbeiging –nicht etwa in aufreizender Kleidung,sondern in Jeans und Mantel –, wur-den mir Sprüche nachgerufen, die ichnur als verbale Vergewaltigung um-schreiben kann. Wenn ich anderen Studentinnen da-von erzählte, sahen sie offenbar inmir eine Ausländerfeindin. So seinun mal die Kultur, hieß es, schließ-lich hätten sie ihre Drohungen ja niewahrgemacht.Wie sich Mädchen und Frauen –Deutsche oder Migrantinnen – fühl-

ten, die nicht den Attacken jahrelangausgesetzt seien, fragte ich und erhieltregelmäßig die wunderbar aufgeklärteund ausländerfreundliche Antwort:Die dürfen ja abends gar nicht alleinauf die Straße gehen. Ich war längere Zeit im arabischenAusland (Palästina, Jordanien), habemich dort zwar über gelegentlichesNachpfeifen und Angestarrtwerdengeärgert, aber derartige Attacken wiein Neukölln sind mir NIEMALS, inkeiner Gegend und zu keiner Tages-oder Nachtzeit, passiert. Nur in Deutschland gilt es als mo-dern, einen derartig herabwürdigen-den Umgang mit Frauen als originärorientalisches Brauchtum gütig zubelächeln.JAQUELINE UPMEIER, HANNOVER

Kein Ein-Euro-Job für den Genossen derBosse, sondern vom Promi zum Gaz-promi, vulgo Jraf Koks von de Jasanstalt.Tempora mutantur et nos mutamur in illis! JOHANNES LUDWIG, BERLIN

Mich verwundert ein wenig der Auf-stand um des Altkanzlers neue Position.Dies war eine wirtschaftliche Entschei-dung zugunsten Deutschlands. Ausmeiner Sicht war das richtig, und ich binfroh, dass hier durch Herrn Schröderunsere Interessen vertreten wurden. Es ist schön, dass Sie hinter Frau Mer-kel stehen (ich inzwischen auch, ob-wohl sie mir zuvor wirklich nicht gefal-len hat), aber dass Herr Schröder nunals Privatmann sich daran ausrichtensoll, wie er Frau Merkel unterstützenkann, ist albern. Hat Frau Merkel hin-ter Herrn Schröder gestanden, als es umden Irak ging? Und da ging es nicht nur

um Geld, sondern um Menschenleben,und Frau Merkel war zu der Zeit nichtprivat, sondern politisch tätig.CHRISTA MICHELS, ESSEN

Ich bin alles andere als ein Schröder-Fan,aber bei diesem Deal sehe ich nicht seinBeratereinkommen als Problem, auchnicht die Enge der Beziehung zu Putin& Co, sondern ich sehe den volkswirt-schaftlichen Nutzen, den das Pipeline-Projekt für Deutschland hat, da diesePipeline natürlich unabhängiger machtvon Durchleitungsstaaten wie Ukraineund Polen sowie Weißrussland.Das ist meines Erachtens ein »gesunder«Egoismus angesichts der weltweitenEnergieversorgungsentwicklungen, aufden sich Deutschland stützen kann.Und: Angesichts der zunehmendenNachfrage nach Gas aus Russland wirddiese Pipeline nach dem Start 2010 eh

nur einen Teil der gesamten Transport-kapazitäten auf sich vereinigen, sodassdie Durchleitungsländer weiter ihrenAnteil haben werden.SVEN JÖSTING, HAMBURG

Sie nennen Gazprom einen »ineffizien-ten Monopolisten ohne Gewinn«. Dasist falsch. Gazprom erwirtschaftete imJahre 2004 einen Gewinn von über sie-ben Milliarden US-Dollar (nach inter-nationaler Rechnungslegung). DieseMarke wird in diesem Jahr nach denvorliegenden Zahlen der ersten neunMonate noch übertroffen werden. Un-terschätzen Sie Gazprom nicht!ROLAND BINIOSSEK, ÜBERLINGEN

Ich verstehe überhaupt nicht das Gejam-mer wegen der neuen Jobs von Exbun-deskanzler Schröder. Die Unterstützun-gen zu Amtszeiten müssen sich doch

endlich, wie bei vielen davor auch, aus-zahlen. Wer erwartet noch Anstand undMoral? Ungewöhnlich ist jedoch, dassvorzeitige Neuwahlen durchgeführt wer-den mussten, damit Schröder seinenneuen Job Anfang 2006 antreten kann.KARL BOELKE, PER E-MAIL

Schröders Vorhaben zeugt nicht nurvon der Instinktlosigkeit, es demons-triert auch eine unfassbare Ignoranz denSensibilitäten und den legitimen Inte-ressen der Ost-Mitteleuropäer gegen-über. Dieser persönliche Schachzug desHerrn Schröder, aber auch das Projektder European Gas Pipeline Companyinsgesamt stehen in einer unsäglichenTradition deutsch-russischer Politiküber die Köpfe ihrer Nachbarn (»Puf-ferzone«) hinweg, angefangen mit demVertrag von Rapallo 1922.MARCIS GOBINS, RIGA, LETTLAND

Jedermann weiß, dass die Gasbezügeaus Norwegen und den Niederlandeneinmal wegen erschöpfter Gasvorräte zuEnde gehen werden. Ein vorsorglicherBundeskanzler Schröder, der Verpflich-tungen hat, Schaden von unserem Landabzuhalten, war daher gut beraten, sichnach einer sicheren Gasquelle und Gas-leitung umzusehen.Außerdem erwachsen unserer Industrieneue Geschäftsmöglichkeiten mit Russ-land. Das sichert auf Jahre weitere Ar-beitsplätze in Deutschland. Dass Schrö-der nun Aufsichtsratsvorsitzender derentsprechenden deutsch-russischen Ge-sellschaft wird, ist nur zu begrüßen. Da-mit werden unsere guten Beziehungenzu Russland weiter befestigt. Und warumsollte Gerhard Schröder nicht das beauf-sichtigen, was er mit guten Gründen ein-geleitet hat? Sind da einige neidisch?HANS-GÜNTHER GRÜNEFELD, NEURIED

Pulsnitz fehltLebkuchentest, ZEIT Nr. 51

Wir waren ziemlich traurig, dass beim Leb-kuchentest kein Produkt aus Sachsen dabeiwar. Dort gibt es ein kleines Städtchen na-mens Pulsnitz, in dem heute noch dasHandwerk des Pfefferküchlers gelehrt wird.Außer der großen Manufaktur gibt es auchkleine Pfefferküchlereien, die das ganze Jahrüber ihre köstlichen Waren herstellen undweltweit versenden. Persönlich wärmstensempfehlen kann ich die PfefferküchlereiGroschky mit ihren »Grünen Tüten« undden Rietschelkuchen. Vielleicht klappt es janächstes Jahr mit einer Auswahl aus demganzen Lande.SANDRA WILKE, GREIFSWALD

Prof. Dershowitz will die Folter perEinzelfall-Anweisung des Präsiden-ten erlauben, und zwar im Falle des»Staatsnotstands«, einer »tickendenBombe«. Was wären die Konsequenzen? Einederartige »Ausnahme«-Entscheidungmüsste ohne Zweifel auch jedem an-deren Staatschef zugestanden wer-den. Die Wertung, wann von einem»Staatsnotstand« die Rede sein kann,muss dann auch in jedem Kulturkreiseinzeln betrachtet werden. Die ame-rikanische Position kann nicht alsMaß der Dinge gelten.Man stelle sich nun ein Staatsober-haupt vor, welches die Existenz seinesStaates durch die USA bedroht sieht– zweifellos aus seiner Sicht ein»Staatsnotstand«. Der Gedanke istnicht weit hergeholt: Man denke nur

an die so genannte Achse des Bösen.Ich frage mich nun: Mit welcher Le-gitimation wollte Prof. Dershowitzein solches Staatsoberhaupt dafürverachten oder es gar davon abhalten,zum Schutz seines Staates – also im»Staatsnotstand« – mit der Folter ei-nes amerikanischen Staatsbürgers zudrohen oder diese gar anzuwenden,um etwa konkrete Details über die soempfundene Bedrohung durch dieUSA zu erpressen?Derartiges müsste man zwangsläufigbilligend hinnehmen. Das kann auchProf. Dershowitz nicht wollen. Manmuss kein Moralapostel sein, um zuerkennen: »Was du nicht willst, dassman dir tu, das füg auch keinem an-deren zu.« So kann es nicht gehen,Prof. Dershowitz!DR. MARTIN, STEIN, SCHWEIZ

So nicht, Professor Dershowitz Interview mit Alan Dershowitz:»Wenn die Bombe tickt«, ZEIT Nr. 51

Ich verstehe überhaupt nicht das GejammerMichael Thumann:»Schröders lange Leitung«, ZEIT Nr. 51

BeilagenhinweisDiese Ausgabe enthält Prospekte folgender Unternehmen,in der Gesamtauflage: Allgemeine Deutsche Direktbank,60486 Frankfurt/Main; Bibliographisches Institut & F. A.Brockhaus AG, 68167 Mannheim; in einer Teilauflage:ARTE G.E.I.E., F-67080 Strasbourg Cedex

Pooh’s CornerMeinungen eines Bären von sehr

geringem Verstand

ZEIT Nr. 51

Donnerstagabend, die ZEIT durch-geblättert auf dem Weg zum Rätsel, und da war es wieder:Pooh’s Corner. Hab ich mich gleichzwanzig Jahre jünger gefühlt. Hab dreimal gelacht! Also: Geht doch!GRETL KIHN, HELMSTADT

So viel Ruhe hat der Bär selten –wie auf diesem Foto zu seinem 60.

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Page 17: Die Zeit 2006 01

Nr. 1 S. 21 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 21 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Angela Merkel spielt Poker. Verbissenund mit hohem Einsatz. Sie weiß, siekann mit guten Karten verlieren, aberauch mit schlechten gewinnen. Auf

starke Nerven kommt es an und auf psycholo-gisches Geschick. Offenbar verfügt sie über bei-des. Mit verkniffenem Mund und skeptischemBlick gibt sie ihren Mitspielern Rätsel auf. Diesehaben keine Chance gegen Angela Pokerface. Siegewinnt die Partie. Mit wenig berauschendenKarten.

Was sich zurzeit in der deutschen Konjunktur-politik ereignet, hat Elemente eines Pokerspiels.Seit Jahren lahmt die Wirtschaft, das Wachstumist niedrig, die Zahl der Arbeitslosen steigt. Nichtsscheint zu wirken im Kampf gegen die Krise.

Oder etwa doch? Da kommt eine neue Kanz-lerin, und kaum ist ihre Regierung im Amt, ver-breitet sie ihre Botschaft: Es geht aufwärts! DieWirtschaft zögert kurz, dann lässt sie sich vom amt-lichen Optimismus anstecken. Offenbar glaubt siedaran, dass diese Regierung gute Karten hat. Schonist die Rede vom Merkel-Aufschwung.

Wieder einmal revidieren die Konjunkturfor-scher ihre Prognosen. Aber diesmal in die andereRichtung: nach oben. Der Geschäftsklimaindexdes Münchner ifo Instituts steht so hoch wie seit

dem Boomjahr 2000 nicht mehr. »Nach fünf Jah-ren«, so ifo-Chef Hans-Werner Sinn vor Weih-nachten, »gibt es klare Signale, dass die konjunk-turelle Flaute überwunden ist.« Seine Prognose:2006 wird die deutsche Wirtschaft um 1,7 Pro-zent wachsen. Vor einem halben Jahr tippte Sinnnoch auf 1,2 Prozent.

Innerhalb weniger Wochen hat die Stimmunggedreht. Als im August der Economist in einerTitelgeschichte die Stärke der deutschen Wirt-schaft pries, galt das hierzulande vielen Expertenals freundliche Übertreibung. Fast wöchentlichkorrigierten die Prognostiker damals ihre Zahlen.Nach unten. Noch im November traute der Sach-verständigenrat der deutschen Volkswirtschaft fürdas kommende Jahr gerade mal ein ProzentWachstum zu. Heute sagt die Dresdner Bank zweiProzent voraus. Geradezu tollkühn versprichtNorbert Walter, der Chefvolkswirt der DeutschenBank: »Das Jahr 2006 wird für Deutschland einSuperjahr.«

Ein Gutteil der Ökonomen also glaubt an An-gela Merkels Spielglück. Deren Strategie basiert aufzwei Faktoren. Erstens dem Mut zum Risiko. Undzweitens ein paar guten Karten in der Hinterhand.

Die Regierung spekuliert. Sie will im kom-menden Jahr durch zusätzliche Ausgaben die Kon-

junktur anschieben und setzt darauf, dass dannauch Unternehmen und Konsumenten mehrGeld ausgeben. So könnte ein Aufschwung ent-stehen, der Deutschland nach Jahren der Stagna-tion aus der Schlussgruppe der Euro-Länder hi-nausführt (siehe »Wir fahren auf Sicht«, Seite 22).Dafür wird man doch noch ein paar Milliardenzusätzliche Schulden machen dürfen. Und wenndie Wirtschaft so richtig in Schwung ist, dann ist2007 immer noch Zeit für die dringend nötigeKonsolidierung des Haushalts (siehe Ein halberKeynes, Seite 22). So spielt die Regierung.

Wie weggewischt sind die frühen Beteuerun-gen von Finanzminister Peer Steinbrück, die Sa-nierung des Budgets habe erste Priorität. Verges-sen scheint die Ambition, schon mit dem Haus-halt 2006 die Verschuldung näher an die von Brüs-sel eingeforderte Höchstgrenze von drei Prozentdes Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu bringen.

Wie stark die Konjunkturspritze am Ende aus-fällt, weiß wohl auch der Finanzminister nochnicht. Selbst wenn er die konkreten Instrumentebereits benannt hat: günstigere Abschreibungs-bedingungen für Investitionen, ein Programm zurSanierung von Häusern als Hilfe für die Bauindus-trie, Absetzbarkeit von Dienstleistungen in Privat-haushalten und damit neuer Spielraum für mehr

Konsum. Und die erste Tranche des 25-Milliar-den-Wachstumsprogramms, wofür immer sie aus-gegeben wird. Das Hamburgische Welt-Wirt-schafts-Archiv hat schon einmal rund fünf Milli-arden Euro für die Aktion Aufschwung angesetzt.

Der käme allerdings ziemlich unverhofft.Denn das wirtschaftliche Umfeld rechtfertigt dieplötzlich ausgebrochene Euphorie nicht. Der Öl-preis liegt immer noch über 55 Dollar, fast einDrittel höher als zum Jahresbeginn. Benzin undHeizöl sind entsprechend teuer. Große Konzernehaben umfangreiche Entlassungen angekündigt.Die Realeinkommen der privaten Haushalteschrumpften erneut. Nur logisch, dass der Kon-sum entsprechend schwach blieb.

Doch beim Konjunkturpoker hat die Kanzle-rin auch ein paar exzellente Karten: die diskretenStärken der deutschen Wirtschaft.

Die Wettbewerbsfähigkeit. Sie hat sich deutlichverbessert. Viele Unternehmen haben die mage-ren Jahre genutzt, um rentabler zu produzieren.Sie haben dank steigender Gewinne Schulden ab-gebaut und ihre Bilanzstruktur saniert. Gleichzei-tig hielten sich die Gewerkschaften mit ihren For-

Der Faktor HirnWer weniger Arbeitslose will,

muss die Menschen weiterbilden

Große Teile der Hartz-Reformen, das habenWirtschaftsforscher jetzt bestätigt, helfen beider Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nichtweiter. Und selbst wenn das Urteil der Exper-ten über die wichtigste – und umstrittenste –Reform, Hartz IV, noch aussteht: Auch diesesZeugnis dürfte vernichtend sein. Hartz IV, dievor Jahresfrist in Kraft getretene Zusammen-legung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,schafft bisher keine neuen Jobs, sondern nurneue Kosten. Bei den Sozialgerichten häufensich die Klagen, die Ämter sind überlastet.Dennoch wäre es zu früh, gerade Hartz IVkomplett zu verwerfen. So richtig es war, dieArbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzu-führen, so viel Zeit braucht diese Reform. Dieneue Regierung ist schließlich erst dabei, dieFehler ihrer Vorgänger zu korrigieren. Vielspricht dafür, dass auch die Jobvermittlungbesser läuft, wenn der Umbau der Bundes-agentur für Arbeit (BA) abgeschlossen ist, dieneuen Anlaufstellen für Langzeitarbeitslosestehen und die Berater endlich tun können,wofür sie da sind: beraten.

So geht es vor allem darum, Langzeit-arbeitslosigkeit künftig erst gar nicht entste-hen zu lassen. Wer heute mit Mitte 50 seinenJob verliert, hat kaum Chancen auf eine neueStelle; nirgendwo in Westeuropa ist der Anteilälterer Arbeitsloser so hoch wie in der Bun-desrepublik. Die berufliche Weiterbildung isteines der wichtigsten Arbeitsmarktinstru-mente der BA – aber sie funktioniert nurschlecht. Viele der 30 000 von der BA unter-stützten Anbieter bilden die Menschen andersweiter, als es die Betriebe brauchen. Und so-lange es keine echte Qualitätsprüfung gibt,wird sich daran nichts ändern. Dann bleibenältere Arbeitslose weiterhin für lange Zeitohne Stelle – ganz gleich, wie gut ihre Betreu-ung im Jobcenter funktioniert. Marc Brost

30 SEKUNDEN FÜR

6104 PunkteDie Zahl des Jahres ist 5500. Nein, das ist keinneuer Haustarif bei Volkswagen, sondern diemagische Grenze, an der sich der Deutsche Ak-tienindex Dax dieser Tage versucht. Satte 29Prozent hat er binnen zwölf Monaten zugelegt,was übrigens kein Würfel-Orakel, Tarot-Kar-tenleger oder Goldman-Sachs-Chefvolkswirtjemals öffentlich vorhergesagt hätte. Die prak-tische Frage aber lautet: Jetzt (noch) einstei-gen? Hier hilft der Blick in die Sterne, auchwenn dieser aktuell durch Winterwolken leichtgetrübt ist. Fische können über mangelndeLiquidität nicht klagen. Waagen bringen sichdurch den gleichzeitigen Kauf von Put- undCall-Optionen um jede Gewinnchance. ImZeichen des Geiers Geborene nutzen die Mög-lichkeit zum schnellen Profit, der AszendentHeuschrecke sorgt bei ihnen für 25 ProzentMindestrendite. Alle anderen können beruhigtsein. Der Dax steigt 2006 bis auf 6104 Punk-te. Performance ist kein Schicksal – die Sternewollen es so. Marcus RohwetterFortsetzung auf Seite 22

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Eine Frau pokert hochEs ist das Spiel des Jahres:Angela Merkel will die Wirtschaft 2006 durch Schulden anschieben – und später sparen.Sie hat gute Karten Von Klaus-Peter Schmid

Das war 2005Eine Wahl, viele Heuschrecken,

etliche Chefwechsel und große Angstums Öl. Das vergangene Jahr aus

Sicht der Wirtschaft Seite 30

21 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005

Page 18: Die Zeit 2006 01

22 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 22 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 22 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

WIRTSCHAFT

Alles begann schon 2004 mit Anzei-gen und Werbespots für ein bis da-hin unbekanntes Bezahlfernsehen,das den Namen »Kabel Deutsch-

land Home« trug. Als Nächstes ließ die KabelDeutschland GmbH (KDG) in Berlin, Ham-burg und München Postwurfsendungen ver-teilen, in denen sie mitteilte, dass sich ihr TV-Kabelnetz auch zum Surfen im Internet undzum Telefonieren eigne. Schließlich wurde am21. Dezember dieses Jahres bekannt, dass dieTV-Übertragungsrechte an der Fußball-Bun-desliga im Bezahlfernsehen an eine Firma na-mens Arena gehen. An dieser will sich dieKDG mit großer Wahrscheinlichkeit zur Hälf-te beteiligen. Und nur einen Tag später ver-kündete dieselbe Gesellschaft, dass sie künftigdie Sender der RTL Group (RTL, RTL 2, Vox,Super RTL, n-tv) digital verschlüsselt in ihr Ka-belnetz einspeisen wird – und zwar zu Kondi-tionen, welche die bisherigen Gepflogenheitender Branche auf den Kopf stellen.

Der größte deutsche KabelnetzbetreiberKDG beschäftigt rund 2500 Mitarbeiter undbesitzt 260 000 Kilometer TV-Kabel. Er be-dient fast zehn Millionen Haushalte in 13 Bun-desländern mit Fernsehprogrammen und istdabei, erst sein Geschäftsmodell und damitauch die Fernsehlandschaft grundlegend zu än-dern. Der Unternehmensberater und TV-Ex-perte Werner Lauff sagt, 2006 werde das ersteJahr »in dem die Kosten des Fernsehens ten-denziell von der Werbewirtschaft auf den Kon-sumenten verlagert werden«.

Bisher wirkte die KDG eher im Verborge-nen. An ihre Existenz wurden Kunden allen-falls durch die monatliche Abbuchung der Ka-belgebühr erinnert. Häufig nicht einmal das:Nur zu etwa 3,5 Millionen Haushalten unter-hält die KDG vertragliche Beziehungen. Dieübrigen werden von lokalen Betreibern ver-sorgt, die nur das Fernsehsignal von der KDGvor der Haustür des Kunden übernehmen.

Hervorgegangen ist die Kabelgesellschaftaus Unterföhring bei München aus dem Ka-belnetz der Deutschen Telekom. Es ging 2003für rund 1,75 Milliarden Euro an die Invest-mentgesellschaften Apax, Goldman Sachsund Providence. Auf den ersten Blick war dasfür die Finanzinvestoren ein lohnendes Ge-schäft: Die KDG kam zuletzt bei Erlösen vonknapp 1,1 Milliarden Euro auf ein Ergebnisvor Steuern und Abschreibungen von 400Millionen Euro. Damit zählt sie »im interna-tionalen Branchenvergleich zu den rentabels-ten Kabelnetzbetreibern«, wie es in einem Fir-menprospekt heißt.

Die KDG will 500 Millionen Euroins Kabelnetz investieren

Allerdings entfallen 85 Prozent der KDG-Er-löse auf das traditionelle Kerngeschäft: aufKabelgebühren der Fernsehhaushalte undGelder, die jeder TV-Sender bisher für dieVerbreitung seines Programms zahlt. Neue,digitale Pay-TV-Programme tragen demge-genüber nur sechs, die Internet- und Telefo-nie-Angebote nicht einmal ein Prozent zumUmsatz bei. Das liegt auch daran, dass das ge-samte Kabel technisch noch nicht komplettauf den neuesten Stand gebracht ist.

Dabei war die Aussicht auf die digitaleFernsehwelt der wichtigste Grund für die In-

vestmentgesellschaften bei der KDG einzu-steigen. Die Umstellung von analoger auf di-gitale Technik im TV-Geschäft würde im-mensen Platz im Kabel schaffen. Für einenSender sollen bis zu zehn dort Platz finden.Hinzu kommen die Telefon- und Internet-dienste. Sollten diese Träume reifen, hättendie Eigentümer eine wunderbare Erfolgsge-schichte zu erzählen, um das Unternehmeneines Tages an die Börse zu bringen.

Allerdings: Die Umrüstung des Kabels istteuer. Allein die KDG steckte im abgelaufe-nen Geschäftsjahr 125 Millionen Euro in ihreInfrastruktur. In den nächsten drei Jahren sol-len weitere 500 Millionen Euro folgen. Zu-dem bringt die neue Technik allein noch kei-nen Umsatz. Den liefern erst neue, digitaleProgramme. Und deshalb war es misslich fürdie KDG, dass sich die beiden wichtigstendeutschen Privatsenderfamilien – neben derRTL Group die ProSiebenSat.1 Media AG(ProSieben, Sat.1, Kabel 1, N24, Neun Live)– weigerten, ihre Programme digital verbrei-ten zu lassen. Die Finanzinvestoren Apax undGoldman Sachs stiegen aus. Sie reichten ihreAnteile vor wenigen Wochen an den drittenAnteilseigner, Providence Equity, weiter.

Die Konzerne haben dieBundesliga, aber keine Sendelizenz

Dessen Mut wurde belohnt. Vor ein paar Ta-gen hat sich die KDG mit den RTL-Senderngeeinigt. Zwar wird RTL noch bis zum Jahr2009 auch analog zu empfangen sein. Aberdann wird es abgeschaltet. Die Tragweite die-ser Entscheidung ist enorm. Die Sendergrup-pe hat bereits angekündigt, zusätzlichePayTV-Angebote im digitalen Kabel zu ver-breiten. TV-Experte Lauff hält es sogar fürmöglich, dass auf die Zuschauer außer der imdigitalen Fernsehen üblichen einmaligenFreischaltgebühr in Höhe von 14,50 Eurokünftig »eine monatliche Digital-Grundge-bühr« zukommt. Bislang frei empfangbaresUmsonst-Fernsehen wie RTL würde dannzum Abo-Fernsehen. Und RTL bekommtdafür vermutlich sogar Geld von der KDG.

Während der erste große Schritt zur Digi-talisierung des Kabelfernsehens also getan ist,stocken die Bundesligapläne der Kabelnetz-betreiber. Der Bezahlsender Premiere, der bis-her die PayTV-Rechte besitzt, geht juristischgegen den bisher einzigen Gesellschafter desneuen Rechteinhabers Arena vor. Dieser heißtUnity Media und entstand aus der Fusion derKabelnetzbetreiber Ish und Iesy. Dem Zu-sammenschluss stimmte das Bundeskartell-amt diesen Sommer zu, weil es sich mehrWettbewerb zwischen dem neuen Unterneh-men und der KDG versprach. Die Kartell-amtsenscheidung sei falsch gewesen, heißt esjetzt bei Premiere, weil die potenziellen Wett-bewerber beim Fußball zusammenarbeiten.

Noch in einer anderen Hinsicht herrschtUnsicherheit für die Kabelgesellschaften. Bis-her leiten sie nur Programme durch, doch beider Bundesliga wollen sie selbst zum Anbie-ter werden. »Dieser Fall würde die Trennungvon Netz und Programm aufheben«, sagtWolfgang Thaenert, oberster Medienwächterder Bundesländer. Deshalb sei noch längstnicht ausgemacht, ob er die notwendige Sen-delizenz erteilen würde.

TV-KabelnetzeRegionale Verbreitung mit denangeschlossenen Haushalten(in Millionen)*

ZEIT-Grafik/Quelle: KEK

10,03Kabel Deutschland

Unity Media

Kabel Baden-Württemberg

5,50

2,20

*Netzebene 3

SCHLESWIG-HOLSTEIN

MECKLENBURG-VORPOMMERN

BREMEN

NIEDER-SACHSEN

HAMBURG

NORDRHEIN-WESTFALEN

SACHSEN-ANHALT

HESSEN

RHEINLAND-PFALZ

THÜRINGEN

BERLIN

BRANDEN-BURG

SACHSEN

BAYERNBADEN-WÜRTTEM-

BERG

SAAR-LAND

Unbekannte GrößenMit Bundesliga und RTL digital:Wie Kabelgesellschaften sichanschicken, die TV-Landschaft zu verändern von Kai-Hinrich Renner

derungen zurück. Die Lohnstückkosten sind seitJahren rückläufig, während sie bei vielen interna-tionalen Konkurrenten kräftig steigen.

Die Exporte. Sie florieren wie nie. Deutschland par-tizipiert am wachsenden Welthandel, der krisen-sichere Euro-Raum bleibt dabei größter Abnehmerdeutscher Produkte. Gleichzeitig sind die reichenOpec-Länder besonders gute Kunden der deutschenWirtschaft geworden. Das unternehmernahe Institutder deutschen Wirtschaft (IW) hält es für möglich,dass die Exporte im bevorstehenden Jahr »erstmalsdie Marke von einer Billion Euro in Angriff nehmen«.

Die Investitionen. Jahrelang haben die Unterneh-men nur das Allernötigste investiert, jetzt installie-ren sie wieder Maschinen und bauen neue Fabrik-hallen. »Der Modernisierungsstau der letzten Jahrelöst sich offensichtlich auf«, beobachtet der Ban-kenverband. Zu den Ersatzinvestitionen kommengerade in der Exportindustrie auch schon Erweite-rungsinvestitionen.

Der Konsum. Selbst der Konsum wird wohl nachlanger Zurückhaltung der Verbraucher wieder einenSchub erleben. Erst kommt die Fußballweltmeister-schaft und bringt Millionen von Besuchern und da-mit neue Kunden ins Land. »Sie werden ihre mit-gebrachten und zugekauften Koffer bis zum Randfüllen, bevor sie wieder gehen«, glaubt Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Walter zu wissen. Spätestensim zweiten Halbjahr werden dann viele HaushalteAnschaffungen vorziehen, weil 2007 die Mehrwert-steuer um drei Punkte steigt. Vor allem die Nach-frage nach Autos, Unterhaltungselektronik, Möbelnund Haushaltsgeräten dürfte deutlich steigen.

Dass Angela Merkels Poker am Ende aber womög-lich doch nicht aufgehen könnte, zeigt gerade dasBeispiel Konsum. »Ich halte die Vorzieheffekte fürrelativ gering«, bremst Wolfgang Wiegard, Mitglieddes Sachverständigenrats, die Euphorie, »und wasdie Konsumenten vorziehen, fehlt dann 2007.«Schon heute ist auch klar, dass sich auf dem Ar-beitsmarkt wenig bewegen wird. Die Zahl der sozi-alversicherungspflichtigen Beschäftigten sinkt im-mer noch, neue Jobs sind alles andere als stabil. Essind überwiegend befristete Arbeitsverhältnisse ein-schließlich Teilzeitbeschäftigung, Minijobs undEin-Euro-Stellen.

Auch die Vorstellung, die Senkung der Lohn-zusatzkosten könnte bei den Unternehmern Lustwecken, neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist höchstzweifelhaft. Zu gering ist das Gewicht der Kos-tenersparnis, wenn gerade mal die Beiträge für dieArbeitslosenkasse um zwei Prozentpunkte sinken.Was nötig wäre, wenn auf Dauer mehr Beschäfti-gung entstehen soll, zählt der Mannheimer Öko-nomieprofessor und Wirtschaftsweise WolfgangFranz auf: flexiblerer Arbeitsmarkt, sinkendeSteuerlast für die Unternehmen, Reform der so-zialen Sicherung, Konsolidierung der öffentlichenHaushalte.

Die Stunde der Wahrheit kommt für AngelaMerkel spätestens im Jahr 2007. Denn da will dieBundesregierung ihren expansiven Kurs aufgebenund ihre Finanzen in Ordnung bringen. Das hat sienicht zuletzt ihren europäischen Partnern und derEU-Kommission versprochen. So etwas geht jedochnicht ohne die angekündigte Erhöhung der Mehr-wertsteuer. Die wird die Konsumenten auf einenSchlag mit schätzungsweise 20 Milliarden Euro be-lasten. Dazu kommen die höhere Versicherung-steuer und der Abbau diverser Steuervergünstigun-gen, zum Beispiel der Entfernungspauschale, dazuauch noch höhere Rentenbeiträge.

Gleichzeitig bleibt die Regierung eine Reihe vonAntworten schuldig. So moniert Norbert Walter:»Die Große Koalition hat an wichtigen Baustellenwie Gesundheit, Bildung und Steuerreform, außerVorsichtsschilder aufzustellen, nichts getan.« DieVorschläge zur Gesundheitsreform kommen bes-tenfalls im Laufe des Jahres, mit der neuen Unter-nehmensteuer lässt sich die Bundesregierung bis2008 Zeit.

Da droht ein böses Erwachen. Die Erkenntnisnämlich, dass die Strategie falsch war, im ersten Re-gierungsjahr die Konjunktur mit Schulden anzu-schieben und im zweiten Jahr zu bremsen. Schonwarnt die WestLB: »Auf die Welle folgt die Delle.«Und Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Insti-tut für Makroökonomie und Konjunkturforschung(IMK) befürchtet, der Aufschwung werde wie imJapan der neunziger Jahre möglicherweise »durchverfrühtes Anziehen der wirtschaftspolitischen Zü-gel vor seiner vollen Entfaltung gebremst«.

Es sei denn, es wird im kommenden Jahr so vielDynamik und Vertrauen aufgebaut, dass der Auf-schwung von 2006 ins darauf folgende Jahr über-schwappt. Die ökonomischen Daten sprechen nichtdafür. Aber Angela Merkel und ihre Regierung rech-nen anders. Sie setzen darauf, dass nach Export undInvestitionen der Konsum so stark wird, dass höhereSteuern und höhere Preise die Kauflust der Ver-braucher nicht bremsen. Und dass am Ende auchder Arbeitsmarkt davon profitiert.

Das hört sich wieder nach einem Poker an. Dienächste Runde findet übrigens am 9. und 10. Januarstatt. Da sitzen sich die Kanzlerin und ihr Kabinettim Schloss Genshagen südlich von Berlin gegen-über. Die einen wollen mehr für die konjunkturelleBelebung tun, die andern wollen sparen.

Angela Merkel möchte vor allem, dass die Stim-mung gut bleibt. Dafür muss sie auch diese Rundegewinnen.

"DIE BRANCHENPROGNOSEN FÜR 2006

»Wir fahren auf Sicht«Deutschland holt auf. Jahrelang lag die hiesigeWirtschaft beim Wachstum auf den hinterenPlätzen in Europa. Noch im Herbst 2005 rech-nete keines der führenden Wirtschaftsfor-schungsinstitute damit, dass sich dies ändernwürde. Ein Irrtum.

Inzwischen hat das Münchner ifo Institut sei-ne Wachstumsprognose für 2006 auf 1,7 Pro-zent angehoben, das Rheinisch-Westfälische In-stitut für Wirtschaftsforschung (RWI) rechnetmit 1,6 Prozent, das Kieler Institut für Welt-wirtschaft (IfW) mit 1,5 Prozent Wachstum.

Die Institute sind optimistischer, weil dieWeltwirtschaft weiterhin stark wächst und dieExportnation Deutschland davon besondersstark profitiert. Zudem dürften verbesserte Ab-schreibungsmöglichkeiten für bewegliche Wirt-schaftsgüter die Investitionen in Ausrüstungund Anlagen erhöhen.

Konkrete Investitionsplanungen liegen aller-dings für die wenigsten Branchen vor. »Wirfahren auf Sicht«, sagt Bernd Gottschalk, derPräsident des Verbandes der Automobilindus-trie (VDA). Der VDA rechnet mit einem stabi-len Absatz. Grund sind neue Modelle, ein ge-stiegener Ersatzbedarf und Vorzieheffekte we-gen der für 2007 geplanten Mehrwertsteuer-erhöhung. Investieren werden die Automobil-hersteller vor allem in die Rationalisierung unddie Anpassung bestehender Fabriken für neueModelle. So haben sich die Mitarbeiter vonVolkswagen den Zuschlag für den kleinenTouareg in Wolfsburg und das Coupé auf Pas-sat-Basis in Emden gesichert. Auch in Bremenwird 2006 in Produktionsanlagen für die neueMercedes C-Klasse und einen kleinen Gelände-wagen auf C-Klasse-Basis investiert.

Besonders positiv entwickeln dürfte sichnach Schätzungen der Commerzbank der Ma-schinenbau. Vor allem die Nachfrage aus demAusland, die 2004 mehr als 60 Prozent der

Umsätze ausmachte, füllt die Auftragsbücherder Branche bis ins Jahr 2006. Auch die Aus-rüstungsinvestitionen heimischer Unterneh-men dürften steigen, wovon dann insbeson-dere der Werkzeugmaschinenbau profitierenwürde.

Mit hohen Investitionen kann im kommen-den Jahr auch die Elektrotechnik- und Elektro-nikindustrie rechnen. »Ein wesentlicher Grunddafür liegt in den immer kürzer werdenden Le-benszyklen vieler Produkt- und Anlagenberei-che«, sagt Ulrich Scheinost, Leiter der Abtei-lung Konjunktur und Statistik beim Branchen-verband ZVEI.

Trotz kräftiger weltweiter Nachfrage pro-gnostiziert die Commerzbank für die chemi-sche Industrie eher niedrigere Zuwachsraten.Eine Einschätzung, die auch der Verband derChemischen Industrie (VCI) teilt. Für das Ge-samtjahr 2006 rechnet der VCI mit einer Aus-weitung der Chemieproduktion um 2,5 Pro-zent, nach rund 6 Prozent in diesem Jahr.

Für das Baugewerbe sieht das ifo Institut inseiner Konjunkturprognose das Ende der Krisenahen. Der Zentralverband des DeutschenBaugewerbes (ZDB) ist allerdings andererMeinung. »Das ifo Institut befragt eher diegroßen Unternehmen. Die kleinen und mittel-ständischen Betriebe, die 58 Prozent Marktan-teil an der gesamten Bauwirtschaft haben, wer-den nicht investieren«, sagt Monika Bergmannvom ZDB.

Damit wird Deutschland insgesamt im Ver-gleich zu anderen EU-Ländern zwar konjunk-turell aufholen. Mit einem Wirtschaftswachs-tum von 1,7 Prozent ist das vom ifo Institutprognostizierte Wachstum von 2 Prozent imgesamten Euro-Raum aber noch nicht erreicht.Zumindest ist die Bundesrepublik im nächstenJahr in Europa nicht mehr Schlusslicht. Son-dern endlich wieder Mittelmaß. KRK

ZEIT-Grafik/Quelle: Unternehmensangaben

Deutsche Telekom

Opel

KarstadtQuelle

Walter Bau

HypoVereinsbank

Generali

Deutsche Bank

AEG

Agfa Photo

IBM

Hewlett-Packard

Ford

Linde

Grohe

Hamburg-Mannheimer

Miele

9000

32 000

5700

3000

2400

2000

1920

1750

1700

1600

1500

1300

1240

1160

1100

1000

In diesem Jahr angekündigter Stellenabbau ausgewählterUnternehmen in Deutschland

Kahlschlag

"DIE ERSTE GROSSE KOALITION

Ein halber KeynesAls Kurt Georg Kiesinger am 1. Dezember 1966mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU zumBundeskanzler gewählt wird, ist die Zeit des Wirt-schaftswundermachers Ludwig Erhard endgültigvorbei. Erstmals ist die deutsche Wirtschaft einJahr lang nicht gewachsen, erstmals ist der Bun-deshaushalt ins Minus gerutscht. Die Zahl derArbeitslosen liegt bei 673 000.

Um Bürgern und Unternehmen wieder Ver-trauen und Zuversicht einzuflößen, greift die neueRegierung auf die Lehren des englischen Wirt-schaftswissenschaftlers John Maynard Keyneszurück. Der Ökonom hatte in den dreißiger Jah-ren die These aufgestellt, dass der freie Markt al-lein eine Volkswirtschaft mitunter nicht aus einerKonjunkturkrise befreien könne. Stattdessenmüsse der Staat für neues Wachstum sorgen, in-dem er zusätzliches Geld ausgibt. Im nächstenAufschwung könne er dann die Steuermehrein-nahmen zur Schuldentilgung nutzen.

Von diesem Gedanken getrieben, verabschie-det die Große Koalition unter Federführung vonWirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) undFinanzminister Franz Josef Strauß (CSU) imFebruar 1967, was unter Ludwig Erhard noch un-denkbar gewesen wäre: das erste Konjunkturpro-gramm der Bundesrepublik Deutschland. Dafür

nimmt die Regierung einen Kredit über 2,5 Mil-liarden Mark auf. Die öffentlichen Investitionenkommen der Bahn zugute, der Post, dem Straßen-bau sowie Bildung und Forschung. Am 8. Sep-tember 1967 beschließt die Bundesregierung einzweites, noch größeres Konjunkturprogrammmit einem Volumen von 5,3 Milliarden Mark.

Die Wirkung bleibt nicht aus. Die zusätzlicheNachfrage erzeugt zusätzliche Umsätze. 1968wächst die deutsche Wirtschaft um 7,3 Prozent.Die Zahl der Arbeitslosen sinkt bis zum Frühjahr1969 auf 243 000, die Zahl der offenen Stellensteigt auf 700 000. Die Große Koalition wird mitLob überschüttet, Schiller und Strauß – »Plischund Plum« – gelten als Väter des Erfolgs.

Zu diesem Zeitpunkt deutet sich jedoch schonan, dass die Politik nur den ersten Teil der Keyn-esschen Empfehlungen befolgt. Anstatt dieSchulden wieder abzubauen, zahlt die Regierungnur einen Teil der angehäuften Kredite zurück.Die restlichen Mehreinnahmen verteilt sie lieberan ihre Wähler.

Im Oktober 1969 kommt die sozial-liberaleKoalition unter Willy Brandt an die Regierung.Auch sie vernachlässigt die Rückzahlung offenerKredite. Im Juli 1972 tritt Finanzminister KarlSchiller zurück. KRK

Eine Frau pokert hochFortsetzung von Seite 21

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Nr. 1 S. 23 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 23 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Wenn ein SPD-Ministerpräsidentden Vorstandsvorsitzenden des AxelSpringer Verlags trifft, möchte er daslieber geheim halten. Vor allem so

kurz nach einem Bundestagswahlkampf, in demsich die SPD von der Bild-Zeitung systematischverfolgt fühlte.

Doch Kurt Beck, der Ministerpräsident vonRheinland-Pfalz, schob alle Bedenken beiseiteund traf sich vor einigen Wochen mit MathiasDöpfner, dem Springer-Vorstandschef. Es gingschließlich um die Zukunft der deutschen Me-dienlandschaft.

Vorsichtig loteten die beiden Männer die größ-te Übernahme in der bundesdeutschen Medien-geschichte aus. Der führende deutsche Zeitungs-verlag, Axel Springer, versucht die zweitgrößte pri-vate TV-Senderkette, die ProSiebenSat.1 MediaAG, zu erwerben. Dafür muss Springer allerdingszwei Prüfungen überstehen: eine durch das Bun-deskartellamt und eine durch die Bundesländer,die für solche Fälle eine Kommission zur Ermitt-lung der Konzentration im Medienbereich haben.Diese Kommission wird kurz Kek genannt.

Ein Fernsehbeirat bei Sat.1 wäreeine medienpolitische Zeitenwende

Seit dem Treffen zwischen Beck und Döpfnersind die Chancen für Springer gestiegen. Denndie ländereigene Kek, die kurz davor war, dieÜbernahme einfach zu untersagen, hat am Tagvor Weihnachten ein elfseitiges Dokument ver-schickt. Darin nennt sie jetzt Bedingungen, un-ter denen Springer die Sender ProSieben, Sat.1,Kabel 1 und N24 in Besitz nehmen darf. Die sogenannten »Eckpunkte« sind hart, bei Springerhieß es sogar »unannehmbar«, aber man wird se-hen, was die nächsten Tage bringen.

In der Zwischenzeit reden viele Beteiligte nur,wenn man sie nicht zitiert.

Die Kek verlangt, dass Springer nach der Über-nahme die inhaltliche Kontrolle über Sat.1 an ei-nen neu zu bildenden Fernsehbeirat abgibt. In die-sem Gremium sollen 30 Abgesandte von Parteien,Kirchen und Verbänden sitzen, die dafür sorgensollen, dass bei Sat.1 nicht mehr in erster Linie dieEinschaltquote regiert. Es würde also nicht mehrausreichen, wenn der Sender ein gutes Unterhal-tungsprogramm böte. Er soll künftig mehr Politikund Wirtschaft zeigen, dazu die Themen Kunst,Musik, Theater und Umwelt ins Programm neh-men. Springer müsse dafür zahlen (siehe Kasten).

Das ist in jedem Fall spektakulär: Käme es zurBildung dieses Fernsehbeirats, wäre das ein me-dienpolitisches Beben – denn die Allgemeinheitwürde mit einem Mal ein privates Unternehmenkontrollieren. So etwas wurde zuletzt vor 30 Jah-ren ernsthaft diskutiert. Damals als politische Al-ternative zu einer Verstaatlichung wichtiger Me-dien. Sollte Springer ablehnen, auf Konfrontati-onskurs gehen oder die Milliardenübernahmegar abblasen, bleibt die Entstehung des Kek-Vor-schlags immer noch eine erstaunliche medien-politische Strippenzieherei.

Eingefädelt wurde alles von einem Mann, dernur selten bundesweit in Erscheinung tritt: Wolf-gang Helmes. Helmes ist Direktor der rheinland-pfälzischen Landesmedienanstalt und damitOberaufseher über den Sender Sat.1. Von derSchleichwerbung bis zur Sendelizenz, alles müs-sen die Verantwortlichen des Senders mit Hel-mes verhandeln. Sat.1 hat seinen Sitz inzwischenin Berlin – doch vor 21 Jahren wurde der Senderin Ludwigshafen gegründet, es war der Urknalldes Privatfernsehens in Deutschland. Seithergehört der Sender in den Einflussbereich derrheinland-pfälzischen Landespolitik und derlandeseigenen Medienaufsicht, die heute Wolf-gang Helmes ausübt. Aber seine Schlüsselrollewird erst erkennbar, wenn man weiß, dass derrheinland-pfälzische Ministerpräsident traditio-nell auch die Medienpolitik der Bundesländerkoordiniert – und oft genug entwickelt.

In dieser Tradition fühlte sich Helmes beru-fen, ein klares Nein zur Übernahme durch dieKek zu verhindern. Wer mit ihm spricht, erfährtviel darüber, wie Medienpolitik funktioniert.

»Wenn Springer ProSiebenSat.1nicht übernehmen darf, wer dann?«

Helmes sagt zunächst einmal, er habe »das Tref-fen zwischen Beck und Döpfner angeregt«, da-mit sich die Beteiligten einmal in Ruhe aus-tauschten. Begleitet wurde der Ministerpräsidentan jenem Tag von seinem Staatskanzleichef Mar-tin Stadelmeier. Döpfner kam auch nicht alleinund brachte Hubertus Meyer-Burckhardt mit.Letzterer ist nicht nur ein Vertrauter von Döpf-ner, sondern derzeit Vorstand der ProSiebenSat.1Media AG und für medienpolitische Fragen zu-ständig. Als solcher hält er engen Kontakt mitdem obersten Medienaufseher über Sat.1, Wolf-gang Helmes. So schließt sich der Kreis.

»Wenn Springer die ProSiebenSat.1 MediaAG nicht übernehmen darf, wer dann?«, fragtHelmes rhetorisch. »Wir müssen uns der Realiätstellen. Wenn man weiß, wer draußen vor der Türsteht, um Fallobst zu ernten, dann fällt die Ent-scheidung leicht.« Draußen vor der Tür, das istfür ihn jenseits der deutschen Grenzen, noch ge-nauer gesagt, in den Vereinigten Staaten. MitSorge blickt Helmes auf den Medientycoon Ru-pert Murdoch und den größten Konzern derWelt, General Electric. Letzterer hat sich in denvergangenen Jahren ein veritables Medienimpe-

rium zusammengekauft. »Beide würden gernenach Deutschland kommen. Aber die haben keinVerständnis für unsere Fernsehlandschaft.«

Die Fernsehlandschaft, die Helmes bewahrenwill, zeichnet sich für ihn durch ein Miteinandervon Fernsehmanagern und Medienpolitikern aus.Helmes denkt auch an eine dauerhafte Balancezwischen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunkund den privaten TV-Sendern. Und er glaubt da-ran, dass Letztere mehr sind als Abspielkanäle füramerikanische Film- und Fernsehproduktionen.Stattdessen sollen sie hiesige TV-Produzenten be-schäftigen und so dazu beitragen, dass es eine ge-deihende deutsche Fernsehindustrie gibt. Das, soHelmes, sei mit Springer eher zu bewahren als miteinem ausländischen Konzern.

Worüber Helmes nicht so direkt spricht, istdie Medien- und Meinungsmacht, die entstün-de, wenn sich Bild und Bams mit dem (beinahe)halben Privatfernsehen vereinen dürften. Was esfür die Bundespolitik oder künftige Wahlkämp-fe bedeuten könnte, wenn ein Konzern in meh-reren Medien gleichzeitig »eine Haltung« vertre-ten könnte. Wenn nicht mehr nur Millionen Zei-tungsleser, sondern künftig auch Millionen vonZuschauern aus einer Hand bedient würden.

Genau diese Macht zu bewerten war Aufgabeder ländereigenen Kommission namens Kek unterihrem Vorsitzenden Professor Dieter Dörr. In mo-natelanger Arbeit haben die sechs Mitgliederschließlich eine Formel entwickelt, um die Bedeu-tung von Bild und ProSiebenSat.1 in Zahlen aus-zudrücken. Mit eindeutigem Ergebnis: Die addier-te Macht entsprach einem Anteil im Fernsehmarktvon etwa 40 Prozent. Das mag merkwürdig klin-gen, Pressemacht einfach auf Fernsehmacht zu häu-fen. Aber so verlangt es der Rundfunkstaatsvertrag,der die Grundlage für Fernsehen in Deutschland ist.Ihm zufolge muss die Kek die Übernahme untersa-gen, wenn sie einen Marktanteil von mehr als 30Prozent errechnet.

Eigentlich.Doch als sich das Ergebnis nach der ersten An-

hörung bei der Kek am 29. November abzeichne-te, griff Helmes zum Telefon und begann seinWerk. Der frühere Gewerkschaftsfunktionär undheutige Medienkontrolleur wollte eine politischeLösung und fand in dem einzigen westdeutschenSPD-Ministerpräsidenten Beck einen stillen Un-terstützer. »Ich habe mich politisch rückgekoppelt.Ich bin ja kein Seiltänzer.«

Offenbar gelang es Helmes dann in den ers-ten Dezembertagen, den Kek-Vorsitzenden Dörrund andere Mitglieder der Kommission zu über-zeugen. Man dürfe nicht einfach nein sagen.Man müsse etwas anbieten. Auch wenn sich keinKek-Mitglied dazu äußern will, spricht das Er-

gebnis für sich. Nur zwei Wochen später, am13. Dezember, wurden die Konturen einer me-dienpolitischen Sensation sichtbar.

Drei Mitglieder der Kek, ihr VorsitzenderDieter Dörr, dazu der Professor Peter M. Huberaus Bayern und der Rechtsanwalt Peter Mailän-der, spielten sich erst zu dritt und danach mitSpringer-Chef Döpfner in einer zweiten Anhö-rung die Bälle zu, wie sich Teilnehmer erinnern.Huber soll Dörr das Stichwort geliefert haben,woraufhin dieser von einem »binnenpluralenModell« gesprochen habe, also einem Fernseh-beirat, der seine Bedenken gegen die Übernah-me beseitigen würde. Mailänder habe Zustim-mung erkennen lassen. Und dann sei Springer-Chef Döpfner hereingebeten worden, der dasalles als einen »überraschenden Vorschlag«bezeichnet habe, den er mit seinen Anwälten be-sprechen müsse. Nach kurzer Zeit sei er mit derNachricht zurückgekommen, er könne sich ei-nen Fernsehbeirat durchaus vorstellen. »Das gingauf einmal alles so schnell. Es war vollkommeneigenartig«, sagt Hans Hege. Der sonst gut un-terrichtete Medienwächter aus Berlin-Branden-burg saß mittendrin in der Anhörung – und wur-de vollends überrascht.

Einen Tag später fand Ministerpräsident Beckden Vorschlag, einen Fernsehbeirat einzurich-ten, begrüßenswert.

»Niemand, den ich gefragt habe,wusste eine bessere Lösung«

Nur eine Unsicherheit blieb. Es war nicht vo-rauszusehen, ob dem unabgesprochenen Vorstoßvon drei Kek-Mitgliedern ein viertes zustimmenwürde und eine 4 : 2-Mehrheit zustande käme.Die aber braucht die Kek, um einen Beschluss zufassen. Und so folgten auf die Anhörung heftige,zum Teil wütende Telefonate, E-Mails und Dis-kussionen. Nur so ist zu erklären, dass sich dieKek am Ende auf ein Dokument einigte, dashärter ist als die mündlich skizzierten Auflagen.

Die Meinungen über die »Eckpunkte« gehennun deutlich auseinander. Bei Springer reagiertman auf die Verschärfung ablehnend. Auch Me-dienwächter Hans Hege kritisiert: »Das kannman nur ablehnen. Da hätte die Kek lieber gleichsagen sollen: Die Übernahme genehmigen wirnicht.« Stattdessen verheddere sie sich in einem»unrealistischen Modell. Ein Sender, der imWettbewerb steht, kann nicht leisten, was dieKek verlangt.« Wolfgang Helmes verteidigt indesden Versuch, die Medienmacht von Springer zubegrenzen. »Ich weiß nicht, ob der Fernsehbeiratfunktioniert«, sagt Helmes. »Aber niemand, denich gefragt habe, wusste eine bessere Lösung.«

"

Die Kommission zur Ermittlung der Kon-zentration im Medienbereich (Kek) will dieÜbernahme der ProSiebenSat.1 Media AGdurch den Axel Springer Verlag genehmigen,wenn eine Reihe von Auflagen erfüllt werden,die im Privatfernsehen ohne Vorbild sind.Die Auflagen zielen darauf, dass Sat.1 »bei derBeurteilung der Meinungsmacht … nichtmehr zu berücksichtigen wäre«, heißt es indem elfseitigen Eckpunkte-Papier.

Mehr Vielfalt – Sat.1 soll sich verändern.»Zielgruppenorientierung ist ausgeschlos-sen«, schreibt die Kek. Versucht der Sender-chef heute, Werbungtreibende anzuziehen,indem er ein Unterhaltungsprogramm für14- bis 49-Jährige macht, soll er künftig dieGesellschaft in all ihren Facetten abbilden.Im Programm sollen Religion, Musik, Thea-ter, Natur und Wissenschaft, Politik undWirtschaft und sogar Umweltthemen einegrößere Rolle spielen. »Weder das Programmin seiner Gesamtheit noch in seinen einzel-nen Segmenten (darf) mit Blick auf erzielba-re Reichweiten und auf die Vermarktungs-fähigkeit bei der werbungtreibenden Wirt-schaft veranstaltet werden.«

Kontrolle von außen – Die Vielfalt soll voneinem unabhängigen Gremium kontrolliertwerden: einem Fernsehbeirat, der aus 30 Per-sonen besteht. In ihm sollen die großen Par-teien, die Kirchen, der Deutsche Gewerk-schaftsbund, der Zentralverband des Deut-schen Handwerks sowie kleinere Verbände,etwa der Tierschutzbund, der Reichsbundder Kriegsopfer und der Deutsche Sport-bund vertreten sein. Weil der Fernsehbeiratnur ab und zu tagt, soll er einen »Pro-grammverantwortlichen« berufen, »der alleindem Fernsehbeirat verantwortlich ist«. DieKontrolleure sollen ihn auswählen, anweisenund entlassen. Der Programmverantwortli-che »ist gegenüber den Mitarbeitern des Sen-ders unmittelbar weisungsbefugt«.

Sanktionen – Verstößt Sat.1 gegen die Auf-lagen, soll der Fernsehbeirat dies feststellenund, wenn eine Diskussion mit dem Sender-chef ohne Ergebnis verläuft, die Kek und diezuständige Landesmedienanstalt in Rhein-land-Pfalz einschalten. Sollten die Verant-wortlichen von Sat.1 darauf nicht reagieren,müsste die Landesmedienanstalt irgendwannzum letzten Mittel greifen und dem Senderdie Lizenz entziehen. goh

WAS DIE KEK VERLANGT

Auflagen für Sat.1

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WIRTSCHAFT29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 23

Manchmal sind Kettennützlich, das wussten

schon die alten Römer

An die KetteSpringer darf ProSiebenSat.1 nur unter strengenAuflagen übernehmen. Der Weg dorthin präsentiertsich als Lehrstück über das Zusammenspiel vonMedienpolitikern und Managern Von Götz Hamann

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Nr. 1 S. 24 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 24 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Es ist die erste Renovierung seit 27 Jahren,einem Ortsfremden würde sie allerdingskaum auffallen: Die Fassade aus Wasch-beton wurde gestrichen, die Innenwän-

de geweißt, die Gänge verbreitert. Rund 300 000Euro haben die Inhaber in die Karstadt-Filiale inEssen-Borbeck investiert. An der Verschönerunghängen große Hoffnungen: Sie soll mehr Kundenmit deutlich höherer Konsumlust anziehen. Undtatsächlich verzeichnete Filialleiter Olaf Sichtigseit dem Ende des Umbaus – das war AnfangDezember – »ein deutlich besseres Weihnachts-geschäft«. Er spricht von teilweise zweistelligenZuwachsraten gegenüber dem Vorjahr.

Vor genau einem Jahr sah die Situation fürSichtig und seine 35 Mitarbeiter noch ganz an-ders aus: Damals war das 6000-Quadratmeter-Haus im Norden Essens noch Teil des Karstadt-Quelle-Konzerns, dessen Zentrale nur wenigeKilometer entfernt liegt. Zusammen mit 73 an-deren kleinen Filialen gehörte es zu einer unge-liebten Sparte innerhalb des Unternehmens: Siewaren klein, hässlich, und viele von ihnenschrieben rote Zahlen. Etwa 30 Millionen Eurosind es Presseberichten zufolge im Jahr 2004 ge-wesen.

Nach langem Hin und Her fand der Konzernim Spätsommer dieses Jahres endlich einen Käu-fer für seine Sorgenkinder: Knapp 500 MillionenEuro sollen der Immobilienfonds Dawnay, DayPrincipal Investments sowie Hilco UK Ltd., einauf Handelsunternehmen spezialisierter Inves-tor, dafür bezahlt haben. Mit seinen 90 verblie-benen Häusern sucht die KarstadtQuelle AGheute ihr Heil in großen Einkaufstempeln, mo-dern und stylish eingerichtet, oft mit Designer-Marken und Luxus-Accessoires im Angebot. Dasgerade erst modernisierte Alsterhaus in Ham-burg ist ein Paradebeispiel für die neue Richtung:35 Millionen Euro hat der Konzern in das Vor-zeigehaus investiert.

So viel Geld haben die Inhaber der Karstadt-Kompakt-Häuser – so lautet vorläufig der Namefür die ausgegliederten Kleinstfilialen mit maxi-mal 8000 Quadratmetern Ladenfläche – nichteinmal für sämtliche Dependancen zur Verfü-gung. Nur 20 Millionen Euro müssen reichen,um die Warenhäuser in Städten wie Görlitz, Nie-büll und Rendsburg ansehnlicher zu machen:sauberer, ohne Wühltische und mit einer über-sichtlichen Warenpräsentation. Mit Essen-Bor-beck wurde dieses Jahr der elfte Standort ver-schönert, kommendes Jahr sollen 24 folgen, derRest in 2007. Doch wie es zurzeit aussieht, kommtes nicht einmal auf die Höhe der Investitionen an:Bis Ende dieses Jahres – also bereits vier Monatenach dem Verkauf an die neuen Besitzer – wirddas neue Unternehmen mit einem Umsatz von680 Millionen Euro wieder schwarze Zahlenschreiben, sagt Harald Fölkel, Kogeschäftsführervon Karstadt Kompakt. Sogar eine Expansion in-nerhalb Deutschlands und nach Osteuropa kanner sich vorstellen.

Was die Konzernstrategen von KarstadtQuel-le teilweise über Jahre hinweg vergeblich ver-sucht haben, gelingt den Investoren und ihrenGeschäftsführern, zwei ehemaligen Managernder Karstadt-Warenhaussparte, nun offensichtlichim Handumdrehen. Bei ihren Rezepten handeltes sich nicht um komplizierte Management-ansätze, sondern um verhältnismäßig simpleGrundsätze des Einzelhandels: ansprechende Fi-lialen, übersichtliche Sortimente und ein aufdie jeweilige lokale Zielgruppe zugeschnittenesAngebot. »Wir sind sehr schnell und sehrschlank«, sagt Ralf Dettmer, Geschäftsführerfür Einkauf, Verkauf, Marketing und Personal.Filialleiter Olaf Sichtig formuliert es weniger

diplomatisch: »Die Karstadt Warenhaus AG hatsich früher daran orientiert, was eine bestimmteFläche verträgt. Heute wählen wir das Sorti-ment danach aus, was am Standort angebrachtist.« Nachdem die Idee von Karstadt Kompaktgeboren wurde, ist Sichtig in eine Konzeptions-runde für die Kleinstfilialen gebeten worden.»Wir sind bis ins Detail gegangen und habenentschieden, wie das Sortiment, die Einrich-tung und die Präsentation der Ware aussehensollen«, sagt er.

Trotz allem bleibt den Filialleitern ein gehöri-ges Maß an Freiheit: Sie können aus einer Palettevon 100 Sortimenten auswählen, was zu ihremHaus passt. In Borbeck sind nach dem Umbau bei-spielsweise mehr Schuhe ins Sortiment gekom-men, weil die Auswahl im Stadtteil recht begrenztist. Gleiches gilt für die Herrenbekleidung. Unter-dessen wurde das Angebot von Damenbekleidunggünstig gehalten, weil die Klientel für hochwerti-ge Marken fehlt. Auch die Sport-, Kinder- undHeimwerkerabteilung hat Sichtig geschlossen.

Vor allem darin sehen Handelsexperten denVorteil von Karstadt Kompakt. »Die Filialleiterkönnen eher wie Unternehmer handeln als An-gestellte in einem Riesenkonzern«, sagt eine Be-raterin. Hinzu kommt, dass die kleinen Ablegerverstärkt Mieter ins Haus holen: In Borbeck ziehtim Frühjahr beispielsweise ein DM-Drogerie-markt auf 500 Quadratmetern ein, Lekkerland istbereits mit einem breiten Angebot an Süßigkei-ten im Eingangsbereich vertreten. Die Waren-hausbetreiber erwarten neben den Mieteinnah-men erhöhte Laufkundschaft für ihre Häuser.Insgesamt wurde der Anteil der vermieteten Flä-che bei den verschönerten Filialen auf 25 Prozentausgebaut. Der KarstadtQuelle-Konzern weistdagegen im jüngsten Geschäftsbericht gerade mal6 Prozent aus.

Nach der langen Unsicherheit für die Mitar-beiter stehen auch die Gewerkschaft ver.di undder Betriebsrat hinter dem Management. »Wirschauen zuversichtlich in die Zukunft«, sagtVolker Küppers vom Gesamtbetriebsrat. »Es istwichtig, dass die Geschäftsführung so offen mituns kommuniziert. Alles andere bleibt abzuwar-ten.« Erwartungsgemäß gibt es bei einem solchenMammutprojekt nicht nur Gewinner. Der Sa-nierungstarifvertrag, den schon KarstadtQuellemit der Gewerkschaft ausgehandelt hatte, siehtzwar eine Bezahlung der Mitarbeiter nach Tarifvor, allerdings wurden Urlaubs- und Weih-nachtsgeld gestrichen. Eine Bestandsgarantie fürdie Häuser wurde bis Ende 2007 abgegeben, dieArbeitsplätze der 4800 Mitarbeiter sind bis dahingesichert.

Im Jahr 2008 kommen die nächsten großenHerausforderungen auf die Geschäftsführer Dett-mer und Fölkel zu: So lange noch übernimmtKarstadtQuelle den Wareneinkauf für KarstadtKompakt, danach muss der kleine Ableger selbstmit den Lieferanten verhandeln. Ob KarstadtKompakt ähnliche Konditionen wie der Waren-und Versandhandelskonzern bekommt, ist frag-lich. Und auch bei ihren Kunden müssen dieKompakt-Häuser dann anders auftreten: DieMarke Karstadt dürfen sie ebenfalls nur noch bis2008 verwenden. Im kommenden Juni müssensie einen Namen vorlegen, der neben »Karstadt«im Firmenlogo stehen soll. Zug um Zug ver-schwindet dann die alte Marke aus dem Alltag.Spätestens dann wird sich zeigen, ob die Kundendem Warenhaus auch ohne den altbekannten Na-men vertrauen.

Die Karstadt-Filiale in Essen-Borbeckwar eine der ersten, die verkauftund dann komplett renoviert wurden

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D er seit den neunziger Jahren in vielen eu-ropäischen Großunternehmen verbreiteteamerikanische Unternehmensstil, die Ori-

entierung am Shareholder-Value, an den Interes-sen der Aktionäre und des Kapitalmarkts, hat anAttraktivität verloren. Erst als »modern« und »er-folgreich« gelobt, begegnet man immer häufigerStimmen, die die Schwächen dieses Ansatzes be-klagen. Donald Kalff ist einer dieser Kritiker, aberer geht noch einen Schritt weiter: Er sieht das Mo-dell Europa als Alternative.

Kalff, ein gebürtiger Holländer, der an der re-nommierten amerikanischen Wharton School pro-movierte und heute als Berater, Autor und Chef ei-ner Bio-Tech-Firma tätig ist, kritisiert die Schäden,die durch das Shareholder-Value-Modell in vielenFirmen angerichtet wurden. Kostensenkung undKurssteigerung ließen sich nämlich nicht perma-nent betreiben: Stille Reserven hebt man nur ein-mal, ausgelagerte Betriebsteile kann man nicht ein-fach zurückholen, Personalabbau führt häufig zuschweren Einbußen bei Qualität und Innovations-kraft. »Der resultierende Erschöpfungszustand derOrganisation wird chronisch«, schreibt Kalff, undnur Berater und Investmentbanker verdienen wei-ter an jeder Umbaumaßnahme der Betriebe. Schonmittelfristig relativiert sich der Nutzen von Um-

strukturierungen, die Risiken steigen. Kalff zitiertUntersuchungen: Statt das angestrebte Ziel einerhöheren Rentabilität zu erreichen, verzeichnetenUnternehmen, die in den neunziger Jahren Per-sonal abbauten, überdurchschnittlich oft eine sin-kende Mitarbeiter- und Produktqualität sowierückläufige Gewinne.

Die Vorteile, die Kalff für das europäische Un-ternehmensmodell geltend macht, beruhen alleauf der Lösung von der Börse – und Europa hatdie Chance, diese Unabhängigkeit zu wahren,denn bisher decken die Unternehmen hier ledig-lich 25 Prozent ihres Kapitalbedarfs über die Bör-se, im Vergleich zu, laut Kalff, etwa 75 Prozent inden USA. Wie genau aber ein europäisches Mo-dell aussehen kann, darüber lässt Kalff den Leser

über weite Züge im Unklaren. So stark er im Se-zieren des amerikanischen Modells ist, so schwachist er im Skizzieren der Alternative.

Zwar sieht Kalff die Vielfalt der Unterneh-mensformen in Europa, die vom Familienunter-nehmen bis zur Genossenschaft reicht, als Vorteil,zwar schreibt er von einem europäischen ChiefExecutive Officer, der sich weitaus stärker als seinamerikanisches Pendant durch Integrität, Koope-rationsbereitschaft und Teamfähigkeit auszeichne.Zugleich aber lehnt Kalff zum Beispiel den rhei-nischen Kapitalismus ab, will er Gewerkschaften,Banken und andere »Außenseiter« möglichst ausden Unternehmen außen vor lassen. Warum ge-nau er der Mitbestimmung, die vielerorts für we-niger Streiks sorgt, keine Rolle einräumt, bleibt

genauso im Ungefähren wie der Grund für seinPlädoyer zugunsten von Private-Equity-Fonds alsFinanziers der Unternehmen. Was diese dem deut-schen Hausbankenprinzip voraushaben, kann Kalffnicht zeigen. Und so kommt das Buch zwar zurrichtigen Zeit, mitten in einer Debatte über dieZukunft des Kapitalismus, doch das Versprechendes Titels wird nur zur Hälfte eingelöst. Und dasist schade. Reinhard Blomert

Donald Kalff:»Europas Wirtschaft wird gewinnen.Was wir Amerika voraushaben«Aus dem Englischen von Petra Pyka; Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2005; 276 S., 24,90 ¤

Vorteil für EuropaStreit um das richtige Wirtschaftsmodell

" WIRTSCHAFTSBUCH

Klein gewinntKarstadtQuelle wollte seine kleineren Warenhäuser nicht mehr behalten.Nach dem Verkauf geht es ihnen plötzlich gut Von Stefanie Bilen

24 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1WIRTSCHAFT

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Page 21: Die Zeit 2006 01

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1955 in Gera geboren. In Leipzig aufgewachsen.Ausbildung zum Nachrichtentechniker. Studien-abschluss als Diplom-Ingenieur der Elektrotechnik

1989 Vertreter der Bürgerbewegung DemokratieJetzt am Runden Tisch Leipzig

Von 1990 an Kommunalpolitiker in Leipzig.Wird 1995 Mitglied der SPD. Drei Jahre später Wahlzum Oberbürgermeister der Messestadt

2002 Verzicht auf einen Ministerposten in derzweiten rot-grünen Bundesregierung.Leipzig bewirbt sich für Olympia 2012.Die Kandidatur scheitert im Mai 2004.Wiederwahl zum Oberbürgermeister im März 2005

2005 Ernennung zum Bundesminister für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung und zumOstbeauftragten der Bundesregierung

Wolfgang Tiefensee

Nr. 1 S. 25 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 25 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 25WIRTSCHAFT

DIE ZEIT: Herr Tiefensee, jeder Bundesbürger istTag für Tag rund 40 Kilometer oder mehr als80 Minuten unterwegs – und die Mobilitätwächst. Fährt Deutschland in den totalen Stau?Wolfgang Tiefensee: Unsere Mobilität isthoch, und wir rechnen mit weiterem Wachs-tum: In den nächsten zehn, fünfzehn Jahrenwird der Güterverkehr um 60 Prozent und derPersonenverkehr um 20 Prozent wachsen. Dasdarf aber nicht auf Kosten der Umwelt statt-finden. Wir werden das steigende Verkehrsauf-kommen jedenfalls nicht schicksalhaft zurKenntnis nehmen. ZEIT: Wollen Sie Verkehr vermeiden?Tiefensee: Das geht nur bedingt. Verkehr er-möglicht Wachstum und sichert Arbeitsplätze,die wir dringend brauchen. Aber wir wollennicht, dass die Lebensqualität zum Opfer derVerkehrslawine wird. ZEIT: Müssen wirklich täglich mehr als zehnMillionen Tonnen Güter kreuz und quer durchDeutschland gefahren werden? Tiefensee: Verteufeln Sie den Verkehr nicht!In Deutschland arbeiten mehr als 2,7 Millio-nen Menschen im Bereich Güterverkehr undLogistik. Das ist ein echter Wachstumsmarkt,in dem Arbeitsplätze entstehen. Experten ge-hen von 500 000 neuen Stellen in den nächs-ten Jahren aus – wenn wir die Weichen poli-tisch richtig stellen. Wir brauchen Wachs-tum, und das setzt Arbeitsteilung und Trans-port voraus.ZEIT: In der Bundesrepublik wurden 1970 aufStraße und Schiene etwa gleich viele Güter-mengen transportiert, heute liegt die Straße bei70 Prozent. Soll das so weitergehen? Tiefensee: Nein, Politik heißt, gestaltend ein-zugreifen.ZEIT: Wie?Tiefensee: Die Bundesregierung investiert er-hebliche Summen in die Schienenwege. Gleich-zeitig unterstützen wir die Entwicklung intel-ligenter Produkte, die eine Vernetzung vonSchifffahrt mit Schiene oder Straße mit Schie-ne herstellen. Bei kurzen Entfernungen ist dasderzeit noch schwierig. Aber wir haben zuneh-mend Erfolge beim Güterverkehr auf langenStrecken. Vor allem der Containerverkehr aufder Schiene nimmt stark zu.ZEIT: Da wäre es doch logisch, auch das Ange-bot der Bahn für den Personennahverkehr at-traktiver zu machen. Aber Sie kürzen die Bun-desmittel um drei Milliarden Euro …Tiefensee: Der Bundeshaushalt ist keine uner-schöpfliche Geldquelle. Im Übrigen sind die sogenannten Regionalisierungsmittel bisher umjährlich 1,5 Prozent aufgestockt worden. Für2006 belaufen sie sich auf mehr als sieben Mil-liarden Euro. Wir führen in Deutschland häu-fig eine Debatte über Quantität statt über Qua-lität. Wir wollen einen guten Nahverkehr. Undwir wollen jetzt gemeinsam mit den Ländernsehen, ob wir das gleiche Niveau nicht sparsa-mer sichern können. Die entscheidende Frageist doch: Was machen die Bundesländer mitdiesen Regionalisierungsmitteln? Wir stellenleider fest, dass die Länder nur fünf der siebenMilliarden Euro tatsächlich dafür ausgeben,mit dem Rest werden zum Beispiel Bahnhöfeverschönert oder Bahnhofsvorplätze gestaltet.Dafür waren die Mittel aber nie vorgesehen.ZEIT: Warum akzeptiert das der Bund?Tiefensee: Tut er nicht. Ich kann zwar nieman-den zur Offenlegung der Finanzen zwingen,aber wir werden mit den Ländern darüber ganzoffen diskutieren. Auch dieser Posten muss zurHaushaltskonsolidierung beitragen.ZEIT: Mit der Folge, dass die Länder ihr Ange-bot im Schienennahverkehr einschränken.Tiefensee: Das muss keineswegs so sein. DieMittel können noch effizienter eingesetzt wer-den – und die Länder sollten Bundesmitteldurch eigene Mittel ersetzen. Schließlich erhal-ten sie ab 2007 erhebliche Zusatzeinnahmenaus der Mehrwertsteuer. Es muss möglich sein,mit dem Sockelbetrag des Jahres 2004 Quan-tität und Qualität des Angebots zu wahren …ZEIT: … und Kunden in die Züge zu locken?Halten Sie das Angebot der Bahn wirklich fürattraktiv genug, um aus Autofahrern Bahnkun-den zu machen?Tiefensee: Die Deutsche Bahn AG muss kei-nen Vergleich mit den Eisenbahnen andererLänder scheuen. Sie hat einen echten Qua-litätssprung gemacht, auch wenn noch einigeszu verbessern ist. Ich fahre oft mit der Bahn,

und ich stehe manchmal wie jedermann am Kar-tenautomaten, um mein Ticket zu lösen. Insgesamtbietet die Bahn gute Qualität. ZEIT: Fragt sich nur, wie lange noch. Bahnchef Hart-mut Mehdorn will das Unternehmen zu einem in-ternationalen Logistikkonzern entwickeln und andie Börse bringen – mit dem Risiko, dass der In-frastrukturauftrag auf der Strecke bleibt.Tiefensee: Parlament und Bundesregierung werdennicht zulassen, dass der Infrastrukturauftrag ver-nachlässigt wird. Aber die Frage, wie künftig Ver-kehr auf den inzwischen liberalisierten europäi-schen Transportmärkten wirtschaftlich organisiertwerden kann, müssen wir uns schon stellen.ZEIT: Wer in Zukunft in Bahnaktien investiert, istdoch primär auf Rendite aus – und nicht darauf,dass die Bahn ihren öffentlichen Auftrag erfüllt.Tiefensee: Für die Verkehrspolitik wird die Kunstdarin bestehen, die verschiedenen Ziele gleicher-maßen im Blick zu behalten. So steht es auch in derKoalitionsvereinbarung. Es geht um langfristigeZiele, um Ordnungspolitik, um Arbeitsplätze, umWettbewerb. Das werden wir 2006 diskutieren.ZEIT: Selbst im besten Fall wird die Bahn den vonIhnen prognostizierten Verkehrszuwachs nicht be-wältigen können. Sie werden also neue Fernstraßenbauen müssen. Tiefensee: Das ist keine überraschende Erkenntnis.Natürlich werden wir das vorhandene Netz erhal-ten und ausbauen. Gleichzeitig müssen wir aber mitintelligentem Management dafür sorgen, das der

Verkehr auf dem vorhandenen Netz besser abge-wickelt wird. Dass Sicherheit, Umwelt und Le-bensqualität zu ihrem Recht kommen.ZEIT: Sie wollen nicht nur Beton?Tiefensee: Ich will Intelligenz auf Beton. ZEIT: Klingt gut – aber was steckt dahinter?Tiefensee: Nehmen Sie die Lkw-Maut. Sie vereintscheinbar Widersprechendes. Sie bringt uns Geld,das wir für die Autobahnen brauchen – und dochentlastet sie die Umwelt, etwa durch 17 Prozent we-niger Leerfahrten.ZEIT: Für die Bewegung auf den Straßen sorgt na-hezu ausschließlich Erdöl, das ungeahnt teuer ge-worden ist und dessen Vorräte schneller als gedachtzur Neige gehen könnten. Was dann?Tiefensee: »Weg vom Öl« ist eine der wirklich ganzgroßen Herausforderungen. Wir setzen deshalb aufneue Kraftstoffe und auf weniger Kraftstoffver-brauch. Wir wollen zudem neue Technologien wieden Gas- und den Hybridantrieb fördern. Und wirbeteiligen uns an einem Forschungsprogramm, dasdie Brennstoffzelle zur Marktreife führen soll. FürDeutschland liegt darin ein großes Potenzial. Un-sere Industrie und Forschungseinrichtungen kön-nen in einem solchen weltweiten Wettbewerb eingewichtiges Wort mitreden – mit unserer Unter-stützung.ZEIT: Anreize zum Spritsparen kann auch die Steu-erpolitik bieten. Wann stellen Sie die Kfz-Steuer aufden Ausstoß klimaschädlicher Gase um?Tiefensee: In den kommenden zwei Jahren.

ZEIT: Werden Sie neue Einnahmequellen anzapfen,weil Sie chronisch knapp bei Kasse sind?Tiefensee: Ich bin nicht knapp bei Kasse. Wir ver-fügen in dieser Legislaturperiode über 4,3 Millio-nen Euro zusätzlich. Etwas mehr wäre noch besser,aber wir tun eine Menge Gutes mit dem Geld derSteuerzahler. ZEIT: Wird demnächst statt des Steuerzahlers ver-stärkt der Autofahrer zur Kasse gebeten, um die Ver-kehrsinfrastruktur zu finanzieren?Tiefensee: Beim Lkw ja, aber die Nutzerfinanzie-rung ist kein Modell, nach dem wir das gesamteStraßennetz ausbauen können. Es taugt nur fürwenige und ganz bestimmte Projekte wie den Aus-bau von Autobahnstrecken oder den Bau vonBrücken und Tunnels. Die Hauptlast bleibt beimBund.ZEIT: Eine Pkw-Maut ist tabu?Tiefensee: Sie steht nicht zur Debatte. Der Auto-fahrer steuert seinen Teil über Kfz-Steuer und Mi-neralölsteuer bei. Dabei bleibt es. Wir wollen auchnicht die kleineren Lkw der Maut unterwerfen, weildie sonst auf Landstraßen ausweichen. ZEIT: Bleibt es auch dabei, dass das Mautaufkom-men nicht nur für die Straße verwendet wird?Tiefensee: Ungefähr die Hälfte benutzen wir fürden Straßenbau, den gleichen Teil für Bahn undBinnenwasserstraßen. Auch dabei wird es bleiben. ZEIT: Der französische Staat hat gerade einen Teilseiner Autobahnen für fast 15 Milliarden Euro anprivate Investoren verkauft. Reizt Sie das auch?

Tiefensee: Weil der Verkauf von Autobahnenzwangsläufig eine Pkw-Maut zur Folge hätte, ist dasfür mich kein Thema.ZEIT: Sind die Autolobbyisten eigentlich schon beiIhnen vorstellig geworden?Tiefensee: Lobbyisten gibt es überall.ZEIT: Die Autolobby ist aber am stärksten …Tiefensee: Mag sein, aber wir haben einen RundenTisch, die so genannte Mobilitätsoffensive, an demalle Verkehrslobbyisten sitzen – die Binnenschiffer,die Bahnleute und auch die Vertreter der Autoin-dustrie. An diesem Tisch habe ich bereits die un-terschiedlichen Interessen kennen gelernt. Wir wol-len sie in eine vernünftige Balance bringen.ZEIT: Auch wenn die mächtige Autoindustrie imVerein mit dem ADAC bockt?Tiefensee: Selbstverständlich. ZEIT: Wollen Sie Verkehr lenken?Tiefensee: Ich will ihn gestalten.ZEIT: Das wollten Ihre Amtsvorgänger auch, mitmäßigem Erfolg.Tiefensee: Das sehe ich anders, vieles wurde schonerreicht. In der Verkehrspolitik mit ihren unter-schiedlichen Zielen gibt es kein ideologisches Entwe-der-oder. Stattdessen gilt es, den guten Kompromisszu finden zwischen den Aspekten Ökonomie, Öko-logie und Sicherheit. Darin sehe ich meine Aufgabe.Nur den Trends hinterherlaufen ist mein Ding nicht.

DAS GESPRÄCH FÜHRTEN KLAUS-PETER SCHMID

UND FRITZ VORHOLZ

»Ich will Intelligenz auf Beton«Die Lkw-Maut bringt Geld und entlastet die Umwelt, sagt Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee

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26 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 26 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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WIRTSCHAFT

Laura Krouse, eine Farme-rin aus Mount Vernon imamerikanischen Bundes-staat Iowa, hat für ihren

Mais hart gekämpft – eine rare Sor-te namens Abbe Hill Seed Corn, dieseit fast 100 Jahren auf ihren Feldern an-gebaut wird. Sie pflanzte den Mais gut ge-schützt in der Mitte ihrer 30 Hektar großenFarm. Sie pflanzte ihn zu Zeiten an, zu denen sonstniemand in der Gegend Mais anpflanzte. Sie ließ dieQualität jedes Jahr in einem Labor testen. 2001brachten diese Tests dann zum ersten Mal eineschlechte Nachricht: Das Abbe Hill Seed Corn warverseucht. Es hatte sich mit dem gentechnisch ver-änderten Mais benachbarter Felder gekreuzt.

Solch künstlich veränderte Gene sind ein rotesTuch für Krouses beste Kunden. Bio-Farmer liebtendie traditionsreichen Maiskörner aus Mount Ver-non als Saatgut. Solange sie nicht verseucht waren.

Zehntausende Dollar Verlustdurch verseuchten Mais

»Von solchen Fällen höre ich hier in den amerika-nischen Midlands alle paar Wochen«, sagt KenRoseboro, der Chefredakteur des landwirtschaftli-chen Branchendienstes The Non GMO Report.»Selbst für einen kleinen Farmer bedeutet dasZehntausende Dollar Verlust«, sagt er. Schon alsdas landwirtschaftliche Forschungsinstitut OFRFvor ein paar Jahren mehr als tausend Öko-Farmerbefragte, berichteten sieben Prozent von Einkom-mensausfällen wegen nachgewiesener oder vermu-teter Durchmischung mit gentechnisch veränder-ten Organismen (GMO). In einigen GMO-Hochburgen in Iowa, Illinois und dem Bundes-staat New York gaben gar 70 Prozent der Befrag-ten an, Geld verloren zu haben. »Einige Farmer las-sen ihren Mais schon gar nicht mehr testen, weilsie Angst haben, dass ein negatives Ergebnis dabeiherauskommt«, weiß Roseboro.

Biotech Pollution lautet in landwirtschaft-lichen Kreisen das Fachwort für dieses Problem. Esist zu einem Dauerthema in internationalen Han-delsstreitigkeiten geworden. Die Vereinigten Staatendrängen seit Jahren auf weniger Handelsschrankenin Sachen GMO. Amerikanische Farmer, die be-sonders häufig solches Saatgut einsetzen, sollenihre Produkte frei exportieren können. Lange wardie Europäische Union ein Bollwerk gegen diesesAnliegen, obwohl sich ihre Regeln lockern: Nah-rungsmittel in der EU dürfen heute bis zu 0,9 Pro-zent GMO enthalten, und nach neuen Gesetzes-vorlagen aus Brüssel soll dies bald sogar für öko-logisch angebaute Lebensmittel gelten. Dennochhaben die USA Europa im Jahr 2003 bei der WTO

verklagt, und ein Schiedsspruch wird für denJanuar erwartet.

In Amerika sind viele Farmer von der »ame-rikanischen« Linie keineswegs überzeugt. Diegrößten Kritiker kommen aus der Branche der»organischen Farmer«, die ihre Produkte nach öko-logischen Kriterien anbauen. Sie vertreten eineNische – aber eine, die schnell größer wird: NachInformationen des amerikanischen Landwirt-schaftsministeriums ist dieser Markt seit Jahren»eines der am schnellsten wachsenden Segmentedes amerikanischen Landbaus«, auch wenn zuletztnur 0,2 Prozent allen Farmlandes ökologisch be-wirtschaftet wurden. Der Non GMO Report hörtesich im Januar 2005 bei amerikanischen Saat-gutherstellern um, die von »enormen Knapphei-ten«, einer wachsenden Nachfrage und steigendenPreisen für ökologisches Saatgut berichteten. Vie-le Farmer sehen das als eine Geschäftschance, weilman zum Beispiel für ökologischen Mais dreimalso viel Geld verlangen kann wie für konventionel-len. Die Rechnung geht freilich nur auf, wenn derMais frei von gentechnisch veränderten Organis-men bleibt. Die meisten ökologischen Bauern oderdie Abnehmer ihrer Produkte lehnen beim kleins-ten Anzeichen von Veränderungen dankend ab.

Selbst McDonald’s verzichtet auf gentechnisch veränderte Kartoffeln

Es sind aber längst nicht nur die alternativen Bau-ern, die sich beklagen. Weil GMO-Produkte ausso vielen Märkten der Welt, allen voran den eu-ropäischen, ausgesperrt blieben, sind die US-Ex-porte von Mais und Soja in den vergangenen Jah-ren zusammengebrochen. Kaum eine Organisationist dabei wütender als die American Corn GrowersAssociation, der Verband der amerikanischenMaisbauern: Nachdem der Verband der Gentech-nik ursprünglich aufgeschlossen gegenüberstand,schlägt er jetzt zunehmend pro-europäische Tönean. »Die amerikanische Landwirtschaft muss rea-lisieren, dass die europäischen Politiker auf ihreVerbraucher gehört haben«, heißt es. Die USA hät-ten sich in der Gentechnik-Frage »isoliert«.

Zu den überraschenden Rückschlägen für dieBio-Tech-Branche gehört, dass sich auch bei denVerbrauchern in Nordamerika der Widerstand ge-gen die Einführung von GMO-Nahrungsmittelnrührt. In Umfragen geben sich mehr als die Hälf-te der Amerikaner »skeptisch« in Sachen GMO-Nahrung. In erster Linie hatte das mit einer Reihevon Skandalen und Schlagzeilen um »verseuchte«Produkte zu tun. Doch taten sich die Herstellervon GMO-Saatgut auch schwer, Verbrauchernklarzumachen, was eigentlich die Vorteile solcherProdukte sein sollten. Erst in jüngster Zeit haben

sie Produkte vorgestellt, aus denen sich etwa Öl ge-winnen lässt, das beim Erhitzen gesünder bleibt –oder solches, das beim Schlankmachen helfen soll.Längst aber spielen manche Lebensmittelfirmennicht mehr mit: Da bestellte die Fast-Food-KetteMcDonald’s und der Frittenhersteller Frito-Laygentechnisch veränderte Kartoffeln ab, und etlicheBabynahrungshersteller verzichteten auf GMO-Pflanzen in ihren Produkten. Der Bierbrauer An-heuser-Busch wehrte sich gegen eine GMO-Pflan-zung in der Nähe seiner eigenen Felder, auf dassdas Bier rein bleibe. Die Front der GMO-Lobby-isten bröckelt ab, und die mit GMO-Produktenangebaute Fläche ging nach einer Umfrage derNachrichtenagentur Reuters in den vergangenenMonaten sogar zurück.

Nach wie vor steht dies im Widerspruch zurSichtweise in Washington, die eher von den Lobby-isten aus der biotechnischen und pharmazeutischenIndustrie geprägt ist. Auf der Web-Seite des Agrar-ministeriums war zeitweise ganz offen nachzulesen,dass es »im nationalen Interesse« liege, den »Kampffür die Biotechnologie zu führen«. Unter George W.Bush ist das nicht anders als unter seinem demokra-tischen Vorgänger Bill Clinton, dessen Administra-tion enge Beziehungen zum GMO-UnternehmenMonsanto pflegte. »Gentechnische Veränderungensind das Kernstück der amerikanischen Regierungs-und Unternehmensstrategien geworden, um dieFührung in der Landwirtschaft zu behalten«, kom-mentierte das Polit-Magazin The American Prospect.Entsprechend groß bleibt der Druck auf den neuenamerikanischen Handelsrepräsentanten RobertPortman, bei der WTO und in bilateralen Handels-verträgen gegen »Blockaden« in Europa, Japan, Süd-korea und anderswo anzurennen.

In Amerika selbst wird der Widerstand unter-dessen lokal organisiert. Einige ländliche Gemein-den und Landkreise haben GMO-Produkte vor-sorglich verbannt. Den Anfang machte 2004 derLandkreis Mendocino im nördlichen Kalifornien,und jetzt gibt es im ganzen Land Nachahmer.»NorthEast Rage Against Genetic Engineering«nennt sich eine aufgebrachte Gruppe an der ame-rikanischen Ostküste – »Der wütende NordostenAmerikas gegen GMO«. Das Ziel: Der Anbau vonGMO soll verboten werden. »GE Free Maine«heißt eine andere Gruppe. »Vom Winde verweht«lautete kürzlich der Titel einer Studie, die Bauernaus Vermont in Auftrag gaben und die das »Aus-sterben der organischen Farmen« durch GMO-Verseuchung vorhersagte.

Das Fazit dieses Reports könnte für die ganzeamerikanische Landwirtschaft stehen: »VermontsFarmer riskieren, dass sie ihren Marktvorteil ver-lieren, wenn sich die Verseuchung mit GMO wei-ter ausbreitet.«

Kampf ums KornDie amerikanische Regierung fordert freien Handel für gentechnischveränderte Nahrung. Doch selbst in den USA engagieren sich die Menschen zunehmend für Bio-Produkte von Thomas Fischermann

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portgeschäfte ausweichen dürfen, um das An-gebot zu verknappen. Auf tausend Chinesenkommen nur acht Autos. Kein Wunder, dassdas Milliardenvolk geradezu nach den eigenenvier Rädern giert – und das möglichst preiswert.So bietet SAIC unter anderem einen billigenKompaktwagen von General Motors (GM) an,der ein Renner wurde. VW, jahrelang Chinasbeliebteste Marke (der deutsche Konzern be-treibt Joint Ventures mit SAIC und FAW), hatderlei nicht zu bieten und verliert seitdem kräf-tig an Boden. Auch fielen die Wolfsburger voreiniger Zeit offenbar bei einflussreichen Staats-managern in Ungnade, was Volkswagen promptdie Alleinstellung bei Taxis (rund 100 000 Au-tos) kostete.

Chinas Bosse müssen im Sinne der Staatsrä-son parieren, selbst wenn sie Privatfirmen ma-nagen. Es wäre trügerisch, zu glauben, in derIndustrie herrschten die Gesetze des Marktes.Wie eh und je bestimmen mächtige Parteikaderund Provinzfürsten das wirtschaftliche Gesche-hen. Dabei entscheiden meist »persönliche Be-kanntschaften und familiäre Bindungen überden unternehmerischen Erfolg«, weiß Xu Li Fuvon der Shanghaier Ex- und ImportfirmaMayak, die auch in Deutschland residiert. Erstudierte zusammen mit einem bekannten ausseiner Stadt, der heute eine Autofirma managt.Ein solches Beziehungsnetz verhilft zum Bei-spiel dazu, grünes Licht für Ausfuhren zu be-kommen. Ausländer haben in diesem Filz einenschweren Stand. Und weil die Großen eng mitausländischen Marken wie Audi/VW, GM,Daimler, Ford, Nissan, Toyota oder Hyundaiverbunden sind, steht für sie trotz aktueller Ab-satzkrise im Inland die Ampel für die Ausfuhrauf Rot.

Deshalb dürfen die drei Tigerbabys auf denWeltmärkten als Vorhut ihre Krallen ausfahren.Für sie hat der Sprung ins Ausland ganz aktuel-le Gründe: Während zuletzt durch den er-schwerten Zugang zu Krediten der Autoverkaufeher gedrosselt wurde, will China vom Jahr2006 an den Kauf von Autos sogar subventio-nieren. Deshalb stockte im laufenden Jahr derAbsatz, einige Hersteller müssen auf Halde pro-duzieren. Daher bietet sich das Ausland als Ven-til geradezu an. So möchte der Größte der Ti-gerbabys, Geely (zu Deutsch: »Viel Glück«),bald 200 000 Pkw in die Welt exportieren undbietet gleich fünf Modelle vom KleinwagenFree Cruiser über Autos der Golf- und Mittel-klasse bis hin zum Sportwagen CD (ChinaDragon) auf. Firmenchef und Haupteigentü-mer Shufu Li hegt für seine Familienfirma gi-gantische Pläne: In zehn Jahren will er zweiMillionen Wagen bauen und davon 1,4 Millio-nen außerhalb Chinas absetzen. Freilich, im

Jahr 2005 dürfte Geely kaum 10 000 Fahrzeugeim Ausland verkauft haben.

Die Jiangling Motors Company puschengleich zwei US-Konzerne, Ford und GM. Siesind die großen Geld- und Ideengeber. Sostammt das Urkonzept für das in Europa ange-botene Allzweckauto Landwind, das ab 14 995Euro zu Aldi-Preisen feilgeboten wird, vomGM-Partner Isuzu. Das Original war einst auchals Frontera von Opel zu haben. Der Landwindwird komplett in China gebaut (Stückzahl: gut50 000). Mit dem Geländewagen und seinersimplen Technik will GM offenbar den eigenenMarken im Konzern Beine machen. So verfü-gen die belgischen Importeure bereits über einrelativ umfangreiches Händlernetz. Doch inDeutschland ging der Start daneben. Crash-kri-tische Tester vom ADAC beurteilten den Land-wind bei einem Unfall als großes Risiko fürLeib und Leben. Dass der Wagen trotzdem ver-kauft werden darf, liegt an einer Lücke in derBrüsseler Verkehrsbürokratie (siehe Kasten).

Die Chinesen stehen den eigenenAutos eher skeptisch gegenüber

Das kleinste Baby ist das Jüngste: Brilliance Jin-bei Automobile. Die Privatfirma holte 1992 alserste Gesellschaft Chinas Geld von der New Yor-ker Börse, satte vier Milliarden Dollar. Mit die-sem Geld entstand eine Fabrik für die Zukunft.Die Kapazität liegt bei 150 000, verkauft werdennur 50 000 eigene Autos, vor allem das Export-modell Zhonghua (zu Deutsch: »China«). Da-neben fertigt Brilliance Kleinbusse in Koopera-tion mit Toyota sowie in einem Joint Venture mitBMW 3er- und 5er-Modelle des Nobelherstel-lers. Die Beziehung zu den Bayern ist für Bril-liance besonders wertvoll. Denn Chinesen ste-hen eigenen Autos skeptisch gegenüber. »Sie be-vorzugen deutsche Technik«, sagt Reiner Roeth-ling vom Importeur Euro Motors mit Geschäfts-adresse in Gibraltar und Liechtenstein

Mit Hilfe von BMW und Pininfarina (De-sign) hoffen die Asiaten, in der Mittelklasseauch hierzulande punkten zu können. Im Jahr2008 plant Brilliance bereits 300 000 Fahrzeu-ge zu verkaufen, 2010 sollen es 500 000 Autossein, davon viele weltweit.

Allzu lange jedoch kann auch den chinesi-schen Riesen die freie Fahrt auf die Weltmärktenicht mehr verwehrt bleiben. Nach Ansicht vonB&D Forecast GmbH (Leverkusen) betreibtSAIC bereits »am intensivsten eine Strategie derInternationalisierung und wird noch 2006 zumExport ansetzen«. Auch Dongfeng Motors bas-telt an einem Auftritt im Ausland. Damit sind,so B&D Forecast, die »5000-Dollar-Autos imVormarsch«.

28 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 28 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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WIRTSCHAFT

Fehlerhafte Prospekte, überforderte Reprä-sentanten: Wenn es nach ihrer Selbstdar-stellung geht, sind Chinas Autobauer wahr-lich keine Konkurrenz für die etablierten

Anbieter aus Europa. Allerdings: Das richtige Mar-keting dürften die Chinesen bald lernen – schließ-lich fingen die heute so erfolgreichen Japaner undKoreaner einst ähnlich an, und lernten dann inWindeseile dazu. So geht es für die hierzulande neuauftretenden Hersteller erst einmal darum, die Türzum deutschen Markt aufzumachen.

Sie heißen Geely, Jiangling und Brilliance. Siehalten nichts von Glamour und Siegerposen. Siesind die ersten chinesischen Fahrzeugfabrikanten,denen Pekings Staats- und Parteielite den Exportvon Pkw gestattet. Und: Sie gehören zu denKleinsten.

Die drei Zwerge produzierten 2004 zusammengerade mal 185 000 Autos in Eigenregie. Das ent-spricht nur einem Viertel des Marktführers FAW

(First Automotive Works), der in verschiedenenJoint Ventures 740 000 Fahrzeuge fertigte (sieheGrafik). Auch Chinas Nummer zwei und drei,Shanghai Automotiv Industry Corp. (SAIC) sowieDongfeng Motors wären bequem in der Lage, aufdie Exportmärkte des Westens vorzustoßen. Dochdie Führung duckt die Drachen, fesselt sie ansLand.

Pekings Industriepolitikhat Methode

So wurde etwa Dongfeng Motors jüngst der sichergeglaubte Griff nach Britanniens insolventer MG-Rover-Gruppe jäh verwehrt. Stattdessen kam wiedernur ein Winzling zum Zug, Nanjing Automotive(Produktion: 30 000 Fiat-Modelle).

Pekings Industriepolitik hat Methode: Die Rie-sen FAW, SAIC oder Dongfeng sollen zuerst dasInland gut versorgen und nicht auf profitablere Ex-

Vorstoßder

TigerbabysErstmals kommen Autos aus China

nach Europa – den Anfang machen diekleinen Hersteller

Von Ulrich Viehöver

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Der Geländewagen Landwind der Fir-ma Jiangling Motors Company hättevom Start weg Chinas erster Verkaufs-hit in Deutschland werden können,wenn der ADAC nicht dazwischen ge-funkt hätte. Nun läuft der Absatzziemlich zögernd. Auslöser ist einCrashtest des Automobilclubs, beidem der Landwind laut ADAC-Urteil»verheerend abgeschnitten hat«. BeimAufprall sei die Lenksäule wie einSpieß spitz ins Fahrzeug eingedrun-gen, und die Airbags würden nicht denMindestanforderungen entsprechen.Solche Mängel gebe es sonst kaumnoch, urteilen die ADAC-Experten.

Wer jedoch glaubt, dass die Behör-den den Landwind nun wegen seinesextremen Risikos bei schweren Unfäl-len stoppen und ihn aus dem Verkehrziehen, der irrt. Die Chinesen dürfenihren sicherheitstechnisch veraltetenEigenbau ungehindert legal vermark-ten – in ganz Europa. Sie berufen sichdabei auf eine Lücke in der EU-Zulas-sungsverordnung. Diese gestattet auchdie so genannte Einzelbetriebserlaub-nis. Das heißt, anstatt ein Modell ein-mal für einen gesamten Markt zuzu-lassen (allgemeine Betriebserlaubnis),wird jeder importierte Wagen (vomHändler) einzeln angemeldet. DieseRegelung war eigentlich für Privatleutegedacht, die sich ein exotisches Fahr-zeug aus dem Ausland holen wollten,das der Hersteller offiziell nicht expor-tiert. Bei solchen Einzelbetriebserlaub-nissen sind die Prüfungen etwa für dieSicherheit wesentlich einfacher. EinCrashtest findet nicht statt. Der ADACdrängt jetzt in Brüssel darauf, dass die-ses Schlupfloch für Serienfahrzeugemöglichst rasch geschlossen wird. uhv

CHINAAUTO IM CRASHTEST

»Verheerend«

Im Hafen von Antwerpen: Autos aus chinesischer Produktion rollen an Land

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Auf dem Sprung

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ZEIT-Grafik/Quelle: B&D-Forecast

Produktion 2004 Joint Ventures mit

SAIC-Shanghai Automotive Industry

Dongfeng Motors Corp.

Beijing Automotive

Guangzhou Automotive Group

Changan Automotive Co.

Geely Holding Group*

Chery Automobile Co.

Jiangling*

Great Wall Automobile Holding Co.

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Southeast Motor Corp.

Hebei Zhongxing Automobile Co.

Nangjing Automotive

Brilliance*

Harbin Hafei Motor Co.

*Auf der IAA-Messe in Frankfurt 2005 vertreten

VW, GM, Toyota, Ford, Hyundai

Mitsubishi, DaimlerChrysler

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VW, GM

PSA, Honda, Nissan, Hyundai

DaimlerChrysler, Hyundai

Honda, Toyota

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Ford

BMW

Chinesische Automobilhersteller und ihre Kooperationspartner

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30 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 30 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 30 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

WIRTSCHAFT Jahresrückblick

1. JANUAR 27. JANUAR 1. FEBRUAR

Lastwagen müssen zahlen – und können es jetzt auch

Die Maut funktioniert. Endlich. Mit etwa 16-mo-natiger Verspätung geht das High-Tech-Kassiersys-tem an den Start. Bis zum Jahresende nimmt das Be-treiberkonsortium Toll Collect rund 2,8 MilliardenEuro ein. Das Geld kann Toll Collect voraussicht-lich gut brauchen – noch immer läuft ein Schieds-gerichtsverfahren, bei dem die BundesregierungSchadensersatz für den späten Start verlangt. Wenigerfreut sind einige Städte und Kreise, denn zahlrei-che Mautpreller weichen von den Autobahnen aufkleinere Straßen aus, sodass manche Innenstadtvom Lkw-Verkehr geplagt wird. Auch das wirdgeändert: Demnächst soll die Maut auch auf be-stimmten Landstraßen erhoben werden.

Die Hartz-IV-Reform beginntmit fünf Millionen Arbeitslosen

Zum Jahresbeginn startet pünktlich und ohne großeZwischenfälle Hartz IV. Das von manchen be-fürchtete Chaos bei der Zusammenlegung von So-zialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum neuen Arbeits-losengeld II fällt aus. Die Reform wird für die rot-grüne Bundesregierung trotzdem zum Debakel:Ende Januar springt die Zahl der offiziell registrier-ten Arbeitslosen erstmals auf mehr als fünf Millio-nen. Obwohl das vor allem statistische Gründe hat– im neuen System werden Hunderttausende So-zialhilfeempfänger plötzlich als Arbeitslose gezählt–, reagiert die Öffentlichkeit geschockt. Die SPDverliert die Landtagswahlen in Schleswig-Holsteinund Nordrhein-Westfalen.

Siemens bekommt einen neuenChef und verliert seine Handys

Klaus Kleinfeld wird neuer Vorstandsvorsitzendervon Siemens und beerbt Heinrich v. Pierer, der inden Aufsichtsrat des Elektro-Multis wechselt. Sie-mens verspricht sich viel von Kleinfeld, der zuvordie Medizintechnik mit saniert und das US-Ge-schäft auf Vordermann gebracht hat. Er soll vor al-lem für Tempo sorgen und stellt dies bei der notlei-denden Handysparte mit ihren weltweit 6000 Mit-arbeitern schnell unter Beweis: Im Juni übernimmtder taiwanesische Konzern BenQ das Mobilfunk-geschäft von Siemens. Die Kunden werden davonerst einmal nichts merken, denn fünf Jahre lang darfBenQ den Markennamen noch verwenden. Da-nach wird es keine Siemens-Handys mehr geben.

Die deutsche Baukrise erwischtden Traditionsbetrieb Walter

Knapp 38 000 Unternehmen melden in diesemJahr Insolvenz an. Meist sind es Mittelständler, nurselten erwischt es einen prominenten Konzern wiedie Walter Bau AG, eines der bedeutendsten deut-schen Bauunternehmen. Den in der Branche seitzehn Jahren sinkenden Umsätzen fielen immerwieder Firmen zum Opfer – so wie HolzmannEnde der Neunziger. Bei Walter Bau wurde spe-kuliert, dass die Liquiditätsengpässe dadurch ent-standen, dass einige große Auftraggeber zwar bau-en ließen, aber nicht pünktlich bezahlten. In denfolgenden Monaten werden einzelne Konzernteileverkauft – rund zwei Drittel der zuvor mehr als9000 Mitarbeiter behalten ihren Job.

938 Euro im Monat:Arm ist, wer weniger hat

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich inDeutschland weiter. Das ist das Ergebnis des Ar-muts- und Reichtumsberichts, den das Bundeskabi-nett Anfang März vorlegt. Zwar ist der Wohlstandin Deutschland im EU-Vergleich relativ gleich-mäßig verteilt. Doch der Anteil der Armen an derBevölkerung ist von 12,1 auf 13,5 Prozent gestie-gen. Nach internationaler Definition gilt als arm,wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittsein-kommens zur Verfügung hat. In der Bundesrepu-blik liegt diese Schwelle bei 938 Euro im Monat.Arbeitslosigkeit ist einer der Hauptgründe für diesteigende Armut, betroffen sind aber häufig auchkinderreiche Familien oder Alleinerziehende.

Anfang des Jahres hat Deutsche-Bank-Chef JosefAckermann einen großen Auftritt, als er zweierleiverkündet: Die Bank macht Rekordgewinne – undstreicht rund 6000 Stellen. Die merkwürdigeGleichzeitigkeit stößt auf Empörung. Wir machenalles, was die Börse goutiert, scheint der Mann ander Spitze zu sagen.

Ackermann setzt einen Trend. Die DeutscheTelekom kündigt später im Jahr an, mehr als30 000 Stellen abschmelzen zu wollen. Das kannman bei einem Exmonopolisten vielleicht nochverstehen. Aber dass der deutsche ReifenherstellerContinental von einem Höchstgewinn zum

nächsten eilt und trotzdem das hiesige Werk inLangenhagen schließen will, erfüllt viele Arbeit-nehmer in der deutschen Industrie mit Unbeha-gen. Trotz ganzer Serien von Betriebsvereinbarun-gen, in denen sie Besitzstände preisgaben, gehtder Abbau weiter.

Da hilft es der allgemeinen Stimmung auchnicht weiter, dass ausländische Mutterfirmen aufundurchsichtige Weise entscheiden, sie müsstenprofitable deutsche Betriebe schließen: einen tra-ditionsreichen Hamburger Aluminiumhersteller(Norsk Hydro) ebenso wie das Nürnberger AEG-Werk (Elektrolux).

Haben die Manager keine andere Wahl, als sichauf diese Weise bei institutionellen Anlegern be-liebt zu machen? Manche von ihnen legen in derTat die Basis für künftige Wettbewerbsfähigkeit,andere aber scheinen vielmehr auf Autopilot ge-schaltet zu sein – sie streichen weiter und weiter imNamen des Aktienkurses, ohne an die Motivationder verbleibenden Mitarbeiter zu denken.

Indes geben die viel diskutierten Fälle nur diehalbe Wahrheit wieder. Der Jobabbau in der In-dustrie neige sich erst einmal seinem Ende zu, sa-gen Wirtschaftsforscher. Selbst die Bauindustriekann für 2006 auf die Wende hoffen.

Lustreisen für den Automobilkonzern

Klaus Volkert, langjähriger Betriebsratschef vonVolkswagen, legt sein Amt nieder. Er ist das ersteprominente Opfer einer Affäre um lustreisendeBetriebsräte und betrügerische Manager beim Tra-ditionskonzern. Eine heftige Diskussion um das»System VW« folgt. Losgetreten wurde die Welleunglaublicher Enthüllungen durch die Entlassun-gen des Personalmanagers Klaus Joachim Gebau-er und Helmuth Schusters, zuletzt Personalvor-stand der VW-Tochter koda, denen betrügerischeMachenschaften zulasten des Konzerns vorgewor-fen werden. Vor allem Gebauer, der für die »Be-treuung« der Topbetriebsräte zuständig war, gabsein Wissen über allerlei delikate Details preis.Daraufhin blieb auch Personalvorstand PeterHartz nichts anderes mehr übrig, als die »politischeVerantwortung« zu übernehmen und sich als Rent-ner in seine saarländische Heimat zurückzuziehen.Noch ermittelt die Staatsanwaltschaft, sodass derKonzern wohl auch im Jahr 2006 nicht so schnellaus den Schlagzeilen kommen dürfte.

2. MÄRZ

15. OKTOBER9. OKTOBER 24. OKTOBER 7. NOVEMBER

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ZEIT-Grafik/Quelle: Datastream/Illustration: Evgueni Issakovitch

Preis für Erdöl der Sorte WTI(in US-Dollar)

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29. AUGUST

Spekulanten treibenden Ölpreis nach oben

Mit seinen Förderanlagen, Importhäfen und Raffi-nerien ist der Golf von Mexiko das amerikanischeÖldorado. Prompt schießt der Preis in die Höhe,als der Hurrikan Katrina dieses Herz der Ölindus-trie trifft. 70, 80 Dollar pro Fass, so viel wie nie zu-vor, kostet der Rohstoff plötzlich an der New Yor-ker Börse; der Markt überträgt den Impuls bis inden letzten Winkel der Erde. Die hohe Nachfrageaus China hatte schon vor der Naturkatastrophe fürNervosität gesorgt. Mangels größerer ungenutzterFörderkapazitäten regiert die Angst vor Versor-gungsengpässen, Spekulanten haben deshalb leich-tes Spiel. Nordseeöl kostet im Jahresdurchschnittfast 55 Dollar; 2003 waren es nicht einmal 29Dollar gewesen. Einziger Trost: Inflationsbereinigtkostet Öl auch 2005 weniger als im Jahr 1980.

Die Vogelgrippe erreichteuropäischen Boden

Das Virus heißt H5N1, und auf seinem langenWeg von Asien ist es nun in Europa angekommen:In Rumänien wird der erste Fall von Vogelgrippebei Geflügel bestätigt. Die Krankheit springt zwarnur selten auf den Menschen über, ist dann abersehr gefährlich. Jeder Zweite der weltweit rund 130Erkrankten starb bisher. Wissenschaftler befürch-ten, dass das Virus mutieren und eine Pandemiemit Hunderttausenden Toten auslösen könnte.Um die Verbreitung über Zugvögel einzudämmen,dürfen Freilandhühner in Deutschland vorüberge-hend nur in Ställen gehalten werden. Stark gefragtist Tamiflu – ein vielversprechendes Grippemedi-kament des Schweizer Pharmakonzerns Roche.Doch gegen Ende des Jahres wird erstmals von ei-ner resistenten H5N1-Variante berichtet.

VW gewinnt ein Rennen –dank Robotertechnik

Die Evolution des Automobils ist vollendet: Erst-mals bewältigen Fahrzeuge ohne menschliche Hil-fe erfolgreich größere Strecken. Beim Roboter-Rennen Darpa Grand Challenge in der Wüste desUS-Bundesstaats Nevada siegt ein VolkswagenTouareg. Die Freude ist trotzdem ein wenig ge-trübt. Erstens, weil sich der VW allein mit seinerBordelektronik wohl verfahren hätte und ihn erstdie Computertechnik der Universität Stanford aufKurs brachte. Zweitens, weil er nicht einmal be-sonders schnell war und für die 200 Kilometer lan-ge Strecke fast sieben Stunde benötigte. Und drit-tens, weil heimische Autofahrer als Letzte von derneuen Technik profitieren dürften: Veranstalter desRennens war ein Forschungsableger des amerikani-schen Verteidigungsministeriums.

Die Ära des Alan Greenspan geht zu Ende

George W. Bush ernennt seinen bisherigen ökono-mischen Chefberater Ben Bernanke zum Nachfol-ger Alan Greenspans als Chef der US-Notenbank.Für den Präsidenten ist die Entscheidung ein Be-freiungsschlag – geriet er doch wegen anderer Per-sonalien 2005 in die Kritik. Der neue UN-Bot-schafter John Bolton galt als UN-Hasser, Welt-bankpräsident James Wolfowitz war ein Architektdes umstrittenen Irak-Krieges, die Ernennung sei-ner persönlichen Freundin Harriet Miers für dasOberste Gericht musste Bush zurückziehen. DieEntscheidung für Bernanke ist allgemein akzeptiert.Er gilt als Experte in Geldfragen, als politisch mo-derater Republikaner und möchte sich in seiner Rol-le »nur zu geldpolitischen Fragen äußern«. Sein Amtwird Bernanke offiziell Ende Januar antreten.

Deutschlands zweitgrößte Bank wird italienisch

»Die Kräfte bündeln« wollen Alessandro Profumound Dieter Rampl, als sie im Frühsommer den Zu-sammenschluss ihrer Banken verkünden. Profumo,der Chef der italienischen UniCredit, bietet Rampl,dem Boss der HypoVereinsbank (HVB), den Postendes Chairman im gemeinsamen Geldhaus an. DieHVB, die zweitgrößte deutsche Bank, verliert ihreSelbstständigkeit. So weit klappt das Bündeln gut,doch am 7. November beginnt ein Exodus an Ma-nagern der bisherigen HVB. Zuerst verlassen Pri-vatkundenchefin Christine Licci und Kapital-marktvorstand Stefan Jentzsch die Bank, am 9. De-zember folgt Investmentbanker Jens-Peter Neu-mann und am 21. Dezember Risikochef MichaelKemmer. Und in München fürchten die restlichenBanker, dass die Massenflucht erst richtig anfängt.

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Michail Chodorkowskij wird in Russland verurteilt

Er war einst der reichste Mann Russlands und Chefdes mächtigen Ölkonzerns Yukos. Doch Ende Maiwird der Abstieg von Michail Chodorkowskij ge-richtlich besiegelt. Die Moskauer Justiz verurteiltihn wegen Betrugs und Steuerhinterziehung zuneun Jahren Lagerhaft. Ende September senken dieRichter der Berufungsverhandlung das Strafmaßauf acht Jahre herab. Mitte Oktober schließlich wirdChodorkowskij auf den Spuren zaristischer Ver-bannter ins sibirische Lager JaG 14/10 im Gebietvon Tschita nahe der chinesischen Grenze über-führt, um seine Strafe abzusitzen. Das koordinierteVorgehen verschiedener Behörden gegen die Füh-rungsspitze des größten privaten Ölkonzerns unddie teilweise Übernahme von Yukos durch Staats-firmen bezeugen einen politischen Schwenk vonPräsident Wladimir Putin: Der Kreml strebt offendie Kontrolle über strategische Wirtschaftsbranchenan. Opponierenden Oligarchen wie Chodorkowskijdrohen die Verfolgung durch die Staatsanwaltschaftund ein Schauprozess.

31. MAI

Kapital gegen Arbeit? Manager ohne Moral?Hochprofitable Firmen streichen Jobs

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Nr. 1 S. 31 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 31 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 31Jahresrückblick WIRTSCHAFT

Die Europäische Verfassungscheitert an den Franzosen

Aus 25 Mitgliedsstaaten besteht die EuropäischeUnion seit vergangenem Jahr, 2005 sollte endlicheine gemeinsame Verfassung her. Das Problem da-bei: Jedes einzelne Land muss zustimmen. Eigent-lich kein Problem, neun Staaten ratifizieren die Ver-fassung. Dann sind die Franzosen an der Reihe undsprechen sich – im Rahmen einer Volksabstim-mung – zu 55 Prozent dagegen aus. Drei Tage spä-ter sagen auch noch die Niederlande »Nein«, aller-dings aus ganz anderen Gründen. Während dieFranzosen die Gemeinschaft für deutlich zu (wirt-schafts)liberal halten, lehnen die Niederländer dieVerfassung ab, weil ihnen die Europäische Unionzu teuer und nicht liberal genug scheint.

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Ein Deutscher wird Papstund Marktl am Inn macht Kasse

Habemus Papam. Nach dem Tod von Papst Johan-nes Paul II. wird Joseph Kardinal Ratzinger seinNachfolger; er nennt sich Benedikt XVI. Die Be-geisterung über den deutschen Papst ist groß; Hun-derttausende sehen ihn im Sommer beim Welt-jugendtag in Köln. Dass sich mit Ratzinger auchGeld verdienen lässt, spricht sich schnell herum:Sein alter VW Golf wird im Internet für knapp190 000 Euro an ein Casino versteigert, und seinoberbayerischer Heimatort Marktl am Inn schlägtaus dem Sohn der Stadt ordentlich Kapital: Papst-bier, Papstbrot, Papsttorte. Die Bewohner von Rat-zingers Geburtshaus beschließen wegen des Pilger-ansturms allerdings, ihre Immobilie zu verkaufen.

Ein Doppeldecker »made in Europe« hebt ab

Na, das ist ja ein dickes Ding. Und fliegen kann esauch. Der Airbus A380, der größte je gebaute Pas-sagierjet, startet in Toulouse erfolgreich zu seinemJungfernflug über Südwestfrankreich. Das Flug-zeug fasst in der Standardversion 555 Passagiereund soll der betagten Boeing 747 Marktanteile aufder Langstrecke abnehmen. Die Airbus-Mutterge-sellschaft EADS löst in diesem Jahr auch noch einFührungsproblem: Nach monatelangem Streit ei-nigt sich der europäische Luft- und Raumfahrt-konzern im Juni auf eine Doppelspitze. Der bis-herige Airbus-Chef Noël Forgeard und der deut-sche DaimlerChrysler-Manager Thomas Endersführen EADS künftig gemeinsam.

Heuschrecken werden zum Symbol für Finanzinvestoren

Werner Seifert, der Chef der Deutschen Börse, trittüberraschend von seinem Posten zurück. Er ziehtdamit die Konsequenz aus Streitigkeiten mit demGroßaktionär TCI – einem britischen HedgeFonds – über die Zukunft des Unternehmens. AnFälle wie diesen muss Franz Müntefering wohl ge-dacht haben, als er den Begriff »Heuschrecke« wie-der neu in die deutsche Sprache einführte, diesmalals Symbol für die Schattenseiten des Kapitalismusim Allgemeinen und für mächtige Finanzinvesto-ren im Besonderen. Die Debatte geht weiter, als imHerbst der irische Investor David Montgomery dieBerliner Zeitung von der Holtzbrinck-Gruppe (zuder auch DIE ZEIT gehört) übernimmt.

KarstadtQuelle will kleiner werden

Thomas Middelhoff wird Vorstandsvorsitzenderbeim Essener Handelskonzern KarstadtQuelle, derzu diesem Zeitpunkt in der größten Krise seiner Ge-schichte steckt. Der ehemalige Manager des Me-dienkonzerns Bertelsmann und Aufsichtsratschefvon KarstadtQuelle folgt dem glücklosen ChristophAchenbach, der nur wenige Monate an der Spitzestand. Dank Middelhoff bekommt KarstadtQuelleneue Kredite und speckt ab. Rund 70 der kleinerenWarenhäuser, einige Immobilien und die Fachge-schäfte werden verkauft. Nur beim Versandhandelmit Quelle und Neckermann kommt die Restruk-turierung noch nicht so richtig voran: Die Sparteentwickelt sich schlechter als geplant.

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29. AUGUST

Machtwechsel bei DaimlerChrysler

Ein Stern geht auf in Stuttgart-Möhringen. DieterZetsche, 52, erfolgreicher Sanierer von Chrysler inden Vereinigten Staaten, wird vom Aufsichtsratder DaimlerChrysler AG zum Nachfolger von Jür-gen Schrempp bestimmt. Sogleich schnellt derKurs der Daimler-Aktie nach oben. Zetsche, derManager mit dem markanten Schnauzer, tritt seinAmt offiziell zum 1. Januar 2006 an. Doch da seinRivale um den Konzernthron, Eckhard Cordes,frustriert seinen Posten als Chef der angeschla-genen Mercedes Car Group (Mercedes-Benz,Smart, Maybach) zur Verfügung stellt, springt derflexible Zetsche auch dort ein. Zimperlich packt erseinen neuen Job nicht an: Mindestens 8500 Mer-cedes-Werker sollen offiziell gehen. Und mögli-cherweise reicht ihm das noch nicht. Kein Wun-der, dass die Betriebsräte aufbegehren. VorgängerJürgen Schrempp bekommt kurz vor Weihnach-ten wenigstens noch ein paar warme Worte vomAufsichtsrat mit auf dem Weg, die im Juli einfach»vergessen« worden sind.

Katrina bricht über New Orleans herein

Der Hurrikan Katrina geht an der amerikanischenGolfküste an Land, verwüstet weite Landstricheund setzt New Orleans unter Wasser. Die wirt-schaftlichen Folgen erweisen sich als beachtlich.Tagelang liegen Ölfelder und Pipelines brach,doch all diese Schäden sind bloß Teil der ökono-mischen Auswirkungen. Der Wirbelsturm versetztder Zuversicht der US-Konsumenten einenDämpfer, sie schätzen die Wirtschaftslage so trübein wie lange nicht mehr. Verantwortlich ist einer-seits der Schock und die Aussicht auf teures Ben-zin und Heizöl so kurz vor dem Winter. Anderer-seits aber auch der Vertrauensverlust der Bush-Re-gierung mit ihrem schlechten Krisenmanagement.Wie gebannt blicken die Industriestaaten auf Ka-trina und die Folgen, dabei ist der Wirbelsturm indiesem Jahr nur eine Katastrophe unter vielen. Vonder Öffentlichkeit weit weniger beachtet, bebt imOktober in Pakistan die Erde – mehr als 70 000Menschen sterben. Und der bevorstehende Win-ter droht Tausende weiterer Opfer zu fordern.

Der größte Mediendeal des Jahres gerät ins Wanken

Es sollte der Coup seines Lebens werden. Jetzt drohtihm eine Niederlage. Mathias Döpfner, Vorstands-chef des Axel Springer Verlags, kündigte im Augustan, der Zeitungskonzern werde vom US-InvestorHaim Saban die ProSiebenSat.1 Media AG kaufen,die zweitgrößte Senderkette im Privatfernsehen. Be-denken erwartete er viele, große Hürden beim Bun-deskartellamt nicht. Doch dann schicken die Wett-bewerbshüter im November eine Abmahnung, dieeindeutig ausfällt: so nicht. Zu mächtig sei die Bild-Zeitung, zu groß die Gefahr, dass TV-Sender undBoulevardblatt füreinander werben, ganz zu schwei-gen von der Möglichkeit, hübsche Pakete für dieWerbungtreibenden zu schnüren und damit ande-re zu verdrängen. Noch kämpft Döpfner für seinenDeal. Aber wie lange kann er durchhalten?

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18. NOVEMBER 20. DEZEMBER25. NOVEMBER 1. DEZEMBER 21. DEZEMBER

Die neue WirtschaftsmachtChina rückt auf

Man spürt den Atem des Riesen im Nacken. Wardie chinesische Volkswirtschaft im Jahr 2004 nochdie sechstgrößte auf dem Planeten, hat sie es dankihres fulminanten Wachstums jetzt auf Platz vier ge-bracht. Vor den Chinesen liegen nur noch die Ame-rikaner, die Japaner – und die Deutschen. Den Platzauf dem Treppchen sollten wir noch feiern, bevordas Reich der Mitte uns unweigerlich in die Bedeu-tungsarmut des undankbaren vierten Platzes ver-dammt. Womit soll man sich trösten? Damit, dassdie Chinesen ein Durchschnittseinkommen vonkaum über 1000 Euro im Jahr haben? Dass die 40-Stunden-Woche für sie Teilzeit ist? Vielleicht, abergut 90 Prozent der Chinesen schauen Umfragen zu-folge hoffnungsfroh in die Zukunft. Und wenigerals die Hälfte der Deutschen.

Neuer Ärger für Ackermann

Sie sind das Symbol des größten deutschen Wirt-schaftsprozesses: die beiden Finger, die Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann vor dem DüsseldorferLandgericht zum Siegeszeichen formt. Doch am21. Dezember verliert Ackermann: Der Bundesge-richtshof hebt die Freisprüche im Mannesmann-Verfahren auf. Ackermann und weitere fünf Ange-klagte, unter ihnen Ex-IG-Metall-Chef KlausZwickel, Ex-Mannesmann-Chef Klaus Esser undEx-Mannesmann-Aufseher Klaus Funk, müssen2006 noch einmal vor Gericht. Es ist eine bittereWoche vor allem für Ackermann, denn gleichzeitigkassiert er verbale Prügel aus den anderen Finanz-häusern: In einer umstrittenen Aktion hat die Deut-sche Bank einen offenen Immobilienfonds ge-schlossen – und die ganze Branche gefährdet.

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2005– DAS WAR’S

Deutschland wird das erste Malvon einer Frau regiert,die Unternehmen machenRekordgewinne und entlassendennoch Mitarbeiter,Heuschrecken werden zumSinnbild für profitgierigeKapitalisten: Eine Nationzwischen Angst und Aufbruch

Blackout im Münsterland – sechs Tage ohne Strom

Deutschlands Stromversorgung gehört zu den si-chersten der Welt. Normalerweise. Am Wochen-ende des 1. Advent machen 250 000 Bewohner desMünsterlandes eine andere Erfahrung. MangelsStrom können sie weder kochen noch heizen, esbleibt dunkel. Der Grund für den überraschendenBlackout: jede Menge nasser Schnee, der auf denStromleitungen dicke Eispanzer entstehen lässt.Die Last auf den Seilen ist so schwer, dass 82Strommasten einknicken – was deren EigentümerRWE einen schweren Imageschaden beschert.Nach spätestens sechs Tagen haben zwar alle Kun-den wieder Strom, doch die Debatte geht bis heu-te weiter: Ob die gut verdienenden Stromriesen ge-nug in ihre Netze investieren, das ist seit demBlackout im Münsterland die Frage.

Es geht aufwärts! Zumindest mit den Zinsen

Zum ersten Mal seit fünf Jahren hebt die Eu-ropäische Zentralbank (EZB) die Zinsen an:von 2 auf 2,25 Prozent. Weg von den Not-standszinsen. Noch nie seit dem Ende des Zwei-ten Weltkrieges hatte Euroland inklusiveDeutschland einen so geringen Leitzins, nochnie waren Geld und Kredite so billig. Über dieGründe der Anhebung diskutiert man nochheute. Die wohlwollende Interpretation lautet:Die EZB glaubt an den Aufschwung. Kritikerfürchten hingegen, dass die konservative No-tenbank auch im Aufschwung zu restriktivagiert. In der Wirtschaftskrise der Jahre 2002 bis2004 hat sie sich den Ruf des »Zu wenig, zuspät« hart erarbeitet. Folgt jetzt im Aufschwungdas »Zu früh, zu viel«?

Gerhard Schröder, Anfang des Jahres noch Bundes-kanzler, stellt nach dem schlechten Ergebnis bei derLandtagswahl in Nordrhein-Westfalen die Vertrau-ensfrage und verliert sie wie gewünscht. Neuwahlenstehen ins Haus, nachdem Bundespräsident HorstKöhler grünes Licht gegeben hat. Zu den Höhe-punkten in dem kurzen, aber heftigen Wahlkampfgehört der Streit um die Paul-Kirchhof-Liste mitihren 418 zu streichenden Ausnahmetatbeständenim Steuerrecht. Am 18. September ist es so weit, derDeutsche Bundestag wird gewählt. Die neue Links-partei um Gregor Gysi und Oskar Lafontaine er-reicht 8,7 Prozent der Stimmen. Aber das ist nicht

die einzige Überraschung: Die SPD schneidet bes-ser und die Union schlechter ab als erwartet – so-dass sowohl Angela Merkel als auch Gerhard Schrö-der erst einmal den Sieg für sich in Anspruch neh-men. Nach den üblichen Wer-mit-wem-Spielchenentscheidet Merkel die K(anzler)-Frage für sich. Alserste deutsche Bundeskanzlerin führt sie eine GroßeKoalition an. Schröder findet ziemlich schnell einenneuen Job – er soll bei der Tochter des russischenGasprom-Konzerns einsteigen, die eine Erdgaspi-peline in der Ostsee errichtet. Praktisch: Das ent-sprechende Vertragswerk dazu hat Schröder erstkurz zuvor mit auf den Weg gebracht.

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32 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 32 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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Europa: Oben fast ohneVertreten Sie die Interessen der deutschenWirtschaft in Europa? Günter Verheugen wür-de auf diese Frage sofort mit einem kategori-schen »Nein« antworten. Als Vizepräsident derEU-Kommission darf der Rheinländer mitSPD-Parteibuch offiziell nur einer Dame die-nen: Europa. Mit verschmitztem Lächeln wür-de er aber sogleich hinzufügen, dass ein Indus-triekommissar wie er die Wettbewerbsfähigkeitder Gemeinschaft und so natürlich auch dasWohl der Deutschen im Blick habe.

Einfache Antworten gibt es in Brüssel ebenselten. Sicher ist jedenfalls, dass Verheugen alseinziger deutscher EU-Kommissar die nationa-le Liste des Who’s who in der EU-Hauptstadtanführt – dicht gefolgt von einem anderen, weitweniger öffentlich auftretenden Angestellten

der EU-Kommission. Klaus Regling, General-direktor für Währung und Finanzen, zuvorbeim Internationalen Währungsfonds und un-ter Theo Waigel im Finanzministerium, küm-mert sich um den Schutz des Stabilitätspaktes.Zu Hause schafft ihm das nicht nur Freunde.Das wird er spätestens im kommenden Januar,wenn Deutschland wieder mal ein blauer Briefwegen Verstoßes gegen den Pakt droht, erneutzu spüren bekommen. Nicht zuletzt weil ihndas bisher kaum beeindruckt, fällt sein Name,wenn es um die Besetzung anderer internatio-naler Spitzenjobs geht. Ansonsten sind dieDeutschen im Topmanagement der EU-Kom-mission eher unterrepräsentiert.

Parlament: AufsteigerAls Parlamentsneuling hat der Deutsche Ale-xander Alvaro seinen ersten großen Fight zwar verloren – aber Respekt auf allen Seitengewonnen. Eigentlich ist es gar nicht so leicht,unter den 99 Deutschen und den insgesamt732 EU-Abgeordneten aufzufallen. Der 30-jährige FDP-Politiker hat es dennoch geschafft.Er war Berichterstatter für die soeben be-schlossene Speicherung von E-Mail- und Tele-fondaten (mindestens sechs Monate, höchs-tens zwei Jahre dürfen Regierungen davon Ge-brauch machen). Alvaro erlebte, wie die Mehr-heit nicht seinem bürgernahen Text, sondernder machtverliebten Vorgabe der Regierungenfolgte. »450 Millionen EU-Bürger werden un-ter Generalverdacht gestellt«, klagt er. Und eineeinzigartige Allianz aus Telekom-Unterneh-men und Verlegerverbänden, Datenschützernwie Internet-Aktivisten sieht es genauso.

Als alter Hase im Hohen Haus gilt JoachimWuermeling. »Für Oberfranken in Europa«war der CSU-Abgeordnete seit 1999 aktiv – in

Sachen Verbraucherschutz, Rüstungsmärkteund Dienstleistungsrichtlinie. Anfang 2006 istdamit in Brüssel Schluss. Der Jurist wechselt alsStaatssekretär ins Wirtschaftsministerium un-ter Michael Glos, CSU. »Für Europa in Berlin«wäre jetzt die treffende Job-Beschreibung.

Beim Kampf um die Dienstleistungsricht-linie wurde die SPD-Abgeordnete Evelyn Geb-hardt zu Wuermelings Gegenspielerin. Nichtgenug Fairness zeige die zur Neutralität ver-pflichtete Berichterstatterin, klagten die Kon-servativen. Gewerkschaften und auch die inBrüssel gern gelesene liberale European Voicesahen es anders. Zudem reihte sie Gebhardtunter die fünf einflussreichsten EP-Abgeordne-ten ein. Richtig ist in jedem Fall: Die perfektzweisprachige Politikerin gehört zu den ganzwenigen, die zwischen zwei Nationen, in ihremFalle zwischen Frankreich und Deutschland,mühelos Brücken schlagen. Was ihr in der eige-nen Fraktion in Sachen Dienstleistungsricht-linie schon mal den Vorwurf einbringt, sie den-ke und rede wie eine Sozialistin à la française.

Denkfabriken: BegehrtDenken Briten schneller? Jedenfalls präsentie-ren sie ihre Gedanken offensichtlich mundge-rechter, denn die Brüsseler Think-Tank-Szenewird eindeutig von den Insulanern dominiert.Sie lassen im Wettbewerb um den schnellenRat, die interessante Idee oder die gut aufbe-reitete Studie ihre Konkurrenz meilenweit hin-ter sich. Paroli bietet ihnen bislang nur DanielGros, der als Leiter des Centre for EuropeanPolicy Studies eine bekannte Größe auf demBrüsseler Parkett ist – und Annette Heuser, diemit dem Geld der Bertelsmann Stiftung klugeStudien aus Gütersloh präsentiert und so man-ches europäisches Projekt befördert.

Lobby: UmsteigerZu neuen Ufern zog es im Jahr 2005 eine Spe-zies in besonders großer Zahl – Journalisten.Handelsblatt, Spiegel, Welt, Focus und FinancialTimes Deutschland verloren Korrespondenten,Deutsche Telekom, BASF, Dresdner Bank unddie Stadt Stuttgart gewannen Lobbyisten mitdickem Adressbuch hinzu. Der Wechsel hatfreilich seinen Preis: Wer als Journalist plau-dern konnte, wie ihm der Schnabel gewachsenist, muss sich als Lobbyist in Diskretion üben,darum hier auch keine Namen.

Einer darf jedoch erwähnt werden. HannsGlatz von DaimlerChrysler leitet einer Pro-gnos-Studie zufolge die »beste Unternehmens-vertretung« in Brüssel. Neben ihn rückte FlorianMüller, der die Software-Patentrichtlinie so er-folgreich beackerte, dass er von der EuropeanVoice zum Lobbyisten des Jahres gekürt wurde.

Eine besondere Art Lobbyisten gibt es nur inBrüssel: die Diplo-Lobby. Der deutsche Bot-schafter bei der EU heißt »Ständiger Vertreter«,und so stetig fällt sein Arbeitspensum dennauch aus. Er vertritt deutsche Interessen inDauersitzungen mit seinen 24 Kollegen, woums EU-Tagesgeschäft gehandelt wird wie aufeinem Basar. Wilhelm Schönfelder macht denJob so gut, dass Kanzlerin Angela Merkel ihnum ein weiteres Jahr Verlängerung gebeten hat– das Rentnerdasein kann ja warten, die deut-sche EU-Ratspräsidentschaft 2007 naht. Un-terstützt wird der Botschafter, pardon, der Stän-dige Vertreter von 160 Bundesbeamten. Mitdenen konkurrieren freilich gleich 250 Landes-vertreter – und alle zusammen ergeben im Na-men des Föderalismus mitunter ein ziemlichkakofonisches Konzert für europäische Ohren.Die deutsche Stimme? Immer ein Plural.

Lobbyismus ist in Brüssel übrigens dieWachstumsbranche. Und auch das weltgrößtePressezentrum – mit über tausend Journalisten– liegt in der EU-Hauptstadt. pin/van

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Der Mannesmann-Prozess muss neu geführtwerden, die Freisprüche des DüsseldorferLandgerichts vom Juli vergangenen Jahres

sind aufgehoben, der Bundesgerichtshof in Karls-ruhe hat es so gewollt. Sechs Angeklagte müssenalso noch einmal vor dem Kadi erscheinen. Dieprominentesten unter ihnen: Josef Ackermann, derVorstandschef der Deutschen Bank und zur Zeitder angeblichen Tat im Aufsichtsrat von Mannes-mann; dazu Klaus Zwickel, der Ex-Chef der IG-Metall, der ebenfalls im Kontrollgremium saß;dann Klaus Esser, der frühere Chef von Mannes-mann, und Joachim Funk, damals Mannesmann-Aufsichtsratschef. Ihnen wird vorgeworfen, im Jahr2000, als Mannesmann an den britischen Konkur-renten Vodafone verkauft wurde, Prämien und Ab-findungen von 57 Millionen Euro verteilt, respek-tive genommen zu haben. Funk soll sich ur-sprünglich sogar selbst eine Prämie genehmigt ha-ben. Untreue nennt das die Anklage.

Seit dem Karlsruher Richterspruch regt sich inder Debatte um Wirtschaftsethik, Geldgier vonManagern und Transparenz der Gehälter neues Le-ben. Es sind nicht nur die üblichen, schnellenRücktrittsforderungen. Es ist, obwohl es doch umMillionenprämien geht, auch mehr als eine vonsimplem Neid gefütterte Diskussion. Der von demKarlsruher Urteil angestoßene Diskurs handeltvielmehr von Verantwortung und Moral auch imökonomischen Treiben. Die gewiss berechtigteKapitalismuskritik sieht sich durch den Spruch derhöchsten deutschen Strafrichter ernst genommenund bestätigt.

Allzu große Hoffnungen werden allerdingsrasch enttäuscht sein, wenn klar wird, was dieseEntscheidung nicht leisten kann.

Erstens: Sie ist kein Schuldspruch. Wenn auchKlaus Tolksdorf, der Vorsitzende Richter des Drit-ten Strafsenats, den Angeklagten attestierte, die Prä-mien und Abfindungen seien nicht im Unterneh-mensinteresse geflossen, ihre Bewilligung also straf-bare Untreue, so kann doch das Düsseldorfer Land-gericht, das demnächst neu zu urteilen hat, zu an-deren Ergebnissen kommen; und der BGH könn-te, sollte er erneut angerufen werden, in anderer Be-setzung anders urteilen als vor einer Woche.

Zweitens: Die Freisprüche sind nicht aufgeho-ben worden, weil die fraglichen Summen so ab-norm hoch waren. Zwar sprach Tolksdorf von»beträchtlicher Höhe« und Vergütungen »imGrenzbereich«. Und zeigte damit, dass gesell-schaftliche Bewegung auch im juristischen Alltagzu spüren ist. Aber er machte auch unmissver-ständlich klar, dass dieselben Summen straflosblieben, wären sie vertraglich vereinbart. Das Ge-richt hat also der Versuchung widerstanden, indie Vertragsfreiheit einzugreifen, was, nebenbei,den Standort Deutschland stützt. GegenteiligeBehauptungen aus der Politik, wie sie etwa Bun-deskanzlerin Angela Merkel geäußert hatte, sindad absurdum geführt. Auch unter dem Aspekt,dass die Richter schließlich streng fordern, dass

Manager das Geld ihrer Aktionäre mit Bedachtbehandeln müssen.

Drittens: Niemand kann aus dem Urteil ablei-ten, es sei so etwas wie ein Präzedenzfall. Es isteindeutig eine Einzelfall-Entscheidung. Jedeneue Entscheidung in irgendeinem Unterneh-men müsste neu bewertet werden, im Zweifel vorGericht. Schon darum kann das Urteil in diesemangeblich größten deutschen Wirtschaftsprozesskeine nachhaltige Wirkung haben, wie immer esausfällt.

Es ist gut, dass die Karlsruher Richter sich jeg-lichen Populismus versagt haben. Sie haben sogarausdrücklich wissen lassen, hier solle nicht sozial-schädliches Verhalten bestraft werden; das wäreschließlich eine grundgesetzwidrige Aktion imSinne des gesunden Volksempfindens gewesen.Sie haben außerdem, wiederum ausdrücklich, nichtüber die Angemessenheit der Vergütungen geur-

teilt, wie es sich viele erhofft hatten. Derlei kannnicht Aufgabe eines Strafgerichts sein.

Aber mitreden, das kann auch ein Richter. KlausTolksdorf hat in seiner einstündigen Urteilsbe-gründung ein sehr plastisches Wort gefunden, dasdie politische, die gesellschaftliche Debatte berei-chern wird: Er hat den Managern vorgehalten, sieseien mit ihrer Macht übers fremde Geld nicht»Gutsherren«, sondern »Gutsverwalter«.

Anders gewendet bedeutet dies, dass, wenndie Eigentümer, also die Aktionäre, vorab zu-stimmen, alles möglich bleibt, also auch Prämienund Abfindungen in abenteuerlicher Höhe. Undso wird man denn allüberall bald finden, dass inden Managerverträgen Klauseln stecken, die das,was hier als Untreue aufscheint, legalisieren; in

den Fällen des so genannten changeof control (Eigentümerwechsels) istdas bereits gängige Praxis. Und sohätte denn auch eine rechtskräftigeBestrafung in der Sache Mannes-mann trotz allen Aufwands keineobligatorischen Folgen, keinen un-mittelbaren Einfluss darauf, wel-cher Moral sich künftig der gemei-ne deutsche Manager bedient.

Mittelbare Konsequenzen je-doch zeichnen sich ab. Schließlich sollen von2007 an alle Vorstände börsennotierter Aktien-gesellschaften ihre Bezüge offen legen, was mög-licherweise eine gewisse Selbstbescheidung nahelegt.

Das klingt gut, ist aber noch ein wenig halb-herzig. Öffentliche Unternehmen sind ausge-nommen, ausgerechnet. Und im Übrigen sind al-lein die fixen Anteile der Vergütungen wirklichtransparent; warum aber und wann flexible An-teile fließen, das bleibt offen.

Bezogen auf das Mannesmann-Verfahren lässtsich immerhin sagen: Dieser Prozess hat einenanderen, den politischen Prozess, in Bewegunggebracht. Die zweite Auflage wird frühestens imSommer 2006 beginnen und wird gewiss mehre-re Monate dauern.

Moral steht nicht im GesetzDer Mannesmann-Prozess wird neu aufgerollt. Doch Manager können auch künftig übermäßig viel kassieren Von Rainer Frenkel

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57 Millionen EuroPrämien und Abfindungen sollen die sechs Angeklagten

bei der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone

verteilt oder genommen haben. Für den Staatsanwalt ist

es Untreue – für das Volk ist es pure Gier

Page 27: Die Zeit 2006 01

»Wir hatten das Gefühl, dass Gott uns bat.« Familie McClure mit ihrem Adoptivkind Asa

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Nr. 1 S. 33 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

33 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005

Richter überdie WissenschaftEin Prozess um die christliche

Evolutionstheorie ist entschieden

Das Urteil im amerikanischen Prozess um dieLehre von der »Intelligenten Schöpfung« istberuhigend und beunruhigend zugleich. Be-ruhigend, weil es die Trennung von Staat undKirche schützt und Religion aus der Schulefern hält. Beunruhigend, weil der Richternicht nur entschieden hat, was Recht, sondernauch, was Wissenschaft ist.

Dem Richter lag die Frage vor, ob dieSchüler im Städtchen Dover (Pennsylvania)allein die Evolutionslehre lernen oder auchvon der alternativen Theorie der »Intelli-genten Schöpfung« hören sollen. So hattees der örtliche Schulausschuss durchgesetzt,vorgeblich, um neuen Zweifeln an der Evo-lutionslehre gerecht zu werden. Tatsächlich,schreibt der Richter im Urteil, »logen Mit-glieder des Schulausschusses« vor Gericht,um zu verbergen, dass es ihnen nicht umdie Freiheit der Wissenschaft ging. Vielmehrwollten sie den Schülern eine Variante derchristlichen Schöpfungslehre nahe bringen.Das sei »verfassungswidrig«, schreibt derRichter, der übrigens von Präsident GeorgeBush ernannt wurde. Er gibt damit derKlage von elf Eltern statt. Das Urteil wirdsofort rechtskräftig und dürfte Folgen ha-ben, weit über Dover hinaus. Es behindertalle Versuche religiöser Fundamentalisten,Einfluss auf die Curricula zu nehmen. Undes zeigt, dass der Säkularismus nicht in Ge-fahr ist, allem modischen Amerika-Alar-mismus zum Trotz. Die Vereinigten Staa-ten sind eben nicht auf dem Weg zumGottesstaat.

Der Richter geht im Urteil aber weit überden engen Bereich des Rechts hinaus. Umder Klage der Eltern stattzugeben, wäre dieEnttarnung der fundamentalistischen Scha-rade im Schulausschuss völlig ausreichendgewesen. Stattdessen bläst der Richter zumGeneralangriff auf die Lehre von der »Intelli-genten Gestaltung«. Er befindet, die Theorievon der »nicht reduzierbaren Komplexität«des Lebens, die auf einen »intelligentenSchöpfer« deute, sei »unlogisch«.

Das mag sein. Es gibt gute Gründe fürdiese Ansicht. Fragt sich bloß, ob Wissen-schaftlichkeit künftig durch Amtsleute inschwarzen Roben definiert werden soll. Was,wenn der Mann anders geurteilt hätte? Wiejener Kollege, der vor 80 Jahren im Scopes-Trial, dem berühmten »Affen-Prozess«, derEvolutionslehre die Wissenschaftlichkeit ab-sprach. Unter Richtern sind Kenntnisse überdie Naturwissenschaften Glückssache. Siesind allein ausgebildet und befugt, Recht zusprechen. THOMAS KLEINE-BROCKHOFF

WISSEN Gelähmt vor AngstPanikattacken und Phobien machen

Millionen Menschen das Leben schwer.Letzter Teil der Serie über die

heimlichen Volkskrankheiten Seite 36

Der LügenbaronHwang Woo-Suk hat gefälscht

Die Fallhöhe bestimmt die Aufschlagge-schwindigkeit. Dass dieses physikalische Ge-setz auch für wissenschaftliche Höhenflügegilt, muss die Zunft der Stammzellforscherjetzt auf brutale Art lernen. Ihr bis vor kurzemunangefochtener Star, der koreanische Klon-forscher Hwang Woo-Suk, ist abgestürzt.

Am vergangenen Freitag bescheinigte ei-ne Expertenkommission der Seoul NationalUniversity seiner Forschergruppe massivesFehlverhalten. Hwang hat nicht nur gelogenund getäuscht, er hat gefälscht. Seine spek-takulären Ergebnisse beim Klonen von elfmenschlichen Stammzellen – im Mai vomFachblatt Science mit großem Tamtam veröf-fentlicht – sind zum größten Teil frei erfun-den. Auch an der Echtheit der 2004 ebenfallsvon Science publizierten ersten Arbeit beste-hen nun Zweifel. Der angebliche Erfolg beimKlonen eines menschlichen Embryos hatteden Koreaner damals weltberühmt gemacht.

Als Forscher ist Professor Hwang erledigt.Er hat nicht nur die koreanische Wissenschaftin Mitleidenschaft gezogen, sondern das gan-ze Feld der Stammzellforschung. Die Heils-versprechungen des therapeutischen Klonensmüssen nun als Luftschlösser bezeichnet wer-den – so lange, bis ein anderes Forscherteameinen echten Klonerfolg landet.

Auch Science muss sich kritischen Fragenstellen: Prüfte die Zeitschrift die Qualität derPublikationen sorgfältig genug? Sollte sich he-rausstellen, dass wissenschaftliche Standardsvernachlässigt wurden, um eine vermeintlicheWeltsensation vor der Konkurrenz zu veröf-fentlichen – dann hätte die Wissenschaft einProblem. ULRICH BAHNSEN

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Als Randy und Julie McClure Asaadoptierten, lag er in minus 196Grad kaltem Stickstoff. Da war er nurein winziger Zellhaufen, einer vonden vielen so genannten Überzähli-

gen. Er lag im Kühlraum einer Klinik. Asas Em-bryo war bei einer Fertilitätsbehandlung entstan-den und wurde nicht mehr benötigt, nachdem sei-ne Mutter schon mit zwei seiner Geschwisterschwanger geworden war. Heute ist der Junge einJahr alt und quicklebendig.

Asas neue Eltern, die McClures aus Bellevue imUS-Bundesstaat Washington, wollten eigentlichkeinen Nachwuchs mehr; schließlich war das Ehe-paar schon in den Vierzigern und hatte bereits dreiKinder gezeugt, auf ganz natürlichem Weg. Vor al-lem aber verabscheuten die strenggläubigen Bap-tisten das Geschäft mit der (Un-)Fruchtbarkeit,weil die Ärzte dabei zu viele – und daher zumeisttodgeweihte – Embryos produzieren. Dann hör-ten die McClures von Snowflakes (Schneeflo-cken), einem Programm der christlichen AgenturNightlight im kalifornischen Fullerton, das dieAdoption der tiefgekühlten Embryos organisiert.»Wir hatten das Gefühl, dass Gott uns bat, einemdieser Kinder die Chance zum Leben zu geben«,erzählte Julie McClure später.

Zunächst hatten die beiden Zweifel. Was wäre,wenn ihre Adoption der FruchtbarkeitsindustrieAnreiz dazu geben würde, noch mehr Überzähli-ge zu erzeugen? Was, wenn sie zu einem Feigen-blatt für die Embryomacher würden? Doch einKirchenältester riet ihnen: »Wenn du Sklaven be-freien willst, musst du mit dem Sklavenhändlerverhandeln.« So ließ sich Julie mehrere der ver-waisten Embryos einpflanzen. Mit einem, Asa,wurde sie schwanger.

Die Adoption war für die McClures ein politi-scher Akt. Unterstützung bekamen sie von GeorgeW. Bush persönlich. Der Präsident lud sie undzwanzig weitere Adoptivfamilien in das WeißeHaus ein. Die Babys, mit denen der Präsident vorden Kameras posierte, trugen T-Shirts mit Auf-schriften wie »Ehemaliger Embryo« oder »DieserEmbryo wurde nicht vernichtet«. Das war öffent-lichkeitswirksam: Die Fotos mit den niedlichen»Snowflakes« – entstanden aus Embryos, so gefro-ren wie Schneeflocken – schafften es auf die Titel-seiten von New York Times und Washington Post.

Die Inszenierung hatte ihren Grund. Die Em-bryo-Adoption soll die Debatte um die umstritte-ne Forschung an embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) mit entscheiden. Deren Befürworter argu-mentieren, die dafür notwendige Zerstörung vonwenige Tage alten Embryos sei moralisch vertret-bar; denn diese überzähligen, im Rahmen der In-vitro-Fertilisation (IVF) entstandenen Zellhaufenseien ohnehin von niemandem gewollt und wür-den eines Tages zerstört. Da sei es doch besser, siein der Forschung zu verbrauchen und damit Zell-therapien für schwere Krankheiten wie Diabetes,Alzheimer oder Parkinson zu entwickeln.

Das sehen die Gegner, in den USA zumeist kon-servative Christen, anders. Auch wenigzellige Em-bryos seien Menschen und dürften keinesfallsgetötet werden. Im August 2001 beschränkte Bushdaher die öffentliche Förderung der ES-Forschungauf die Zelllinien, die zu dem Zeitpunkt bereits be-standen. Doch die Kräfteverhältnisse haben sichgewandelt: Ein neues Gesetz könnte bald ermögli-chen, auch mit Steuergeldern neue ES-Zellkultu-ren aus überzähligen Embryos zu gewinnen.

Rund 400 000 von ihnen lagern in den gut 400Fruchtbarkeitskliniken der USA. Über ihr Schick-

sal entscheiden letztlich die Paare, denen sie gehö-ren. Im Jahr 2002 führten die gemeinnützigeRand-Stiftung und die Amerikanische Gesell-schaft für Reproduktionsmedizin (ASRM), derDachverband der US-Fertilitätsärzte, eine Umfra-ge durch. Knapp drei Prozent der Eltern waren be-reit, ihre überzähligen Embryos der Forschung zustiften. Macht 11 000 Embryos.

Und das Heer der Tiefgekühlten wächst täglich.Während das deutsche Embryonenschutzgesetzverbietet, mehr Eizellen zu befruchten, als in denUterus übertragen werden, erzeugen die ameri-kanischen Mediziner bei den meisten IVF-Be-handlungen einen Überschuss. »Damit erreichenwir eine höhere Schwangerschaftsrate«, sagt JacobMayer, Reproduktionsmediziner an der EasternVirginia Medical School in Norfolk.

Etwa zwölf Eier können einer Frau während ei-nes Zyklus entnommen werden; davon entwickelnsich nach der Befruchtung im Labor im Durch-schnitt sechs bis acht zu Embryos. »Wir raten dazu,der Patientin nur zwei bis drei zu übertragen, umdas Risiko von Mehrlingen zu mindern«, sagt May-er. Der Clou dabei: Nur die »besten« Embryos wer-den verwendet – solche, die aufgrund morpholo-gischer Merkmale und ihrer Entwicklung die besteChance haben, sich im Uterus einzunisten. DerRest wird eingefroren. Die Patientin kann daraufzurückgreifen, wenn sie doch nicht schwangerwird, und muss sich nicht einer weiteren belasten-den Eientnahme unterziehen.

Eine leidenschaftliche Kampagne der Lobbyis-ten um Nancy Reagan, die Frau des an Alzheimererkrankten und mittlerweile verstorbenen Expräsi-denten, hatte die neue Gesetzesvorlage auf die Ta-gesordnung gebracht, mit der die Forschung antiefgekühlten Embryos erlaubt werden soll. DerHintergrund: Von den 2001 bestehenden 78 ES-Zelllinien gelten nur noch 22 als verwendbar, neuewerden also benötigt. Das Repräsentantenhauswinkte den Gesetzesentwurf im Mai 2005 durch.Allerdings muss die Regelung noch den Senat pas-sieren. Die Abstimmung ist für Anfang des nächs-ten Jahres geplant. Obwohl Präsident Bush bereitsmit Veto drohte, ist der republikanische Mehr-heitsführer im Senat, der Herzchirurg Bill Frist, un-längst auf die Seite der Befürworter gewechselt.

Dagegen rüstet die christliche Rechte seit einigerZeit auf: 2002 beschloss der Kongress, Gelder fürInformationskampagnen zur Embryo-Adoptionzur Verfügung zu stellen. Insgesamt zwei Millio-nen Dollar verteilt das U. S. Department ofHealth and Human Services seitdem an verschie-dene Organisationen, auch an Nightlight. DieBotschaft ist klar: Seht her, aus den als Abfall de-klarierten Embryos können doch Babys werden.Wie kann man sie für die Forschung töten?

Reproduktionsmediziner befremdet, dass indem Zusammenhang überhaupt von »töten« ge-sprochen wird. ASRM-Sprecherin Eleanor Nicollmoniert den Gebrauch von Begriffen, mit denenEmbryos lebendigen Wesen gleichgesetzt werden:»Adoption hört sich angenehm an, aber das kannsich nur auf eine Person beziehen, die existiert – wasbei Embryos nicht der Fall ist.«

Gerade darum geht es aber den Betreibern derAgentur Nightlight. »Wir behandeln Embryos alswertvolle vorgeburtliche Kinder«, heißt es auf derInternet-Seite. Durch das Snowflakes-Programm– die Schneeflocken sind übrigens ein eingetra-genes Warenzeichen – sind seit seiner Gründung1997 schon aus 81 tiefgefrorenen Embryos Babysvon Adoptivmüttern geworden; weitere Geburtenstehen an. Das Vorgehen unterscheidet sich ganz

DerSohn, der ausder Kältekam In den USA adoptieren Familien diegefrorenen Embryos anderer Paare.Die christliche Rechte machtdamit Politik gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen Von Elke Binder

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In diesen Phiolen ruhen tiefgekühlte Embryos und warten auf künftige Eltern

gezielt nicht von einer traditionellen Adoption.Die Eltern können die Empfänger ihres Nach-wuchses auswählen, etwa nach Alter, ethnischerHerkunft, Status oder Religion. Auch das adoptie-rende Paar kann Wünsche äußern. Die meistenSpender wie Empfänger sind weiß und christlich.

Nach der Wahl werden die Embryos per Postverschickt. Dreizehn kamen in der Kühlbox für dieMcClures nach Bellevue. Die genetischen Eltern,Bob und Angie Deacon aus Virginia, hatten sicheine Familie wie die McClures gewünscht – kon-servative Christen mit einer Mutter, die zu Hausebei den Kindern bleibt. Doch die meisten Schnee-flocken der Deacons starben, als sie in der nahe ge-legenen Klinik aufgetaut wurden. Auch die ersteImplantation verlief erfolglos. Erst mit Asa, demletzten Embryo, wurde Julie McClure schwanger.

Es gibt mehrere Organisationen wie Nightlight.Nicht allen geht es um Politik. Das von der Verei-nigung christlicher Ärzte gegründete National Em-bryo Donation Center in Tennessee oder das In-ternet-Portal MiraclesWaiting.org etwa wollen inerster Linie unfruchtbaren Paaren zu Nachwuchsverhelfen. Die Verwendung überzähliger Embryoshat einige Vorteile: Sie ist mit etwa 8000 Dollar bil-liger als eine IVF, die im Durchschnitt 12 000Dollar kostet. Im Gegensatz zur herkömmlichenAdoption mit Wartezeiten von mehreren Jahrensind es bei Embryos nur Monate. Und die Adop-tierenden können die Schwangerschaft selbst erle-ben – für viele ein Teil des Elternglücks.

Experten verweisen allerdings auf Probleme,die dieses Glück später stören könnten. »EinigePaare, die ihre Embryos spenden wollen, schreckendavor zurück, wenn ich sie über die möglichen Fol-gen aufkläre«, sagt Linda Applegarth, Psychologinam Zentrum für Reproduktionsmedizin der NewYorker Cornell-Universität. Die Verhältnisse sindkomplizierter als bei einer normalen Adoption.Asa McClure etwa hat zwei Schwestern, Ely undHannah, die aber, obwohl zum selben Zeitpunktwie er gezeugt, vier Jahre älter sind. Wird sich Asanicht irgendwann fragen, warum gerade er einge-froren wurde – und nicht bei den leiblichen Elternaufwachsen durfte?

Ein weiteres Problem: Zwar haben Embryoszurzeit noch keinen Preis, denn die Agenturendecken mit den Gebühren lediglich ihre Unkos-ten. Doch im Prinzip ist eine Bezahlung an Elternoder Kliniken nicht gesetzlich verboten; einerKommerzialisierung sind Tür und Tor geöffnet.

Bislang wird der große Teil der gefrorenen Em-bryos – laut einer Studie 88 Prozent – für »späte-re eigene Verwendung« aufbewahrt. Im Klartextheißt das wohl: Die Eltern, mittlerweile mit demersehnten Kinderglück gesegnet, drücken sich voreiner unangenehmen Entscheidung. Nur gut zweiProzent wählen – statt Spenden für die Forschung,Freigabe zur Adoption oder Aufbewahren – dievierte Option: Zerstören.

Am Ende haben die Gegner der ES-Zellfor-schung ein eindrucksvolles Argument auf ihrerSeite: Kinder wie Asa. Der Junge ist zwar nur einÜberlebender von 13 Tiefgekühlten, aber aus die-sem einen ist zweifellos ein Mensch geworden.Kein Arzt hätte vorher sagen können, aus welchemder Embryos sich ein Baby entwickeln würde.

Aber auch den Befürwortern der Embryonen-forschung bleibt ein kräftiges Argument, die Prag-matik. Denn trotz aller Schneeflocken-Program-me ist eines gewiss: Für alle 400 000 Tiefgekühl-ten werden sich kaum Adoptiveltern finden lassen.

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Nr. 1 S. 34 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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DIE ZEIT: Gibt es in der wirklichen Welt etwasUnendliches?John Barrow: Traditionell unterscheidet man zweiSorten von Unendlichkeit: die Unendlichkeit imsehr Kleinen und die im sehr Großen. Seit Aristo-teles unterscheidet man zudem zwischen der po-tenziellen Unendlichkeit und der aktualen Un-endlichkeit. Mit der potenziellen konnte Aristote-les gut leben. Bei der gibt es eine lange Folge, dieniemals aufhört. Etwa die positiven Zahlen 1, 2,3, 4, 5 und so weiter. »Für immer«, sagen wir undwissen, dass wir immer 1 addieren können und niezu einem Ende kommen. Ähnlich ist es in derAstronomie. Im Moment spricht alles dafür, dassdas Universum unendlich groß ist.ZEIT: Ist das nicht auch potenziell?Barrow: Ja, denn das sind Unendlichkeiten, dieeinem nie real begegnen. Viel ungewöhnlicher istdie Idee einer aktualen Unendlichkeit. Ob alsoeine physikalisch messbare Größe zu einem be-stimmten Zeitpunkt und an einem bestimmtenOrt einen unendlichen Wert annimmt. Und dasist eine umstrittene und heftig diskutierte Frage.ZEIT: Gibt es diese aktualen Unendlichkeiten nunirgendwo im Universum?Barrow: In den meisten Bereichen der Wissen-schaft sind die Forscher nicht gerade glücklich,wenn in ihren Theorien und Voraussagen solcheaktualen Unendlichkeiten auftauchen. In der Ae-rodynamik zum Beispiel: Wenn man dort aus-rechnet, dass sich ein Luftstrom unendlichschnell verändert, dann schließt man daraus, dassman die falsche Mathematik gewählt hat, um diePhysik dieses Luftstroms zu berechnen.ZEIT: Es heißt ja, die Natur mache keine Sprünge.Barrow: Genau – jedenfalls keine unendlichen!Wenn man eine Peitsche knallen lässt, dann gibtes einen Überschallknall, das Ende der Peitschebewegt sich schneller als der Schall. Wenn mandas einfach mathematisch beschreibt, dann be-kommt man eine unendlich große Geschwin-digkeitsänderung zum Zeitpunkt des Knalls.Aber wenn man die Luftreibung berücksichtigt,dann glättet das diese Unendlichkeit, und manbekommt nur eine sehr schnelle Änderung. Inder Teilchenphysik hat sich die revolutionäreString-Theorie auch deshalb durchgesetzt, weilMichael Green und John Schwartz in den frühenachtziger Jahren zeigen konnten, dass diese Theo-rie endlich ist. Alle vorhergehenden Theorien ha-ben immer unendliche Antworten auf alle mög-lichen Fragen nach beobachtbaren Größen gelie-fert.ZEIT: Betrachtet man das Universum ganz naiv,dann gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass essich nicht unendlich in die Vergangenheit, die Zu-kunft und auch den Raum erstreckt. Oder dassman die Materie immer weiter teilen kann …Barrow: Das war schon bei den alten Griecheneine kontrovers diskutierte Frage. Die Atomistenglaubten, es gebe kleinste Teile der Materie. Dieganze Materie sei aus diesen Elementarteilchenaufgebaut. ZEIT: Aber das war ein rein philosophischer Streit.Barrow: Die Frage nach der Unendlichkeit desUniversums war sehr kompliziert, sie war ver-knüpft mit der Frage, ob es einen leeren Raum,ein Vakuum, geben könne. Aristoteles glaubte,dass sich die Dinge in einem perfekten Vakuummit unendlicher Geschwindigkeit bewegen wür-den. Für ihn war die Existenz eines perfekten Va-

kuums verknüpft mit der Frage nach einer tat-sächlich existierenden Unendlichkeit.ZEIT: Beim Gedanken an ein endliches Univer-sum fragte man sich immer, was denn wohl au-ßerhalb davon wäre.Barrow: Die Vorstellung eines endlichen Univer-sums war für mich immer sehr seltsam. Im 4. vor-christlichen Jahrhundert formulierte der Soldatund Philosoph Archytas von Tarent folgendes Pa-radox: Wenn das Universum endlich ist, muss eseinen Rand geben. Und wenn man kurz vor die-sem Rand steht und einen Speer wirft – was wür-de mit dem passieren, wenn er über den Randhinausfliegt? Er glaubte wirklich, ein endlichesUniversum müsse einen Rand haben.ZEIT: Dann haben sich Physik und Naturwissen-schaften weiterentwickelt, und man entdeckteplötzlich viele Endlichkeiten: die Theorie vom BigBang, nach der das Universum ein endliches Alterhat, die Elementarteilchen. Das hat die Unend-lichkeit aus dem Blickfeld verdrängt.Barrow: Andererseits ist der Big Bang ein interes-santes Beispiel, bei dem man tatsächlich aktualeUnendlichkeiten findet. Die Expertenmeinungdarüber ist geteilt: Es gibt Kosmologen, die mitphysikalischen Unendlichkeiten gut leben kön-nen, etwa einer aktualen Unendlichkeit am An-fang des Universums – wenn es einen solchen An-fang gab. Andere nehmen den Gegenstandpunktein und sagen: Das ist nur eine Vorhersage vonEinsteins Relativitätstheorie, und wenn man einebessere Theorie hat, etwa die String-Theorie,dann verschwinden diese Unendlichkeiten.ZEIT: Wie sieht es bei einem Schwarzen Loch aus?Barrow: Auch im Zentrum eines SchwarzenLochs passiert Ungewöhnliches, eine Art umge-kehrter Big Bang. Diese Singularität im Zentrumist ein unendlich dichter Punkt. Er kann keineWirkung auf die Außenwelt ausüben, wegen desHorizonts des Schwarzen Lochs. Signale könnennicht nach draußen und uns beeinflussen.ZEIT: Wäre das die »kosmische Zensur«?Barrow: Ja. Wenn im Universum eine unendlicheSingularität entsteht, dann ist sie immer durch ei-nen solchen Horizont abgeschirmt. Es könnenkeine Informationen herauskommen und dieAußenwelt beeinflussen, es gibt keine so genann-ten »nackten« Singularitäten. Das ist also wiederso eine Situation, wo eine Unendlichkeit im Uni-versum existieren könnte – aber selbst wenn es siegibt, dann verhindert eine Art Verschwörung derNatur, dass wir sie je zu Gesicht bekommen und,noch wichtiger, dass sie einen Einfluss auf uns hat.Das erinnert mich ein wenig an die mittelalterli-chen Philosophen. Sie wollten die Existenz einesreinen Vakuums in der Natur dadurch verhin-dern, dass sie einen mysteriösen »himmlischenAgenten« auf den Plan riefen.ZEIT: Wäre dann die Frage wieder rein philoso-phisch – man kann das eine oder das andere glau-ben, ohne es experimentell beweisen oder wider-legen zu können?Barrow: Ein sehr kleines Schwarzes Loch, etwaso groß wie ein Berg, das in der Anfangszeit desUniversums entstanden ist, wäre heute im letz-ten Stadium seines Verdampfens und würde ex-plodieren. Das könnten wir beobachten, in Formvon Gamma-Blitzen. Würden wir so etwas je be-obachten, könnten wir auch sehen, was nach derExplosion übrig bleibt. Und eine Möglichkeitwäre, dass dort eine wirkliche Singularität ist.

Oder aber auch nur ein kleines, totes Objekt oderauch überhaupt nichts. Es wäre also prinzipiellmöglich, das letzte Stadium dieses singulären Er-eignisses zu beobachten. Eine physikalische Un-endlichkeit, die wir bisher nur mathematisch be-schreiben können.ZEIT: In der Schule wird uns Unendlichkeit im-mer ganz selbstverständlich präsentiert – es gibthalt unendlich viele Primzahlen, unendliche Fol-gen mit Grenzwerten und so weiter. Dabei wirdunterschlagen, dass Unendlichkeit einmal einesehr umstrittene Sache war.Barrow: Normale Menschen verstehen unter»Unendlich« so etwas wie eine sehr, sehr großeZahl. Aber Unendlich ist nicht wie irgendeineendliche Zahl, sei sie auch noch so groß. Das sogenannte Hilbert-Hotel ist ein schönes Beispieldafür. Dieses Hotel hat unendlich viele Zimmer,die nacheinander mit 1, 2, 3, 4 und so weiternummeriert sind. Und selbst wenn es voll ist,kann man immer noch ein freies Zimmer finden.Man quartiert die Person von Zimmer 1 in Zim-mer 2 um, die von Zimmer 2 in Zimmer 3 undso weiter – dann ist Zimmer 1 frei. Bei einemendlichen Hotel geht das nicht – wenn es voll ist,ist es voll.ZEIT: Sie haben einen Artikel geschrieben mitdem Titel Wie man schon vor dem Frühstück un-endlich viele Dinge tun kann. Was darf man sichdarunter vorstellen?Barrow: Das geht zurück auf das Paradox vonZeno und die Frage, ob man in endlicher Zeit un-endlich viele Dinge tun kann – man nennt das ei-nen supertask. Wenn Sie durch Ihr Büro gehen,müssen Sie erst das halbe Zimmer durchquerenund dann die Hälfte der restlichen Hälfte und soweiter – eine unendliche Zahl von Handlungen?

Im 20. Jahrhundert übertrug der deutsche Ma-thematiker Hermann Weyl dieses logische Para-dox auf die Physik: Kann man eine Maschine bau-en, die etwas in einer halben Minute tut, dasNächste in einer Viertelminute und so weiter, so-dass sie nach einer Minute unendlich viele Dingegetan hat? Die Leute versuchten zu zeigen, dass dasin einer idealisierten physikalischen Welt möglichoder unmöglich war. In meinem Artikel konstru-iere ich ein physikalisches System aus vier Teilchenund zeige, dass es in der Newtonschen Physik tat-sächlich möglich ist, unendlich viele Dinge in end-licher Zeit zu tun – auch wenn die Ausgangsbe-dingungen extrem unrealistisch sind.ZEIT: Aber das Beispiel verletzt die Gesetze vonEinsteins Relativitätstheorie.Barrow: Stimmt.ZEIT: Ist das nicht immer so mit diesen geschicktkonstruierten Beispielen – am Ende hat die Sa-che irgendeinen Haken, der ihre Realisierungverhindert?Barrow: Nach den Gesetzen der Relativitäts-theorie gibt es immerhin »schwache« supertasks –man sieht, wie unendlich viele Dinge in einemanderen Bezugssystem geschehen, aber mankann darauf nicht einwirken. Die wirkliche Fra-ge ist: Könnten Sie zum Beispiel Ihren Laptopauf eine Reise ins All schicken – und wenn er aufdie Erde zurückkehrt, hat er unendlich vieleRechnungen durchgeführt?ZEIT: Die Antwort lautet Nein, oder?Barrow: Nun, sie lautet: Die allgemeine Relati-vitätstheorie sagt Ja, es gibt Lösungen der Ein-steinschen Gleichungen, für die das möglich ist,so wie es auch Lösungen gibt, nach denen Zeit-reisen möglich sind. Die Frage ist, ob diese Lö-sungen physikalisch realistisch sind. Sie sehen invielerlei Hinsicht unrealistisch oder auch uner-wünscht aus. Eine davon ist der so genannteAnti-de-Sitter-Raum, ADS. Und der fünfdimen-sionale ADS ist im Wesentlichen die Lösung zuden Gleichungen der String-Theorie. Das ist in-teressant. Man kann diese Dinge nach den Ge-setzen der Relativität also zumindest nicht sofortausschließen. Es ist auch möglich, dass die Quan-tentheorie im Weg steht. Dass eine Rechnung,die eine bestimmte Geschwindigkeit übersteigt,unter die Unschärferelation fällt und das Ergeb-nis nicht aufzulösen ist. Ich glaube, man kann inendlicher Zeit nicht unendlich viele Dinge tun.Aber einen Beweis dafür gibt es bisher nicht.ZEIT: Sie haben auch ein Schauspiel mit dem TitelInfinitiesgeschrieben, das in Italien erfolgreich auf-geführt wurde. In dem Stück kommen Menschenvor, die unendlich lange leben. Und Sie stellen dasals eine recht langweilige Vorstellung hin. Aber Siehätten nichts dagegen, sehr lange zu leben?Barrow: Das kommt drauf an, was man unter »le-ben« versteht. Denken Sie an die Geschichte vondem Menschen, der die Götter um ewiges Lebenbat, aber vergaß, auch um ewige Jugend zu bit-ten! Und ich denke immer an den Ausspruch vonWoody Allen: »Ich möchte nicht in den Herzenmeiner Landsleute weiterleben. Ich möchte inmeiner Wohnung weiterleben.«

DIE FRAGEN STELLTE CHRISTOPH DRÖSSER

John Barrows Buch »Einmal Unendlichkeit und zurück«erscheint im März 2006 im Campus-Verlag (24,90 Euro). Von Christoph Drösser gibt es ein Kinderbuch mit dem Titel»Wie groß ist Unendlich?« (rororo rotfuchs, 6,90 Euro).

Ein Einwanderer aus dem Pazifik breitet sich imnorddeutschen Wattenmeer aus. In Aquakulturender Nordsee wird die Pazifische Auster bereits seitden sechziger Jahren gezüchtet. Inzwischen ist derexotische Gast allerdings aus der Gefangenschaftentwischt. Trotz des kalten Wassers fühlt er sich sowohl, dass er sich nun ohne Fressfeinde unkon-trolliert vermehrt, berichtet eine WWF-Studie.Der Neuling bringt nun die einheimische Tierweltdurcheinander: Seevögel weichen Austernbänkenaus, und Miesmuscheln wachsen nicht so schnellwie ihre Konkurrenz. Außerdem bilden die Aus-tern im Watt riffartige Strukturen. Diese könntenzu einem neuen Habitat für weitere Einwandererwerden, befürchtet der WWF.

Scheinbar leichte Aufgaben wie Autofahren oderHaarekämmen belasten das Schultergelenk stärkerals etwa das Schleppen schwerer Getränkekästen.Erstmals maßen Biomechaniker der Berliner Cha-rité die Kräfte im Gelenk exakt, indem sie dieSchulterprothese eines Arthrose-Patienten mit ei-nem Mikrosensor ausstatteten. Das Implantatkann sowohl Drehmomente als auch Kräfte regis-trieren und nach außen funken. Ein zehn Kiloschwerer Einkaufskorb belastet das Gelenk mitzehn Prozent des Körpergewichts des Patienten,bei einer schwergängigen Autolenkung dagegenkönnen es bis zu 130 Prozent sein.

Uranus hat mehr Begleiter als angenommen. WieBilder des Weltraumteleskops Hubble zeigen, wirder von zwei zusätzlichen Monden umkreist undzählt zwei weitere Ringe. Diese seien so weit vomPlaneten entfernt, dass sie als ein neues Ringsystemgelten könnten, schreiben Mark Showalter vomSETI-Institute und der Nasa-Wissenschaftler JackLissauer (Science, Online-Ausgabe). Auf den Bil-dern von Voyager 2 hatte man die blassen Ringeund die kleinen Monde zunächst übersehen.

Wer Silvester auf seine Kosten kommen will, soll-te sich Alkohol in dicken Bechergläsern ausschen-ken lassen. Sowohl Laien als auch professionelleBarkeeper schenken jenen Gästen bis zu 30 Pro-zent weniger ein, die ihnen ein langes, schmalesGlas entgegen halten – auch wenn sie meinen, alleGäste gleich zu bedienen (British Medical Journal,Bd. 331, S. 1512).

" ERFORSCHT UND ERFUNDEN

Ist es verfassungsrechtlich richtig, dass der Bundes-tagspräsident – wie neulich anlässlich der Wahl vonNorbert Lammert zu lesen war – der zweite Mann imStaate ist? VOLKER MORSTADT,FREIBURG I.BR.

Der erste Mann im Staat (und irgendwann einmalvielleicht die erste Frau) ist der Bundespräsident, dagibt es keine verfassungsmäßigen Zweifel. Die Ver-fassung regelt auch, was passiert, wenn das Staats-oberhaupt mal nicht kann. »Die Befugnisse desBundespräsidenten werden im Falle seiner Verhin-derung … durch den Präsidenten des Bundesrateswahrgenommen«, sagt der Artikel 57 des Grundge-setzes. Als die Bundesrepublik gegründet wurde,waren die Länder sehr auf ihre Eigenständigkeit be-dacht, und diese Regelung trägt dem Rechnung.

Ist der Bundesratspräsident (im Moment: PeterHarry Carstensen aus Schleswig-Holstein) deshalbder zweite Mann im Staate? Nein – er nicht undauch sonst niemand. Das Amt gibt es nicht. Dassagt auch die Informationsseite des Innenministe-riums über »Protokollarische Rangfragen«: Es gebein Deutschland »keine offizielle Rangliste, welchedie innerstaatliche Rangordnung verbindlich fest-legt«. Es existiert nur eine »Staatspraxis«, die vor al-lem Anwendung findet, wenn ein Festredner dieAnwesenden in der richtigen Reihenfolge be-grüßen will. Auf dieser Liste steht hinter dem Bun-despräsidenten der Parlamentspräsident tatsäch-lich auf Platz zwei, es folgen die Bundeskanzlerin,der Bundesratspräsident und der Präsident desBundesverfassungsgerichts.

Weil das alles nicht gesetzlich festgelegt ist, hatder Festredner oder Platzanweiser auch eine gewisseFreiheit bei der Auslegung der Rangordnung, etwawenn er noch ausländische Gäste oder andere Ho-noratioren unterzubringen hat. »Flexibilität, Augen-maß, Takt – und nicht Schematismus oder Prinzipi-enreiterei – sind gefragt«, schreibt das Innenministe-rium. Christoph Drösser

Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen:DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected] »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts

Audio a www.zeit.de/audio

Der zweite Mann" STIMMT’S? Hat das Universum einen Rand?

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In der Schule lernen wir, mit dem Begriff »Un-endlichkeit« umzugehen – es gibt unendlichviele Zahlen, und der Raum ist grenzenlos. Aberhat diese theoretische Unendlichkeit eine Ent-sprechung in der Wirklichkeit? In seinem neuenBuch »Einmal Unendlichkeit und zurück« zeigtJohn Barrow, dass diese Idee die Denker seitJahrtausenden beschäftigt,und entführt die Le-ser in eine Welt voller Paradoxien.

... und seine IdeeJohn Barrow ist ein Multitalent:Der 53-Jährige istProfessor für Mathematik und theoretische Phy-sik an der englischen Universität Cambridge undleitet das Millennium Mathematics Project, dasden Mathematik-Unterricht an Schulen fördernsoll. Außerdem hat der Vielschreiber (seine Publi-kationsliste umfasst weit über 300 Titel) 16Bücher geschrieben,die in 30 Sprachen übersetztwurden. Darin widmet er sich mit Vorliebe Fra-

gen, die die Grenzen unserer Vorstellungskraftausloten.Vor der Unendlichkeit hat er sich vor al-lem mit den Theorien vom Ursprung des Univer-sums befasst, etwa mit der Frage, ob neben un-serem Weltall noch eine Vielzahl von Paralleluni-versen entstanden ist.Auch in der fiktionalen Literatur hat Barrow sichversucht: Sein Theaterstück »Infinities« gewann2002 in Italien den Theaterpreis Premi Ubu.

Der Mensch ...

Die Unendlichkeit ist für vieleMenschen unfassbar. Der Kosmologe und Erfolgsautor

JOHN BARROWhat damit keine Schwierigkeiten.Ein Gespräch über den Urknall, dasRechnen mit der Grenzenlosigkeitund den Schrecken ewigen Lebens

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Page 29: Die Zeit 2006 01

Der alte Herr kam zu Fuß und mel-dete sich im Hauptgebäude derUniversität beim Pförtner. Er habeviel Gutes von der TU München

gehört, sagte der Unbekannte, nun wolle er et-was spenden. Wo könne er dies tun? Der Pfört-ner reagierte geistesgegenwärtig und führte denSponsor direkt zum Präsidenten der Univer-sität. Kurze Zeit später war die TU Münchenum einen Millionenbetrag reicher.

So einfach gelingt es Arnulf Melzer selten, zuGeld zu kommen. Seit 1999 werben er und sei-ne fünf Kollegen aus der Fundraisingabteilungder TU München für ihre Hochschule umSpenden. Mehr als 100 Millionen Euro sindseitdem zusammengekommen.

Mit ihrem Erfolg und Engagement stehen dieMünchner Geldsammler in der deutschenHochschullandschaft nahezu einzigartig da. Wiegroß der Abstand zu fast allen anderen Hoch-schulen ist, dokumentiert die erste Studie zumHochschulfundraising in Deutschland, welcheDIE ZEIT gemeinsam mit dem Centrum fürHochschulentwicklung (CHE) und dem Deut-schen Fundraising Verband erstellt hat. 65 Hoch-schulen beteiligten sich an der Umfrage und ga-ben Auskunft über sämtliche Aktivitäten inner-halb eines Jahres (2003). Demnach ● haben die Universitäten im Schnitt geradeeinmal anderthalb Millionen Euro pro Jahr ausprivater Hand eingenommen, die Fachhoch-schulen 91 000 Euro. ● verfügen lediglich dreizehn Universitätenüber mindestens eine volle Stelle zum Spen-densammeln, rund die Hälfte der Hochschulenüber gar keine. ● können nur acht Hochschulen vom finanzi-ellen Wohlwollen ihrer Alumni profitieren.Und nur bei drei beträgt die Gabe der Ehema-ligen mehr als 10 Prozent vom Gesamtspenden-aufkommen.

Ein professionelles Fundraising braucht Fach-wissen, Geld und Leidenschaft. An deutschenUniversitäten fehlt – bis auf wenige Ausnahmen– alles. Zwar haben deutsche Hochschulen mitt-lerweile begriffen, dass sie sich auf die Überwei-sungen aus der Staatsschatulle nicht mehr verlas-sen können. Schon seit Jahren verkünden Uni-versitätspräsidenten, dass sich die Wissenschaftneue Geldquellen erschließen muss (ZEIT Nr.43/01). Aber mit Ausnahme von München istseitdem in Deutschland nur wenig passiert.

Studenten leihen ihre Bücher in der »Volkswagen-Bibliothek« aus

Wie zögerlich und laienhaft hiesige Hochschu-len das Bildungsbetteln betreiben, zeigt nicht al-lein der Blick in die USA. Dort flossen den Col-leges und Universitäten aus privater Hand alleinim vergangenen Jahr 24 Milliarden Dollar zu(siehe Kasten). Auch im Vergleich mit Englandoder Skandinavien »sind deutsche Universitätenweit zurück«, sagt Marita Haibach von der Bera-tungsfirma Brakeley, die derzeitige Präsidentinder European Fundraising Association.

Zwar können auch hiesige Hochschulen auferste Erfolge beim Werben um Sponsoren undSpender verweisen. Die Studenten der TU Ber-lin leihen sich ihre Bücher in der »Volkswagen-Bibliothek« aus, während Professoren am»Deutsche Telekom Innovation Center« for-schen. Die Humboldt-Universität hat für ihrNaturkundemuseum mehr als 2000 Paten ge-funden, die Hamburger Universität eine nochgrößere Zahl von Spendern für Bücher undStühle.

Doch verlässliche Erträge aus dem Fundrai-sing können bislang nur zwei staatliche Hoch-schulen vorweisen: die TU München und dieUniversität Mannheim. In der ZEIT-Umfrageschafften sie neben Heidelberg als Einzige denSprung über die Fünf-Millionen-Marke bei denSpendeneinnahmen.

Sechs Geldsammler, mehr als jede anderestaatliche Hochschule, beschäftigt die TU Mün-chen. Zwei von ihnen sind nur für die Verwaltungdes eingeworbenen Geldes und die Betreuung derGroßspender zuständig. Sie schicken den Gön-nern Grüße und Geschenke zu Weihnachten, Ge-burtstag und silberner Hochzeit oder laden sie zuexklusiven Veranstaltungen mit Topwissenschaft-lern ein. Besonders verdiente Mäzene könnenauch auf Ehrenposten hoffen. So darf sich einStifter, der sein Geld im Baugeschäft verdiente,nun Ehrensenator nennen. In Heidelberg sitzt ei-ner der Hauptsponsoren der Universität, der Auf-sichtsratsvorsitzende des FinanzdienstleistersMLP, im Hochschulrat. Und stiftet ein Mäzen ei-nen Lehrstuhl, darf er in München bei der Aus-wahl des neuen Professors dabeisitzen, »selbstver-ständlich, ohne Einfluss auf die Entscheidung zu

nehmen«, versichert Fundraisingchef ArnulfMelzer.

Fairerweise muss man sagen, dass es die TUMünchen bei der Spendenakquise leichter hat alsandere Hochschulen. In Rankings steht sie an derSpitze, ihre technische Ausrichtung ebnet ihr denWeg in die Vorstandsetagen vieler Unternehmen.Melzers größter Trumpf ist allerdings TU-Präsi-dent Wolfgang Herrmann, der sich als obersterSpendenschnüffler seiner Universität versteht.»Herrmann denkt sich heute ein Projekt aus,trifft morgen eine Person, die als Spender infra-ge kommt, und schiebt mir übermorgen einenZettel mit der Botschaft rüber: ›Arnold, weiter-behandeln‹«, schwärmt Melzer.

»Fundraising ist Chefsache«, sagt auch derehemalige Präsident der Hochschulrektorenkon-ferenz Klaus Landfried. »Doch die wenigstenPräsidenten nehmen das wahr.« Gerade wenn einSpendensucher eingestellt worden ist, glaubenviele Hochschulleitungen, das Thema vom Halszu haben. Das Gegenteil sei richtig, sagt MaritaHaibach: »Gute Fundraiser machen ihrem Präsi-denten Arbeit.«

Wer Bill Clinton hören will, zahlt50 000 Dollar für einen Tisch

In den USA ist es normal, dass ein Unirektormehr als die Hälfte seiner Zeit mit dem Geld-sammeln verbringt. Ebenso selbstverständlichhat er das Handwerk zum Betteln in einem spe-ziellen Seminar gelernt. Auch in Deutschlandsollte dies Schule machen, meint Haibach.Sonst geht es den Fundraisern wie jenem Kol-legen, der nicht genannt werden will undstöhnt, dass er sich auf manchem Termin für sei-nen Präsidenten schämen müsse.

Auch unterhalb der Hochschulspitze mangeltes an kundigem Personal. In der Szene der Spen-densammler dominieren Lobbyisten für Krebs-stationen, Katastrophenopfer oder Umweltorga-nisationen. Experten, die sich in Hörsälen undForschungslabors auskennen, fehlen. »Für eineUniversität können Sie nicht mit Mitleid undMassenbriefen werben«, sagt Wilhelm Krull, Ge-neralsekretär der Volkswagen-Stiftung.

Das größte Hindernis der Hochschulen aufdem Weg zum Geld ist jedoch – fehlendesGeld. Um einen Dollar in die Kasse zu bekom-men, muss die Hochschule 15 bis 20 Cent in-vestieren, lautet eine amerikanische Faustregel.Bis vor kurzem jedoch war es deutschen Uni-versitäten offiziell nicht einmal erlaubt, für dasGeldsammeln den Hochschulhaushalt anzu-tasten. Fundraising gehörte nicht zu ihren»Dienstaufgaben«.

Mittlerweile ist das Verbot zum Reichwer-den gefallen – Mittel für Räume, Personal oderBeratung allerdings fehlen noch immer. »Maninvestiert lieber in zwei neue Doktoranden, alseinen Mitarbeiter in der Fundraisingstelle ein-zustellen«, klagt Marita Haibach. Auf den ers-ten Blick ist dies sogar plausibel. Denn jedeSpendenkampagne kostet erst einmal sehr vielmehr, als sie einbringt.

Diese Erfahrung durfte man in Göttingenmachen. Seit Ende 2004 finanziert die Volks-wagen-Stiftung einigen Universitäten in Nie-dersachsen Personal für das organisierte Spen-densammeln. Gerade für die Göttinger Uni-versität, die vier neue Mitarbeiter einstellenkonnte, schienen die Voraussetzungen ideal.Mehr als 100 000 Absolventen zählt die Tradi-tionshochschule, viele von ihnen befinden sichheute in führenden Positionen. Jeder ge-schenkte Euro kommt der Forschung undLehre zudem direkt zugute: Anders als diemeisten deutschen Universitäten ist Göttingenkein Staatsbetrieb mehr, sondern eine Stif-tungshochschule.

Ein Jahr später ist an der Georgia AugustaErnüchterung eingekehrt. Zwei von vier Fund-raisern haben Göttingen im Streit mit derHochschulleitung verlassen – man wirft sich ge-genseitig Dilettantismus vor. Für das erste Pro-jekt, die Renovierung des historischen Karzersder Hochschule, sind bislang gerade einmal20 000 Euro zusammengekommen. »Es gibt inDeutschland weder in der Universität nochaußerhalb eine Spendenkultur«, klagt die Göt-tinger Vizepräsidentin Doris Lemmermöhle.Das gilt besonders für die Ehemaligen, auf dieviele Hochschulen ihre Hoffnung setzen. Alsdie Göttinger einige ihrer vermögenden Absol-venten direkt ansprachen, »reagierten nicht alleunbedingt positiv«, formuliert es Lemmermöhlevorsichtig.

Wer hierzulande in überfüllten Hörsälensaß, nicht ansprechbare Professoren erlebteund in den Bibliotheken wichtige Bücher ver-misste, verspürt wenig Lust, einem Alumni-Club beizutreten oder gar für seine Alma

Nr. 1 S. 35 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 35WISSEN

Milde Gaben fürs LaborDeutsche Hochschulen versuchen sich im Spendensammeln – bislang mitbescheidenem Erfolg, wie eine neue Studie zeigt Von Martin Spiewak

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Rund 24 Milliarden Euro haben amerika-nische Hochschulen im Haushaltsjahr2003/04 an Spenden und Sponsorengelderneingenommen. Einzelne private Universitä-ten wie Stanford, Cornell oder Harvard war-ben weit mehr Geld aus privaten Quellen einals alle deutschen Hochschulen zusammen.Doch auch staatliche Forschungsuniver-sitäten profitierten im Schnitt von 50 Mil-lionen Dollar.

Den US-Hochschulen kommen mehre-re Vorteile zugute: die ausgeprägte Geber-mentalität der Amerikaner, fehlender Da-tenschutz sowie ein spendenfreundlichesSteuerrecht. So kann man in den USA biszu vierzig Prozent seines Einkommenssteuerfrei für die Wissenschaft spenden. InDeutschland liegt die Grenze bei zehnProzent.

Hinzu kommt die ausgeklügelte Orga-nisation des amerikanischen Fundraisings.

Elitehochschulen wie Columbia oder Ber-keley verfügen in den zuständigen Depart-ments für »Development and Alumni Af-fairs« über bis zu 200 Mitarbeiter. GanzeAbteilungen entwickeln Strategien, wieman reiche Alumni um Spenden angehenkann: Welche Hobbys pflegen sie? Wo stu-dieren ihre Kinder und Enkel? Für welchenZweck haben sie bereits gegeben?

Ein Teil des Geldes ist zweckgebunden,ein anderer fließt ins endowment. Sämtli-che Universitäten verfügen über einen sol-chen Kapitalstock, der zwischen 22 Milli-arden (Harvard) und 22 Millionen Dollar(San Francisco State University) wert seinkann. Die jährlichen Ausschüttungen ausdem in Immobilien oder Aktien angeleg-ten Geld kommen der Hochschule zugute.Die Finanzverwalter dieser Vermögen wer-den erfolgsabhängig bezahlt und kassierenoftmals selbst Millionengehälter. Spi

FUNDRAISING IN DEN USA

Im Paradies der Spendensammler

Die Universität Mannheim gehört zu den erfolgreichsten Spendensammlern. Mit den Millionen aus privater Hand restaurierte sie Hörsäle und Bibliothek im Stadtschloss

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Mater zu spenden. Das ist der Unterschiedzum großen Vorbild USA: Dort kümmernsich die Hochschulen wie überfürsorgliche El-tern um ihren Nachwuchs. Von der Zimmer-suche vor Semesterbeginn bis zur Jobsuchenach dem Examen stehen den StudentenHeerscharen von Beratern und Servicekräftenzur Verfügung.

Hinzu kommen ständige Appelle ans aka-demische Wirgefühl. Von der Begrüßung derfreshmen zu Studienbeginn über die jährlicheWiedersehensfeier zum Semesteranfang biszur pompösen graduation party mit Freunden,Eltern und Professoren – immer heißt dieBotschaft: Wir sind eine große Familie. Auchdeshalb bleiben amerikanische Absolventenihren Hochschulen ein Leben lang verbunden.Deutschen Universitäten dagegen wurden imZuge der 68er-Bewegung mit dem Muff aus1000 Jahren auch alle akademischen Ritenund Traditionen ausgetrieben.

Mittlerweile hat sich hierzulande schon vielesverändert. Diplomurkunden werden längst nichtmehr anonym per Post verschickt, und viele Rek-toren begrüßen ihre Erstsemester in einer Feier-stunde. Und plötzlich erinnern sich die Univer-sitäten nach Jahrzehnten des Desinteresses auchwieder an ihre ehemaligen Studenten, die nunwürdig »Alumni« genannt werden. Die Freibur-ger Universität, führend auf diesem Feld, hat inmühevoller Arbeit Kontakt zu 55 000 Ehemali-gen aufgenommen, um bei ihnen um Sympathiefür ihre alte Hochschule zu werben.

Wer in Freiburg studiert hat, kann sich zumBeispiel mit ehemaligen Kommilitonen zumKonzert oder wissenschaftlichen Vortrag treffen,organisiert von der Universität. »Um Geld habenwir bislang niemals gefragt«, sagt PressesprecherRudolf-Werner Dreier. Das soll nun anders wer-den. Anlässlich der 550-Jahr-Feier der Univer-sität hat die Hochschulleitung eine »CapitalCampaign« gestartet. Bis zum Jubeljahr 2007solle ein »mehrstelliger Millionenbetrag« zusam-menkommen, sagt Dreier. Drei Fundraiser wur-den dafür eingestellt.

Die Freie Universität Berlin, 1948 mit Hilfeder Amerikaner gegründet, setzt auf die USA.Einmal im Jahr veranstalten die amerikanischenFU-Alumni ein Galadiner mit prominentenRednern in New York. Wer zum Beispiel imMärz kommenden Jahres dabei sein will, wennBill Clinton spricht, muss zahlen. Bis zu 50 000Dollar kostet ein Tisch.

Die Spendensammler der Universität Mann-heim nutzen dagegen die wirtschaftswissen-schaftliche Ausrichtung ihrer Hochschule. MitGeldern von Mäzenen und Unternehmenkonnten 15 Hörsäle renoviert und eine neueUniversitätsbibliothek errichtet werden.

Noch stärker profitieren Deutschlands privateHochschulen von Zuwendungen aus Unterneh-men und Stiftungen. So warben im Jahr 2003 dieacht Fundraiser der Universität Witten/Her-decke 11,6 Millionen Euro ein. Die Hauptgön-ner der Hochschule finden ihren Namen in derEingangshalle verewigt. »Selbst Professoren ge-hen bei uns mit zu Spendenterminen«, sagt dieWittener Fundraiserin Cornelia Kliment.

Spender und Sponsoren finanzieren rund einDrittel des Wittener Etats – für die großen staat-lichen Hochschulen wären schon fünf Prozentein großer Erfolg. Zehn bis zwanzig MillionenEuro stünden ihnen dann zusätzlich zur Verfü-gung: für Begabtenstipendien, technische Gerä-te, Gehaltsaufschläge für Spitzenprofessoren. Fürden Wettbewerb um den Titel der besten deut-schen Universität könnte dieses Geld entschei-dend sein. »Charity buys excellence«, heißt es inGroßbritannien, mit Wohltätigkeit erkauft mansich Spitzenleistung. Mary Blair, oberste Fund-raiserin an der London School of Economics,räumt zwar ein, dass private Spenden in Europaniemals staatliche Gelder ersetzen können. »Abersie können aus einer guten Einrichtung eine ex-zellente machen.«

i Die erste Studie zum Fundraising deutscher Hochschulen sowie weitere Informationen zum Thema im Internet:www.zeit.de/2006/01/fundraising

Spenden in Millionen US-Dollar*

13,6

11,6

7,6

7,4

6,6

Spenden in Millionen Euro*

*Stand: 2003

Harvard

Stanford

Cornell

Univ. ofPennsylvania

Univ. ofS. California

Universität

Mannheim

Witten-Herdecke

TU München

Heidelberg

WHUVallendar

Universität

ZEIT-Grafik/Quelle: Chronicle of Higher Education/Hans Weiler/Centrum für Hochschulentwicklung

Deutschland Vereinigte Staaten

Spitzenreiter im Hochschul-Fundraising

322,1

540,3

524,2

385,9

332,8

Page 30: Die Zeit 2006 01

36 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 36 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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WISSEN

Er lag er nach einer Party wach im Bett,sah noch etwas fern, als es begann.»Mein Herz tat plötzlich weh, ich bekamBrustschmerzen, und mein Herz fing anzu rasen«, sagt Hartmut M., »das war so

übel, dass ich dachte: Das ist ein Herzinfarkt, ichsterbe jetzt!« Der 29-Jährige hatte schon jahrelangDrogen genommen – Ecstasy, Amphetamine, Al-kohol, Hasch – und vermutete, dass ihm jetzt Ne-benwirkungen zu schaffen machten. Die Freundinrief den Notarzt. »Im Krankenhaus haben mir Ärz-te ein Medikament und Sauerstoff gegeben«, erin-nert sich M., »auf einmal wurde mein Herzschlagimmer langsamer und ist richtig weggesackt. Dadachte ich: So fühlt sich der Tod an. Das war’s jetzt.«

Hartmut M. hatte keinen Herzinfarkt. Eine Pa-nikattacke war der Grund für die Schmerzen gewe-sen. Aber es sollten noch drei Monate vergehen, bisendlich ein Internist die richtige Diagnose stellenwürde. Oft dauert es sogar Jahre, bis jemand dieSymptome richtig deutet. Angststörungen, zu de-nen die Panikattacke gehört, werden oft übersehenoder aus Scham verschwiegen. Dabei leben rund sie-ben Millionen Deutsche zwischen 18 und 65 miteiner ernst zu nehmenden Form der Angst, doppeltso viele Frauen wie Männer.

»Es ist nicht nur eine Krankheit von Unterprivi-legierten, von Frustrierten, von Reichen, von Ar-men, von Einfältigen, von Genies; es kann jeden tref-fen«, sagt Florian Holsboer, Direktor des Max-

Planck-Instituts für Psychiatrie in München. De-pressionen seien in der Öffentlichkeit inzwischen et-was mehr akzeptiert. Dazu beigetragen hat Sebasti-an Deisler, Spieler beim FC Bayern München. Ermachte sein Leiden öffentlich. »Ein Held«, sagtHolsboer, der den Fußballer behandelt hat. AberAngst? Jeder meint sie zu kennen: Sie ist lästig, aberharmlos. Doch dieses vorübergehende Unbehagenist etwas anderes als die Hölle, die Angstkranke mit-unter durchleben. Sie fürchten sich davor, auf dieStraße zu gehen, in den Aufzug zu steigen, aus demFenster zu schauen oder mit anderen Menschen zusprechen. Rund eine Million Angstkranke erleidenPanikattacken wie Hartmut M.

M. lässt sich inzwischen im Zentrum für Psy-chosoziale Medizin eines großen deutschen Univer-sitätskrankenhauses behandeln. Es geht ihm bereitsviel besser. Auf dem Gang der Station steht einselbstbewusster Mann von 1,85 Meter Größe: blon-de kurze Haare, Jeans, schwarze Trainingsjacke.Noch vor kurzem war er in einer Spirale der Angstgefangen, die ihn schließlich den Job kostete.

Nach dem ersten Anfall im Bett rührte HartmutM. keine Drogen mehr an und stürzte sich in dieArbeit. »Der Job war super, hat mir immer Spaß ge-macht«, sagt der Handwerker. Doch schon nachdrei Tagen spürte er ein Prickeln in den Armen. Ihmwurde schwindelig, sein Herz fing an zu rasen, erspürte seine Arme nicht mehr. Die Kollegen riefenden Notarzt. Im Krankenhaus konnte man nichts

HüftgelenkarthroseKNIEPROBLEME

InkontinenzIMPOTENZ

Metabolisches SyndromDIABETES

COPDASTHMA

HerzklappendefektHERZINFARKT

SchwerhörigkeitTINNITUS

SepsisAIDS

Ungewöhnliches feststellen. Die Symptome klan-gen schnell wieder ab – ohne Behandlung.

Die Anfälle kamen regelmäßig, ein-, zweimal dieWoche. M. dachte: »Die haben im Krankenhaus ir-gendwas übersehen.« Wochenlang lief er von Arzt zuArzt, wurde von Kopf bis Fuß untersucht: »EKG,CT, MRT, EEG. Und alle haben gesagt: Mit dem Be-fund können Sie 100 Jahre alt werden.«

Viele Menschen mit Angststörungen lassen sichbesonders häufig wegen körperlicher Beschwerdenvon Ärzten durchchecken. Manch ein Paniker lan-det gar wegen einer akuten Attacke mit Verdacht aufHerzinfarkt oder Schlaganfall in der Notaufnahmeeiner Klinik. Doch sobald sich zeigt, dass organischnichts zu finden ist, werden die Patienten mit beru-higenden Worten nach Hause geschickt, schildertAndreas Kordon von der Angstambulanz der Uni-versitätsklinik Lübeck den üblichen Gang der Din-ge. »Nicht nur bei Laien, sondern auch aufseiten derÄrzte ist da ein blinder Fleck«, sagt er.

Der Psychologieprofessor Jürgen Margraf vonder Universität Basel ermittelte, dass gerade einmalein Prozent aller Patienten mit Angststörungen hier-zulande die richtige Behandlung in Form von Psy-chotherapie oder Medikamenten erhält. Bis die Be-troffenen kompetente Hilfe finden, haben sie meisteine jahrelange Odyssee durch das Gesundheitssys-tem hinter sich. Der durchschnittliche Angstpatientin Deutschland hat eine Vorgeschichte mit zehnÄrzten und sieben Jahren vergeblicher Therapie.

Bei Hartmut M. wurde die Diagnose schnellgestellt – trotzdem verlor er seinen Job sieben Wo-chen nach dem ersten Anfall. »Dadurch kamenLebens- und Existenzängste dazu«, sagt er, »duhaust dich da voll in eine Spirale rein und hältstdie in Gang.« An Bewerbungsgespräche war nichtzu denken. Er ging kaum noch vor die Tür, saß al-lein in der Wohnung, grübelte. »Ich konnte nichtmehr ins Kino gehen, nicht mehr Auto fahren,nicht mehr Essen gehen«, erzählt M., »da waren

nur noch die Angst und die Symptome. Denganzen Tag über war das ein Thema. Ich

dachte: Du wirst verrückt. Du wirstnicht wieder gesund.«

Die Patienten lernen, welcheMacht die Atmung hat

»Angst ist ja im Grunde ganz natürlich«,sagt Florian Holsboer, »eine Spezies, die

keine Angst hat, stirbt aus.« Es handelt sichum einen körperlichen Stresszustand von star-

ker Intensität – die Antwort auf eine wahrgenom-mene Bedrohung. Da registrieren die Augen einenSchatten, und im Bruchteil einer Sekunde zwingtdie Angst davor den Körper und die Seele zu Reak-tionen. Die wohl wichtigste Rolle scheint dabei je-ner mandelförmige Verbund von Nervenzellen imGehirn zu spielen, den Forscher als Amygdala(Mandelkern) bezeichnen. Diese Hirnregion ist da-rauf spezialisiert, in potenziell bedrohlichen Situa-tionen blitzschnell alle Kräfte für einen Kampf odereine Flucht zu mobilisieren.

Über Nervenbahnen im Gehirn regt sie die Hy-pophyse an. Diese aktiviert über die Blutbahn dieNebennierenrinde, wo das Stresshormon Kortisolfreigesetzt wird. Über den Blutweg gelangt das Hor-mon in den gesamten Organismus und versetzt ihnin Alarmbereitschaft. Blutdruck und Atemfrequenzsteigen, das Herz schlägt schneller. In den großenMuskelgruppen weiten sich die Blutgefäße, was denKörper für den Kampf, die Flucht oder eine Erstar-rungsreaktion vorbereitet. Entpuppt sich eine be-

drohliche Situation als harmlos, gibt der Hippo-campus Entwarnung – und die Amygdala beruhigtsich wieder.

Genau dieser Mechanismus funktioniert beiAngstpatienten nicht mehr. Die Angstreaktionschaukelt sich selbst auf: Anstatt den Fehlalarm zustoppen, registriert die Amygdala die selbst ausgelös-ten Stresssymptome als Gefahr und verstärkt sie. ImKopf des Patienten dreht sich nun die teuflische Spi-rale. Die körperlichen Reaktionen interpretiert derBetroffene als Anzeichen eines Herzinfarkts.

Irgendwann fand M. den Weg zu einem Internis-ten und schilderte ihm den Leidensweg. Der ant-wortete nur: »Sie haben nichts am Herzen. Das isteine Panikstörung.« Der Arzt verschrieb ein Antide-pressivum, das M. zwei Tage lang schluckte. »Das hatüberhaupt nicht geholfen«, sagt er, »ich bekamDurchfall, mir wurde übel und schwindelig. Außer-dem war da so ein Entfremdungsempfinden, wo-durch die Ängste noch verstärkt wurden.« Er wußtenicht, dass es bis zu zwei Monate dauern kann, bis dieTabletten wirken. Die Freundin riet ihm zum Gangin die Universitätsklinik. Als er in einer Gruppensit-zung von den Nöten und Anfällen der anderen Pati-enten hörte, überfielen ihn prompt selbst zweiAttacken. Eine Betreuerin beruhigte ihn: »Herr M.,wir sind bei Ihnen. Sie werden merken: Es ist nichtIhr Körper, und es geht weg.«

Die Aufklärung über die natürlichen Angstab-läufe im Körper ist schon ein Teil der Therapie. »Vie-le der Betroffenen verwechseln über Jahre hinwegUrsache und Wirkung. Sie glauben, dass ihre Angstvon den heftigen körperlichen Symptomen kommt.Dabei sind sie es letztlich selbst, die mit ihren Ge-danken Effekte wie Herzrasen oder Schwindelge-fühle hervorrufen«, betont der Schweriner Psychia-ter Matthias Klampe. In manchen Kliniken machendaher geschulte Therapeuten mit ihren PatientenÜbungen, die gezielt die Symptome einer Angst-attacke hervorrufen.

Bei einem solchen Hyperventilationstrainingmerken die Betroffenen oft zum ersten Mal, welcheMacht die eigene Atmung über den Körper hat: So-bald sie minutenlang verstärkt ausatmen, setzen jeneMechanismen ein, die sie von ihren Anfällen ken-nen. »Die meisten erschrecken dann zwar. Nach ei-ner Weile aber sind sie total erleichtert. Sie sehen,dass es allen anderen Menschen nach einem solchenVersuch genauso ergeht«, berichtet der Sportthera-peut Klaus Dörflinger von der Vogelsbergklinik inGrebenhain. »Noch wichtiger ist: Sie merken aufeinmal, dass sie wieder Herr der Lage sind und ihreSymptome bewusst durch die eigene Atmung be-einflussen können.«

Der Königsweg der Psychotherapie im Kampfgegen Ängste ist nach heutigem Wissen die kogniti-ve Verhaltenstherapie. Genauso wie letztlich allekrankhaften Ängste »erlernt« sind, lassen sie sichauch wieder verlernen. Bei einem Patienten mit ei-ner Panikstörung oder einer Phobie besteht ein Teilder Behandlung deshalb darin, dass man ihn – nachentsprechender psychologischer Vorbereitung –scheinbar brutal mit den Auslösern seiner Angstkonfrontiert. Wer Angst vor hohen Gebäuden hat,geht mit dem Therapeuten auf Kirchen oder Fern-sehtürme, Hundephobiker besuchen ein Tierheim,und wer Angst vor großen Plätzen hat, bekommt ei-nen Termin für einen Spaziergang über den Markt-platz. Statt einen Rückzieher zu machen, setzt sichder Betroffene so lange seiner Angst aus, bis die Re-aktion nach kurzer Zeit von selbst abklingt. Ent-scheidend ist dabei, dass der Patient am eigenen Leiberlebt, dass die von ihm als unausweichlich angese-

AngstDEPRESSION

Folge 8

SERIE VOLKSKRANKHEITENWir stellen acht vernachlässigte Volkskrankheiten vor und vergleichen sie mit ihrer prominenten Konkurrenz

Sieht das Auge beispielsweise einen Schatten,

kann dies im Hirn eine Kaskade von

Reaktionen und schließlich Angst auslösen.

Über den Sehnerv ➊ gelangt das Schatten-

bild in den Thalamus ➋, die wichtigste

Umschaltstation im Hirn. Danach kommt

das Signal in der Amygdala an ➌, wo es

emotional bewertet wird. Für diese Ein-

schätzung holt der Hippocampus ➍Erinnerungen aus der Hirnrinde. Resultat:

Der Schatten könnte von einer Schlange sein.

Also wird der Hypothalamus ➎ alarmiert,

der mit der Hypophyse ➏ Stressreaktionen

in Gang setzt ➐. Herzschlag und Atmung

werden beschleunigt und Schweiß produ-

ziert. Die Hirnrinde ➑ brütet derweil

Fluchtmöglichkeiten aus. Erst dann gelangt

das Bild in die Sehrinde ➒ und wird

bewusst wahrgenommen: Es war ein Ast.

Die Angst kam schneller als die Erkenntnis.

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29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 37WISSEN

Fehlalarm im Mandelkern

"

»Dieser Winter macht mich mal wieder depressiv« –kaum ein Ausspruch zeigt deutlicher,dass es hierzulan-de längst salonfähig ist, ganz locker über die Schatten-seiten der Seele zu sprechen. Doch echte Depressionensind nicht zu vergleichen mit Phasen von schlechterLaune oder Grübelei. Es handelt sich um psychischeStörungen, bei denen die Empfindung aller Gefühle re-duziert ist. Die Betroffenen sind niedergeschlagen, siehaben zu nichts mehr Lust, fühlen sich minderwertig,kapseln sich ab und erleben schon die kleinsten Aufga-ben als große Belastung. Darüber hinaus stoßen Men-schen mit Depressionen auf erhebliche Ressentiments.Sie werden nicht offen diskriminiert, aber Freunde undVerwandte wenden sich ab, was die Betroffenen nochtiefer in die Krise stürzt. Jedes Jahr finden rund 8000Menschen in Deutschland ihren Zustand so unerträg-lich, dass sie Suizid begehen.Jeder zehnte Bundesbürger, schätzen Experten, erlebtmindestens einmal im Leben eine schwere depressiveEpisode. Je nachdem, welchem Forscher und welcherStudie man Glauben schenkt,sind zwischen 3 bis 18 Pro-zent der Bevölkerung betroffen.Selbst für Mediziner ist es oft nicht einfach, Depressio-nen richtig zu diagnostizieren. Denn nicht bei jedemäußert sich das Leiden in den gleichen Beschwerden.Während die einen Patienten gebremst, still oder garvöllig erstarrt erscheinen, leiden andere an quälenderUnruhe und Gereiztheit. Experten unterscheiden vorallem drei Formen von depressiven Störungen: erstensdie unipolare Depression, die mit einer oder mehrerendepressiven Episoden einhergeht. Zweitens die bipola-re Störung, bei der sich depressive Phasen mit mani-

schen abwechseln, also mit Episoden von extremerHochstimmung, übersteigertem Tatendrang, Größen-wahn und unvernünftiger Risikobereitschaft. Und drit-tens die Dysthymie – eine weniger ausgeprägte, aberchronische depressive Verstimmung, die mindestenszwei Jahre anhält. Die Betroffenen können sich übernichts richtig freuen, sind schnell gekränkt und ent-täuscht, leiden unter Ängsten und sind insgesamt sehrpessimistisch.Umstritten ist,welche Therapie am besten hilft.Mit Me-dikamenten allein, wie es nach wie vor viele Ärzte ver-suchen, ist es nicht getan. Zwar wirken die modernenAntidepressiva kurzfristig oft recht gut; die meisten Pa-tienten haben nach drei Monaten tatsächlich keineSymptome mehr. Häufig erleiden die mit Psychophar-maka Behandelten aber einen Rückfall.Bessere Chancen auf dauerhaften Erfolg haben psy-chologische Verfahren, vor allem die kognitive Verhal-tenstherapie. Der Therapeut hilft dem Patienten dabei,zunächst für kleinere, später für schwierigere Proble-me selbst Lösungen zu entwerfen und neue, gesünde-re Verhaltensweisen einzuüben.Mitunter ist auch die Behandlung so genannter Vor-läuferstörungen nötig und hilfreich. Oft versteckensich hinter einer Depression nämlich andere, frühereErkrankungen – in den meisten Fällen eine Angst-störung.Wie hilfreich eine gezielte Angsttherapie seinkann, haben Forscher am Beispiel von Panikattackennachgewiesen. Nur jeder fünfte Patient, dessen Panikbehandelt worden war, entwickelte später eine de-pressive Störung.Bei den Nichtbehandelten war es fastjeder Zweite.

STATISTIK

Angst und Depression

hene Katastrophe (»Ich sterbe« oder »Das Flugzeugwird abstürzen«) ausbleibt.

Die Chancen auf Heilung stehen gut: Mehr als80 Prozent der an einer Panikstörung oder einerPhobie Leidenden können von ihren Qualen be-freit werden. Und das ganz ohne jahrelange See-lenbeschau auf der Couch. In vielen Fällen, sagtder Basler Psychologe Margraf, reichen 10 bis 20Therapiestunden aus, um den Betroffenen wiederein normales Leben zu ermöglichen.

Doch warum geraten manche Menschen ausder Bahn? Den Fall des 29-jährigen Partygängerskönnte man als Nebenwirkung hemmungslosenDrogenkonsums abtun. Aber der Dauerrausch warvielleicht schon die Folge von Ängsten. »Drogen-konsum oder Essstörungen haben sehr oft dieFunktion, Ängste zu binden und das Selbst zuschützen«, schreibt der Psychologe WolfgangSchmidbauer in seinem Buch Lebensgefühl Angst.Drogenexperimente seien ein verbreitetes Ritual,um sich von Ängsten vor der Sexualität zu befreien,und ein Kampf gegen innere Leere. M. hatte in die-sem Gefecht nur scheinbar die Oberhand. »Ich warimmer an vorderster Front, nach dem Motto:›Welt, hier bin ich.‹« Irgendwann siegte die Angst.

Aber nicht jeder Mensch betäubt sich. Vieleüberstehen großen Stress unbeschadet. Ist ihr Hirnanders aufgebaut? Die Antwort auf diese Fragereicht tief in den Grundstreit der Hirnforschung:Wird Persönlichkeit eher von den Genen oder ehervon der Umwelt geprägt? Sind Phobien und Pa-nikattacken angeboren oder Folge von schwererKindheit und Traumata?

»Warum bei manchen Menschen aus einer nor-malen Angst eine pathologische Form wird, ist un-klar«, sagt Holsboer, »Man sieht dem Hirn nichtsan.« Er vermutet, dass der Grad der Angstbereit-schaft abhängig ist von den individuellen Veräste-lungen der Neuronen, der genetisch bedingten Ba-lance der Botenstoffe, vom stimmigen Konzert derSynapsen. »Sie haben in ihrer Erbsubstanz dreiMillionen punktuelle Veränderungen, die dazuführen können, dass man unter bestimmtenAußenbedingungen Botenstoffe entwickelt, diedann Angst erzeugen«, sagt der Münchner Psy-chiater. Auch frühkindliche Traumata oder eineungünstige Erziehung manifestierten sich imStoffwechsel und in den Nervenzellen. »Es gibtUntersuchungen an Erwachsenen, die als Kindtraumatisiert wurden«, sagt Holsboer, »bei denenwurden im Hirn ein Leben lang erhöhte Mengenvon Neuropeptiden gefunden, von denen manweiß, dass sie Angstsymptome auslösen können.«

Andere halten eher kognitive Faktoren undTraumata für zentral. Der Göttinger HirnforscherGerald Hüther geht davon aus, dass frühkindlicheErfahrungen die Hirnstrukturen in Richtung er-höhter Angstbereitschaft verändern. Normaler-weise hielten drei kognitive Ressourcen Ängste inSchach: erstens das Vertrauen, Probleme aufgrundvon erworbenem Wissen meistern zu können.»Aber das hält nicht ewig, weil sich die Welt än-dert und das angesammelte Wissen dann nichtsmehr nützt«, sagt Hüther. Wichtiger sei deshalbzweitens die Erfahrung, dass im Problemfall je-mand hilft. Die dritte Ressource sei die Zuversicht,dass selbst schlimmste Katastrophen sich wiedereinrenken. Sind diese Ressourcen nicht in genü-gendem Maß vorhanden, gerät die Ordnungdurcheinander.

Nun sucht das limbische System, das Erfahrun-gen emotional bewertet, nach Lösungen. »Die se-hen bisweilen bizarr aus«, sagt Hüther. Kindheits-

muster würden aktiviert. »Sie schmeißen mit derTür, werfen sich auf den Boden, brüllen. Angriff,Flucht, dann folgt Erstarrung.« Insofern sei die Pa-nikstörung »ein nicht sehr tapferer und klugerWeg, wieder einigermaßen Ordnung herzustellen– aber der einzig gangbare.«

»Besonders die Zuversicht«, sagt Hüther, »istuns in den letzten Jahren in der Gesellschaftfurchtbar weggebrochen.« Treiben womöglich dieMeldungen über Klimawandel, Terror, Globali-sierung und Arbeitslosigkeit die Menschen rei-henweise in schwere Angststörungen? Holsboerwarnt vor einer Trivialisierung des Angstbegriffs.Sorgen und Ängstlichkeit seien doch etwas ande-res als eine manifeste Angststörung, wie Herr M.sie durchgemacht hat. Allerdings hänge von derKultur und dem Zeitgeist ab, wo die Grenzliniezum Krankhaften verlaufe. Studien haben ge-zeigt, dass die meisten Angstgestörten kaum Ein-bußen in der Lebensqualität hinnehmen müssen– anders als etwa die Depressiven. Mancher istsogar mit »Unterstützung« des Leidens zuHöchstform aufgelaufen. Charles Darwin trautesich aus Angst vor Panikattacken nicht mehr aufdie Weltmeere hinaus und formulierte zu Hausedie Evolutionstheorie. Den menschenscheu-en Robert Falcon Scott trieb die Sozial-phobie zum Entdecken ins ewige Eis.

Nicht jeder Stress ist gleicheine unnatürliche Störung

Schon was die Menschen als Stressorbewerten, ist höchst variabel. »Ichkann da manchmal nur den Kopf schüt-teln, wenn ich sehe, was zum Stress erklärtwird«, sagt Holsboer. Jeder Druck werde alsunnatürliche Störung angesehen: »Als wenn wirals höchstes Lebensziel ein stressfreies Lebenbrauchten.« Die Epidemiologen neigten dazu, zuviele Menschen als angstkrank zu betrachten.Holsboer kann nicht bestätigen, dass in letzterZeit mehr Angstpatienten in seine Klinik strö-men. »Die Pharmaindustrie ist natürlich über-glücklich über Erhebungen, bei denen raus-kommt, dass praktisch jeder Bürger ein Psycho-pharmakon haben sollte.«

Medikamente oder Therapie – bei dieser Fra-ge prallen die unterschiedlichen Konzepte auf-einander. Wer die Kognition für die Ursache derAngst hält, bevorzugt psychotherapeutische Ver-fahren. Der neurobiologisch orientierte Thera-peut hält auch Medikamente für wertvoll. In sei-nem Angstbuch beschreibt der Arzt und Di-plompsychologe Borwin Bandelow die verwir-rende Lage so: Der Psychoanalytiker empfiehlteine tiefenpsychologische Therapie und rät vonMedikamenten ab; der Landarzt hält nichts von»Psychogequatsche« und verschreibt Valium –was längst als Therapie zweiter Wahl gilt. Bevor-zugt werden jetzt die Selektiven Serotonin-Wie-deraufnahmehemmer (SSRI).

Bandelow plädiert für einen undogmatischenEinsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel. Miteiner maßgeschneiderten Therapie sind die Er-folgsaussichten sehr gut. Sogar der Therapeut pro-fitiert mitunter. »Die Arbeit in der Angstambu-lanz«, erzählt Bandelow, »macht übrigens Spaß.«Diese Patienten seien nicht selten »sensible, fein-fühlige, charmante und interessante Mitbürger«.Und in kurzer Zeit könne man Behandlungserfol-ge sehen, »was in der täglichen Arbeit eines Psy-chiaters nicht gerade der Normalfall ist«.

Panikattacken und Phobien machen Millionen Menschen das Lebenschwer. Ihr Angstempfinden ist gestört, die Biochemie in ihrem Hirn außer Kontrolle. Mit der richtigen Therapie bekommen die Patienten das Problem gut in den Griff Von Harro Albrecht und Cornelia Stolze

Das Buch zur Serieerscheint am 8. Februar 2006 im Trias-Verlag, Stuttgart

Zeichnungen von Karl Wesker (»Prometheus – Lernatlas der Anatomie«/Thieme-Verlag) für DIE ZEIT

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Nr. 1 S. 39 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 39 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

39 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005

Wenn es eine Konstante unseres Kino-Daseins gibt, dann wohl die Figurenvon Woody Allen. Wir haben uns sosehr an sie gewöhnt. Jahrzehntelang

spazierten sie durch New York, gingen zum Chi-nesen an der Ecke, verliebten und verließen sich.Aus Alvy Singers Junggesellenhöhle in Der Stadt-neurotiker zogen wir mit ihnen in die cool design-ten Aufsteigerwohnungen aus Melinda und Me-linda. Im Laufe der Jahre redeten diese Figuren einbisschen weniger über Sex und Psychoanalyse undmehr über das Altern, die Karriere oder ihr Aus-bleiben. Aber auch kleine Schwankungen in ihremLebensrhythmus verstärkten nur die allgemeineVertrautheit. Im Grunde versorgte der Allen-Kos-mos den postreligiösen Menschen sogar mit einerMiniaturvorstellung der Unsterblichkeit: Alte Be-kannte werden in den Eigenschaften der aktuellenFilmfiguren wiedergeboren, Neurosen überlebenJahrzehnte zwischen immer neuen Naziwitzen,die Liebe ist immer noch so schön und schmerz-lich wie in Manhattan, und alle könnten ewig soweiterwuseln. Dabei täuschte uns Woody Allennie darüber hinweg, dass das Dasein für ihn keinZiel und keine Bedeutung hat und über dem Cen-tral Park nur ein eisiges unbarmherziges Nichtslauert. Trotzdem stattete er seine Geschichten stetsmit diesem wunderbar warmen Innenfutter aus,man könnte auch von einem hedonistischen Bin-nensinn sprechen. In den letzten Jahren hatte sichdas Prinzip der ritualisierten Variation allerdingsein bisschen abgenutzt. Woody Allen schien mü-der und milder geworden. Und wer hätte ange-sichts seiner Lebensherbstkomödien noch ernst-lich mit Überraschungen oder gar Revolutionengerechnet?

Aber jetzt, plötzlich, kurz bevor er sich end-gültig im großen warmen Kaminzimmer des Al-terswerks einzuschließen drohte, hat Allen dieganze Seelenpolsterung aus seinem Kino heraus-gerissen. Alles muss raus! Die Kunst, die Liebe unddie Illusionen, die kleinen und großen Tröstlich-keiten. In seinem 37. Film Matchpoint ist die Weltso ungerecht, unerlöst und zynisch, wie er sie wohlimmer sah, aber keinem zumuten wollte. WoodyAllen zeigt Menschen voller Heimtücke und Hab-gier, ein Dasein ohne Sinn und Moral. Es ist einharter, gnadenloser Film, sein bester seit Jahren.

Der Film erkundet die Zeichender britischen Klassengesellschaft

Dabei wirkt diese Geschichte eines rasanten Auf-stiegs zunächst ganz harmlos. Weil er zufällig mitdem richtigen Schnösel am Netz steht, vielleichtauch weil er Opern liebt und ein attraktiver Kerlist, gelingt dem Tennislehrer Chris Wilton (Jo-nathan Rhys-Meyers) ein rasanter Aufstieg in diebritische Oberschicht. Seine Liaison mit der lie-benswerten, aber auch ein bisschen langweiligenTochter der schwerreichen Hewitts verspricht ei-nen neuen, federleichten Lebensstil. Es locken dieLoge in Covent Garden, das feudale Landhaus, einApartment mit Themse-Blick und der hoch be-zahlte Job in Schwiegervaters Imperium. Zwei ma-liziöse Schwenks genügen Woody Allen, um denUnterschied zwischen zwei Vermögens- und Da-seinsformen auszumessen. Zu Beginn streift dieKamera durch Wiltons winzige möblierte Jungge-

sellenbude, von der muffigen Couch über die rosaTeetanten-Tapete bis zu den kitschigen Blumen-drucken. Später, bei einer Partygesellschaft derHewitts, durchläuft das Objektiv eine ähnlicheBewegung. Diesmal gleitet es durch herrschaftli-che Räume vorbei am munteren Geplauder vonfein bezwirnten Menschen, deren Geld so alt ist,dass sie es nicht einmal mehr wahrnehmen.

Woody Allen hat sein inneres und äußeres NewYork verlassen. Durch die britische Klassengesell-schaft bewegt er sich mit der Begeisterung einesEthnologen, der einen unbekannten Stamm ent-deckt hat. Er erkundet die Semiotik des selbstver-ständlichen Luxus, die natürliche Arroganz derSprache und die Edelrestaurants, in denen Wiltonlernt, einen Puligny-Montrachet zu Blinis und Ka-viar zu bestellen.

Und doch ist Matchpoint mehr als eine Ver-suchsanordnung über die Verführungskraft desMateriellen. Um in Woody Allens Leitmetapherzu bleiben: Dieser Film handelt vom großen Ten-nis des Lebens. Vom aufreibenden Hin und Herder Gefühle, von der Frage, ob wirklich nur unser

Aufschlag entscheidet, wann ein Ball ins Netz oderdarüber geht.

Chris Wiltons Verhängnis heißt Nola Rice, isteine erfolglose Schauspielerin und wird gespielt vonScarlett Johansson. Wenn sich die beiden zum ers-ten Mal gegenüberstehen, dann verhindert nur dieTischtennisplatte, dass sie übereinander herfallen.Wie eine erotische Gottheit bewegt sich die Ame-rikanerin durch die sexlose britische Umgebung.Nola Rice ist schön, berührend, klug, aber arm.Woody Allens Held muss sich entscheiden. Zwi-schen der Leidenschaft seines Lebens und einer rei-chen Ehefrau, die nur noch daran denkt, die En-kelquote der Eltern zu erfüllen. Als Nola schwan-ger wird, hat der junge Aufsteiger ein Problem. Indiesem Augenblick entfaltet sich die unglaublicheHeimtücke von Allens Film. Längst haben wir unsin Wiltons Lebensstil eingerichtet und sind bereit,ihn mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.

Schon einmal, in Verbrechen und andere Klei-nigkeiten, erzählte Woody Allen die Geschichte ei-nes Mannes, der sein Familienleben durch einefordernde Geliebte gefährdet sieht. Schon damals

ging es um die Entscheidung zwischen Status undLiebesglück. Und schon damals schien der Auf-tragsmord an Anjelica Huston den Fortgang derDinge nicht weiter zu stören. Aber Himmel seiDank gab es noch eine Parallelgeschichte, in dersich ein erfolgloser Dokumentarfilmer (WoodyAllen) in seine Produzentin (Mia Farrow) verliebt.

Es gab zarte Szenen, in denen die beiden Singin’in the Rain gucken, dazu indisches Fast Food es-sen und eine Flasche Champagner trinken (die derRegisseur einmal als lobende Erwähnung für ei-nen kleinen Leukämiefilm erhielt). Kurz, es wareiner dieser Allen-Filme, in denen sich das Schö-ne und das Schreckliche auf wundersame Weisedie Waage halten. Am Ende gab uns der Film nocheine Moral mit auf den Weg: Allein durch seineLiebe kann der Mensch der Gleichgültigkeit desUniversums etwas entgegensetzen.

Woody Allen hat den Glaubenan die Liebe verloren

In Matchpoint gibt es keine Liebe mehr. Es gibtnicht einmal mehr die beruhigende Gesellschaft derKunst, die uns von früheren Allen-Werken als eineArt Palliativmedizin gegen das Dasein verordnetwurde. Erinnern wir uns: In Manhattan standen aufder berühmten Liste der Dinge, die das Leben le-benswert machen, sieben Kunstwerke, darunterdrei Musikstücke. In Matchpoint scheint Allen allesdranzusetzen, Musik und Literatur als bedeutungs-losen Zeitvertreib zu desavouieren. Chris Wiltonliest Dostojewskis Schuld und Sühne und wird ohnejeden Skrupel eine fürchterliche Tat begehen. Erhört die großen Belcanto- und Verismo-Opern, indenen die Liebe gegen Standesunterschiede kämpft,wird sich aber gegen seine Gefühle und für ein lu-xuriöses Leben entscheiden. Perfides musikalischesLeitmotiv in Matchpoint ist das von Enrico Carusounerreicht traurig gesungene Una furtiva lagrimaaus Donizettis Liebestrank. Die Liebesarie wird zumbitteren Abgesang. Und zum ernüchternden Kom-mentar auf eine Gattung, der nach Tausenden vonJahren Kunst, Poesie und Zivilisation im entschei-denden Moment immer noch nichts Besseres ein-fällt, als dem Gegenüber mit Hilfe von Schießpul-ver ein kleines Metallstück in den Schädel zu jagen.Ein Film, der vorführt, wie schlecht die Menschensind, obwohl ihnen schon tausendmal erzählt, vor-gesungen und vorgespielt wurde, dass sie besser seinkönnten, ist natürlich auch eine Aussage des Kinosüber sich selbst. Woody Allen, der kleine jüdischeJunge aus New York, dieser großartige Verfasser vonHolocaust- und Naziwitzen, hat noch nie an diemoralische Kraft der Kunst geglaubt. Andererseitshat er uns auch noch nie so klar und so ernüchterndihre absolute Wirkungslosigkeit vor Augen geführt.

Womöglich musste er einfach einmal auf denTisch hauen. Und uns sagen, wie wenig er von unshält, um wieder an uns glauben zu können. Wasbleibt ihm auch anderes übrig? Endlich den Selbst-mord begehen, über den er noch großartigere Wit-ze gerissen hat? Oder, wie in Manhattan, dann dochLouis Armstrongs Potato Head Blues auflegen undzum Chinesen an der Ecke gehen? Das war vormehr als 25 Jahren. Sein nächster Film, so heißt es,werde wieder eine romantische Komödie sein.

Die großen Toten2006, das Jahr der Gedenktage,

beginnt mit Heiner Müller

Man müsse die Toten befragen, bis sie herge-ben, »was an Zukunft mit ihnen begrabenwurde«. Das ist eine Mahnung des Dramati-kers Heiner Müller, und im neuen Jahr wer-den wir sie gründlich befolgen. 2006 wird dasJahr der Totenbefragungen. Wir feiern den250. Geburtstag Mozarts, den 100. Geburts-tag Samuel Becketts, den 150. Geburtstag Sig-mund Freuds; wir denken an Henrik Ibsen(100. Todestag), Heinrich Heine (150. Todes-tag) und Bert Brecht (50. Todestag).

All diese Toten geben viel mehr Energieund Zukunft her als irgendein Mensch, dernoch unter uns wandelt.

Offenbar wird ein großer Toter mit jedemJahrzehnt mächtiger, seine Energie scheint insUnermessliche zu wachsen. Sein Sterben ver-jährt und wird ausgelöscht von der Wucht sei-nes Werks und seiner Aura. Er hat sich aus derUmklammerung des Imperfekts gelöst undlebt im Präsens des Unsterblichen.

Unter den deutschen Toten der jüngerenVergangenheit war Heiner Müller der Einzi-ge, dem eine solche Zukunft zuzutrauen war.Sein Tod, am 30. Dezember 1995, war be-trauert worden wie der maximale Verlust. DieTheaterwelt ließ sich am offenen Grab gehenwie niemals wieder. Die Überlebenden fandensich damit ab, nun in einer Nachwelt, in einerWelt ohne Müller, leben zu müssen.

Aber was ist geblieben von dem Dramati-ker und seinem Werk? Vor allem dies: der un-dramatische Rest. Müllers Wesen. Sein Nicht-handeln. Sein Zusehen. Sein Aufgeben.

Die Person hat sich vors Werk geschoben.Müllers Gesicht schwebt in der Leere wie dasLächeln der Katze aus Alice im Wunderland.Ein Mann, gekleidet in Rauch und trockenenRausch. Ein ruhiger Verkünder, »wie Aischyloshingerissen von der Katastrophe« (so schriebder Figaro). Müller schrieb seit 1985 kein nen-neswertes Stück mehr und war nach dem Mau-erfall zum dramatischen Denken nicht in derLage; er sprach in Anekdoten und Interviews.Sein einziger Bezugspunkt schien die Glut sei-ner Zigarre zu sein; mit warmer, mürber, un-arroganter Stimme teilte er uns mit, dass dieWelt ein Schlachthaus, eine Maschine sei. Ersaß da und ließ das Leben in Rauch aufgehen,und seine besten Sätze schienen für Grabplat-ten gedacht zu sein, so knapp waren sie.

Einmal angenommen, Heiner Müller wärewieder gesund geworden und hätte in Friedenweitergelebt: Was wäre aus ihm geworden? Si-cher wäre er ab und zu bei Harald Schmidt zuGast gewesen. Und bald hätte er eine eigeneTV-Show gehabt, Müller late late night, an-fangs noch mit Alexander Kluge als seinemAndrack, später in Monologen und Selbstin-terviews Zeiten und Kontinente durchmes-send; die Welt, vom Weltall aus moderiert.

Müllers Werk ist übertroffen worden vonMüller, dem gespenstischen Stoiker mit derDevise »Augen auf und durch«. Neue Stückevon ihm fehlen uns nicht, wohl aber eine Ge-stalt wie er: ein Seher und Zuschauer, derscheinbar immer schon da war und im letztenRaum des Weltgebäudes darauf wartet, dasswir zu ihm vorstoßen. Peter Kümmel

FEUILLETON LITERATURGeert Maks neues Buch »In Europa«

ist eine furiose Reise durch das 20. Jahrhundert

Von Karl Schlögel Seite 49

Woody Allen auf dem Set mit Scarlett Johansson, die die unwiderstehliche Nola Rice spielt

Tennislehrerlieben nicht

»Matchpoint« ist Woody Allens bester Film seit langem.Weil er so klar, hart und unversöhnlich ist Von Katja Nicodemus

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40 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 40 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 40 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

FEUILLETON

Das Dresdner Schreckensszenario, das im Lauf desneuen Jahres Wirklichkeit werden könnte, ist schonjetzt vorstellbar: Mit Kettensägen bewaffnete Holz-fäller massakrieren blühende Bäume, Bagger fressensich in den lieblichen Elbhang, und die Planierrau-pen kommen gerade so richtig in Fahrt bei der Er-richtung der vierspurigen Waldschlösschenbrücke–da stoppen die Bundesverwaltungsrichter den Bauder umstrittensten Flussquerung Deutschlands.Was wird die Stadt als oberster Bauherr dann tun?Die Löcher zuschütten? Die Bäume wieder ankle-ben? Diese schildbürgerhafte Situation liegt durch-aus im Bereich des Wahrscheinlichen. Denn nochsind gegen die Brücke mehrere Klagen anhängig, diebis zu drei Instanzen durchlaufen könnten. Wie lan-ge das dauert, ist nicht vorhersagbar. Fest steht je-doch der Termin des Baustarts: 22. März 2006.

Kurz vor Weihnachten hat das sächsische Ober-verwaltungsgericht beschlossen, keine vorläufigeBaupause zu gewähren. »Ich zweifle an der Rechts-staatlichkeit dieser Entscheidung«, sagt Achim We-ber von der Grünen Liga, »denn den Klägern wirdhier ein einstweiliger Rechtsschutz verweigert – mitder Begründung, dass keine schwerwiegenden Be-denken vorgetragen wurden.« Die Welterbe-Kom-mission der Unesco allerdings hegt offenbar arge Be-denken. Nachdem sie die Dresdner Elbauenzunächst inklusive des Brückenprojekts in ihre Lis-te schützenswerter Kulturgüter aufgenommen hat-te, forderte sie im November eine genauere Prüfungdes kostspieligen und verkehrsplanerisch fragwür-digen Bauvorhabens (ZEIT Nr. 45/05). Wie ernstsolche Interventionen gemeint sind, zeigt das Bei-spiel Köln, wo die Erbewächter eine Verschande-lung der Stadtsilhouette durch Hochhäuser entlangdes Rheins befürchteten und schließlich drohten,den Welterbestatus des Doms abzuerkennen – amEnde wurden die Baupläne geändert. Auch im FallDresden scheint die Unesco entschlossen, notfallsihre eigene Entscheidung zu revidieren und dieStadtväter unsanft an ihre Verantwortung für eineschützenswerte Flusslandschaft zu erinnern. DasUnesco-Kuratorium hat nun ein weiteres unabhän-giges Gutachten zur Elbauen-Problematik in Auf-trag gegeben, worin hoffentlich auch die längst kon-zipierte, doch nie wirklich in Erwägung gezogeneTunnelalternative zur Brücke geprüft wird. Spätes-tens Mitte Februar soll das Ergebnis da sein.

Die große Sitzung der Welterbe-Kommissionfindet aber erst im Juni 2006 statt – was DresdensChancen erhöht, dass erst Bäume fallen und nach-her doch ein Baustopp kommt. Deshalb wäre es dasBeste für die Stadt, ihre Auen kämen unverzüglichauf die Rote Liste des gefährdeten Erbes. Dann wür-de das Parlament gezwungen, nochmals ernsthaft zudiskutieren, ob es nicht doch auf die (von ihren Geg-nern so bezeichnete) »Luftschlösschenbrücke« ver-zichten will. Stattdessen könnte man das ebenfallszum Welterbe gehörende marode Schloss Übigaurestaurieren, das im Schatten des Brückenstreits lei-se verrottet. Evelyn Finger

Luftschlösschenbrücke

" MOSAIK

Wie viel Bach verträgt der Mensch? In Englandliebt man Rekorde. Das Londoner NationalTheater of Brent bewältigte einmal Shake-speares Gesamtwerk in zwei Stunden und rück-wärts in einer halben Stunde. Jetzt ging die BBCaufs Ganze. Radio 3 feierte knapp zehn Tagelang Weihnacht mit Johann Sebastian, 24 Stun-den am Tag. Sämtliche der über 200 Kantaten,jedes Orgelvorspiel, jede von ihm überlieferteNote. Eine Gewaltanstrengung, die nicht zu-letzt dazu bestimmt war, Klientel zurückzuer-obern, die zu viel Schönberg und Henze in dieArme des immer verträglich säuselnden Kom-merzsenders Classic FM getrieben hatte. Ist einBach-liebendes Herz solch einem Dauerbe-schuss gewachsen?

Der »214-Stunden-Marathon« beginnt amvierten Adventswochenende mit den ersten Tei-len des Weihnachtsoratoriums. Kein furioserStart, Ton Koopmans dirigiert das Amsterda-mer Barockorchester sehr gelehrt und undra-matisch, wie es seine Art ist. Danach Orgelvor-spiele, Geige solo, Cembalo, Motetten. DasProgramm für die Spätschicht von Mitternachtbis sechs Uhr morgens klingt verlockend, vierKantaten, Aufnahmen mit Gustav Leonhardtund Nikolaus Harnoncourt. Doch auch dasBett lockt, wer wollte sich gleich zu Anfang ver-ausgaben?

Viel steht bevor. Aufnahmen aus dem Jahr1903 mit den Geigern Pablo de Sarasate und Jo-seph Joachim. Der 16-jährige Yehudi Menuhin,der die Chaconne aus der Partita Nr. 2 1932 miteiner unbeschwerten Begeisterung spielt, die mirGlückstränen in die Augen treibt. Pablo Casals1936 und Albert Schweitzer 1937. GlennGould, der 1950 in drei kleinen Fugen den Jazzentdeckte, ohne sie zu verjazzen. Immer wiederder großartige Organist Peter Hurford. Undschließlich der Russe Stanislav Bunin, der mitseiner Interpretation des italienischen Konzertserneut einen Anlass für Glückstränen liefert.

Doch nach fünf Tagen Kantatenflut machensich in der Chor- und Arienschwemme liturgi-sche Orientierungsprobleme bemerkbar. EineMatthäuspassion zwei Tage vor Heiligabend? Amsiebten Tag greifen auch in einem im Internet

eingerichteten Hörerforum Erschöpfungser-scheinungen um sich. Eine Dame berichtet, siehabe seit Tagen nicht geschlafen, mit nieman-dem geredet und ihre Wohnung nur mit Kopf-hörer verlassen. Jetzt merke sie, dass sie sich inein emotionales und mentales Wrack verwan-dele. Andere Klassikfans empfinden den Dau-er-Bach als sublime Folter. Einer schlägt derBBC bissig vor, ein Woche Wagner anzu-schließen. Ein Zweiter nimmt erleichtert zurKenntnis, dass er zehn Tage lang jedenfalls kei-nen Brahms zu hören braucht. Ein Dritter zi-tiert den Dirigenten Thomas Beecham, denCembalos an auf einem Blechdach kopulieren-de Skelette erinnerten.

Manche Debatten nehmen einen gereiztenTonfall an, Anhänger der Werktreue gegen Mo-dernisten und fromme Bach-Verehrer gegenAtheisten, die »schamlos einen Anteil an derAusbeute der Ideologieverirrungen des christ-lichen Establishments beanspruchen«. Über5000 E-Mails gehen ein. Sämtliche klassikver-narrten blogger, geeks und anoraks, die versam-melten Exzentriker des Königreichs, meldensich zu Wort.

Dann geschieht bei uns zu Hause ein kleinesWunder. Der jüngste Sohn, seines Zeichens all-wissender Student am Kings College in London,hat mit seinen Kommilitonen gerade die Beatlesentdeckt. Der durch das Haus hallende Dauer-Bach hatte sofort seinen Unmut und erhitzteDebatten über musikalische Werte ausgelöst. Ererklärte den Vater zum verknöcherten Kultur-snob.

Am vorletzten Tag spielt die junge russischeGeigerin Alina Ibragimowa die Solosonate inE-Dur. Während des Allegro assai spitzt der Sohndie Ohren. Auf einmal hört er, wie die Musik da-hinfließt wie ein breiter Strom, auf dessen Ober-fläche sich verspielt die Wellen kräuseln. Als we-nig später die Kantate Was Gott tut, ist wohlgetanerklingt, erklärt er unvermittelt, er glaube anGott, denn in der Evolution gebe es keine intel-lektuell befriedigende Erklärung für das Schöne.Seiner 17-jährigen Schwester bleibt der Mundoffen stehen. Sie ist sprachlos. Dann zischt sie:»Verräter!« Reiner Luyken

Sublime FolterDie britische BBC hat Weihnachten mit Johann Sebastian Bach

gefeiert – zehn Tage lang, rund um die Uhr

Guten Morgen, Sonnenschein! EinSommerfilm im Winter, über die Lie-be, das Leben und die arge Stadt Ber-lin. Die Räuberin unter den Städten

mit Schlager-Soundtrack: Himbeereis zum Früh-stück … Immer wieder sonntags … Er gehört zumir wie mein Name an der Tür. Ronald heißt erund ist noch gar nicht erschienen im Leben vonKatrin und Nike. Noch sitzen sie weibseinsamauf ihrem Altbaubalkon im Prenzlauer Berg. DieSonne sinkt, die Nacht wird lau, die beiden Schö-nen picheln wenig Cola mit viel Korn und träu-men vom kommenden Kerl.

Nike macht Altenpflege. Katrin ist arbeitslos.Aus Freiburg zog sie her, der Liebe wegen. DerMann ist längst perdu, Katrin lebt allein mitdem zwölfjährigen Max. Der Künftige müsstezu Max passen. Die Kamera äugt vom Balkon,zur Apotheke gegenüber. Der Inhaber späht he-rauf. Bislang ignoriert Katrin den Biedermann.Um Mitternacht ruft sie Max’ Vater an und kü-belt ihm Geburtstagsflüche aufs Band. Nike,auch schon hübsch betankt, sinniert über dieVergänglichkeit der Liebe: Für immer, dit jib’snicht, dit Jefühl kommt von sexuellen Boten-stoffen im Gehirn, nach einer Weile sind dieweg. Schlagartig!

Auftritt Ronald, schlagartig, per Verkehrsun-fall. Will Nike, kriegt Nike. Aber der Zuschauerbeginnt heftig zu leiden. Ronald ist Teppichspe-diteur aus Eberswalde und eine Dumpfbackeerster Güte. Katrin leidet auch. Nike, mit Ro-nald befasst, lässt ihre Freundschaft schleifen.Katrin pendelt zwischen Jobsuche und Tagelöh-nerei. Geht allein tanzen, kommt in Begleitungheim. Will den Typ nicht in die Wohnung neh-men, da fällt der im Treppenhaus über sie her.Katrin schreit. Max, schlaftrunken, öffnet dieTür, sieht die Mutter, halb nackt. Der Typtürmt. Katrin schleppt sich in die Wohnung,greift zum Klaren, segelt ins Vergessen.

Dresens Witz hält sich am Rande der Verzweiflung auf

Einen »heiteren Film über Einsamkeit« hat Re-gisseur Andreas Dresen Sommer vorm Balkon ge-nannt und die Hoffnung geäußert, das Publikumwerde lachen wie in noch keinem seiner Filme.Ein sonderbarer Wunsch, bei dieser traurigenGeschichte? Dresens Witz ist Ambivalenz-Hu-mor und hält sich gern am Rande der Verzweif-lung auf. Zu Dresens Durchbruch wurde 2002Halbe Treppe, jenes doppelte Ehedrama ausFrankfurt/Oder, das auch in Frankfurt am Mainals universales Midlife-Porträt von Menschen aufder Kippe verstanden werden konnte – nicht zu-letzt dank eines Westschauspielers, der danach alsparadigmatischer Ossi galt: Axel Prahl.

Halbe Treppe war weithin ein improvisierterFilm. Seine Menschen redeten und taten wie dasLeben selbst. Danach begab sich Dresen vollendsins Tatsächliche und dokumentierte mit HerrWichmann von der CDU den heulkomischenWahlkampf eines ostdeutschen Nachwuchskan-didaten für den Deutschen Bundestag. Unter derLosung »Zeit für Taten« sorgte Christdemokrat

Wichmann für unvergessliche Impressionen deruckermärkischen Basispolitik.

Soziale Präzision ist auch in Sommer vorm Bal-kon Dresens Schlüssel zum echten Leben. Dasechte Leben berlinert authentisch (Nadja Uhl alsNike, Andreas Schmidt als Ronald), es schwäbelt(Inka Friedrich als Katrin, beim heimwehmüti-gen Telefonat mit den Eltern), es spricht aus demmerkantilen Gelaber von Turnschuhverkäufernund Job-Beratern – Laien, die Dresen an ihrenWirkungsstätten rekrutierte.

Vor allem wohnt das echte Leben bei den ein-samen Alten, die Nike tagtäglich besucht, füttert,windelt, wäscht – bei Oma Helene mit dem Ak-kordeon, bei dem bettlägerigen Herrn Neu-mann, der glaubt, er müsse zur Schule, bei Oskar,der den Kaffee vergisst und das Spülen auf demKlo, doch niemals, wie sein Leutnant den armenDeserteur erschoss, mit dem Ruf: Das deutscheSchwert schneidet auch im fünften Kriegsjahrimmer noch scharf ! Aber ich hab nicht auf ihngezielt, sagt Oskar. Nee, sagt Nike, du nich,Oskar.

Eine schöne Kraft durchwirkt die Filme desAndreas Dresen, ein Realismus der höheren Art.Er zeichnet seine Menschen bis zur Drastik, aberliefert sie nicht aus. Er begnadigt, er gibt Liebe. Erversteht die Alten wie die Kinder. Selbst dasMacho-Würstchen Ronald wird begreiflich inseinem Bedürfnis nach Schutz, und die Scheuß-lichkeiten deutschen Schlagerschaffens klingenplötzlich wie Chansons mit Herz.

Das Drehbuch stammt vom Altmeister Wolf-gang Kohlhaase. Vor einem Vierteljahrhunderterspürte Kohlhaase für Konrad Wolfs Solo Sunnygleichfalls das Leben rechts und links der Schön-hauser Allee. Die Zeiten änderten sich rapider alsdie Milieus. Am Ende sitzen Katrin und Nike wie-der auf ihrem Balkon. Ronald bettet sich inzwi-schen anderweitig. Nike erklärt: Der Mann hatsich verbraucht. Nana Mouskouri singt: »DieWelt wird sich weiterdrehn, auch wenn wir aus-einandergehn.« Katrin sagt: So ist das Leben.

So könnten alle Dresen-Filme heißen. Dresensagt, sein Freund und Kollege Günter Reisch habeSommer vorm Balkon als Beschreibung einesÜbergangs bezeichnet: vom Sozial- zum Indivi-dualstaat, von der Fürsorgegesellschaft zu Ver-hältnissen, die jeden auf sich selbst verweisen. Diedazugehörige Beklemmung erzeugt der Film mitCharme und ohne Eifer. Die ideologischen Bo-tenstoffe melden sich auf der Heimfahrt nachPankow, durch die echte Schönhauser Allee, imDreck der Straßenbahn, im Frost der mürben Ge-sichter, im kahlen Gegröl der überflüssigen Kin-der. Derzeit ist Winter vorm Balkon.

Notübernachtung auf einem Berliner Balkon:Selbst der Macho Ronald (Andreas Schmidt) sehnt sich

manchmal nach ein bisschen Wärme

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Einsamkeit hatviele Namen

Andreas Dresens sonniger Milieu-Film»Sommer vorm Balkon« Von Christoph Dieckmann

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»Jarhead« von Sam Mendes. »Factotum«von Bent Hamer. »Die große Reise« vonIsmaël Ferroukihs. »L’Enfant« von Lucund Jean-Pierre Dardenne. »Manderlay«von Lars von Trier

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Nr. 1 S. 41 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 41FEUILLETON

DIE ZEIT: Herr Greenaway, war der Rembrandt-Wahn jemals größer als heute?Peter Greenaway: Was soll ich da sagen? Ich bin jaeiner von diesen Wahnsinnigen, die den Wahn mitgroßer Begeisterung produzieren. Doch stimmt esschon, in stillen Momenten gruselt es mich auch.Allein hier in Holland laufen im kommenden Jahr17 Rembrandt-Ausstellungen, es gibt zig neue Bü-cher, zig Konferenzen, auch eine Rembrandt-Opermachen wir und dann natürlich den Film.ZEIT: Gibt es denn über Rembrandt überhauptnoch Neues zu sagen?Greenaway:Oh, mir sagt Rembrandt eigentlich je-den Tag etwas Neues. Schauen Sie nur mal aus demFenster, da sehen Sie das Reichsmuseum, direkt vormeiner Haustür. Ich gehe da bestimmt zweimal dieWoche rüber, für eine halbe Stunde vielleicht. Vorallem Rembrandts Nachtwache ist für mich so et-was wie ein guter Nachbar.ZEIT: Und was erzählt Ihnen dieser Nachbar?Greenaway:Na, zum Beispiel, dass Rembrandt garkein Maler war.ZEIT: Wie bitte?Greenaway: Ja, Rembrandt war kein Maler. Unddie Nachtwache ist auch kein Gemälde. Sie müssennur genau hinschauen, dann sehen Sie, dass sichRembrandt von allen klassischen Bildtraditionenverabschiedet. Er reiht die Soldaten nicht in Reihund Glied, wie es üblich war. Stattdessen bricht erden Bildraum auf und macht daraus eine Bühne.Genau das ist die Nachtwache: ein Stück Theater,eine irrwitzig lebendige Aufführung. Das siehtman schon an den Schatten der Leute, die mal indie eine, mal in die andere Richtung fallen. So et-was geht nur auf der Bühne, da gibt es zehn Son-nen auf einmal. Übrigens ist das bei vielen Rem-brandt-Bildern ganz ähnlich. Sie wollen alles sein,nur keine Malerei. Sie negieren sich selbst.ZEIT: Dann wäre Rembrandt also in Wahrheit dasgewesen, was Sie sind: ein Regisseur?Greenaway: Sie müssen wissen, dass die Theater inHolland spätestens seit den 1630er Jahren eine un-geheure Wiederbelebung erfuhren. Hier spielte sichdas gesellschaftliche Leben ab, und natürlich warenviele Maler eifersüchtig auf den Erfolg der Theater-leute. Sie wurden selbst theatralisch, sie inszeniertenBühnenszenen. Schließlich stand das Bildermalenohnehin nicht im besten Ruf, denken Sie an denCalvinismus und an das Gebot »Du sollst dir keinBildnis machen«. Gerade Rembrandt, der viele jü-dische Freunde hatte, war das sehr bewusst.ZEIT: Und was für ein Stück inszeniert er mit sei-ner Nachtwache?Greenaway: Die Nachtwache ist ja nach der MonaLisa von da Vinci und nach Michelangelos Freskenfür die Sixtinische Kapelle das bekannteste Bildüberhaupt. Paradoxerweise ist es auch eines der un-bekanntesten und so unverstanden wie kaum einanderes. Die Nachtwache hat Rembrandt erst sorichtig berühmt gemacht, und es hat ihn zugleichruiniert – ein großes Rätsel. ZEIT: Und Sie lösen es nun?Greenaway: Ja, in meinem Film über die Nacht-wache, den ich gerade drehe, werde ich zeigen, wieund warum Rembrandt dieses Bild zum großenVerhängnis wurde. ZEIT: Wie und warum denn?Greenaway: Weil er einen Mord zeigt.ZEIT: Einen Mord?

Greenaway: Ja, genau, das Bild wimmelt vor lau-ter Hinweisen auf Mord. Sie müssen sich nur denSoldaten in der weißen Uniform ansehen, und Siewerden links neben seinem Hut das Ende eines Ge-wehrs sehen. Aus diesem Gewehr wird ein Schussabgegeben. Es wird jemand ermordet, und alle, dieauf dem Bild zu sehen sind, wissen davon. Siedecken den Mord, es sind lauter Verschwörer.ZEIT: Rembrandt also ein Krimiautor?Greenaway: Sie täuschen sich. All diese Männerhat es ja gegeben, sie waren Mitglieder einer Bür-gerwehr, die allerdings ihre Macht lange verlorenhatte. Trotzdem versammeln sie sich hier, lauterreiche Kaufleute, die sich als Soldaten verkleiden.Und die Rembrandt viel Geld dafür geben, dass ersie in dieser stolzen Rolle malt. So verschaffen siesich etwas vom Glanz jener heroischen Zeit, als dieHolländer gegen die Spanier kämpften.ZEIT: Oft ist das Bild ja als Huldigung auf das Sol-datenwesen gedeutet worden.Greenaway: Von wegen. Das ist ein Spottbild.Rembrandt macht sich lustig über all diese Möch-tegerngrößen, er zeigt sie als Trottel, als Idioten. Erzeigt, was unter dem Gold des Goldenen Zeitalterslag, den ganzen Mist einer oligarchischen, erstarr-ten Gesellschaft, den ganzen Mafia-Sumpf, derschlimmer war als im berüchtigten Chicago.ZEIT:Aber warum hätte Rembrandt das tun sollen?Warum seine Auftraggeber brüskieren?Greenaway: Oh ja, er hat sie tatsächlich brüskiert.Sie waren geschockt, als sie das Bild sahen. Und siehaben prompt reagiert. Nicht zufällig fehlen jaheute Teile des Gemäldes, sie wurden seitlich ab-

geschnitten. Die meisten Kunsthistoriker sagen,man habe das Gemälde verkleinern müssen, um esden Ausstellungsräumen anzupassen. Dabei gab esdurchaus sinistere Motive, Leute aus dem Bild ver-schwinden zu lassen. Und das war bei weitem nichtalles: Die Verschwörer begannen, Rembrandt sys-tematisch zu ruinieren. Als er die Nachtwache mal-te, war er unbeschreiblich reich, er war der BillGates des 17. Jahrhunderts. Als er starb, war er bit-terarm. Er hätte sich lieber nicht mit den Grandender Amsterdamer Gesellschaft anlegen sollen.ZEIT: Warum hat er es dann getan?Greenaway: Er dachte, er sei unangreifbar. Er warüberheblich, ein Außenseiter, der vor nichts zurück-schreckte. Er scheute sich nicht, irgendwelche Lüm-mel von der Straße ins Atelier zu holen, Vagabun-den und Landstreicher. Er selbst war ja auch so eineArt Bauer, wahrscheinlich nicht sehr gut gewaschenund mit ziemlich übel riechender Unterwäsche. Erwar der Sohn eines Müllers und eben keiner dieserhochstehenden Bürger oder Aristokraten.ZEIT:Und Sie meinen, das hat seine Kunst geprägt?Greenaway: Aber natürlich. Sein großer Held warRubens, ein Maler, der allgemein hohes Ansehengenoss, auch an den Königshöfen, und der dafürvon Rembrandt sehr beneidet wurde. Er hoffte, esauch irgendwann so weit zubringen, indem er vielGeld verdiente. Das tat er dann später auch, dochbesaß er nie die richtigen Manieren oder die Ele-ganz oder die Anmut eines aristokratischen Malerswie Rubens. Er hatte sein ganzes Leben einen ge-waltigen Minderwertigkeitskomplex.ZEIT: Sie begreifen Kunstgeschichte, so kommt esmir vor, eher als die Kunst der Einfühlung. Odersind Sie tief in die Archive gestiegen?Greenaway: Ich forsche eigentlich nie. Das ist mirzu gefährlich, schließlich sind Fiktionen immer in-teressanter als die Wahrheit. Ich weiß schon, allewerden sie meinem Film widersprechen. Aber daskann ich genießen. Denn der Streit wird das Bild,das wir alle von Rembrandt haben, neu beleben. ZEIT: Das hört sich an, als würden Sie selbst zu ei-nem Nachtwachen-Rembrandt werden, zu einemKünstler, der gegen eine Verschwörung polemisiert,in diesem Fall gegen die vermeintliche Verschwö-rung der Kunsthistoriker.Greenaway: Ich will nur zeigen, dass das Lebendoch weit komplexer ist, als wir uns das so ge-meinhin vorstellen. Und wenn man sich die Le-bensgeschichte von Rembrandt genau ansieht undseine Bilder unter die Lupe nimmt, dann weißman: Er war ein Zyniker, er veralberte die Aristo-kraten, er hatte sehr viel Humor. Da müssen Siesich nur mal den Raub des Ganymed anschauen, woder kleine Junge von einem Raubvogel geschnapptwird und in seiner Panik zu pinkeln beginnt. So istRembrandt oft, ein echter Schalk.ZEIT: Erkennen Sie sich manchmal in ihm wieder?Greenaway: Nein, eigentlich nicht. In meinemHerzen wäre ich lieber wie Vermeer. Der war ein vielbesserer Maler als Rembrandt, viel ökonomischer,kontrollierter. Kaum ein anderer Künstler besaß einso ausgeprägtes Gespür für Menschen und verliehihnen so viel Würde. Er spottete nicht über sie, ermoralisierte nicht. Rembrandt hingegen war meistein Kommentator des sozialen Lebens. ZEIT: Aber sind Sie das nicht auch mit Ihren Fil-men? Die wirken doch oft wie Parabeln.Greenaway: Ich bin nur an Ästhetik interessiert,das können Sie mir glauben. Mich interessiert dasSehen selbst, ich will meinen Blick schulen. Wis-sen Sie, die meisten Menschen sind ja visuelle An-

alphabeten. Unsere ganze Kultur ist ungemeintextfixiert, das fängt schon in der Schule an. Dalernen wir alle das Alphabet, über Bilder aber er-fahren wir nichts. Nur weil wir Augen haben, heißtdas ja noch lange nicht, dass wir auch sehen kön-nen. Auch das will gelernt sein. Und ich finde, inder Kunst lässt sich das am besten lernen.ZEIT: Haben Sie jemals versucht, wie Rembrandtzu malen?Greenaway: Als Jugendlicher habe ich alles Mög-liche versucht. Die Zeiten sind zum Glück vorbei.ZEIT: Warum zum Glück?Greenaway: Weil es einfach Blödsinn ist, sich im-mer noch mit dieser Art von Realismus, wie Rem-brandt ihn pflegte, zu befassen. Es ist absurd, dieWirklichkeit akribisch nachahmen zu wollen. Daserstaunlichste Ding im Universum ist doch dasmenschliche Hirn. Also lasst es uns gebrauchen,denken wir uns etwas aus! Und verlassen wir unsnicht einfach auf unsere Augen.ZEIT: Aber genau das tut doch Rembrandt. SeineBilder sind immer Bild-Erfindungen und erschöp-fen sich nicht im naturalistischen Nachpinseln.Greenaway: Da muss ich Ihnen widersprechen.Nehmen Sie das Nachtwachen-Bild, das will Siedoch davon überzeugen, dass es ein Stück des rea-len Lebens ist, ein Fenster zur Welt. Ich hingegenhabe immer daran gearbeitet, gerade mit meinenFilmen, dass sie nicht wie reales Leben aussehen undkein Fenster zur Welt sind. Wenn ich auf die Weltschauen will, dann gucke ich hier in meiner Woh-nung aus dem Fenster, dafür brauche ich die Kunstnicht. Ich halte es da mit Picasso, der hat gesagt: Ichmale nicht, was ich sehe, ich male, was ich denke.ZEIT:Und was ist mit Vermeer, den Sie so schätzen?Der malt doch auch naturalistisch.Greenaway: Eher überspringt er das Naturalisti-sche. Viele seiner Bilder durchbrechen den Realis-mus und gewinnen eine Art ikonischer Präsenz, siewerden auf eine stille Weise anbetungswürdig.Rembrandts Bilder sind hingegen meist anekdo-tisch. Es ist nichts Klassisches in seiner Kunst, weiler sich vor allem für den Augenblick interessiert,für das Flüchtige, auch für das Gewöhnliche.ZEIT: Ist er deshalb heute so beliebt? Greenaway:Das ist bestimmt ein wichtiger Grund.So hat Rembrandt ja einige der erotischsten Nack-ten in der ganzen westlichen Kunstgeschichte ge-malt. Erotisch sind diese Frauen vor allem deshalb,weil sie wie die Mädchen von nebenan aussehen.Sie sind nicht heroisch, sind nicht entrückt, sie ste-hen nicht als Juno oder Minerva auf einem Sockel.Es hat ja so manche Klagen über Rembrandt gege-ben, weil man bei seinen Frauen ab und an sogardie Spuren des Strumpfbands an den Beinen sehenkann. Doch gerade diese Liebe für das Alltäglicheist es, die Rembrandt so populär macht.ZEIT: Ebenso populär sind im Moment viele seinerKollegen des 17. Jahrhunderts, Rubens etwa, derriesige Besuchermengen anlockt. Fast könnte manmeinen, wir erlebten gerade so etwas wie die Re-naissance des Barock.Greenaway: Ich glaube, unsere Gegenwart istnoch barocker, als es das Barock je war. Die Um-brüche und Verschiebungen sind mindestens sogroß wie damals, riesige Informationsmengenstürzen auf uns ein, massenhaft oberflächliche De-tails, wohin man auch sieht. Wir sind von der ba-rocken Idee besessen, dass die Quantität in Qua-lität umschlagen wird. ZEIT: Ist es diese Idee, die Sie mit ihren Filmen im-mer wieder ins 17. Jahrhundert ziehen lässt?

Greenaway:Damals begann halt die moderne Ge-schichte, es entwickelte sich die Aufklärung unddie Empfindsamkeit. Und plötzlich spielte dieKunst eine ganz großartige Rolle, was mich als Ma-ler natürlich besonders fasziniert. Die Engländer,die zu Rembrandts Zeiten nach Holland kamen,waren hocherstaunt darüber, in jedem Haus eingutes Dutzend Gemälde vorzufinden. So etwaskannte man bei ihnen zu Hause nicht. Es gab inHolland damals eine sehr ungewöhnliche Bezie-hung zwischen dem Künstler, der Öffentlichkeitund den Bildmotiven. Vor dem Goldenen Zeital-ter wurden die meisten Bilder von Aristokratenoder von der Kirche in Auftrag gegeben, die Kunst

war elitär. Danach wurden die Künstler autonom,die Kunst war egozentrisch. Und nur in den 70Jahren dazwischen gab es diese sehr einzigartige,sehr ideale Übereinstimmung. Jeder verstand, wasder je andere wollte und brauchte, die Künstlerfanden für sich einen idealen Ort in der Gesell-schaft. Da lässt sich viel für heute lernen.ZEIT: Was zum Beispiel?Greenaway: Heute halten ja viele Leute die Male-rei für etwas sehr Abgelegenes und Unbedeuten-des. Das ist ein fürchterlicher Irrtum. Die Malereiist immer vorneweg, wenn es um gesellschaftlicheoder philosophische Entwicklungen geht. Schau-en Sie sich doch das 20. Jahrhundert an, alle phi-losophischen Bewegungen begannen mit Malerei.Kubismus, Surrealismus, Minimalismus, Struktu-ralismus und so weiter. Immer formuliert sich dorteine neue Weise, über die Welt nachzudenken. Fürmich ist die Malerei die Führende aller Künste.ZEIT: Aber das Kino ist doch viel einflussreicher?Greenaway: Was? Oh, nein, nein, das Kino ist amEnde. Das Kino hat seit Jahrzehnten nichts Neu-es mehr hervorgebracht. Was Sie da zu sehen be-kommen, sind doch nur abgefilmte Bücher, nichtsweiter. Zum Beispiel Martin Scorsese – der machtgenau das, was ein David Griffith vor achtzig Jah-ren schon gemacht hat. Dieselbe Art zu erzählen,dieselben Dramaturgien, dieselbe christliche Mo-ral. Eine eigene Sprache hat das Kino bislang nichtgefunden, es hängt immer noch an den narrativenStrukturen des 19. Jahrhunderts. Ganz anders alsdie Malerei, die sich ständig neu erfindet.ZEIT: Wie erklären Sie sich das?Greenaway: Na, es liegt daran, dass die meistenProduzenten vom Kino, also von den Bildern,nichts verstehen. Wenn ich bei denen mit zweiGemälden, drei Lithografien und einem Skizzen-buch ankäme, um ihnen einen neuen Film vorzu-schlagen, dann würde ich doch ausgelacht. DasEinzige, was die verstehen, sind Bücher – wielächerlich. Man muss allerdings zugeben, dass es inder Malerei auch viel leichter ist, etwas wirklichRadikales zu tun. Francis Bacon hat einmal gesagt,er habe von 100 Bildern ungefähr 99 weggewor-fen. Wenn ich so etwas mit meinen Filmen ma-chen würde, ich wäre längst bankrott. Bitte verste-hen Sie mich nicht falsch, ich liebe es, Filme zu dre-hen. Doch ich hasse es, ins Kino zu gehen. ZEIT: Vielleicht gehen Sie in die falschen Filme.Greenaway: Nein, es gibt ja nur die eine SorteFilm, nämlich die autoritäre Sorte. Vor dem Fern-seher haben Sie die Freiheit, ins nächste Programmzu zappen. Im Museum haben Sie die Freiheit, sichdie Mona Lisa drei Sekunden, drei Stunden oderdrei Tage lang anzusehen. Im Kino hingegen liegtdie Kontrolle ganz beim Regisseur, er bestimmtüber das, was ich sehe und wie lange ich es sehe. ZEIT: Warum aber holen Sie dann Rembrandt insKino? Warum lassen Sie ihn nicht dort, wo er ist?Greenaway: Warum sollte ich nicht versuchen,den Film weiterzuentwickeln? Vielleicht scheitereich, vielleicht auch nicht. Jedenfalls will ich michnicht maulend zurückziehen und das Feld nur denanderen überlassen. Rembrandt hat seine Nacht-wache als Bühnenstück gemalt, jetzt holen wir die-se Bühne ins Kino. Und außerdem – Sie werdenstaunen – verwandeln wir das Reichsmuseum inein Theater auf Zeit.ZEIT:Um Rembrandt einen noch größeren Auftrittzu verschaffen?Greenaway: Nein, um die Nachtwache einmal an-ders zu zeigen. Wir werden einen Zuschauerraumdavor aufbauen, es neu ausleuchten, es mit Licht-effekten inszenieren. ZEIT: Warum denn bloß darf die Kunst nicht fürsich selbst sprechen?Greenaway: Was für eine dumme Idee ist das, einMuseum müsse sich immer möglichst neutral ver-halten! Es gibt keine Objektivität, also finde ich esgut, das Subjektive anzuerkennen. So eine persön-lich geprägte Inszenierung kann sehr belebend wir-ken, sie muss ja auch nicht von Dauer sein. ZEIT: Heißt das, 2007 ist Rembrandt dann wiederRembrandt?Greenaway:Wenn alles gut geht, wird Rembrandtdann ein anderer Rembrandt sein als heute.

DIE FRAGEN STELLTE HANNO RAUTERBERG

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Eine Soldatenwelt in Auflösung.Die »Nachtwache« (1642)

wimmelt vor Hinweisen auf einenMord, behauptet Peter Greenaway.

Mit seinem Riesenbild entlarveRembrandt die Verschwörer

»Nie benahm sich Rembrandtelegant oder anmutig.Wahrscheinlich war er nichtsehr gut gewaschen und trugübel riechende Unterwäsche«

»Alle werden sie meinem Filmwidersprechen. Aber das kannich genießen. Der Streit wirddas Bild, das wir von Rembrandthaben, neu beleben«

»Rembrandt war kein Maler«Aber was dann? Ein Entertainer, ein Ketzer und der Bill Gates seiner Zeit – sagt der Regisseur Peter Greenaway. Er dreht zum 400. Rembrandt-Geburtstag 2006 einen Film über die »Nachtwache«

Erst war Peter Greenaway Maler, dann wurde er Regisseur und mit Filmen wie

»Verschwörung der Frauen« oder »Der Koch, derDieb, seine Frau und ihr Liebhaber« berühmt.

Der 63-Jährige lebt heute in Amsterdam

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42 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 42 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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D ie »schwierige« dritte Platte. Wo war neu-lich zu lesen, dass die Erste inzwischen dieZweite ist und dass es die Dritte im Grun-

de nicht mehr gibt, weil die wenigsten Plattenfir-men ihren Vertragspartnern noch die Chance zu-gestehen, sich über einen dermaßen langen Zeit-raum hinweg »zu entwickeln«, wie das früher hieß?Jedenfalls stimmt, dass überall gesteigerter Daten-durchsatz herrscht, auch und gerade im SektorRock, Inflation der sich gegenseitig neutralisieren-den Anbieter, kulturelle Flatrate sozusagen samtden damit verbundenen, gegen Null sinkendenHalbwertszeiten in der Ökonomie der Aufmerk-samkeit. Womit wir zum Thema zurückkehren: Er-innert sich eigentlich noch jemand an die Strokes?

Für unsere Allerjüngsten: So um 2001 herummag es gewesen sein, da waren die Strokes die Dar-lings der Saison: endlich wieder Garage, endlichwieder echte Independent-Typen mit echten Gitar-ren, nur eben jung und unverbraucht. Manche fei-erten sie gar als Zukunft des Rock ’n’ Roll, wasnatürlich Unsinn ist. In Wirklichkeit sind dieStrokes die Erfinder der Instant-Karriere auf demGebiet des Gitarrenrock. Statt durch Täler aus Blut,

Schweiß, Tränen und Drogenexzessen zu waten,gingen sie direkt über »Los«. Sie kauften sich schickeSecondhand-Lederjacken, komponierten ein paareingängige Songs, ließen ihre Beziehungen spielen,die sie als Söhne aus gutem New Yorker Hause hat-ten – und waren in null Komma nix berühmt.

Doch das Schnelle provoziert nun einmal dasnoch Schnellere, und heute sind die Strokes in derPosition, dass sie all ihre Errungenschaften gegenein Heer ultramobiler, hyperflexibler Aus-dem-Stand-Rocker verteidigen müssen. Ein wahrlichharter Job. First Impressions Of Earth ist anzumer-ken, wie verbissen Sänger Julian Casablancas undseine vier Mit-Strokes im Studio um weitere Vor-wegnahmen des Zeitgeistes gerungen haben, ei-gentlich handelt es sich weniger um eine Platte alsum ein Sound gewordenes Manöver in SachenStandortbehauptung. Hier wurde ein wenig Hea-vy-Sound angetestet, dort mit Balladentönen undsogar Easy-Listening-Momenten experimentiert –ergebnisoffenes Werkeln an sämtlichen Fronten.Alles klingt wie die Strokes und zugleich wie eineBand, die alles daransetzt, nicht wie die Strokes zuklingen, weil niemand besser als die Strokes weiß,

dass die Konkurrenz nicht schläft und Stillstandheutzutage Rückstand bedeutet.

Dabei haben sie ein Händchen für Melodienund Hooks, die sie wie alle andern auch aus demweiten Ärmel der Geschichte schütteln, undmanchmal hat dieses dritte Album durchaus seineMomente – vorausgesetzt natürlich, man lässt No-velty für einen Moment Novelty sein und gönntihm mehr als nur fünf Minuten seine Aufmerk-samkeit. Ironie der Beschleunigung: Nachdem wirdie Zweite von Franz Ferdinand durchgewinktund die Erste der Babyshambles hysterisch begrüßthaben (schon weil es eine Zweite voraussichtlichnicht geben wird), nachdem wir uns daran ge-wöhnt haben, dass Ereignisse im Moment ihresSichereignens bereits wieder verzischt sind undAktualität demnach nur mehr in der Vergangen-heitsform existiert, merken wir plötzlich, was zu-vor ein gut in der Öffentlichkeit verborgenes Ge-heimnis war: dass die Strokes nicht mehr und nichtweniger sind als eine ganz passable Band.

The Strokes: First Impressions Of Earth(RCA/Sony BMG 82876 76420 2)

U nwillig sagt der Richter nach einiger Zeitzum »guten Gott«, dass er endlich dessenMotiv kennen lernen wolle: Warum nur sei-

en dem Angeklagten die in New York im Ausnah-mezustand lebenden Liebenden Jan und Jennifer sozuwider, dass Gott die Frau umbringen lässt und Janwieder zu einem gewöhnlichen Mann macht? »Ent-rüstung. Nein. Neid?«, fragt der Richter, gesprochenvon Kaspar Brüninghaus, und Gott, den CharlesRegnier so schmallippig reden lässt, dass einem im-mer wieder eine Gänsehaut über den Rücken läuft,antwortet: »Sie werden mir nicht glauben, aber ichgab ihnen jede Chance.« Und Jan und Jennifer? La-chen in der Öffentlichkeit »und doch unter derenAusschluss … Sie fangen an, wie ein glühendes Zi-garettenende in einen Teppich, in die verkrusteteWelt ein Loch zu brennen.« Da ist Gott vor.

Ende der fünfziger Jahre nimmt Max Frisch vonIngeborg Bachmanns Hörspiel Der gute Gott vonManhattan in Hamburg Notiz, danach schreibt erder Dichterin, die er persönlich nicht kennt, einenBrief, in dem steht, »wie gut es sei, wie wichtig, dassdie andere Seite, die Frau, sich ausdrückt«.

Ingeborg Bachmann, so rekapituliert MaxFrisch viel später in Montauk, »hörte Lob genugund großes Lob, das wusste ich, trotzdem drängtees mich zu dem Brief«. Kurz darauf sind die bei-den ein Paar, erst groß im Lieben, dann kleinlichim Scheitern. »Das Ende«, schreibt Frisch, »ha-ben wir nicht gut bestanden, beide nicht.« In Dergute Gott von Manhattan ist bereits das tragischeGrundmuster von Ingeborg Bachmanns Malina-Roman verwoben; der gute Gott zeichnet denmörderischen Vater und den »Dritten Mann« vor,

den »Mörder, den wir alle haben«. Was aber vonaußen über uns herrscht, ist auch in uns. JedeLiebe, selbst die alltäglichste, kommentiert Inge-borg Bachmann in ihrer Rede, mit der sie sich fürden Hörspielpreis der Kriegsblinden bedankt, seiein Grenzfall, wir müssten nur hinhören.

Die Einrichtung des Textes besorgt 1958 GertWestphal. Er lässt Ingeborg Bachmanns kostbareSprache Wort für Wort wie einen Schatz behan-deln. Peter Zwetkoff sorgt für ein paar minimaleMusikeffekte. Martin Benrath und Gustl Halen-ke sind Jan und Jennifer. Und das Stück nimmteinen gefangen, als sei es gerade erst aufgenom-men worden.

Ingeborg Bachmann: Der gute Gott von Manhattan, Hörverlag, 97 Min., 2 CDs, 19,95 ¤

In die verkrustete Welt ein Loch brennenHÖRBUCH: Ingeborg Bachmanns »Der gute Gott von Manhattan« von mirko weber

FEUILLETON Diskothek

Je weiter sich die Heimat entfernt, umsonäher wächst sie einem ans Herz: DiesemPhänomen verdanken wir nicht nur Okto-berfeste in Texas und Schuhplattlervereinein Namibia. Sondern auch eine der schöns-ten und – ja – brasilianischsten Bossa-nova-Platten der letzten Jahrzehnte: Silva (Han-nibal/Ryko HNCD1504). Gesungen undgeschrieben hat sie Vinicius Cantuária, einaus Amazonien stammender Musiker, derseit 1995 in New York lebt. In seiner altenHeimat hatte Cantuária progressiven Rockgespielt, eine Serie New-Wave-beeinflussterAlben aufgenommen und wie spätere Kol-laborationen mit David Byrne, Laurie An-derson oder Angelique Kidjo zeigen, hat erauch keinerlei Berührungsängste mit expe-rimentellem Pop.

Nach fünf Alben in der Fremde aber hatCantuária offensichtlich genug davon. Ersucht nach einer Harmonie, wie sie sich beider Erinnerung an Kindheitsklänge ein-stellt. Vor einem Jahr gab er auf Horse AndFish noch den experimentellen Jazzer – nunhaben Pferd und Fisch einen gemeinsamenNenner gefunden: die Liebe zum Bossa-nova. Dabei liefert Cantuária weder elek-tronisch aufgemotzten Dancefloor, nochverliert er sich in Retro-Huberei. Vielmehrumkreist er sublim die atmosphärische Es-senz des Bossa; lädt zu einem Tanz ein, derviel mit Meditation zu tun hat und wenigmit Übermut. »Hier in Brooklyn«, hat Can-tuária gesagt, »fühle ich mich von Tag zu Tagmehr als Brasilianer.« Man hört seinen Har-monien, Akkorden und Melodien dasHeimweh an.

Im Mittelpunkt von Silva stehen Can-tuárias Gitarrenspiel und sein croonender,sinnlich schmeichelnder Gesang. SeineStimme reicht vollkommen aus, um Pathos,Humor und Sex-Appeal ins Spiel zu bringen.Nachdem er die Songs als Soloaufnahmenfertig gestellt hatte, reiste er nach Rio, um ih-nen einen Hauch von Streichern und ein zar-tes Percussion-Bett zu unterlegen. WeitereLagen folgten: So steuert der New YorkerTrompeter Michael Leonhart unterkühlteSoli im Stil des frühen Miles Davis bei, fügtder japanische Elektroniker Jun Miyake ver-zerrte Fender-Rhodes-Klänge, ein geister-haftes Flügelhorn und andere Samples hin-zu. Doch bei allen Klangabenteuern: Diebrasilianischen Wurzeln behalten die Ober-hand und erzählen von der Seele eines verlo-renen Sohnes. Jonathan Fischer

Zurück nach Rio

" POP

Die ZEIT empfiehlt

Der Film, der im Original Le Samourai heißt,beginnt mit einem Zitat: »Es gibt keinegrößere Einsamkeit als die des Samurai, es seidenn die des Tigers im Dschungel.« Der Filmvon 1967 könnte auch mit einem anderenZitat anfangen: »Heute ist Mama gestorben.Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.«Denn Alain Delon ist der Fremde; und Jean-Pierre Melville lässt in der Nacht von ParisCamus auf Kafka treffen, indem er seinenKiller in einen sinnlosen Kampf schickt.

Es beginnt mit dem Mann, der auf demBett liegt und raucht. Der Raum um ihn istvon einem profunden Grau, draußen gehtein immer währender Regen nieder, ein Vo-gel fliegt im Käfig herum und fiept. DerMann hat einen Auftrag, also steht er auf.Er zieht seinen Mantel an und setzt seinenHut auf, er streicht über die Hutkrempe, Stilist Kälte, und in seinem Gesicht trägt derMann Ruhe und Leere. Sein Mut ist nichtsanders als maskierte Verzweiflung, aber da-von weiß dieser Joseph Costello nichts, soheißt Alain Delon bei Melville, ein aus-tauschbarer Name, der verschwinden wird.Er steigt in den Citroën DS, den er klauenwird, vor den Augen der Polizei, er legt dieSchlüssel neben sich, während er nach vornschaut, in den Regen, ins Nichts, und pro-biert so lange, bis einer der Schlüssel passt.Dann fährt er los, durch ein Paris, in dessendauerndem Herbst vor allem die Lüge unddas Misstrauen wachsen; er fährt durchStraßen, in denen die Autos herumkriechenwie schmutzige Insekten in einer leuchten-den Neonwelt, feuchtglänzend, schäbig,verloren. Selten hat die Moderne so selbst-verständlich gewirkt wie in diesem Film ausdem Jahr 1967 – und dabei so überlebt.

Es gibt bei Melville eine Liebe zur Tech-nik, es geht um Präzision, beim Töten undauch sonst, und das Schönste an der Mo-derne ist ihr Scheitern. Melville nimmt die-se Welt auseinander, die Dinge und dieWorte, er schaut sie sich an und setzt sie neuzusammen. Und er spielt so poetisch wiepessimistisch mit Bildern des Organischen

und des Mechanischen, des Archaischen imGewand der Moderne: Die lange Verfol-gung in der Metro inszeniert er mit Glüh-birnen und einem riesigen Plan von Paris,als wolle er in diesem urbanen Labyrinth dieWege und Irrwege einer unbekannten Spe-zies erforschen. Die wenigen Sätze, die dieMenschen sagen, stehen herum wie seltsamverschlungene Pflanzen.

»Ich verliere niemals«, sagt der Killer.»Niemals wirklich.« – »Ich denke niemals«,sagt der Kommissar. Das Innere dieser Figu-ren ist ein fremder Planet, weiter weg als derMond. Sinn ist nur eine Anwandlung in die-ser Welt, Bedeutung ist nur eine Laune, undKälte ist eine Möglichkeit zu überleben. Mel-ville ist der Analytiker des Existenziellen, undJoseph Costello ist der erste Mensch, vondem Camus erzählt hat. Fast schon schnei-dend elegant geht Alain Delon dem eigenenTod entgegen. Ein Engel? Vielleicht. Aber aufjeden Fall ein einsamer. Was also ist Wahr-heit? Das ist die Frage, die diesen Film durch-zieht. Und Melville hat sogar eine Antwortdarauf. Wahrheit ist ein Schlüssel, der in einSchloss passt. Georg Diez

Stil ist Kälte

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Die schnellste Pizza der WeltPOP: The Strokes beschleunigen weiterhin den Rock ’n’Roll von thomas gross

Neue Klassik-CDs1. Brandauer liest MozartEine Auswahl der Mozart-Briefe, gelesenvon Klaus Maria Brandauer,ARD/Lübbe-Audio, 90 Min., 14,90 ¤Brandauer brandauert nur selten und hat viel Gespür für Mozarts überdrehten Sprachwitz

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29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 43FEUILLETON

W enn man sich die ganze zähe Symbolikeinmal wegdenkt, könnte der Repu-blikpalast inzwischen eine überwälti-

gende Kulisse hergeben: ein Flachbau aus GothamCity, technisch, schwarz und ein bisschen verwest,eine architektonische Hülle, die in den vergange-nen Jahren so viele Verwandlungen erlebt hat, dassder Streit um die Bedeutung des Gebäudes sichvon ihm abgelöst zu haben, gar nichts mehr mitihm zu tun zu haben scheint. In Wirklichkeit istdas aber nicht so, denn das Trumm steht mittenin der Hauptstadt, wo es nicht immer nur um Ku-lissen, sondern vor allem um Politik, Städtebauund um Erinnerungskultur geht. Der letzte Ret-tungsversuch für den Palast kommt nun aus Rich-tung der bildenden Kunst, der zeitgenössischen,berlinischen, und wenn er früher gekommen wäre,man hätte vielleicht anders diskutiert.

Seit dem 23. Dezember bespielen die beidenAusstellungsmacherinnen Constanze Kleiner undCoco Kühn einen gigantischen Rigipsraum mit-ten in der Ruine neu. Der White Cube – Traumeines jeden Ausstellungsarchitekten – blieb vonder Schau fraktale IV im November übrig. DasNeue und überraschend Plausible an der Ausstel-lung ist, dass dort viele der jüngeren und teils sehrbekannten Künstler versammelt sind, die in Ber-lin arbeiten, die Urbanität der Stadt schätzen, aberbisher keinen zentralen Ort haben, an dem sie ihreArbeiten im Zusammenhang präsentieren kön-nen. Nicht Kunst aus Berlin ist zu sehen, sondernKunst, die sich die Stadt als einen unverwechsel-baren Produktionsort gewählt hat.

Franz Ackermann ist mit einem imposantenWandbild, Teil einer Installation, vertreten, auchThomas Scheibitz mit einer größeren Arbeit.

Olafur Eliasson bastelte ein verspiegeltes Licht-objekt, das ein wenig an die Ästhetik des DDR-Palastes erinnert, Olaf Nicolai zeigt zwei Bilderaus seiner Serie The Blondes, und von MichaelMajerus hängt ein nachgelassenes Großformatmit dem Slogan »Pop is Terror« an der Wand.Manche Stücke setzen sich mit dem Ort und denUmständen ihrer Exposition auseinander, ande-re mit dem in Berlin sich aufdrängenden Themades Transitorischen oder Migrantischen.

Berlin könnte einen solchen Ort fürGegenwartskunst gut brauchen

Insgesamt 36 Künstler, arrivierte ebenso wie ganzjunge, haben binnen zehn Tagen eine ihrer Arbei-ten in den White Cube geschafft, es sind Installa-tionsobjekte, Fotoarbeiten, Malereien, Videos.Nicht alles ist bemerkenswert, aber das muss auchnicht sein. Die Ausstellung erhebt keinen An-spruch auf Repräsentativität, schon gar nicht willsie einen Überblick leisten. Ihr Zustandekommenallein ist bereits ein Statement. Vieles, was sonstnur in entlegenen Galerien vertreten ist, tritt hierplötzlich in einen Zusammenhang.

Und in der Tat, Berlin hat keinen öffentlichenOrt für die zeitgenössische bildende Kunst,schon gar keinen in zentraler Lage, der – wie indiesem Fall – auch noch der Museumsinsel ge-genüberläge. Der Hamburger Bahnhof, der einsolcher Ort einmal sein sollte, ist mittlerweile einSammlermuseum, das mit allzu viel kulturpoliti-schem Ehrgeiz betrieben wird. Die Neue Natio-nalgalerie bleibt ein Schauplatz von privaten In-teressen und Machtstrategien, sie ist ebenfalls Be-standteil der musealen Standortpolitik für die

Hauptstadt, klassisch-modern und bei Gelegen-heit sogar renditestark. Das mag in Ordnung ge-hen, hat aber mit »kreativ« nichts zu tun, demLieblingsbeiwort Berlins, mit dem die Stadt sichso gern schmückt – solange es nichts kostet.

Der Palast der Republik indessen wird abgeris-sen. Land und Bund haben sich darauf verständigt,und vielleicht ist es auch gut, diese Entscheidungnicht mehr zu revidieren. Was nicht heißt, dass da-raus notwendigerweise ein Votum für eine histori-sierende Stadtschloss-Rekonstruktion folgt. Eineandere Frage ist aber, ob sich mit dem Konzept desweißen Würfelraumes ein mit Ideologie und Erin-nerung so schwer kontaminierter Ort wie der Pa-last der Republik »umcodieren« ließe. Der whitecube ist eine Idee der Moderne, eine künstlich er-zeugte Neutralität, um die Wahrnehmung derkünstlerischen Autonomie zu gewährleisten, eineArt geschichtsloser Hintergrund, vor dem dieKunst als Kunst leuchtet. Die Palastruine dieserUmwertung zu unterziehen ist sicher reizvoll undkühn, wäre auf Dauer dem Ort aber unangemes-sen. Das Bauwerk bleibt am Ende das Symbol ei-ner Diktatur, auch wenn es sich als großartiger Aus-stellungsort geradezu aufdrängt.

So ist es vielleicht ganz richtig, dass die Aus-stellung im White Cube selbst ein Stück Zeitkunstbleibt, kurzfristig und mit beeindruckender Ener-gie organisiert und nur bis zum Jahresende geöff-net. Danach, heißt es, kommen die Bagger. Aberdie sollten schon öfter anrücken. Kann sein, dassdie Ausstellung mit Gegenwartskunst aus Berlinverlängert wird. Dann wird sie Woche für Wochekulturpolitisches Gewicht ansetzen.

Bis zum 31. Dezember, täglich von 14 bis 22 Uhr

Bis die Bagger kommenEine letzte großartige Kunstausstellung zeigt, was im Berliner Palast derRepublik noch alles möglich wäre VON THOMAS E. SCHMIDT

Am 3. Januar wird er 80 Jahre alt – ein Alter,in dem sich die meisten Menschen längstim Ruhestand befinden oder in Melan-

cholie flüchten: Michael Blumenthal hingegenschreibt gerade ein politisch-autobiografischesBuch, leitet das Jüdische Museum in Berlin, nimmtseine Aufsichtsratspflichten in diversen amerikani-schen und deutschen Unternehmen wahr, fliegtzwischen New Jersey, Kalifornien und Berlin hinund her – ohne den Verdacht aufkommen zu las-sen, er sei ein rastloser Mensch. Er ist nur neugie-rig auf andere Menschen, auf politische Schicksaleund das Land, das ihn 1939 verstoßen hat und daser doch nicht vergessen konnte, auf Deutschland.

In Berlin wohnt der ehemalige US-Botschafter(unter Kennedy) und Finanzminister (unter Car-ter) im selben Haus, wo vor 200 Jahren in RahelVarnhagens Salon das große Experiment derdeutsch-jüdischen Assimilierung erste Früchtetrug. Die umschwärmte Dame zählt zu den bedeu-tenden Vorfahren Blumenthals, die seit dem 17.Jahrhundert rings um Berlin siedelten – darunterBankiers, Komponisten, Poeten. Neben den un-auffälligen Mitbürgern jüdischen Glaubens gab es,allgemein gesprochen, immer wieder auch solche,an deren Exzellenz sich Neid, Missgunst undschließlich ein mörderischer Antisemitismus ent-zünden sollten.

In letzter Minute waren die Blumenthals 1939entkommen. Schließlich fand sich die Familie imGhetto von Shanghai wieder. So lernte der jungeMichael Straßenchinesisch. Ein Leben in finstererArmut endete, als er sich 1947 nach San Franziskodurchschlug. Er wurde US-Staatsbürger, machteals Ökonom akademische, bald unternehmerischeKarriere – zwanzig Jahre später war er Präsident derBendix Corporation. Später folgten Chefposten beinoch größeren Konzernen und schließlich die Part-nerschaft in einer Investmentbank. Das war eineLaufbahn, die in unserer inzestuösen Unternehmer-kultur unvorstellbar ist, in der 80 Prozent der Top-manager aller Dax-Aktiengesellschaften Unterneh-mer-Söhne sind. Wie hat Blumenthal das geschafft?

Wer die kurze Geschichte des Jüdischen Mu-seums in Berlin und die rettende Rolle Blumen-thals beim Aufbau dieser Institution betrachtet, er-fährt mehr über amerikanische Management-Me-thoden als aus hundert Lehrbüchern. Die Stadthatte das anspruchsvolle Gebäude des ArchitektenDaniel Libeskinds zwar gebaut, doch dem damali-gen Direktor Amnon Barzel fehlte zwei Jahre vorder geplanten Eröffnung eine allgemein akzeptier-te Idee, was darin gezeigt werden sollte. Man gingvon 300 Besuchern täglich aus (heute sind es bis zu2000). Geplant war ein Betriebshaushalt von rund9 Millionen Mark (heute sind es 12 Millionen Euroaus dem Bundeshaushalt plus 2,5 Millionen EuroNebeneinnahmen).

Berlins damaliger Kultursenator Peter Raduns-ki hatte in dieser peinlichen Situation im Herbst1997 den rettenden Einfall, Michael Blumenthal

zu berufen. Der hatte gerade das Manuskript zu sei-ner autobiografisch eingefärbten Studie Die un-sichtbare Mauer abgeschlossen – die kummervolleGeschichte der gescheiterten Assimilation deut-scher Juden und eines Berliners, der zwar glückli-cher Amerikaner geworden war, dem aber, wie sei-nem Freund Heinz Berggruen, eine Sehnsuchtnach der Stadt seiner Kindheit nie völlig abhandenkam. Das Nachkriegsdeutschland kannte er gut,mit Helmut Schmidt hatte er sich als Minister har-te Debatten über Washingtons Währungspolitikgeliefert; sein Mentor George Ball verkörperte jeneatlantische Perspektive des Ostküsten-Establish-ments, die zu Blumenthals Zorn dem Kabinett desderzeitigen Präsidenten völlig fehlen. Kurzum, dieHerausforderung, in Berlin eine völlig neue Auf-gabe zu übernehmen, gefiel ihm.

Als Erstes rief er Museumsleiter in aller Welt anund fragte nach dem besten Kurator oder Managereines zeitgenössischen Museums. Nachdem alleKandidaten gemustert worden waren, blieb einerübrig – Ken Gorbey, ein Neuseeländer, der wederDeutsch sprach noch Jude war, aber ein begnadeterAusstellungsmacher. Ihm vertraute Michael Blum-enthal das »unbespielbare« Haus an. Es sollte eineAusstellung werden, in der Deutschlands Judennicht als ewige Opfer auftreten sollten, sondernauch als schöpferische Minderheit, aus deren Mittedas kulturelle und naturwissenschaftliche, das in-tellektuelle und philosophische Wunder aufstieg,das mit den Namen Heine, Meyerbeer, Marx, Ein-stein, Haber, Kafka, Cassirer, Benjamin, Scholem,Adorno, Horkheimer verbunden ist. Gerade in derWiderspiegelung des normalen bürgerlichen Le-bens deutscher Juden im 19. Jahrhundert sollte dieabgründige Blödheit des Antisemitismus schockar-tig bewusst gemacht werden. Heute ist das Muse-um das wahrscheinlich erfolgreichste in ganzDeutschland: auf der Höhe museologischer Didak-tik, mit preisgekrönten Publikationen, geführt voneinem enthusiastischen Team. Blumenthals Fund-raising-Dinners bescheren dem Museum jährlicheSpenden in Höhe von 500 000 Euro.

In den acht Jahren seiner halben Rückkehr nachBerlin ist er ein gesuchter Ratgeber geworden, imBundeskanzleramt genauso gern gesehen wie vonden Aufsichtsräten einiger deutscher Konzerne.Wahrscheinlich ist er der Einzige unter ihnen, derHeine genauso gut kennt wie Keynes. Seinen Ge-sprächspartnern und Freunden steht er mit einerironiefähigen Zuneigung gegenüber, einer unver-kennbaren Menschenliebe, gedämpft durch dienoch größere Menschenkenntnis, die zu erwerbenihn eine Kindheit in Deutschland gezwungen hat.Es stimmt, er ist ein später Freund dieses Landesgeworden und doch loyaler Bürger jenes anderenStaates geblieben, der ihm all das bot, was Deutsch-land seinen Juden nach 1933 entzog: Anerken-nung, Gerechtigkeit, Toleranz. Michael Blumen-thal: Bleiben Sie da, kommen Sie wieder, je nach-dem. Wir gratulieren zum Geburtstag.

Ein Menschenfreund Michael Blumenthal zum 80. Geburtstag Von Michael Naumann

Der White Cube, ein Riesenraum für die Kunst

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und äußerst konservativ argumentiert. Mit Hän-den und Füßen wehren sich die Autoren dagegen,amerikanischen Wünschen entgegenzukommenund Artikel 51 auszuweiten. Fast hilflos klingt dieMahnung, die Autorität der UN zu wahren undihren Regelungsanspruch zu respektieren, da sichsonst jeder auf das Selbstverteidigungsrecht beru-fen könne. Überraschenderweise nennen sie den-noch fünf »Basis-Kriterien« für »verhältnismäßige«präventive Aktionen im Fall von latenten, nichtunmittelbaren Gefahren.

All das ist von programmatischer Klarheit weitentfernt und zeigt das ganze Ausmaß des Dilemmas.Denn wer erhebt die Beweise, wenn eine Nationsich von einer vermuteten, aber nicht-unmittelba-ren Gefahr bedroht fühlt? Der Auftritt von ColinPowell vor der UN-Vollsammlung ist unvergessen,und die Lügen der Bush-Administration werden indie Geschichte eingehen. Außerdem: Wann ist eineAktion verhältnismäßig? Und wann bedient sie sichangemessener Mittel?

Es scheint schier unmöglich zu sein, für dieBekämpfung regelloser Gewalt Regeln zu finden,ohne das zwischenstaatliche Gewaltverbot anzutas-ten. Genau diese Quadratur des Kreises muss derUN gelingen, soll nicht die Autorität des Sicher-heitsrates insgesamt infrage gestellt werden (wie esunlängst der einflussreiche Rechtstheoretiker EricPosner in seinem Buch The Limits of InternationalLaw wieder getan hat). Denn würde die Ermächti-gung zu präventiver Gewalt vollständig in die Hän-de der Nationalstaaten gelegt, dann stürzte die ent-scheidende Säule des Friedenssicherungssystems insich zusammen. Der Weg in die Staatenanarchiewäre vorgezeichnet.

Irans Auslöschungsfantasiengegenüber dem Staat Israel

Wie schwer die Handlungsspielräume der UN aus-zuloten sind, zeigt das Beispiel Iran. Schon die Aus-löschungsdrohungen, mit denen der iranische Prä-sident Ahmadineschad Israel überzieht, verstoßenklar gegen das Völkerrecht und stellen eine Gefähr-dung des Weltfriedens dar. Zudem gibt es die be-gründete Vermutung, dass Iran nuklear aufrüstet –und irgendwann den Worten Taten folgen lässt.Micha Brumlik hat Recht: Es handelt sich um »An-reizung zum Völkermord«. Die Gefahr, die davonausgeht, wäre zwar nicht unmittelbar, aber immer-hin doch – gemessen an den iranischen Drohungen– latent. Da die Gefahrenabwehr ausschließlich indie Kompetenz des Sicherheitsrats fällt, ist er aufge-rufen, wirkungsvolle Entscheidungen zu treffen,wobei das russische Veto sicher wäre. Und was dann?Sollte Israel also gezwungen werden, so lange zu war-ten, bis sich die iranischen Raketen aus den Silosschieben? Soll es tatenlos verharren, um dem ange-drohten Faktum seiner Vernichtung bis zum letztenAugenblick beizuwohnen?

Finden die Vereinten Nationen auf solche Be-drohungen keine Antwort, wachsen die Grauzonendes Völkerrechts, während das Vertrauen in seineWirkung schwindet. Fortan wäre es nur mehr eineAppellationsinstanz in den Händen der Weltöffent-lichkeit und jener fassungslosen Politiker, die ange-sichts der Entführung ihrer Staatsbürger durch denCIA nach Worten ringen. Mag der neue Star unterden Völkerrechtlern, der Finne Martti Koskennie-mi, auch die »Kultur des Formalismus«, das heißtdie Achtung vor dem Recht beschwören – eine imKern getroffene UN-Charta wäre lediglich einerechtliche Reminiszenz an das, was die »zivilisierteWelt« einmal geträumt hat, als sie noch ein hellesBild ihrer Zukunft malte.

Konservative Skeptiker bringen gern den Ein-wand vor, der Respekt vor dem Recht wohne die-sem nicht selbst inne; es bedürfe dafür eines na-tionalen Interesses. Sie haben Recht. Und welchesInteresse sollten die USA an den Vereinten Natio-nen haben? Das ist leicht zu sagen. Ein Blick in dieGeschichtsbücher lehrt, dass auch das amerikani-sche Jahrhundert nicht ewig währt. Deshalb wärees ein Gebot politischer Weisheit, die VereinigtenStaaten würden im Zenit ihrer Macht eine Frie-densordnung vorantreiben, in der ihre Interessenauch dann noch respektiert werden, wenn die Son-ne von Westen nach Osten gewandert und der ei-gene Stern gesunken ist.

den Terroranschlägen nicht mehr als Spinneim Netz des Völkerrechts, sondern als Souve-rän im Ausnahmezustand: Sie führt Krieg.Krieg gegen einen unsichtbaren, unberechen-baren und allgegenwärtigen Feind.

In diesem war on terrorism wird das Völker-recht nicht, wie der Philosoph Giorgio Agambenglaubt, kurzerhand aufgekündigt. Es wird viel-mehr »geknetet«, elastisch den neuen Verhältnis-sen angepasst – und nach Kräften »moralisiert«.Beispielhaft dafür war der Versuch der Bush-Re-gierung, einen Grundpfeiler im Gefüge der Men-schenrechte, nämlich das Folterverbot, zu stür-zen. »Verschärfte« Befragungen seien moralischgeboten, um die Bevölkerung vor Verbrechernmit Massenvernichtungswaffen zu schützen.Auch Scheinexekutionen durch vorgetäuschtesErtränken gelten nicht mehr als Folter, sondernals »erweiterte Verhörmethode« für einen höhe-ren moralischen Zweck.

Diese zynische »Dynamisierung« des Rechts,wie Völkerrechtler sagen, entkernt geltendeNormen und macht sie situativ gefügig. Sie ge-raten unter Definitionsvorbehalt des Hegemon,der sich dann nur insoweit an sie gebunden fühlt,wie er sie eigenhändig für die »konkreten Situa-tionen« im Krieg gegen den Terror passend ge-macht hat. Es bedurfte erst eines Aufstandes imamerikanischen Kongress, um der Aufweichungdes Folterverbots einen Riegel vorzuschieben –nachdem die Bush-Regierung jahrelang Gefan-gene in jene Staaten ausgeflogen hat, deren Fol-terkeller sie sonst im Triumphton moralisieren-der Selbstherrlichkeit an den Pranger stellte.

Und dennoch. So schamlos ihre Versuchesind, das Völkerrecht zu »dynamisieren« – dieentscheidende Kritik der Bush-Regierung ander UN-Charta lässt sich nicht einfach vomTisch wischen. Zu Recht behauptet die ameri-kanische Administration, der Terrorismus ha-be eine neue Bedrohungslage geschaffen, vondenen die Väter des Völkerrechts noch nichtshätten ahnen können. Vor dem Terrorismusversage nicht nur jede Abschreckungspolitik;er sprenge auch den alten völkerrechtlichenBegriff zwischenstaatlicher Gewalt. Ein terro-ristischer Angriff erfolge nämlich ohne Vor-warnung, wie aus dem Nichts. Die UN-Chartahingegen sei auf den antiquierten, säbelras-selnden Staatenkrieg zugeschnitten, bei demdie Gefahr im Vorfeld mit bloßem Auge zu er-kennen sei.

Die Pointe des Bush-Arguments liegt auf derHand. Da der Terrorismus bis zur letzten Mi-nute unsichtbar bleibe, sei es höchste Zeit, dieSpielräume präventiver Selbstverteidigung zu er-weitern – denn niemand könne von den USAverlangen, so lange zu warten, bis ein terroristi-scher Angriff erfolgt sei. Deshalb müsse der Si-cherheitsrat den Begriff der Selbstverteidigungnach Artikel 51 ausdehnen, genauer: den Ein-satz militärischer Gewalt auch bei einer bloß ver-muteten, latent drohenden und erst später aktu-ellen Gefahr zulassen. »Wir müssen«, so GeorgeW. Bush, »die Schlacht zum Feind tragen, seinePläne durchkreuzen und den schlimmsten Be-drohungen begegnen, bevor sie auftreten.«

Man darf sich nicht täuschen: Nicht das Re-formscharmützel, sondern der Streit um antizi-pierende Selbstverteidigung, also das Recht, »dieSchlacht zum Feind« zu tragen, ist der eigent-liche Grund für die Krise der Vereinten Natio-nen. Tatsächlich ist der Gefahrendiagnose derBush-Administration nur schwer zu widerspre-chen. Auf sie müssen die Vereinten Nationeneine Antwort finden, denn ein Völkerrecht, daskeinen effektiven Schutz mehr bietet, verliertnicht nur seine Ordnungs- und Friedensfunk-tion, sondern provoziert am Ende genau die na-tionalen Alleingänge, die zu verhindern es in dieWelt gesetzt wurde.

Wie nervös die Vereinten Nationen sind,zeigt schon der Umstand, das Kofi Annan fastbeiläufig signalisiert, das Selbstverteidigungs-recht könne auch für den Fall einer »nicht un-mittelbar« drohenden Gefahr zur Anwendungkommen (ZEIT Nr. 08/05). Gleichzeitig hat ersich dem Expertenbericht zu Eigen gemacht,der ihm in diesem Punkt zunächst widerspricht

Diese Geschichte kann man nicht oftgenug erzählen: Noch vor Ende desZweiten Weltkriegs, im April 1945,versammelten sich die Vertreter von47 Staaten in San Francisco und rie-

fen zur Revolution. Der Krieg als Mittel der Politikwurde geächtet und staatliche Souveränität einge-schränkt. Nie wieder sollte von einem NationalstaatGewalt ausgehen. Das »Recht zum Krieg« wurde ab-geschafft und eine weltweit anerkannte Organisationzur Friedenssicherung gegründet. Die Gründungs-Charta hat es in Stein gemeißelt: Die Vereinten Na-tionen sollen »künftige Generationen vor der Geißeldes Krieges bewahren«.

Der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Schonbald nach ihrer spektakulären Gründung wurden dieUN im Kalten Krieg von den Vetomächten gelähmtund gespalten. Jahre des Niedergangs wechselten mitJahren der Renaissance, und zumeist hingen Wohlund Wehe ab vom guten Willen der Mächtigen. Fürviele ist die Chronik der Irrtümer länger als die Listeder Erfolge. Srebenica geschah unter den Augen derUN, beim Völkermord in Ruanda haben sie schmäh-lich versagt. Ganz zu schweigen von Schlamperei,bürokratischem Irrsinn, Korruption, Geldver-schwendung und dem Missbrauch Schutzbefohlener.Zu schweigen auch von dem Skandal, berüchtigtenFolterstaaten den Vorsitz in der Menschenrechts-kommission zu überlassen.

Obsiegen nackte staatliche Interessenüber kollektive Friedenssicherung?

Es ist kein Zufall, dass die schwelende Krise nach demIrak-Krieg offen ausbrach. Der Krieg war eine Zäsurund traf den normativen Nerv der Vereinten Natio-nen, das Verbot zwischenstaatlicher Gewalt. Seitdemstreiten Völkerrechtler darüber, ob die UN gestärktaus dem Konflikt mit der mächtigsten Nation derWelt hervorgingen oder ob sie selbst ein Opfer desIrak-Krieges wurden. Was wird aus dem System kol-lektiver Friedensordnung, dem Herzstück der UN?Dürfen nach dem Irak-Krieg nun die »Realisten«triumphieren – also jene Politiker und Intellektuel-len, die unter Berufung auf den Philosophen Tho-mas Hobbes schon immer behauptet haben,Außenpolitik bewege sich im rechtsfreien Raum?Und nackte staatliche Interessen seien der Fels, andem jede Völkerrechtsordnung zerschellt?

Wenn Sie Recht hätten, dann triebe die Weltge-sellschaft ohne jede Perspektive vor sich hin, zerrissenvon einem endlosen »Krieg gegen den Terror«, erstarrtin kalter Panik vor terroristischen Anschlägen, durch-

zogen von unsichtbaren Gräben zwischen alten undaufsteigenden Mächten, der »Westen« gespalten inein erschöpftes Europa und ein in sich zerworfenesAmerika – und mittendrin die UN, der zahnlose Ti-ger im goldenen Käfig am East River in New York.

Eines an diesem Szenario stimmt heute schon.Das Bild, das die auf 191 Mitglieder angewachsenenUN bieten, ist kläglich. Im 60. Jahr ihres Bestehenshat ihnen Generalsekretär Kofi Annan deshalb eineReform an Haupt und Gliedern verordnet und de-ren Gelingen zur Überlebensfrage erklärt – sie sei sowichtig wie die Gründung selbst. Doch der großeUN-Gipfel im September verlief enttäuschend, undnicht nur deshalb, weil die USA ihn mit einemSperrfeuer aus Änderungsanträgen torpedierten.Kofi Annans ehrgeizige Agenda wurde bis zur Un-

kenntlichkeit verwässert; die überfällige Erweite-rung des Sicherheitsrates steht in den Sternen.

Nur einige Projekte haben Aussicht auf Erfolg.Eine »Initiative zur Friedenssicherung« soll vom Bür-gerkrieg zerrütteten Staaten nicht länger dem Schick-sal überlassen. Und nicht zuletzt auf Druck der USAentsteht ein »Rat für Menschenrechte«, der schon jetztso wirkungsvoll operiert, dass Fidel Castro und Hos-ni Mubarak ihn nach Kräften bekämpfen. Wegwei-send ist auch der von Kofi Annan eingesetzte Exper-tenbericht, der unter dem Titel A more secure worldVorschläge zur UN-Reform unterbreitet. Es handeltsich dabei, wie Kritiker gleich vermuten würden, we-der um humanitär intervenierende Verlautbarungs-prosa noch um Begriffskitsch. Vielmehr erklärt die im-ponierende Studie, warum die Bedrohung des Welt-friedens nicht mehr nur von Staatenkriegen ausgeht,sondern ebenso von Terrorismus, Epidemien, Hun-gersnöten und Umweltkatastrophen. Auch aus Srebe-nica hat man eine Lehre gezogen; im Fall massiverMenschenrechtsverletzungen sind der Berufung auf»nationale Souveränität« Grenzen gesetzt. Nicht min-der überraschend ist das Ausmaß an Missbilligung, dasdie Autoren über die Vereinten Nationen und ihreKultur der Untätigkeit niedergehen lassen.

All diese reformatorischen Lichtblicke werden je-doch überschattet vom Dauerstreit mit der amtieren-den US-Regierung. Ein kalter Krieg ums Geld ist ent-brannt, und die Bush-Administration hat dazu bei-getragen, dass jetzt zum ersten mal in der Geschichteder UN ein Haushaltsplan nur unter Auflagen verab-schiedet werden konnte. Dass Washington nichts un-versucht lässt, seine eigenen Interessen durchzusetzen,ist legitim und war schon immer so. Verhängnisvolljedoch ist der atmosphärische Klimasturz. Der ame-rikanische UN-Botschafter John Bolton erweckt denEindruck, er wolle die Vereinten Nationen zu einerSpezialfirma für postmilitärische Nachsorge entmün-digen, zu einer Mutter Teresa im Feldlazarett des He-gemon. Zudem heizen die rüden Auftritte des Anti-diplomaten Bolton die Lagerbildung an. Viele Län-der gehen wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachund verbünden sich gegen den »Westen«. Am Endeentsteht genau die Misere, als die George W. Bush undseine Kohorten die UN beschrieben haben. Der La-den sei eine Versammlung von »Plappernasen« (Ri-chard Perle) und damit »irrelevant« (Bush).

Amerika reklamiert ein eigenes »Recht zum Krieg«

Bei allem geht es jedoch nicht um Personen, nicht umdas top dog-Verhalten der USA. Es geht um die Frage,welche Zukunft den Vereinten Nationen beschiedenist, wenn ihr mächtigstes Mitglied sie mit Verachtungstraft; wenn ausgerechnet die ehemalige Initiativmachtdes Völkerrechts sich nicht mehr als Treuhänder derinternationalen Rechtsordnung versteht und gar eineigenes »Recht zum Krieg« reklamiert?

Nun mag man sich damit trösten, dass der Bruchder UN-Charta im Irak-Krieg nichts an deren Gül-tigkeit ändert. Recht bleibt Recht auch dann, wennes gebrochen wird. »Rein rechtlich gesehen, bleibt derRechtsbruch, auch wenn er keine Sanktion zu erwar-ten hat, ein Rechtsbruch und bestätigt mit diesem Tat-bestand die Existenz des Rechts. Er ist illegal undnicht außerlegal« (Hauke Brunkhorst).

Genauso sieht es auch die kompakte Majorität derVölkerrechtler. Sie vertraut auf einen unangreifbaren,sozusagen hieb- und stichfesten Kern im UN-Recht.In ihren Augen sind die USA eine »Spinne«, die in derVergangenheit entscheidend mitgeholfen hat, jedenQuadratmeter Festland mit einem Netz aus Rechts-normen zu überziehen. Was immer die US-Regierungauch unternehme, sie verfange sich im eigenen Netzund werde in den Augen der Welt an jenem Recht ge-messen, das sie in ihren heroischen Tagen hervorge-bracht hat – als Amerika noch an die Stärke des Rechtsund nicht an das Recht des Stärkeren glaubte.

Die Rede vom normativen Spinnennetz ist einschönes Bild. Fraglich ist jedoch, ob es eine dauer-hafte Dehnung oder gar Missachtung durch jeneSupermacht übersteht, die als Einzige die militäri-schen Fähigkeiten besitzt, UN-Beschlüsse durchzu-setzen und ihnen Nachachtung zu verschaffen.Denn nach dem 11. September hat sich das nor-mative Selbstverständnis der USA vollständig ge-wandelt. Mag sie zuweilen auch versöhnliche Töneanschlagen, so versteht sich die Bush-Regierung seit

46 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

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Wann ist ein Krieg gerechtfertigt?

Für »verschärfte Befragungen«:Streckstuhl in Abu Ghraib

2005 war ein Krisenjahr für die Vereinten Nationen, und der Streitum präventive Gewalt geht weiter.Die Lage im Iran liefert den USA neue Argumente für ihren Versuch,das Völkerrecht zu beugenVon Thomas Assheuer

Der Irak geht einer leuchtenden Zukunft ent-gegen. Auf den Straßen Bagdads, Hauptstadtder arabischen Welt, fahren moderne Autos. Esgibt eine moderne Polizei und eine erstklassi-ge Armee. Brücken und Fabriken und Hoch-häuser werden gebaut. Die Frauen studieren –da sitzen sie, in modischen Kostümen, vorihren Mikroskopen. Sie lachen in die Kamera.

Die leuchtende Zukunft, das war 1954.Der Film heißt Ageless Iraq und wurde von ei-ner britischen Firma gedreht. Ein Dokumentkolonialer Propaganda, 1954 waren die Britennoch im Land. Zwar war der Irak seit 1932formal unabhängig, doch die britische Mi-litärpräsenz dauerte an – 27 Jahre, bis 1959.Ageless Iraq stellte ein Reifezeugnis aus, alsSelbstlob: Wir haben dieses Land in die Mo-derne geführt.

Heute ist der Film Teil einer Installation,die zurzeit in den Berliner KunstWerken zu se-

" KUNST

Sehen ist Fernsehen hen ist, in der Ausstellung The Iraqi Equation (bis26. Februar 2006). Aufgestellt wurde die »iraki-sche Gleichung« von Catherine David, Direkto-rin der documenta X. Sie will die »vereinfachen-den« Medienbilder mit der »irakischen Kultur dervergangenen Jahrzehnte« konfrontieren.

So zeigt etwa der Künstler Samir in seiner In-stallation neben dem Kolonialfilm Ageless Iraqauch andere westliche Blicke auf seine Heimat,den Hollywood-Schinken Der Dieb von Bagdadoder die bekannten Nachrichtenbilder aus demIrak. Der eigene, der »orientalische« Standpunktist ein Standpunkt nur zwischen fremden, fremd-bestimmten Bildern. Samir lebt selbst in Berlin,auch sein Sehen ist Fernsehen.

Ähnlich bleibt die ganze Ausstellung auf Dis-tanz, Kunst aus dem Irak zeigt David überhauptnicht. Wie auch? Plünderungen und Besatzungmachen das auf absehbare Zeit unmöglich. DieKunst aus den Jahren des Exils ist allerdings auchnicht zu sehen; lediglich ein Gemälde von 1984wird gezeigt, doch das auch nicht im Original.Coffeeshop von Faisel Laibi ist eine symbolhafte

Darstellung der irakischen Gesellschaft in einerKaffeehausszene – deren Kritik recht subtil aus-fällt. Ein Militär und ein Geistlicher dominierendas Bild, werden aber keineswegs verächtlich ge-macht. Die Diktatur und ihr Grauen bleiben un-sichtbar.

Das trifft auf die ganze Ausstellung zu. Video-porträts stellen Autoren, Architekten und De-signer vor, die seit Jahrzehnten in den Metropo-len des Westens leben. Dokumentarfilme vonExilanten auf Heimatbesuch befassen sich mitder aktuellen Situation in Bagdad. Doch die Ge-waltherrschaft unter Saddam kommt nicht vor,auch der Islamismus und der Terrorismus des»Widerstands« nicht. Die Kritik der Kulturschaf-fenden und auch der Kuratorin scheint alleindem Unrecht des Krieges und der Besatzung zugelten.

So erschafft sich auch Catherine David ihrenAgeless Iraq, ihr zeitloses Wunschbild. Nur dass diewestkompatiblen Muster-Iraker diesmal keine bra-ven Bürger sind, sondern amerikakritische Künstlerund Intellektuelle aus dem Exil. Sven Hillenkamp

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s»Die schlechten Ärzte«, 1892 – eine vonEnsors wüsten Gesellschaftssatiren Das

LetzteDer englischen Universität Bath verdankenwir die wissenschaftliche Beobachtung, dassMädchen zwischen dem siebenten und elftenLebensjahr dazu neigen, ihre ehedem nochheiß geliebten Barbie-Puppen zu foltern,nämlich beispielsweise in die Mikrowelle zulegen. Fragt sich nur, welches Geständnis dieMädchen von dieser gewiss nicht puppen-würdigen Behandlung erwarten. Dass Barbieneuerdings Kopftuch trägt, weil sie sich einerradikal islamistischen Gruppe von Selbst-mordattentätern angeschlossen habe?

Ehrlich gesagt, bezweifeln wir, dass diesegrundverlogene Puppe jemals das dreisteLächeln ablegen und ihre geheimen Beweg-gründe offen legen wird. Viel wahrscheinli-cher ist, dass sie die Mikrowellenfolter gera-de dazu benutzen wird, das lange geplante At-tentat zu vollziehen: denn ihr absehbarer Todzerstört auch das kostbare Küchengerät, in-sofern sich das Puppenplastik zu einem gifti-gen Schleim auf der Innenseite des Gehäusesverflüssigt. Damit wären nicht nur dieMädchen in ihrem edlen Kampf gegen denTerror, sondern auch ihre Mütter, am Endedie ganze christliche Familie im wahrsten Sin-ne des Wortes angeschmiert. Wir fragen dieProfessoren von Bath: Ist das gerecht?

Die Professoren haben vorauseilend be-teuert, dass sich die Mädchen in einem ge-sunden Reifeprozess nur von dem Idol ihrerKindheit befreien wollen, indem sie es in ei-nen beliebig benutzbaren Gegenstand ver-wandeln. Aber einmal abgesehen davon, dassman in eine Mikrowelle gerade keine belie-bigen, sondern nur geeignete Gegenständelegen darf, ist das keine Antwort auf unsereFrage. Denn die Puppenwürde besteht nachallgemeiner Lehrmeinung eben darin, dassPuppen nicht als Gegenstände behandeltwerden dürfen. Was bliebe umgekehrt vonder akademischen Würde, wenn man Profes-soren in der Mikrowelle beobachten dürfte?

Mit anderen Worten: Aus diesem Dilem-ma kommt nur heraus, wer sich zu einem ge-sunden Rassismus bekennt. Unsere Sympa-thie gehört daher den intelligenten und ex-perimentierfreudigen englischen Mädchen,denen das tückische Wesen der Barbies nichtverborgen geblieben ist. Es mag schon sein,dass im Prinzip alle Puppen gleich sind; abereinige sind unter Ausnutzung der liberalenbritischen Asylbestimmungen heimlich ausÜbersee eingewandert. Das sind die Barbies.Für sie kann nur gelten: zurück in die ame-rikanischen Auffanglager. Oder ab in dieMikrowelle! Finis

Audio a www.zeit.de/audio

T umulte vor dem Gerichtssaal der osttürki-schen Stadt Van: Hochschulrektoren undOppositionspolitiker schimpfen gegen die

Parteilichkeit des Gerichts. Religiöse Eiferer be-drängen die Gruppe und skandieren lauthals Ko-ranverse. Drinnen auf der Anklagebank sitzt YücelAskin, Rektor der hiesigen Universität. Die Staats-anwaltschaft wirft ihm Korruption vor. Die ange-reisten Rektoren des Hochschulrates (Yök) und dieMehrheit der türkischen Medien sind sich aber ei-nig: Askin ist Opfer einer Intrige religiöser Hard-liner. Sie sehen in dem Prozess einen Angriff aufdas säkulare Establishment der türkischen Hoch-schulen, einen Angriff, den die Regierung unter-stützt.

Sicher ist: Die Anschuldigungen wirken wenigstichhaltig. So geht es bei dem Korruptionsvor-wurf um die Beschaffung von Geräten für die me-dizinische Fakultät im Jahr 1998. Damals war As-kin noch gar nicht Direktor der Hochschule. Und

so wurde er von einer Untersuchungskommissionbereits vor Jahren entlastet. Ebenso konstruiertwirkt der Vorwurf, Askin habe eine kriminelle Or-ganisation gegründet; laut Anklage besteht sie ge-rade mal aus zwei Personen. Bereits fallen gelassenhat die Staatsanwaltschaft ihren Vorwurf, Askin seiim illegalen Besitz von Antiquitäten.

Angesichts der fadenscheinigen Anklagepunk-te sagte einer der drei vorgesehenen Richter vordem Prozessauftakt, dass sich das Gericht weltweitzum Gespött machen würde, und forderte die Frei-lassung Askins. Daraufhin wurde der Richter aus-getauscht. Gegen die Unparteilichkeit des Ge-richts spricht auch, dass ein Zeuge gehört wurde,der befangen sein dürfte, weil er jüngst von Askinwegen seiner islamistischen Aktivitäten aus derUniversität entlassen wurde.

Radikale Islamisten gibt es an der Universität inVan offenbar viele. Türkische Zeitungen berichte-ten von Übergriffen auf jene Studenten, die das re-

ligiöse Fasten während des Ramadans nicht mit-machen wollten. Gerade wegen solcher Vorfälleschickte der Hochschulrat Askin 1999 nach Van.Er sollte den Islamisten Einhalt gebieten. DerAgrarwissenschaftler und Kunstliebhaber versuch-te, an der Uni einen modernen Geist zu etablieren,und ging energisch gegen religiöse Eiferer vor. Werdas Kopftuchverbot an der Uni kritisierte, handel-te sich ein Disziplinarverfahren ein. Viele Dozen-ten verloren ihren Job. Gut möglich also, dass is-lamistische Seilschaften mit Rachegelüsten hinterdem Prozess gegen Askin stecken.

Doch der türkische Oppositionspolitiker Meh-met Sevigen geht noch einen Schritt weiter und be-schuldigt die konservativ-islamische AKP-Regie-rung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan, ihreFinger mit im Spiel zu haben. »Die AKP übt poli-tischen Druck aus auf die säkularen und moder-nen Hochschulrektoren«, sagte er. Und viele Kom-mentatoren teilen diese Sicht. So schrieb Tufan Tu-

renc in der Hürriyet: »Die türkische Regierung be-treibt die Absetzung der säkularen Präsidenten derUniversitäten, um auf diese Weise ihre religiösenExtremisten auf Schlüsselpositionen zu platzie-ren.« Die türkische Regierung weist das zurück.

Der Konflikt zwischen der Regierung und denHochschulen ist nicht neu. Die Rektoren habennicht vergessen, dass Erdogan zu Beginn seiner poli-tischen Karriere islamistischen Ideologien nahestand, die die Trennung zwischen Staat und Reli-gion aufheben wollten. Zwar gibt sich der Premierals geläuterter Demokrat, doch seine Gegner trau-en ihm nicht und fürchten, dass er das Land schlei-chend islamisieren will. Erbittert leisten die Rekto-ren daher Widerstand gegen Erdogans Vorstöße, dasTragen von Kopftüchern an den Unis zu erlauben.

Jetzt scheint sich der Konflikt zu verschärfen.Nicht nur wegen des Prozesses gegen Askin.Jüngst hat die Regierung beschlossen, dass Abi-turienten von Predigerschulen künftig die gleiche

Zugangsberechtigung zu allen Unifakultäten ha-ben werden wie Absolventen herkömmlicherGymnasien. Der Hochschulrat lehnt das ab, weildie Schüler von Predigerschulen schlechter aus-gebildet seien. Auch in diesem Fall trifft man sichvor Gericht. Ferner will die Regierung 15 neueUniversitäten eröffnen, nur vier entsprechen abernach Auffassung des Hochschulrates den Qua-litätskriterien einer Hochschule. Die beiden Vor-stöße nähren bei den Rektoren den Verdacht, dassdie Regierung die Unis nach und nach mit ihrenreligiösen Günstlingen besetzen will und die Stu-denten der konservativen Predigerschulen zu ei-ner neuen Elite ausgebildet werden sollen, diedann die Islamisierung des Landes vorantreibt. Indieses Szenario passt, dass jüngst einige von derAKP verwalteten Gemeinden Alkoholverbote fürRestaurants und Kneipen aussprachen und diegemischten Badetage in Schwimmbädern ab-schafften.

Übernehmen religiöse Extremisten die Universitäten der Türkei?Islamische Eiferer werden vom Staat unterstützt,so der Vorwurf vieler Hochschulrektoren. Einer von ihnen wurde nun aus dubiosen Gründen angeklagt Von Alexander Bürgin

FEUILLETON29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 47

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Es tut sich viel im neuen Europa. Eine Bil-ligfluglinie kursiert neuerdings einmalpro Woche zwischen Frankfurt-Hahnund Rzeszow, das heißt zwischen dem

Rhein-Main-Gebiet und einer Stadt, die im altenGalizien liegt. Von Neapel nach Lemberg gibt estäglich eine Flug- und eine Busverbindung. Ber-lin ist für viele Moskauer – nicht nur für die so ge-nannten neuen Russen – eine beliebte Shopping-Adresse. Viele Firmen ziehen ins östliche Europaum, was im Westen für Unruhe sorgt. All daskommt in der Wehklage derer, für die EuropasFortschritt allein sich an der Verabschiedung einerVerfassung misst, nicht vor. Es gibt keinen Zwei-fel: Die Koordinaten Europas verschieben sich. Esentsteht ein anderer Raum – wirtschaftlich, ver-kehrsmäßig, sprachlich, kulturell.

Dazu gehört auch, dass sich Europa, das die Tei-lung hinter sich gebracht hat, ein neues Bild vonsich selbst und seiner Geschichte macht. Weit ver-breitet ist – vor allem unter Berufseuropäern – dieKlage darüber, dass es um die »europäische Iden-tität« nicht zum Besten stehe. Man spricht sogarüber Bildungs- und Erziehungsmaßnahmen, umdas »europäische Projekt« voranzubringen. Zu ei-nem guten Teil beruht diese Annahme auf einemMissverständnis: Anders als gemeinsame Währun-gen, die man einführen kann, lassen sich Identitä-ten nicht »machen« oder per Gesetzgebung herstel-len. Identitäten, zumal solche von Nationen, bildensich über Generationen, nicht im Intervall von Le-gislaturperioden, sie sind geprägt von Lebenshori-zonten und Erfahrungen, die zuweilen traumatischsein können. Wenn auch für eine »europäischeIdentität« gilt, dass sie nie weiter sein kann als dieAusbildung eines europäischen Erfahrungs- undLebenshorizontes, dann bleibt nichts anderes übrig,als die verschiedenen, nebeneinander existierenden,oft konkurrierenden und manchmal tödlich ver-feindeten Erinnerungen freizulegen und zur Spra-che zu bringen. Schicht um Schicht, Segment fürSegment. Nur so, wenn überhaupt, wird aus denvielen Stimmen und Erzählungen der europäischenVölker einmal eine Erzählung von Europa hervor-gehen können. Es wäre ganz naiv, zu glauben, so et-was ginge ohne Dissonanzen ab.

Entlang der Zäsuren und Bruchliniender Geschichte

Geert Mak, der niederländische Journalist undHistoriker, macht uns vor, wie man von Europasprechen kann, ohne zu dürren Konstruktionenund Definitionen Zuflucht nehmen zu müssen.Er zeigt uns, wie man vom 20. Jahrhundertspricht, ohne in die Illusion einer »Meistererzäh-lung« zu verfallen, von der wir uns doch geradeverabschiedet haben. Und er nimmt uns mit in einEuropa, zu dessen Wiedervereinigung auch ge-hört, dass seine unterschiedlichen, ja antagonisti-schen Erinnerungen zur Sprache gebracht und so-mit vielleicht in einem »europäischen Narrativ«aufgehoben werden können. Mak tut das im Be-wusstsein des Fragmentarischen, aber ohne damitzu kokettieren, wie es eine Zeit lang Mode war. Erlegt ein Dutzend Kapitel einschließlich Prologund Epilog vor, die zusammengenommen Europaim Jahrhundert seiner Selbstzerstörung und seinergeradezu unwahrscheinlichen Wiedergeburt vorAugen führen. Als Historiker arbeitet er sich anden Zäsuren und Bruchlinien entlang: etwa 1914und 1939, 1918/1945/1989. Er hält sich an Pe-riodisierungen, die im Großen und Ganzen auchmit den Lebenserfahrungen der in Mitleiden-schaft gezogenen Generationen übereinstimmen.

Aber Mak ist auch ein Historiker mit einemSinn für dramatische Abläufe, für das Ineinandervon longue durée und beschleunigter Ereignisge-

schichte. Europa ist der Schauplatz einer einzigar-tigen Geschichte, deren Hauptorte sich den Euro-päern nicht minder eingeprägt haben als die his-torischen Zäsuren. Zusammengenommen erge-ben sie das System von Knotenpunkten, das Ko-ordinatennetz, den Erfahrungsraum, in dem dieEuropäer Geschichte mitgemacht und miterlittenhaben. Nicht umsonst sind Katastrophen des Jahr-hunderts mit Orten bezeichnet, an denen sie sichereignet haben – Sarajevo, Verdun, Lubjanka,Auschwitz –, nicht anders als Wendepunkte – Pe-trograd, Versailles, München, Stalingrad – oderglückliche Momente der Rettung wie die Landungder Alliierten am Omaha Beach.

Mak nimmt uns mit auf seine Reise durch dasJahrhundert auf einem Kontinent, der dabei ist,

seine Einheit wiederzugewinnen. Wir werfennoch einmal einen Blick auf das alte Europa(Wien, London, Berlin, Paris, Amsterdam). Wirwandern mit ihm über die Schlachtfelder Flan-derns. Wir reisen dem plombierten Zug von derdeutsch-schweizerischen Grenze über Stockholmnach Petrograd nach. Auf vielen Wegen und Rou-ten – über die Fronten des Spanischen Bürger-kriegs, die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegesund die Paradoxien des Kalten Krieges – gelangenwir ans Ende des Jahrhunderts, das fast mit einerCoda endet: Sarajevo. Immer wieder begegnen wirÜberlebenden, Davongekommenen als dem fürEuropa in diesem Jahrhundert charakteristischenPersonal. Der Leser profitiert von der Genauigkeitund Wachheit des erfahrenen Journalisten – er war

auf den meisten Schauplätzen nicht das erste Mal,er kennt sich aus in Europa –, von seinem Gespürfür Prozesse von langer Dauer (Mak hat ein hochgelobtes Buch über das Verschwinden des Dorfesgeschrieben), von seinem Sinn für die Gegen-ständlichkeit von Geschichte (so schon in seinemBuch über Amsterdam), nicht zuletzt von der Leis-tungskraft eines Notebooks, das seine Fundstückeexakt beschreibt und festhält (die Nummer desFlugtickets von Neville Chamberlain zur Münch-ner Konferenz ist 18 249).

Natürlich beruht die Wahl der Routen, die Fest-legung der Orte, nicht auf Zufall, sondern ist wohlbedacht und gründlich vorbereitet. Es sind immerReisen in Entscheidungszentren, auf Schlachtfel-der, Frontlinien entlang, an bedeutungsvolle Peri-pherien. Aber das Genre der Reise in die Zeit undüber einen weiten Kontinent ist doch so offen undelastisch, dass sich vieles integrieren lässt: weitläufi-ge Zitatpassagen, die oft hellsichtiger und genauersind als alle Analysen post festum (etwa RosieWaldecks Berichte aus dem Hotel Athene Palace inBukarest oder Harold Nicolsons Tagebucheintra-gungen), Selbstgespräche und Interviews wichtigerAkteure der Zeit. Geert Mak hat sein fast 1000 Sei-ten starkes Buch nach dem Ende der großen Eu-phorie von 1989 geschrieben. Das, vor allem aberder bestürzende Rückfall Europas in den Krieg – dieAnalyse der Jugoslawien-Kriege gehört mit zu denklarsten und eindrucksvollsten Kapiteln – und derAnschlag auf das World Trade Center lassen die Rei-se ans Ende des 20. Jahrhunderts in einem eher be-sorgten denn enthusiastischen Ton auslaufen. Auchhier kein Ende, wie es sich für eine traditionelleMeistererzählung gehört.

Ein europäisches Café, in dem sich dieMenschen ihre Geschichten erzählen

Mak war sich des Risikos seiner Reise durch dasJahrhundert offenbar bewusst, und der Leser folgtmanchmal gespannt der Tour, wie er es wohl hin-kriegt, über ein ganzes Jahrhundert zu schreiben,ohne in die Falle eines »kurzen Lehrgangs« zu ge-raten, wie er es vermeidet, über die Friedhöfe vonDouaumont und Ypern zu gehen, ohne in die Be-schreibung von europäischen Gemeinplätzen zuverfallen. Es gibt nur wenige Stellen, wo der Textdie Züge eines abstract annimmt, und meist sindsie sogar – wie bei der Zusammenfassung der un-geheuren Menschenopfer – notwendig und lehr-reich. Oft arbeitet Mak mit charakteristischen mi-krologischen Details (die Beschreibung von Chur-chills Landhaus in Chartwell) oder mit manchmalnicht unriskanten Pointierungen (Lourdes als »LasVegas der Schmerzensreichen«, Pripjat bei Tscher-nobyl als das »Pompeji des 20. Jahrhunderts«).

Am Ende der Reise durch das 20. Jahrhundert,entlang der Bruchlinien und der Schütterzonenunserer Zivilisation, präsentiert uns der Autor eineArt Resümee: Europa sei wahrscheinlich nie soreich, so homogen, so dicht verwoben gewesen wievor dem Beginn der Weltkriegsepoche, also vor der»Urkatastrophe« von 1914. Geert Mak schlägt da-her auch nicht ein utopisches Projekt Europa vor,sondern etwas schon Erprobtes, so etwas wie eineAgora oder – etwas zeitgemäßer – ein europäischesCafé, in dem die Europäer endlich sich ihre Ge-schichten erzählen können, wozu sie in den Tur-bulenzen und Verfeindungen des Jahrhundertsnicht gekommen sind. Dort, im Strom der Erzäh-lungen und in der Dissonanz des Stimmengewirrs,werden wir erfahren, wie Europa geworden ist, wases heute ist.

Geert Mak: In EuropaEine Reise durch das 20. Jahrhundert; Siedler Verlag, München 2005; 944 S., 49,90 ¤

Die Erinnerung verklärt

Aber die Literatur erzählt unsdie andere Seite

Charles-Joseph Fürst von Ligne (1735 bis1814) muss ein interessanter Mann gewesensein. Er stammte aus niederländischem Adel,trat als Feldmarschall in österreichische Diens-te und war General im Siebenjährigen Krieg.Er galt als einer der geistreichsten Köpfe seinerZeit und korrespondierte mit Goethe, Wie-land und Voltaire. Aus seinen Pensées & Frag-ments veröffentlicht das auch sonst empfeh-lenswerte »Jahrheft für Literatur und Kritik«Zeno (erhältlich bei [email protected]) ei-nige Auszüge, die einen Denker von Lichten-bergschem Witz und Tiefblick erkennen las-sen. Wobei viele dieser Aphorismen eben nichtpartout auf eine Pointe aus sind (was nur deraphoristische Dilettant für ein Gesetz hält),sondern ganz lakonisch einfache Weisheitenfesthalten wie etwa diese: »Vergangenen Zei-ten trauern wir immer nach; die Gegenwart istihnen unterlegen. Man erhöht, was nichtmehr existiert, man setzt herab, was existiert.«

Der Fürst von Ligne belässt es bei dieserBeobachtung, er erklärt sie nicht. Sie gilt heu-te nicht minder als damals. Ein Grund dafürmag das menschliche Gedächtnis sein, dasSchmerzen und Niederlagen leichter vergisstals Triumphe. Anders wäre es kaum zu ver-stehen, weshalb Frauen, die einmal unterQualen geboren haben, das Gebären wiederund wieder auf sich nehmen; oder weshalb dieStrapazen eines Marathons noch kaum einenLäufer davon abgehalten haben, ihn aufsNeue zu laufen. Es scheint aber auch, dass see-lische Leiden, von den furchtbaren traumati-schen Erfahrungen abgesehen, im Lauf derZeit allmählich verblassen. Schließlichkommt die banale Tatsache hinzu, dass dasmenschliche Leben kurz ist; und je sichtbarerdas Ende näher rückt, desto wertvoller er-scheint die verstrichene, die gelebte Zeit, alsodas Vergangene.

Dass der Mensch vergessen kann und ver-gisst, ist in alltäglichen Dingen oftmals lästig,alles in allem aber wohl ein Segen. Es gibt je-doch einen Ort, wo die vergessene oder ver-drängte Erinnerung so aufbewahrt wird, dasssie einerseits keinen Schaden mehr anrichtet,andererseits denjenigen, der ihn aufsucht, da-rüber belehrt, wie sehr der Fürst von LigneRecht hat: Die alten Zeiten waren nicht bes-ser. Dieser Ort ist die Literatur.

Die großen Schriftsteller erzählen uns vonjenen bitteren und traurigen Erfahrungen, diewir zu unserem Trost meist vergessen und de-nen wir nun, gemildert durch den zeitlichenAbstand und die Kunst der Sprache, von neu-em begegnen. Die Schrecken des Krieges, wieman sie bei Grimmelshausen findet, diemenschliche Bosheit, wie Balzac sie uns schil-dert, das soziale Elend bei Dickens, die Ex-zesse der Grausamkeit bei Shakespeare oderKleist, die Abgründe der Finsternis, in die unsPoe oder Kafka blicken lassen – wer dies liest,erfährt viel über das Wesen des Menschen undgewinnt zugleich einen deutlicheren, einenwohlwollenderen Blick für das, was existiert.Und blickt vielleicht ein wenig gefasster in dieZukunft. Ulrich Greiner

LITERATUR VelázquezMartin Warnke lässt uns

die Bilder des großen Malers besser verstehen

Von Andreas Beyer Seite 52

Europa leuchtet: Endlich wächst zusammen, was zusammengehört

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50 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

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LITERATUR

E s ist nichts dabei, mit Netz und doppeltem Bo-den sich schreibend vorzuwagen, nach An-haltspunkten zu suchen, um zu wissen, wovon

wir abspringen. Heidegger, der einiges über doppel-te Böden und das Bodenlose zu sagen hatte, fragteaus Anlass des fünfhundertjährigen Jubiläums derUniversität Freiburg 1957: »Wohin springt der Ab-sprung, wenn er vom Grund abspringt? Springt er ineinen Abgrund?« Englische Philosophen springenungern ins Nichts und verweigern solchen Fragen bisheute die Aufnahme in philosophische Seminare,von denen es auf den Britischen Inseln ohnehin nichtmehr viele gibt. Und würde sich eine solche Frage aufeinen britischen Campus verirren, dann würde da-raus vielleicht der Anfang eines Campusromans. Za-die Smith, seit ihrem Roman White Teeth nicht mehrnur ein Geheimtipp multiethnischer Prosa, hat unsmit einem weiteren Erzeugnis dieses Genres be-schenkt. On Beauty lautet der Titel, der eher eine phi-losophische Abhandlung aus dem Laptop eines Neo-sensualisten verspricht als geistige Campusintimität.

Doch genau diese bietet und parodiert ZadieSmith nach buchstäblich allen Regeln ihrer be-trächtlichen Erzählkunst. Und um Kunst geht es indiesem Roman unter anderem, um eine erfolgreiche,aber oberflächlich-apologetisch geschriebene Rem-brandt-Studie und eine tiefgründige, aber kunsthis-torisch unzulänglich gearbeitete, Fragment gebliebe-ne Polemik gegen Rembrandt. Der eine Verfasser,Monty Kipps, stammt aus der Karibik und trägt sei-ne reaktionären Ansichten gern zur Schau, der ande-re, Howard Belsey aus England, mimt den Freizügi-gen, der geistige Absprünge als Seitensprung defi-niert. Die Handlung, das Aufeinandertreffen vonzwei inkompatiblen Familien, ist E. M. Forsters Ro-man Howard’s End nachempfunden, zuweilen auchdie Stilebenen. Das ist der doppelte Boden, ZadieSmiths Rückversicherung sozusagen, von dem aus siedas doppelbödige Intellektuellenmilieu in Massa-chusetts beschreibt.

Und Julian Barnes versucht sich an ArthurConan Doyle in seinem neuen Roman Arthur andGeorge, wobei »George« sich auf den BirminghamerAnwalt indischer Abstammung George Edjali be-zieht, dessen Fall der Sherlock-Holmes-Autor einstso aufgriff wie Emile Zola den Fall Dreyfus. Edjaliwurde nämlich im spätviktorianischen Englandfälschlicherweise verurteilt, in Staffordshire Weide-vieh und Pferde geschändet, Euter und Genitalienverstümmelt zu haben. Conan Doyle fand in Sher-lock-Holmes-Manier dagegen heraus, dass der Sohneines Pastors der Schuldige war, und rollte den Fallerneut auf. Grund genug für Barnes, dieses Aufrol-len novellistisch auszubreiten. Von Flauberts Papageizu Conan Doyles Steckenpferd, dem unerbittlichenAufspüren von Wahrheiten über seine Gesellschaft

– in der literarischen Menagerie des Julian Barnesfehlt jetzt nur noch Schopenhauers Pudel.

Es erzählt sich heute gut über die Erzähler voneinst. Colm Tóibín hat dies bekanntlich am Beispielvon Henry James erfolgreich vorgeführt, als er seinjetzt auch auf Deutsch zu bestaunendes Porträt desMeisters in mittleren Jahren entwarf. Nach dem Mot-to: Man handelt so lange von den Großen, bis sieselbst auf einen abfärben.

Wovon man redet im anglophonen literarischenLeben? Von der schönen Padma Lakshmi-Rushdieund davon, dass es über ihre Ehe mit Salman nichtszu reden gibt. Er hat sich dafür wieder ganz litera-risch ins Gespräch gebracht – mit einer ganzen In-terview-Flut über seinen neuen Roman Shalimar theClown, eine Prosaelegie auf das Tal von Kaschmir, ei-ner nach der Teilung des Subkontinents von islamis-tischer Gewalt und indischen Militärinterventionenzerrissenen Provinz. Nach dem Zerbrechen seinerEhe mit Boonyi Kaul, einer hinduistischen Tänze-rin, die sich mit einem gewissen Max Ophuls, demvon ihrem Tanz bezirzten amerikanischen Botschaf-

ter in Indien, eingelassen hat, entschließt sich Shali-mar Noman, sein Clowndasein aufzugeben und sichdem kaschmirischen Widerstand gegen das US-ge-stützte Pakistan anzuschließen.

Ophuls’ und Boonyis Tochter Kashmira, die, inden USA aufgewachsen, ihre Mutter nicht kennt,entdeckt nach dem Tod ihres Vaters dessen sinistreMachenschaften. Er hat Terroristen von seinem Ein-fluss profitieren lassen, was paradoxerweise auch demgehörnten Shalimar Noman zugute gekommen seindürfte. Zudem erfährt sie immer mehr überKaschmir als Tal des Todes und das Leben im Zu-stand vielfacher Zerrissenheit. Shalimar the Clown er-innert am ehesten an Rushdies frühen Roman Shame(1983), in dem eine zerrissene Familie in Pakistannach Orientierung sucht. Dass diese Orientierungimmer wieder von der problematischen »Größe« desfundamentalistischen Islamismus ausgeht, bleibtRushdies existenzielle Sorge.

Ja, die Größe. Da denkt man unwillkürlich anShakespeare und damit auch an Peter Ackroydsjüngste biografische Leistung Shakespeare: The Bio-graphy. Und wieder stößt man sich wie schon bei sei-nem London-Buch nur an einem Wort – dem be-stimmten Artikel im Titel: Die Biografie. Ist das einAnflug von Größenwahn oder Parodie? Denn werwill schon behaupten, die Biografie von Shakespearegeschrieben zu haben? Ackroyd betont den in Shake-speare verinnerlichten Katholizismus, steuert aberauf eine andere Qualität des Dramatikers zu: auf sei-ne vermeintliche Unentschiedenheit. Er sei unfähiggewesen, Partei zu ergreifen; ästhetischen Dramen-konzeptionen sei er nicht gefolgt, sondern habe reinunbewusst, instinktiv seine Szenarien entworfen odereinfach der Gesellschaft in ihrer schon damals ver-wirrenden Buntheit seinen Spiegel vorgehalten. Nun,ganz so spektakulär ist das nicht.

Shakespeare bleibt jedoch auch weiterhin für(Pseudo-)Überraschungen im Literaturbetriebgut. Clare Asquith, Diplomatin und Gelehrte, diein Zeiten des Kalten Krieges das Sowjetregime er-lebte, behauptet in ihrem Buch Shadowlands, dassder Barde aus Stratford ein politischer Rebell imNamen des Katholizismus gewesen sei und sich inseinen Dramen bestimmter Codes bedient habe,die seinen verschwörerischen Mitstreitern gegendas elisabethanische Protestantenregime als Si-gnalwörter gedient hätten. Beispiel: Wann immersich Shakespeare der Zahl Fünf bediente, habe erdie fünf Wundmale von Christus gemeint. Und imelisabethanischen England galt die Fünf als Zahlder Katholiken. Fragt sich nur, wie viele Auffüh-rungen solcher codierter Shakespeare-Stücke einkatholischer Verschwörer besuchen musste, umsich an ihrer Größe aufzurichten und sie in ent-sprechend große Taten zu verwandeln.

Mit Netz unddoppeltemBoden Worüber Londoner Leser sprechenVON RÜDIGER GÖRNER

LONDON

EUROPÄISCHES TAGEBUCH

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Geschichte verdichtet sich nicht nur in Hand-lungen, sondern auch in Debatten. Der Lite-raturwissenschaftler und Journalist EberhardRathgeb hatte die originelle Idee, unter demTitel Die engagierte Nation rund 90 Debat-tenbeiträge, Aufrufe, Interviews und Artikelaus den letzten 60 Jahren zusammenzustellen.Herausgekommen ist eine ebenso farbige wievielstimmige Sammlung von Texten deut-scher Schriftsteller, Wissenschaftler, Politiker,Journalisten und Intellektueller.

Die Texte sind chronologisch geordnetund ergeben so ein Geschichtsbuch ganz ei-gener Art. Nach Rathgebs Hauptkriteriumsollen die ausgewählten Texte »das intellektu-elle Profil« eines Autors darstellen und gleich-sam Sache und Person, »Argument undExistenz«, verknüpfen. In vielen Fällen istdies dem Autor glänzend gelungen, in ande-ren werden die Autoren mit der Auswahl eherhadern: Karl-Heinz Bohrers Profil repräsen-tiert sein peinlicher Auftritt als Falkland-Krieger (1982), und Wolf Biermann siehtsich auf den Irak-Krieger (1992) der erstenStunde reduziert.

Etwas schwieriger erfüllbar war das zweiteKriterium, denn die ausgewählten Texte soll-ten nach Möglichkeit »erste Auftritte« oderwenigstens frühe dokumentieren. Die beidenKriterien konnten nicht immer gleich über-zeugend erfüllt werden, denn nicht bei allenAutoren zeigte sich deren Profil in den frühenArbeiten.

Die einzelnen Texte hat Rathgeb mit einerEinleitung versehen, die den sachlichen undpolitischen Kontext des Beitrags umreißt so-wie den Autor vorstellt. Die sachlich, iro-nisch, gelegentlich polemisch gehaltenenEinleitungen orientieren über die wichtigenpolitischen Debatten und gesellschaftlichenKonflikte. Kleine Fehler tangieren die imGanzen solide Kommentierung nicht: FritzBauer war nicht Generalbundesanwalt, son-dern Generalstaatsanwalt in Hessen; Nagasa-ki wurde nicht einen Monat, sondern dreiTage nach Hiroshima bombardiert und diePariser Verträge nicht im Oktober 1955, son-dern ein Jahr zuvor unterzeichnet. Über ein-zelne Akzentsetzungen Rathgebs kann mannatürlich streiten.

Das gilt auch für die Auswahl der Auto-ren, bei der die Vorliebe Rathgebs für rechts-liberale und konservative Autoren auffällt.Das würde nicht weiter stören, wenn nichteher subalterne Autoren aufträten und dafürmarkante Figuren, die die »engagierte Na-tion« mitgeprägt haben, völlig fehlten – umnur einige zu nennen: Peter Szondi, Hans-Ulrich Wehler, Alexander Kluge, GerhardSzczesny, Max Bense oder Carola Stern.

Am meisten Zündstoff für die Debatten lie-ferte die Auseinandersetzung mit der national-sozialistischen Vergangenheit, die trotz der In-terventionen von Hermann Lübbe, Ernst Nol-te, Martin Walser und anderen immer präsentblieb – wenn auch mit unterschiedlichen Ak-zenten. Hier hat Rathgeb viele wichtige Textewieder zugänglich gemacht, was den Ge-brauchswert der Anthologie beträchtlich stei-gert. Dazu zählt der Artikel von Carlo Schmidüber Vaterländische Verantwortung (1945), derangesichts der katastrophalen Lage Patriotendaran maß, ob sie »es wagen zu sagen, was seinmuss, was zu tun ist«. Bis zum »Verfassungs-patriotismus« war es also noch weit, aber jetztkann man nachlesen, was Dolf Sternberger1979 mit dem Begriff meinte. Auch die De-batten um die Studenten-, Frauen-, Umwelt-und Friedensbewegung dokumentiert derBand mit prägnanten Texten von Jürgen Ha-bermas, Alice Schwarzer, Jürgen Dahl undPetra Kelly auf der einen sowie von Ernst To-pitsch, Karl-Heinz Bohrer und Robert Spae-mann auf der anderen Seite. Als haltlos erwiessich inzwischen Luhmanns 1990 vorgetrageneImprovisation über das Ende der Protestkulturund der Gesellschaftskritik.

Das flexible Auswahlkriterium der Verbin-dung von »Argument und Existenz« lässt Rath-geb auch Spielraum für sublime Ironie. DerText zur jüngsten, aufgeregten Debatte überdie demografische Entwicklung des Landes er-schien als Vorabdruck in einer großen Boule-vardzeitung, was nur belegt, dass Lautstärkeund mediale Streuung einer Debatte nichts be-sagen über deren Gehalt. Rudolf Walther

Eberhard Rathgeb: Die engagierte NationDeutsche Debatten 1945–2005; HanserVerlag, München 2005; 448 S., 24,90 ¤

Vielstimmiges Streitkonzert " BUCH IM GESPRÄCH

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Nr. 1 S. 51 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 51 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1 51LITERATUR

D iese Rezension schreibt sich nicht wie ir-gendeine. Denn das Buch, das hier ange-zeigt wird, ist eine Reprise, das Eastend,

das hier zu einem Londoner Stadt-Pandämoniumaufgebaut wird, war schon vor mehr als zwanzigJahren gruselnd zu besichtigen, und der Fall desSchriftstellers Almund Grau, der sich in den Psy-chotherapeuten Almond Gray verwandelt, ist zuBeginn der Achtziger nach allen Regeln des dama-ligen kritischen Vokabulars (»Phantastisch undverspielt«, »witzig und bewegend«) abgehandeltund hochgejubelt worden. Wir feiern also ein Wie-dersehen, ein Wiederlesen; die Renaissance eineslebenden Autors, seine fröhlichen Urständ: O dulieber Augustin!

Aber noch etwas anderes hemmt die Routine;ein ganz anderes Déjà-vu macht sich geltend. Esist die Reminiszenz an eine Fata Morgana, mitder, im Namen Ernst Augustins und als wär’s einStück aus einem seiner Bücher, die Buchmesse1970 aufgemischt worden ist. Erinnert sich nochjemand? Hat der eine oder die andere noch imKopf, was damals, vor 35 Jahren, der zunächstnur geraunte, dann zwischen Ständen und Wi-derständen diskutierte Satz war, der dem Bücher-klau die Schau stahl und die Kulturkritik rotie-ren ließ? Es war eine Provokation mit dem Selbst-verständlichen: »Es wird wieder erzählt.« Dassjust der Suhrkamp Verlag, damals noch vielfachmit »Texten« und der so genannten »Faction«(Walser) befasst, diese Devise ausgab, machte dasAufsehen erst perfekt. »Es wird wieder erzählt« –das war nach den Todesnachrichten von der Li-teratur in der Tat ein starkes Stück, und es war zu-gleich ein Motto für das folgende Jahrzehnt: Eswurde wieder erzählt.

Den Anstoß zu dieser sanften Ungeheuerlich-keit aber hatte ein Roman von Ernst Augustin ge-geben mit dem kuriosen Titel Mamma und demlockenköpfigen Bild des Autors auf dem Cover:eine wilde Fabuliergeschichte, ein Buch wie einfliegender Teppich, eine von orientalischer Fanta-sie gespeiste Story über die Karriere dreier Brüder;ein Werk, das einem Satz von Hans Magnus En-

zensberger (über Ernst Augustins Erstling DerKopf ) abermals Recht gab: »Der bodenlose Scherzsucht in unserer Literatur seinesgleichen.« Augus-tin, so fand der damals mit dem Waschzettel be-traute Lektor, hatte wirklich seinesgleichen nicht,er betrieb eine ganz eigene Art der Wortzauberei,der Wirklichkeitsverwandlung, der IllusionskunstSchreiben, er hatte etwas von einem Karawanserei-Magier –; und alle diese Eindrücke konzentriertensich eben in dem simplen Satz: »Es wird wieder er-zählt.«

Aber der Satz wird nicht herbeizitiert aus derEitelkeit dessen, der ihn erfand; sondern weil ernach wie vor das Erste und Beste ist, was mir zuErnst Augustin einfällt. Seine Art zu erzählen isteinzigartig, traumatisch, hypnotisierend undrauschhaft verstörend. Ich wüsste keinen heuti-gen Autor, der dem Leser so rasch und so unwi-derstehlich den Boden unter den Füßen weg-zieht, der den Schritt vom Alltag zum Albtraummit so wenigen Worten zu beschwören, der durcheine Stadt wie ein Führer durchs Inferno zu ge-hen vermag.

Augustin ist sich dieser Virtuosität bewusst; aneiner Stelle von Eastend spricht er sich aus: »DieKunst ist die einzige wirkliche und wahre Magie,nicht schwarz, sondern weiß und erlaubt, ja, mehrals erlaubt. Man verzeihe mir, daß ich (zum wie-vielten Male?) mich meinem Thema zuwende: derBeseelung von Materie. Und der Kunst als einzigbekanntem legitimem Beispiel, den Vorgang, undsei es auch nur auf die ärmlichste, schamlosesteund unvollkommenste Weise, zu wiederholen …Die Geste des Blühens, rief ich aus, die schamhafteärmliche kleine Geste, die Kunst, Mann, dieKunst ist übrig geblieben von alledem …«

Eastend ist ein Roman aus der großen Zeit derSelbstfindungen und Gruppensitzungen, aus jenerheroischen Epoche, da die halbe westliche Welt dieErfahrung des Berliner Witzes machen musste:»Mensch, jeh in dir!« – »War ick schon, ooch nischtlos.« Wie da, im ersten Teil seiner Erzählung, Au-gustin ganz lakonisch, protokollarisch, hinter derSanftmut und Gelassenheit solcher Séancen ihre

Dämonie zum Vorschein bringt, wie er die Be-gütigungsgesten als Brachialgewalt enttarnt, dasverrät nicht nur den Artisten, sondern auch denPsychiater, der Augustins anderer Beruf ist. Abermit den »Sitzungen wird auch das Hauptmotiv, dasModell des Buches etabliert: Der Geist aus der Fla-sche wird freigesetzt. Robert Louis StevensonsBottle Imp steht metaphorisch Modell für diesenRoman bis hin zur grotesken Parodie: Da befreitder in einer Londoner Großbaustelle herumirren-de Erzähler einen Ladenbesitzer, der sich, ehe dieganze Gegend mit Bauzäunen abgeriegelt wurde,in einem als Colaflasche designten Kühlschrankeingesperrt hatte. Und der Retter hat nun, wie beiStevenson, drei Wünsche frei …

Aber solche Happenings und Allegorien ma-chen, im Abstand von 25 Jahren, nicht mehr Witzund Wichtigkeit des Buches aus. Was den Romanganz modern erscheinen lässt, ganz heutig, ja fastwie unter dem Eindruck der Londoner Terroran-schläge geschrieben, ist die unheimliche Phan-tasmagorie der großen Stadt, die panische Per-spektive des Einzelnen, der in ihr dauernd Gefahrläuft, sie wie in einem fortgesetzten Waffengangdurchquert. Da herrscht nicht mehr die naturidyl-lische Vorstellung Walter Benjamins (»in einerStadt aber sich zu verirren, wie man in einem Waldsich verirrt«), sondern die begehbare Chaostheo-rie. Die Welt ist aus den Fugen und sucht sichWohnung in den Metropolen. Der Geist ist aus derFlasche und lässt keine Wünsche mehr übrig. DieZerstörung der Urbanität wird zum Merkmal derneuen Urbanität. Die Trümmerteile werden vonBauzäunen zusammengehalten. Die AußenbezirkeLondons werden zum Notquartier für die Kata-strophe Globalisierung. Der berühmte Schmelz-tiegel erhitzt sich zum Höllenofen. Ernst Augustinhat das vorausgeschrieben. Es wurde schon alles er-zählt.

Ernst Augustin:EastendRoman; Verlag C. H. Beck, München 2005; 328 S., 22,90 ¤

Erinnert sich noch einer? Ernst Augustins genialer Roman aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts VON DIETER HILDEBRANDT

Zwei angenehm entspannte Bücher über1968 und die Folgen gibt es zu lesen, dienicht schlecht in eine Zeit passen, in derbehäbig gewordene Altlinke sich aus der

Politik verabschieden und die Große Koalition dieschon seit längerem eher verbalen Unterschiede zwi-schen rechtspragmatisch und linkspragmatisch voll-ends verwischt. In nächster Zeit werden wir kaumnoch das christlich-konservative Keifen über 68er-Umtriebe und -Verfehlungen zu hören bekommen.Mildes Lächeln und Spätgeborenheit vereint alle. Inden Talkshows sitzen die Zankhähne von gesternbrüderlich nebeneinander, schlagen im selben Au-genblick auf dieselbe Art die Beine übereinanderund demonstrieren mit dieser synchronen Körper-sprache Einigkeit. Alles für unser Land.

Es war einmal anders. Daran erinnern RichardDavid Precht in einem autobiografischen Rück-blick, der sich komisch und verheißungsvoll Leninkam nur bis Lüdenscheid nennt, und Bernd Caillouxin einem Roman, der so knackig und trocken istwie sein Titel: Das Geschäftsjahr 1968/69 – zwei völ-lig verschiedene Bücher zweier völlig verschiedenerAutorentemperamente, die fast eine Generationtrennt. Was sie verbindet, ist ihre Lässigkeit, ihr lie-

benswürdiger Blick, die Distanz zu ihrem Gegen-stand: dem linken Milieu der sechziger beziehungs-weise siebziger Jahre.

Der 1964 geborene Precht beschreibt seineKindheit in Solingen bei DKP-Eltern. Die moskau-treue Deutsche Kommunistische Partei liefertezwar mit Lehrern und Postboten, gegen die als Be-amte zu Beginn der siebziger Jahre das berühmteBerufsverbot verhängt wurde, etliche angeblich ver-fassungsfeindliche Märtyrer, mit ihrer Nähe zurDDR aber war diese Partei der studentischen Lin-ken zu spießig und nicht revolutionär genug. DieDKP spielt in der linken Erinnerungsliteraturkaum eine Rolle. Man hörte lange nichts aus die-ser Ecke. Um so dankenswerter, dass wir nun inti-men Einblick in eine dieser mattroten Privatzellenbekommen, in diese Sommerfeste, wo das Sanda-

lentragen und Kettenrauchen noch kein Wider-spruch war.

Das Buch sollte von all denen gelesen werden,die früher nicht oft genug Marx zitierten, heute indie Kirche rennen und sich bei jeder Gelegenheit be-eilen, das Liebäugeln mit sozialistischen Idealen alsgroteske Jugendsünde darzustellen. So schlimmnämlich kann der westdeutsche Kommunismus mitseinen verschwörerischen Liedern von Franz JosefDegenhart und seiner DDR-Sympathie nicht ge-wesen sein. Die Unstimmigkeiten kommunistischerEltern führen im Gegensatz zu religiösen Repressa-lien zu keinen psychischen Beschädigungen. An die-se Kindheit erinnert sich der Autor gern und amü-siert. In Prechts Elternhaus herrschen durchaus ver-nünftige Erziehungsideale und eine politischeNachdenklichkeit, die im gegenwärtigen Zeitalterdes politischen und pädagogischen Schulterzuckensjedem Unionspolitiker Tränen der Rührung in dieAugen treiben dürften, und der peinliche Radika-lenerlass (der Brandt-Regierung), mit dem harmlo-se DKP-Mitglieder vom öffentlichen Dienst ausge-schlossen wurden, müsste mittlerweile sogar FrauSchavan als historischer Wahn erscheinen.

Seinen Charme gewinnt Prechts Buch aus derPerspektive. Gekonnt und konsequent berichtetder Autor – solange es geht, aus der Warte des he-ranwachsenden Kindes – von der Wärme und denUngereimtheiten im häuslichen Nest: ein schein-bar naiver Simplizissimus, der sich langsam undpfiffig die Welt erschließt. Sehr komisch, wie ersich in der Schule auf Anraten der Eltern nichts ge-fallen lässt, noch komischer, wie er Ferien in derDDR verbringt und den neugierigen Ostkindernkeine Auskunft über beliebte Westfernsehsendun-gen geben kann, weil er die als braver Verächter deskapitalistischen Fernsehens gar nicht kennt.

Der Kindheitshauptteil von Lenin kam nur bisLüdenscheid wurde von den bisherigen Rezensenteneinhellig gelobt, Schwächen wollte man am Schlusserkennen, der zu allgemein zeitgeschichtlich gera-ten sei. Ich finde den Schluss besonders persönlichund interessant. Wie die linken Hoffnungen porö-ser werden, wie die Roten immer grüner werden,wie der Zusammenbruch der DDR auf eine Fami-lie wirkt, die von außen fest an den Arbeiter-und-Bauern-Staat geglaubt hat – das ist eine West-Wen-degeschichte, anders und ebenso aufschlussreich zulesen wie die gefeierten Wenderomane aus demOsten. Am eindrucksvollsten eine zufällige Begeg-nung des Autors 1997 mit dem ehemaligen US-Außenminister Alexander Haig in der deutschenBotschaft in Washington. Precht will dem Mann,der den Tod Tausender von Vietnamesen zu ver-antworten hat, nicht die Hand geben, und er willihm auch sagen, warum. Gespenstisch, wie ihm derdaraufhin den Arm um die Schulter legt: »Thesewere the good old days, my friend.«

Bernd Cailloux, Jahrgang 1945, hat für seinenRückblick die Romanform gewählt. Auch Das Ge-schäftsjahr 1968/69 ist keine Abrechnungsliteraturund erzählt keine Märchen von Pflastersteinen

und vom wilden Demonstrantenleben. Der Ro-man ist als dezente Broschur in der traditionsrei-chen edition suhrkamp herausgekommen, in derseinerzeit viele wichtige 68er-Bücher in ähnlicher,demokratisch gewollter Bescheidenheit dem intel-lektuellen Publikum präsentiert wurden. DieseBücher von Adorno, Marcuse und Benjamin wa-ren damals voller Ideologie, sie wurden zumindestideologisch gelesen. Cailloux’ Roman macht deut-lich (und für seine Altersgenossen erinnerlich),dass die 68er keineswegs alle Marx zitierende undauf dem Establishment herumhackende Dutsch-kes waren, sondern auch schräge und großspurigeVögel mit verrückten Ideen, die Geld verdienenund die Gesellschaft und den Kapitalismus ir-gendwie für sich ohne viel ideologisches Geredezurechtbiegen wollten, die lieber zu Drogen grif-fen als zu linker Literatur. Entsprechend hängt eingroßes Poster »mit dem Drahthaarkopf von JimiHendrix« in so manchem Zimmer. »Hippie-Busi-nessman«, so stellt sich der Ich-Erzähler selbstnicht unzutreffend einem Geschäftspartner vor.

Wie Precht blickt auch Cailloux ohne jedenZorn zurück. Die Vergangenheit ist komisch undliebenswert. Die linken Hoffnungen scheiternohne Häme. Wie aus dem Geschäft und aus derLiebe nichts wird – das hält den Leser in Atem. ZuRecht wurde von der Kritik unisono Cailloux’Sprache gerühmt. Hinreißend zutreffend, wie derIch-Erzähler seine Zeit bei der Bundeswehr be-schreibt, der man sich in den sechziger Jahren nichtso leicht entziehen konnte. Heute, da sich Schrö-der mit dem großen Zapfenstreich als Kanzler ver-abschieden lässt und das Tamtam öffentlicherGelöbnisse ohne nennenswerten Protest vor demReichstag über die Bühne geht, kann eine Erinne-rung an die Stupidität des Militärs, an die lächer-lichen Ausbildungsrituale und an die niederträch-tige Psychologie des Gehorchens nicht schaden.

Schön trocken erzählt, man fiebert mit. Makel-los die Liebesszenen, die besonders komisch ausfal-len, weil die 68er-Befreiungserwartungen im Bettmangels Erfahrung so hübsch mit der Wirklichkeitkollidieren. Régine – man schließt sie als Leser insHerz und nimmt sie vor ihrem Freund in Schutz.Tröstlich, dass auch ein intellektueller Roman sol-che Anteilnahme weckt. Es hat dann nicht geklapptmit Régine, schade. Sie hat einen Kinobesitzer in derLüneburger Heide geheiratet und zwei Kinder. Dasalte Lied. In einen großartig einfachen Satz wird ihrganzes weiteres Leben gefasst: »Régine hatte sich fürüberschaubare Illusionen entschieden …«

Richard David Precht:Lenin kam nur bis LüdenscheidMeine kleine deutsche Revolution; Claassen Verlag, Berlin 2005; 352 S., 18,– ¤

Bernd Cailloux:Das Geschäftsjahr 1968/69es 2408, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005; 252 S., 10,– ¤

Überschaubare IllusionenRichard David Precht und Bernd Cailloux werfen einen erhellenden Blick auf die 68er-Zeit VON JOSEPH VON WESTPHALEN

Die zur Kunst nobilitierte Katastrophe – sokönnte man den Vulkan von Wörlitz nennen,jenes in Erinnerung an glückliche und lehrrei-che neapolitanische Tage in den Elbniederun-gen von Sachsen-Anhalt durch den FürstenLeopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessauund seinen Architekten Erdmannsdorff errich-tete Kuriosum, das in diesem Herbst, nach200-jähriger Feuerpause, wieder zum theatra-lischen Leben erweckt wurde. Der künstlicheVulkan, zwischen 1788 und 1794 als Zentrumeiner künstlich aufgeschütteten kleinen Inselinmitten künstlicher italienischer Reminiszen-zen gebaut, ist der einzige seiner Art in Euro-pa. Und die exzentrische Krönung des Wörlit-zer Parks, der in seiner wundersamen, aufge-klärt durchdachten Verbindung von Kunstund Natur, Erbauung und Erquickung derschönste seiner Art überhaupt ist. In Goethes»Wahlverwandtschaften« ist er zum literari-schen Exempel geworden.Vater Franz aber,

wie man in Wörlitz noch heute sagt, war mehrals ein aufgeklärter Ästhet: In seinem kleinenReich führte er die Schulpflicht für Jungenund Mädchen und Gymnastik für ältere Mit-bürger ein.Thomas Weiss, dem Leiter der Kul-turstiftung Dessau-Wörlitz, dem Kurator UweQuilitzsch und den pyrotechnischen Werkstät-ten der Universität Cottbus ist es vor allem zudanken, dass nach langwieriger und kostspie-liger Restaurierungsarbeit der Vulkan jetztwieder zu donnerndem, Funken sprühendemLeben erweckt werden konnte.Wer nicht dasGlück hatte, in einer der sternenklaren Sep-tembernächte dabei zu sein, hat mehr ver-säumt als einen Salzburger »Jedermann« undeinen Bayreuther Ring zusammen. Aber esgibt ein schön bebildertes Buch, zum Trostund zur Information. PETRA KIPPHOFF

Der Vulkan im Wörlitzer ParkNicolai Verlag, Berlin 2005; 192 S., 24,80 ¤

Der Vulkan von Wörlitz

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52 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 52 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 52 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

LITERATUR

D as so genannte Goldene Zeitalter der spa-nischen Malerei, die im 17. Jahrhundertmit Künstlern wie Zurbarán, Murillo oderVelázquez zu eigener Unverwechselbarkeit

und Unabhängigkeit gefunden hat, fällt zusammenmit einem ausgeprägten Krisenbewusstsein. Die be-deutendste Epoche iberischer Malerei entfaltet sich vordem Hintergrund sinkender Wirtschaftskraft des Lan-des und schwindender Macht des Königs. Das Re-formprogramm des Hofes, namentlich durchgesetztvon dem unter Philipp IV. die Regierungsgeschäfteführenden Herzog von Olivares, setzte auf Sparsam-keit, Luxusverzicht und Konzentration der Ressour-cen. Martin Warnkes neues Buch sieht eine Künstler-karriere in besonderem Maße durch diese Bedingun-gen befördert, jene des Sevillaners Diego Velázquez.

Er begann als Straßenmaler und endeteals »Schlossmarschall«

Velázquez ist im deutschsprachigen Raum spätestensseit der epochalen Biografie Carl Justis aus dem spä-ten 19. Jahrhundert populär und zum Inbegriff spa-nischer Malerei geworden. Und noch immer stellt Jus-tis Monografie, die zwischen historischem Romanund Werkanalyse changiert, eine besondere Heraus-forderung für jeden dar, der sich Leben und Werk desVelázquez widmet. Warnke hat keine Monografie ver-fasst – zu bewusst sind ihm die Grenzen solch mona-discher Betrachtung. Und wenn sein Buch auch aus-schließlich von Velázquez spricht, dann doch nur ent-lang einer Auswahl von dessen wichtigsten Werkenund innerhalb der Koordinaten einer höfischen Kar-riere, die schon Gegenstand von Warnkes Studie überden Hofkünstler (1985) gewesen ist. Velázquez hat alsStraßen- und Küchenmaler in Sevilla begonnen und,als Schüler des Francisco Pacheco, früh in großfor-matigen religiösen Gemälden reüssiert. Und das in ei-nem schon den Zeitgenossen merkwürdigen Stil, derlokale Traditionen mit flämischen und italienischenEinflüssen amalgamierte. Der oft herbe, realistisch an-

Agent der Bescheidenheit Martin Warnke lässt uns die Gemälde des Velázquez neu verstehen VON ANDREAS BEYER

mutende Pinselduktus kam zumal den Themenseiner Genregemälde zugute, allen voran den sogenannten bodegones – Alltagsszenen wie etwa derWasserträger von Sevilla, die von der Forschungmit erheblichem Hintersinn aufgeladen wordensind. Warnke aber charakterisiert sie überzeugendals in eigenem Recht stehende Motive, die in ih-rer programmatischen Bescheidenheit und Sim-plizität mit den Reformbestrebungen des Hofeskorrespondierten. Der Hof, so die zentrale The-se, sollte sich gerade dieses opportunen Formver-haltens zur Propagierung seines Austerity-Pro-gramms versichern. Velázquez langte in den frü-hen zwanziger Jahren in Madrid an und blieb biszu seinem Tod im Jahr 1660 bei Hofe.

Möglich, dass unter dem Herzog von Olivares,der selbst einige Zeit in Sevilla gelebt hatte, An-dalusiern der Zugang zu höfischen Karrieren be-sonders einfach gemacht wurde. Vor allem aber imeigentümlichen Stilhabitus des Velázquez erkenntWarnke den Grund für dessen raschen Erfolg. Diedas Einfache suchende Linie des Malers, die denhumilitas-Gedanken noch in Herrscherbildnissenwürdevoll transportierte, ließ ihn zum virtuosenAgenten der Bescheidenheitspropaganda geraten,wie sie Philipp IV. in den ersten Jahren seiner Re-gierung verfolgte. Zudem bot sich, nach der lan-gen Dominanz ausländischer Künstler, nament-lich Tizians, mit Velázquez ein spanischer Malerdazu an, die staatstragende Kunstpolitik zu popu-larisieren – der Maler als Erzieher.

Diese politische Analyse, die noch vor der Iko-nografie den Stil im Auge hat, charakterisiert frei-lich nicht das gesamte Œuvre. Warnke erkenntdurchaus, dass die Bekanntschaft mit Rubensdem Werk zu gesteigerter koloristischer Differen-zierung verholfen hat. Der Flame war es auch, derVelázquez’ folgenreiche Reise nach Italien ange-regt hat. In Rom wandelte er sich zu einem aka-demischen Maler, durchaus im Interesse des Ho-fes, der sich von Velázquez Inspirationen für einesder aufwändigsten Ausstattungsprogramme derspanischen Kunst erhoffte – die Dekorationen desRetiropalasts vor den Toren Madrids.

Neben den im Duktus spektakulären, poli-tisch geschickt lavierenden Herrscherporträtsund Kriegsbildern für das Schloss – dessen Bauund Ausschmückung im Zeichen wirtschaftli-cher Erholung und wieder zugelassener Pracht-entfaltung stand –, ist es vor allem die Serie derHofnarren und Zwerge, die einen antihöfischenImpetus in Velázquez’ Werk haben vermuten las-sen. Und doch geraten auch sie in Warnkes Les-art zu höfischen Lehrstücken, indem ihre phy-siognomische und anatomische Andersartigkeitin Analogie zu den Unberechenbarkeiten derNatur gedeutet werden konnten, zu denen auchdie Leidenschaft für den Krieg gehörte.

Gerne folgt man Warnkes stets quellengesät-tigter Darstellung, die von der Grundüberzeu-gung ausgeht, dass das Werk eines vormodernenKünstlers sich nicht stimmig nach einer innerenNotwendigkeit entfaltet, sondern sich vielmehrGelegenheiten, anfallenden Bestellungen odereiligem Tagesbedarf verdankt. Erst so erklärt sichja wirklich die auffallende Divergenz von Veláz-quez’ Gemäldeproduktion etwa während seineszweiten römischen Aufenthalts. 1649 schuf erdort das stupende Porträt Papst Innozenz’ X.,parallel dazu aber auch den Rückenakt Venus vordem Spiegel, der Edouard Manet in Form undFarbe triumphal präludiert. Es ist die Ferne zumspanischen Hof und zum gleichsam routiniertenMaldienst, die, in Warnkes Sicht, Velázquez in

Rom mit spielerischer Lizenz in den Wettstreitmit der antiken Skulptur oder der Malerei derRenaissance, namentlich der Michelangelos, tre-ten ließ. Bei aller Abhängigkeit von wechselndenAufträgen manifestiert sich hier eine künstleri-sche Freiheit, zu der der Maler erst in seinem letz-ten Lebensjahrzehnt zurückfinden sollte. Unddas, obwohl oder, wie Warnke es sieht, weil erkaum noch gemalt hat.

Dieses Leben liest sich als Prozess einer steti-gen Nobilitierung. Im Jahre 1623 zum pintor delRey ernannt, wird Velázquez 1628 pintor de ca-mera, was eine gesteigerte Nähe zum König mitsich bringt. 1652 endlich erfolgt die Beförderungzum »Schlossmarschall« – das höchste ihm über-haupt zugängliche Amt. Es verpflichtet ihn zuständiger Anwesenheit bei Hofe, wo er die Eti-kette beim Essen des Königs zu überwachen hat,als Quartiermeister bei Reisen fungiert, Residen-zen möbliert oder Festdekorationen ausführt.

Schon die frühen Biografen beklagen, dassVelázquez in seinem letzten Lebensjahrzehntkaum mehr Zeit gefunden habe zum Malen.Tatsächlich hatte Velázquez im großen reforma-torischen Erziehungsprogramm des Königs aus-gedient, und dieser nutzte dessen vielfältige Ta-lente fortan vorzugsweise zu praktischen Alltags-diensten. Es gehört zu den Topoi der Künstler-biografik, in der abnehmenden künstlerischenProduktion Zeichen der Resignation undSchwermut erkennen zu wollen, die zumal höfi-sche Fron mit sich bringe. Erfrischend undog-matisch verfährt Warnke, der Velázquez’ weitge-henden Verzicht aufs Malen gleichsam als dessentriumphalen Karrierehöhepunkt beschreibt.Dass er in dieser Phase dennoch zwei Werke mal-te, die überhaupt erst seinen zeitlosen Ruhm be-gründet haben, wird hier gedeutet als Resultat ei-nes gänzlich freien Entscheids des zu aristokrati-schen Würden aufgestiegenen Sevillaners. Essind die Spinnerinnen und Las Meninas.

Die mühelose Eleganz desPinselstrichs

In den Spinnerinnen entwickelt Velázquez dieauch sonst in seinem Werk herrschende Dicho-tomie von Hoch und Niedrig, Arbeit und Ge-nuss, Produktion und Rezeption, städtischemHandwerk und aristokratischer Verfeinerung.Und in den Meninas, der höfischen Unterwei-sung, zeigt er sich ein weiteres Mal in der Rolledes Erziehers. Dabei ist es vor allem der virtuoseingesetzte, die Bildfläche mit Leichtigkeit fül-lende Pinselstrich, also die von der Kunsttheoriegeforderte sprezzatura, die mühelose Eleganz,welche zumal dem Hofmann als Vorbild für dieeigene Lebensführung und Erscheinungsformnahe gelegt wird. In dieser künstlerischen Fertig-keit sieht Warnke eine Qualität erreicht, die demadligen Arbeitsbegriff ebenso entspricht wie demmodernen Begriff einer freien Kunst.

Warnke ist lange schon ein Apologet künstle-rischer Freiheit bei Hofe und hat damit die Ge-schichte der Kunst in einem ihrer zentralen Be-reiche von hinderlichen Ideologemen befreit.Sein Velázquez zieht noch einmal die Summe; ineiner Haltung und Sprache, wie sie erst die Un-abhängigkeit von akademischer Fron freizusetzenvermag: in der sprezzatura des Emeritus eben.

Martin Warnke: VelázquezForm & Reform; DuMont Literatur und KunstVerlag, Köln 2005; 175 S., Abb., 39,90 ¤

Velázquez: »Der Wasserverkäufer von Sevilla«, 1616/1620

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K ochen, Ringen oder das Bilden von Skulp-turen – für den römischen PhilosophenSeneca gehörte keine dieser Fertigkeiten

in die Reihe der sieben freien Künste. Anders alsGeometrie, Musik oder Astronomie. WolfgangUllrich erwähnt es auf Seite 77 seines Buches Waswar Kunst?. Hätte er es früher getan, der Leserwäre seinem Kunst-Pessimismus schneller auf dieSpur gekommen. Mit anderen Worten: Wer eineAntwort auf die Frage sucht: »Was ist Kunst?«,wird sie bei Wolfgang Ullrich nicht finden.

Dafür bietet er seinem Leser elf Kapitel überso genannte »Formeln der Kunst« an. Er nenntsie auch Modeaussprüche, Floskeln und Slogansund meint damit Redewendungen wie die vonder »edlen Einfalt und stillen Größe«, die JohannJoachim Winckelmann 1755 erfand, um diegriechische Kunst zu rühmen. Mit einem gigan-tischen Zettelkasten muss Wolfgang Ullrichnach Ort und Zeit der ersten Nennung dieserFloskeln geschürft haben. Die Wendung vom»unschuldigen Auge« spürt er in einer Fußnotedes Lehrbuchs The Elements of Drawing auf, dasJohn Ruskin schrieb, ein Zeitgenosse von Wil-liam Turner. Die Idee des »L’art pour l’art« fin-det er in einem Tagebucheintrag konserviert, denBenjamin Constant am 11. Februar 1804 no-tiert, hundert Jahre bevor sie wirksam wird.

Keine der Formeln hatte Bestand. Nur dieVerfallszeiten waren unterschiedlich: vierzig Jah-re für Alois Riegls »Kunstwollen«, dreißig Jahrefür Joseph Beuys’ »erweiterten Kunstbegriff«,über dreihundert Jahre für »Ut pictura poesis«,

eine Stelle aus der Ars poetica des Horaz, mit derdie Malerei von der Renaissance bis zum Barockzur Schwesterkunst der Dichtung wird.

Doch eine Gleichung hat die Sympathie ihresBiografen: »Delectare et prodesse« – nützen underfreuen solle Kunst, fordern in unterschiedli-chen Gewichtungen Autoren seit gut zweitau-send Jahren. Die Aufgabe wird seit der Auf-klärung von denen bekämpft, die Kunst zweck-frei und selbstständig sehen wollen. Schon da-mals warnte Herder davor, dass eine autonomeKunst zu einem autistischen Gebilde verkomme.Wolfgang Ullrich nennt die Überlegung »pro-phetisch«. Und folgert später: »Bildende Kunstwar dann am stärksten, wenn sie bereits beste-hende Weltbilder, Werte und Ordnungen reprä-sentieren durfte.«

Der Text ist also eine Predigt. Er mahnt undverlangt Zielstellungen. Von wem? Erst einmalvon denen, die sie herstellen: Malern, Bildhau-ern, Grafikern. Die Grundlagen seines Bucheserarbeitete Ullrich für zwei Vorlesungsreihenund ein Seminar, die er an den Kunsthochschu-len in München, Hamburg und Karlsruhe ge-halten hat. Fehlt der Zweite im Bund: der for-dernde Auftraggeber. Ihn erwähnt Wolfgang Ull-rich so gut wie gar nicht. Anlass für eine zweiteVorlesungsreihe? Zum Beispiel an den Fortbil-dungsstätten von Managern und Politikern.

Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs; Fischer Taschen-buch, Frankfurt a. M. 2005; 281 S., 13,90 ¤

Nützen und ErfreuenWolfgang Ullrich erklärt, was Kunst war VON ELKE VON RADZIEWSKY

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54 29. Dezember 2005 DIE ZEIT Nr.1

Nr. 1 S. 54 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 54 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

LITERATUR Kaleidoskop

" AUS POLITISCHEN ZEITSCHRIFTEN " GEDICHT

WOLFGANG KUBIN

Berlin. LudwigkirchplatzHeute spielen wir einmalNomaden des Wortes,führen nicht weniger spazierenallzu große Fragenwie andere Hund oder Katze,schlagen die Zelte aufzum Zeitvertreib nurzwischen Spielplatz und Café,hier den Mokka im Blick,dort die Kinder.Alle Welt ist gewohntden Wanderzirkus Einsamkeit.Keine Not, vorsichtig zu tun.Versteigern wir ein inflationäres Wort,das, unter den Tisch gekehrt,wiederkehrt in blindem Streit.Wir suchen zu wägendie Schwere der Straßen,die Leichtigkeit von Tischdecken.Wir berichten brav vom Stand der Schwärzeund befragen uns,wer oder was ist verzweifelter?Die Verzweiflung, sagst du,die Freude, sage ich.Nur sie weiß, wie haltlos sie ist.

Wolfgang Kubin: SchattentänzerWeidle Verlag, Bonn 2004; 152 S., 19,– ¤

Das Wortspiel betrifft die polnische Partei »Rechtund Gerechtigkeit« (PiS), die im Herbst mit na-tional-patriotischen Parolen in Warschau Regie-rung und Präsidentenamt gewann, geprägt hat esKai-Olaf Lang, der Osteuropa-Fachmann der Stif-tung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sein Rat,überzeugend ausgeführt in SWP Aktuell 53 vomDezember 2005: die neuen Leute nicht an ihrenWahlkampfparolen, sondern an ihrem Verhaltenzu messen. »Vorrangiges Interesse zumindest derRegierung ist es, Kontinuität, Professionalität undPragmatismus auszustrahlen und den Vorverdachtder Europa-Skepsis, Deutschlandfeindlichkeit undRussophobie zu entkräften.«

Wie viele potenzielle Störenfriede diesen be-grüßenswerten Realismus dennoch weiter bedro-hen, macht eine andere, diesmal polnische Veröf-fentlichung deutlich, das Polish Quarterly of Inter-national Affairs in seiner Ausgabe vom Winter2005. Sie ist von Anfang bis Ende dem deutsch-polnischen Verhältnis gewidmet. Und obwohl damanches deutsche Verständnis für polnische Emp-findlichkeiten durchaus gewürdigt wird – allemvoran die Klarstellung Bundeskanzlers Schrödervom August 2004, Deutschland werde keine Res-titutionsansprüche deutscher Staatsbürger unter-stützen – wird zugleich offenbar, wie viel an deut-scher Politik unversehens in Polen zum Anlass fürBesorgnis und Misstrauen gerät.

Jerzy Kranz, ehemaliger Botschafter seines Lan-des in Berlin und heute Professor in Warschau undKrakau, beklagt den Mangel von Vision, Konzeptund häufig auch politischem Willen auf beidenSeiten. »Fast könnte man meinen, der Zweite Welt-krieg wolle immer noch nicht enden, wenigstensnicht im Verhältnis Polen-Deutschland.« Polni-sches Unbehagen gründe weniger, wie viele inDeutschland gern meinten, im polnischen Natio-nalismus, sondern sei zumeist die Reaktion aufEntwicklungen in Deutschland. Vieles davon be-

trifft deutsche Unbedachtheiten, die den kleinerenNachbarn unnötig kränken. Aber dahinter wirddie Sorge deutlich, die Unbedachtheiten hättenMethode: Die Deutschen könnten sich ihre Ver-gangenheit so zurechtlegen, dass sich daraus keineVerantwortung für die Gegenwart mehr ergibt.

Klaus Ziemer, Direktor des Deutschen Histo-rischen Instituts in Warschau, formuliert denGrundunterschied zwischen polnischen und deut-schen Eliten: »Deutsche gehen von der heutigen

geopolitischen Lage aus, Polen von der geschicht-lichen Perspektive.« Das (nunmehr auch im Berli-ner Koalitionsvertrag vorgesehene) Zentrum gegenVertreibung verkörpere aus dieser Sicht einenTrend, die Deutschen selbst als Opfer des ZweitenWeltkriegs auszumachen. In der »Deutungs-schlacht um die Geschichte« fürchteten Polen, denKürzeren zu ziehen.

Der Präsident des Instituts für Strategische Stu-dien und Analysen in Milowanek, KrysztofMisczak, nimmt sich die außen- und sicherheits-politischen Divergenzen vor. Sichtbar hat die Nei-gung Gerhard Schröders, deutsche Außenpolitiknach Gutsherrenart zu betreiben, in Polen – undnicht nur dort – Verletzungen hinterlassen. Mit sei-nem Versuch, gleichermaßen die Vormacht Ame-rikas zu bremsen und multilaterale Ordnungs-strukturen zu fördern, habe Deutschland nicht nurdie eigene Außen- und Sicherheitspolitik verän-dert, sondern auch die Grundlagen der SicherheitPolens ausgehöhlt. Wer in Deutschland meint,empfindsame Nachbarn ließen sich allein durchdie Einbettung unseres Landes in den europäi-schen Rahmen beruhigen, wird hier wieder einmaleines anderen belehrt. Steckt dahinter, argwöhnenEU-Partner nicht nur im Osten, vielleicht nur derEhrgeiz, so Europa umso besser zu dominieren?

Es kommt eben ganz besonders auf die Töne an,in der deutsche Politik sich äußert. Große Staaten,zumal mit einer sich und andere noch immer um-treibenden Geschichte, haben hier besonders Achtzu geben. Die neue Kanzlerin in Berlin hat dafürzum Glück Gespür. Es ist, darauf weist Kai-OlafLang eindringlich hin, eine der Voraussetzungendafür, nicht nur der PiS, sondern dem polnisch-deutschen Verhältnis eine neue Chance zu eröff-nen. Die andere verschweigt er allerdings auchnicht: das »Ausklammern strittiger, in der Vergan-genheit wurzelnder Themen, wie der Vertrei-bungsproblematik«. Christoph Bertram

Give PiS a Chance

Angela Merkel und Lech Kaczynski

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" STILLLEBEN MIT BUCH

Es ist ja wirklich nicht so, dass man Francis Pongeschmälert, wenn man die Schwerelosigkeit liebt, inderen schönen Bann alles gerät, über das erschreibt, ein Kiefernwald, ein Stück Himmel (füruns in Handkes Übersetzung bei Suhrkamp), derVorfrühling (in Ingolds Übersetzung bei Erker)oder die halbe französische Literatur in GestaltMalherbes (in Federmairs Übersetzung neulich beiRitter). Was Ponge veröffentlicht hat, das sindnicht fertige Bücher, sondern so etwas wie spora-dische Zwischenberichte: So viel für jetzt über denKiefernwald, dies für heute über den Frühling,nächstens dann etwas über die Blumen und so fort.Und in seiner ebenso wirklich naiven wie dochauch sehr reflektierten fragmentarischen Art übtdas alles einen belebenden Zauber aus, man fühltsich lesend in lauter Freiheit versetzt und als hätteman nun Augen bekommen für etwas anderes alssich selbst, Augen (oder Ohren auch) für die selbstnicht redende Welt der Dinge.

Blumen jetzt also. L’Opinion changée quant auxfleurs, Änderung der Ansicht über Blumen, war derTitel eines Schreibvorhabens, das Ponge Mitte derfünfziger Jahre (Ponge lebte von 1899 bis 1988)in Angriff nahm. »Was ist ergreifender als eineBlume?« Seit den zwanziger Jahren, und verstärktdann Anfang der vierziger Jahre, in den Jahren derOkkupation (aus denen auch die Texte über denKiefernwald und den Himmel stammen), hattePonge schon Notizen über Blumen und Blütengemacht, mit den Aufzeichnungen jetzt aus denfünfziger und den folgenden Jahren wird darausein ziemliches Konvolut.

Das vorliegende außerordentlich reich gestalte-te Buch enthält fast neunzig faksimilierte Seiten derAufzeichnungen, fast alle in gut lesbarer Schrift,

manche aber auch in schönem Durcheinander,dann folgt, gedruckt, erst französisch, danndeutsch, jener publizierte Auszug, jeweils ungefährfünfundzwanzig Seiten. »Befreien wir die Blume,um uns zu befreien« – diese Idee, der Versuch schonbringt frischen Wind ins Denken, ins Schreiben.Über Blumen allgemein, über den Klaschmohn,über Tulpen, auch über größere Pflanzen, etwaüber den Eukalyptus, als Gedicht gesetzt (in sol-chen Texten scheint alles endlich Gedicht werdenzu wollen): »Kann brechen, doch auch aufrechtstehn; ganz nach Belieben; Schlafen im Stehn; seinLeben verschlafen, leben seinen Tod. / Ohne Re-touche, / wächst ins Blaue, / edel, vornehmes Aus-sehn; / von edler Gestalt, / aber leicht indifferent,/ vor allem seinem eignen Schicksal gegenüber; /kümmert sich nicht drum; / gekämmt vom Wind-stoß; / trocken und klingt; / trägt seit EwigkeitenBlatt und Frucht; / seit langer Zeit vollkommen.«

Diese leichte Luft über der zärtlichverzagenden Prosa von Ponge!

Im Notizbuch vom Kiefernwald hatte es einmalüber diesen Wald geheißen: »Denn, nach einerEwigkeit der Ausdruckslosigkeit in der Welt derStummheit, eilt es ihm, ausgedrückt zu werden,jetzt, da ich ihm die Hoffnung darauf gegebenhabe, oder den Vorgeschmack.«

Immer bei Ponge ist das Schreiben über diestummen Dinge auch ein Schreiben darüber, wieman das Stumme zu Wort kommen lassen kann.Vielleicht, bei unbefangen wörtervergessenemBlick, sähe man die Blumen zum Beispiel selbstschon als ihre eigenen, nur eben andersartig ver-schlungenen Schriftzüge und fände danach Wor-

te dafür, und er schreibt: »Wir gebrauchen dieWörter genau in dem Augenblick, in dem sie wel-ken, sich krümmen wie die Blütenblätter der Blu-men … deshalb die linkische Fügung und das of-fensichtlich Unzulängliche unserer Wörter, undSätze.« Man ahnt hier, bei allem Vergnügen, et-was von der ganz ungespielten Verzweiflung desAutors. Denn am Ende bleibt diese stumme Welt,obwohl sie doch voll von Zeichen zu sein scheint,die gern entschlüsselt wären, ein doch wortlosesRätsel. Und wenn alles Schreiben bei PongeFragment ist, dann nicht aus Koketterie oder Lustan der offenen Form, sondern weil es nicht an-ders geht, jedenfalls wenn Blume und Autor undLeser alle auf ihre Weise frei bleiben wollen.

Der Übersetzer und Herausgeber hat einen80-seitigen philologischen und schon weitgehendinterpretierenden Bericht angefügt und dann ei-nen 55-seitigen Essay, worin es mit Angelus Sile-sius, mit Meister Eckhart und Bernhard von Clair-vaux, mit Baudelaire natürlich und mit Hölderlinund besonders mit Heidegger über die Blumenhergeht, so rauschend klug, dass ihnen Hören undSehen vergehen würde und uns fast vergeht. Na-mentlich Heideggers Nähe, egal, wem sie mehrschmeichelt (Ponge oder Heidegger oder den Blu-men), hat etwas fast Bedrohliches, umso lieber at-met man dann, zurückblätternd, wieder die leich-te Luft über der zärtlich verzagenden Prosa vonPonge. Rolf Vollmann

Francis Ponge:L’Opinion changée quant aux fleurs Änderung der Ansicht über Blumen; hrsg. undübers. von Thomas Schestag; Ed. Urs Engeler,Basel 2005; 323 S., 48,– ¤

Was ist ergreifender als eine Blume?

Die ZEIT-ListeDIE REDAKTION EMPFIEHLT

Belletristik1. Inka Parei:Was Dunkelheit warSchöffling & Co., 18,90 ¤Die letzten Tage eines alten Mannes, Erinnerung,Schuld, Glück – und kein Wort zu viel

2. Peter Stephan Jungk:Die Reise über den HudsonKlett-Cotta; 19,50 ¤Eine pathetische Vater-Sohn-Geschichte,aber sehr gut erzählt – und nicht pathetischer,als unser Anspruch an die Literatur sein wollte

3. Reinhard Jirgl:AbtrünnigHanser; 25,90 ¤Wo ist der Eigensinn geblieben, wie kommt es,dass das neue Berlin eigentlich das uralte ist, fragtsich dieser sprachmächtige, abgründige Roman

4. Irène Némirovsky:Suite françaiseAlbrecht Knaus; 22,90 ¤Am 17. August 1942 stirbt Irène Némirovsky inAuschwitz, in den Monaten davor schrieb sie imWettlauf mit der Zeit dieses groß angelegte, ergrei-fende Epos über ihre Lebensepoche

Sachbuch1. Sophie Scholl/Fritz Hartnagel:Damit wir uns nicht verlierenS. Fischer; 25,– ¤Eines der wichtigsten, anrührendsten Zeugnisseaus dem deutschen Widerstand – in einer von Thomas Hartnagel sorgfältig betreuten Edition

2. Jared Diamond:KollapsS. Fischer; 22,90 ¤Von den Maya über die Wikinger bis zum heutigenChina, Afrika, Australien: eine profunde Studie überUntergang und Überleben von Gesellschaften

3. Martin Warnke:VelázquezDuMont; 39,90 ¤Undogmatisch, quellengesättigt, mühelos elegant:das große Werk des Emeritus Warnke über das Malerleben des Velázquez im 17. Jahrhundert

4. Uwe Naumann (Hrsg.):Die Kinder der MannsRowohlt; 49,90 ¤Ein prachtvoller Band: die kollektive Biografie allersechs Kinder Thomas und Katia Manns – mit einerVielzahl unbekannter Dokumente und Fotos

Die Jury: Ulrich Greiner, Konrad Heidkamp,Susanne Mayer, Iris Radisch,Elisabeth von Thadden, Volker Ullrich

BelletristikWilliam Trevor:SeitensprungErzählungen; aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit;Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005; 238 S., 22,– ¤

Den 77-jährigen Iren William Trevor als Starzu bezeichnen wäre ganz falsch. Aber er er-zählt von den Menschen und ihren Leiden-schaften mit einer Vorsicht, einer traurigenBehutsamkeit, einer genauen Anteilnahme,die meisterhaft ist. Traditionell, könnte mansagen, was heißt das schon. Die Sätze kom-men mit einer Unaufhaltsamkeit, die der Tonmildert. Sie beschreiben unerfüllte Sehnsüch-te wunder Seelen. Die Lüge und der Verratspielen in diesen Leben eine große Rolle, aberüber allem ist dieser Optimismus, nicht alsHoffnung, dass alles gut werden kann, aberdoch, dass man es erträgt. Ein großer Autor.

Ian McEwan:Letzter SommertagErzählungen; aus dem Englischen von Bernhard Robben,Harry Rowohlt und Michael Walter; Diogenes Verlag, Zürich2005; 320 S., 13,90 ¤

Als der 57-jährige Kultautor Ian McEwannoch 20 Jahre jünger war und kantiger als derAutor von Saturday, schrieb er diese kleinenrauen Geschichten. Erste Sätze wie: »WerSpargel ißt, kennt den Geruch, den er demUrin verleiht.« Erzählte damals weniger vomStarchirurgen als ironisch vom Antihelden,dem geschiedenen Vater, dem unfähigen Lieb-haber oder dem Topmanager, dessen großeLeidenschaft einer Schaufensterpuppe gilt, diejede zugewiesene Position mit lächelndemEinverständnis einnimmt und beim erstenAnflug von Missklang einfach zerstört werdenkann, nicht gerade ein Glück, aber doch so et-was wie glückliche Fügung. Susanne Mayer

SachbuchDiedrich Diederichsen:Musikzimmer – Avantgarde und AlltagKiepenheuer & Witsch, Köln 2005; 240 S., 9,90 ¤

Zu den schönen, wenn auch anstrengendenDingen im deutschen Feuilleton zählt dasDiederichsenlesen. Man darf sich ärgern, da-gegen sein, nicken, nicht verstehen – aber im-mer auf hohem und vor allem moralischemNiveau. In den hier gesammelten 62 Kolum-nen aus dem Berliner Tagesspiegel zwischen2000 und 2004 spaziert er durch weite Gefil-de von L’il Kim zu Carla Bley, von Air zu Cash– doch diesmal schreibt er nachfühlbar, ja fastmit »Soul«. Seine popbedingte Arroganz – alleanderen »verstehen falsch« – gleicht er durchunverdrossene Neugierde aus, im »Wechselnder Welten« ist DD groß. Das Vorwort zumSelbstverständnis des Popkritikers ist so klug,wie das Resümee eindeutig: »Es lebe das se-kundäre Leben. Es gibt auch kein anderes.«

Joachim-Ernst Berendt:Das JazzbuchS. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005; 926 S., 29,90 ¤

Das ist kein Lexikon, kein Führer oder Guide,es ist das Buch über den Jazz. Geschrieben voneinem deutschen Pfarrerssohn, zum erfolg-reichsten Jazzbuch in den USA aufgestiegenund nun dankenswerterweise in Neubearbei-tung wiedergekommen. 1953 hatte es 238Seiten, jetzt 926, und schon zu Lebzeitenpasste es der erzählende Verführer und er-klärende Prophet Berendt (1922 bis 2000)dem Wandel an, ließ weg, nahm hinzu, batGünther Huesmann um Fortführung. Dasind sie wieder, die Stammbäume der Musikund die Kraft des Urteils. Mit unglaublichemFleiß hat Huesmann selbst die neuesten undseltensten Namen erfasst. Doch nicht dieMenge macht’s, das Buch wird in 50 Jahrenwiedergelesen werden. Konrad Heidkamp

" BÜCHERTISCH

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Nr.1 29. Dezember 2005 DIE ZEIT 55

Nr. 1 S. 55 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 55 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

1Es wäre ein Segen für alle, wenn die in den Feldernder Politik und der Wirtschaft Handelnden schritt-

weise mehr ihrer abwägenden Vernunft folgen würden– und wenn sie dafür ihren Egoismus, ihre Macht- undProfitgier und ihr Geltungsstreben schrittweise zurück-drängen könnten. Ich wünsche uns allen für die Zu-kunft mehr Vernunft. Allerdings weiß ich, dass wirMenschen leider allzu menschlich bleiben werden.HELMUT SCHMIDT, HERAUSGEBER

2 Ich wünsche mir eine Wäschefaltmaschine, eineMillion Jobs für Unqualifizierte und eine Bier-

deckel-Steuererklärung.GÖTZ HAMANN, REDAKTEUR WIRTSCHAFT

3Dass der 1. Mai auf einen Montag fällt.GERO VON RANDOW, CHEFREDAKTEUR ZEIT ONLINE

4 »Wer auch nur einen Menschen rettet, rettet dieganze Welt.« So steht es, oft zitiert, im Talmud, was

dieser Autor nie nachprüfen konnte, weil der Talmud –in Wahrheit ein Rechtskompendium – etwa so vieleBände umfasst wie BGB, StGB, GG und sämtlicheKommentare dazu zusammen (aber nicht so übersicht-lich organisiert ist wie ein deutsches Gesetzbuch). Trotz-dem ein schöner Satz, der alle Weltverbesserer ermah-nen möge, den einzelnen Menschen (Fleisch und Blut)und nicht die Menschheit (ein Abstraktum) zu lieben.Wer die Welt retten will, verlässt sich gern auf Inquisi-tion oder Gulag. Deshalb: Setzen wir lieber beim Ein-zelnen an – dem Kranken, Schwachen oder Geschun-denen. Dann rettet sich die Welt von selber.JOSEF JOFFE, HERAUSGEBER

5 Ich wünsche mir Hilfe für die Krebskranken imchinesischen Dorf Huangmengying und ein Ar-

beiten in China ohne Polizeibeschattung.GEORG BLUME, KORRESPONDENT IN PEKING

6 Ich wünsche mir fürs nächste Jahr, keine Viagra-Angebote mehr in meiner E-Mail zu finden, dass

Wes Anderson in Berlin eine Oper inszeniert und ICEsweiterhin am Bahnhof Zoo halten.ILKA PIEPGRAS, REDAKTEURIN LEBEN

7 Ich wünsche mir, dass der Abriss- und Renovie-rungswahn, besonders in Ostdeutschland, einmal

abnimmt. Unbemerkt von einer größeren Öffentlich-keit (und offenbar auch von den Ämtern für Denk-malschutz) sind schon barocke Bürgerhäuser, Bautenaus der Zeit des Biedermeier oder Mietshäuser aus demfrühen 19. Jahrhundert verschwunden. Und vielleichtgibt es ja auch ein Mittel gegen die pathologische Angstvor Patina in diesem Land, die dazu führt, dass selbstdas, was stehen bleiben darf, bis zur Unkenntlichkeit sa-niert wird.GIOVANNI DI LORENZO, CHEFREDAKTEUR

8 Ich fordere für das kommende Jahr eine harteSpam-Polizei.

HARRO ALBRECHT, REDAKTEUR WISSEN

9Um nicht aus der kommunizierenden Welt zu fal-len, wünsche ich mir endlich auch ein Handy. Aber

bitte Vollkomfort: nur zum Telefonieren, ohne Kame-ra, Pürierstab und Föhn.CHRISTOPH DIECKMANN, AUTOR

10Dass Lederstrumpf (mit Hellmut Lange in derHauptrolle) im Fernsehen wiederholt wird.

GABY GROSSE, SEKRETÄRIN LEBEN

11Nicht alle Wünsche sind unschuldig. Es gibtböse Wünsche, autoritäre Wünsche, Wünsche

mit der Peitsche. Zu ihnen gehören die beliebten Ap-pelle der Wirtschaftsverbände und Politiker an die Ju-gend, sich doch endlich auf den Hosenboden zu setzenund Leistung zu zeigen, während gleichzeitig dieselbenPolitiker und Wirtschaftsverbände alle Arbeitsplätzeund sozialen Orte vernichten, an denen sich die Jugendauf diesen Hosenboden setzen oder überhaupt nieder-lassen könnte. Ich wünsche mir das Ende solcher Wün-sche. Es sind Wünsche nach Anpassung an eine Gesell-schaft, die ihrerseits jede Anpassung an die Jugend ver-weigert. Es sind Wünsche, die der Jugend das eigeneWünschen verbieten. Es sind übrigens auch die Wün-sche, mit denen man die Eltern nachhaltig entmutigt,die doch nach dem Willen abermals derselben Politiker

und Wirtschaftsverbände Kinder in die Welt setzen sol-len. Aber eine Gesellschaft, die ihrer Jugend schon heu-te nichts bietet, kann nicht verlangen, dass Kinder indie Welt von morgen gesetzt werden. Wer Zukunft will,muss das freie Wünschen erlauben; auch den Wunschnach einer Gesellschaft, in der die Politiker und Wirt-schaftsverbände der Jugend Platz machen.JENS JESSEN, RESSORTLEITER FEUILLETON

12Ein Jahr Jammerpause in Deutschland.THOMAS KERSTAN, RESSORTLEITER CHANCEN

13Dass der Palast der Republik in Berlin endlichverschwindet.

MICHAEL MÖNNINGER, KORRESPONDENT IN PARIS

14Ich wünsche mir, dass der deutsche Duden 2006das Wort »afrodeutsch« aufnimmt. Das wären

dann genau 20 Jahre nachdem es ursprünglich geprägtwurde. Und gleichzeitig sollte der Begriff »Neger« alsdas benannt werden, was er ist: ein Schimpfwort.JEANNINE KANTARA, BÜROLEITUNG HAUPTSTADTBÜRO

15Einer meiner heißeren Wünsche: dass es auch2006 in den Flugzeugen noch keine techni-

schen Möglichkeiten geben möge, mit dem Handy zutelefonieren. Es ist schlimm genug, was man im ICEalles an Liebeshändeln und Geschäftsverhandlungen,an erotischer Prosa und anglisiertem Business-Deutschanhören muss. Bitte nicht auch noch in den fliegendenKinosälen! So dringlich ist nichts, dass es durch ein paarStunden Verzug nicht noch dringlicher würde.THEO SOMMER, EDITOR-AT-LARGE

16Ich wünsche mir Frauen und Männer, die Ver-bindungen eingehen und für sie kämpfen –

und das nicht nur, bis sich die nächstbessere Optionauftut.MELANIE MOHAUPT, BÜRO CHEFREDAKTION

17Ich wünsche mir, dass der ZEIT-Artikel Gene-ration Praktikum in einem Jahr völlig veraltet

ist, weil sich in Deutschland was verändert hat.KATARINA BADER, PRAKTIKANTIN LEBEN

18Ich wünsche mir, dass alle wichtigen Ent-scheider dieses Landes die Folgen ihrer Ent-

scheidungen mal höchstpersönlich zu spüren bekom-men: Jürgen E. Schrempp, Vorstandsvorsitzendera. D., sollte in eine der vielen namenlosen Abteilun-gen von DaimlerChrysler wechseln, die neuerdings»freiwillige Abfindungsnehmer« rekrutieren, um dasUnternehmensziel von 8000 eingesparten Stellen zuerreichen. Schrempp, von seinem Aufsichtsratsvorsit-zenden als »herausragendes Beispiel für Verantwor-tungsgefühl gegenüber Kunden, Mitarbeitern undAktionären« gepriesen, wird das unerträgliche Be-triebsklima in den unteren Etagen heldenhaft ertra-gen, denn er weiß ja um die höhere Notwendigkeitder Profitmaximierung. EVELYN FINGER, REDAKTEURIN FEUILLETON

19Ich wünsche allen Wer wird Millionär-Kandi-daten mehr Mut. Wer an die Million ranwill,

muss auch mal auf sein Glück, seine Intuition vertrau-en und darf nicht aussteigen, weil er sich statt ganz, ganzsicher nur fast sicher ist. MATTHIAS STOLZ, REDAKTEUR LEBEN

20Ein Jahr ohne Naturkatastrophen.PETRA PINZLER, KORRESPONDENTIN IN BRÜSSEL

21Mein Wunsch für 2006: eine letzte Frage anGerhard Schröder – »Was haben Sie sich bei

alldem gedacht?«HANNS-BRUNO KAMMERTÖNS, RESSORTLEITER DOSSIER

22Es gab Jahre, in denen das Wünschen schwererfiel. Aus der Liste für 2006 kann ich nur Aus-

züge seufzen. Zum Beispiel vorgezogene Neuwahlen inden USA. Eine Initiative für atomare Abrüstung auchder Nuklearmächte, damit sich die Regierungen Irans,Indiens, Pakistans und Nordkoreas nicht mehr auf dieÜberheblichkeit der fünf Atomstaaten herausredenkönnen; die eingesparten Milliarden werden für Was-serprojekte in den Dürreregionen Chinas, Indiens undAfrikas ausgegeben. Drittens fordere ich den sofortigenAbbruch der Kitschkampagne »Du bist Deutschland«.Schon weil mein arbeitsloser Freund Peter, der sich alsFeinmechaniker laufend fortgebildet und als Gewerk-schafter, Sozialsekretär der Evangelischen Kirche undKonfliktberater jahrelang 16-Stunden-Tage für anderegerackert hat, den indirekten Trägheitsvorwurf derKampagne nicht mehr erträgt. Jobangebote für ihn bit-te an mich. Außerdem natürlich, fünftens: das ganzeJahr über jeden Tag Sonne und nachts Regen.CHRISTIANE GREFE, REPORTERIN

23Mehr Stille!UTA WAGNER UND CLAUS EGGERS, DOKUMENTATION

24Ich wünsche mir Monica Lewinsky zurück.KATJA NICODEMUS, REDAKTEURIN FEUILLETON

25Ich wünsche mir Wärme in Zeiten viel be-schriebener sozialer Kälte. Die gibt’s nicht nur

auf der Sonnenbank oder auf den Malediven, sondernauch in der U-Bahn oder am Arbeitsplatz oder im Um-gang mit den Nachbarn, vielleicht sogar auf der Buch-messe. Vielleicht auch in der Politik?SUSANNE MAYER, REDAKTEURIN LITERATUR

26Mein Wunsch: Führt gerundete Preise ein, undschafft die 1- und 2-Cent-Münzen ab, die ei-

nem das Portemonnaie bleischwer machen.ULRICH BAHNSEN, REDAKTEUR WISSEN

27Ich wünsche mir, dass die Erderwärmung sichin eine Erdabkühlung verwandelt, das wäre

nämlich gerechter. Wälder in der Sahara! Keine Über-schwemmungen mehr in Bangladesch! Und als Trost füruns: Skifahren in den Alpen auch noch in 50 Jahren.JÖRG BURGER, REDAKTEUR LEBEN

28Die Redakteure haben gesagt, ich darf mir indieser Ausgabe etwas wünschen. Da habe ich

mir spontan eine Honorarerhöhung gewünscht, mei-ne letzte Erhöhung hat noch Gerd Bucerius unter-zeichnet, kurz nachdem er vom Tanztee bei Adenauersin die Redaktion zurückgekommen war, in einer Wal-zerlaune quasi, aber nein, sagten die Redakteure, den-ken Sie halt mal nicht immer nur an sich, wir macheneine Themenausgabe zum »Zustand der Welt«, es sol-len Wünsche für eine bessere Welt sein. Da sagte ich:»Ob die Welt ein bisschen besser oder ein bisschenschlechter ist, kann der ZEIT und ihren Lesern dochschnurzpiepegal sein.« Die Redakteure antworteten:»Was bist du nur für ein rohes, gefühlloses Tier, du Tier,du.« Das wollte ich nicht auf sich beruhen lassen. Des-wegen habe ich zum ersten Mal in meinem Leben lan-ge über die Welt und ihren Zustand nachgedacht. AmEnde des Nachdenkens habe ich gesagt: »Damit dieWelt besser wird, wünsche ich mir, dass der Axel Sprin-ger Verlag die Welt für einen Euro an mich verkauft.Ich werde als neuer Verleger auf der Seite eins der Weltpersönlich eine tägliche Sexkolumne verfassen, ›VonLenden gezeichnet‹, die wird schnackeln, Brüder undSchwestern. Ob ich dann freilich noch dazu komme,für die ZEIT zur Feder zu greifen, bleibt dahingestellt,aber ihr wollt es ja nicht anders.« Da riefen die Redakteure: »Er denkt wirklich immer,immer nur an sich! Diese Bestie! Dieses Vieh! Wir mei-nen doch nicht die Zeitung Die Welt, wir meinen dieWelt als solche, den Globus, schnall es doch endlich,Mann, und lass dir ausnahmsweise was Menschen-freundliches einfallen, einen Wunsch, es gibt auf derWelt so viel Schlechtes.« Ich sagte: »Dann wünsche ich mir, dass ich nächstesJahr zur Weihnachtsfeier eingeladen werde. Ihr habtmich wieder nicht zur Weihnachtsfeier eingeladen,denkt ihr etwa, ich merke das nicht? Rieche ich viel-leicht schlecht? Ist es wegen meiner Abstammung?Sind es die langen Haare? Ist es, weil ich keinen Re-dakteursvertrag besitze wie ihr? Wenn ihr wirklicheine gerechtere Welt haben möchtet, dann fangt ambesten mit dem Buchstaben M auf der Gästeliste derWeihnachtsfeier an.«Die Redakteure riefen: »Wenn du es unbedingt wissenwillst, wir laden dich nicht ein, weil du so ein verfluch-ter Egozentriker bist. Jetzt der philanthropischeWunsch, dalli, dalli. Wenn du es partout nicht kannst,du Behemoth, du Monstrum, du Halbwesen aus demHades des Journalismus, dann schreib halt was Ironi-sches.« Ich sagte: »Ironisch? Das könnte euch so passen.Nein, ich wünsche von ganzem Herzen allen Menschender Erde, von den Laki-Luka-Indianern in den endlo-sen Eiswüsten Feuerlands bis zu den Bantus in den stau-bigen Steppen des Schwarzen Kontinents, vom ärmstenindischen Software-Designer bis zur reichsten Aushilfs-kellnerin von München-Mark-Eurofing, dass keinervon ihnen, egal, welcher politischen, sexuellen oderjournalistischen Ausrichtung sie sind, keiner, sag ich,soll jemals so selten zur Weihnachtsfeier eingeladen wer-den wie ich arme Kreatur von euch.« Da schwiegen dieRedakteure. Ich hatte sie, was den Zustand der Welt be-trifft, immerhin für einen kleinen Moment nachdenk-lich gemacht. HARALD MARTENSTEIN, KOLUMNIST

29Ich wünsche mir, dass am 26. März in derUkraine bis zum Schließen der Wahllokale kei-

ner, vom Wahlleiter bis zum Präsidenten, weiß, welchePartei bei der Parlamentswahl siegen wird. Dann hättedie orangefarbene Revolution doch das Land verändert.JOHANNES VOSWINKEL, KORRESPONDENT IN MOSKAU

30Ich wünsche meinem armen, jungen, jahr-hundertverkühlten, übernächtigten, seelen-

hungrig auf den Chausseen hin und her wandernden,wundgehofften, totgesagten, mythenmüden, nachdem einen, rettenden Kuss sich verzehrenden – ichwünsche meinem geliebten Berlin, dass seine lange,lange Nacht endet und es zurück ins Leben taumelt.WOLFGANG BÜSCHER, REDAKTEUR DOSSIER

31Ich wünsche mir viele fette, blaue Punkte imGesicht, mit denen ich mir wie das Sams aus

den Büchern Wünsche erfüllen kann.MICHAEL BIEDOWICZ, BILDREDAKTEUR LEBEN

100 gute Wünschezur Rettung der Welt

Aufgeschrieben von der Redaktion der ZEIT

Fortsetzung auf Seite 56

DIE ILLUSTRATIONENauf diesen Seiten

stammen von Julia Pfaller

LEBEN

DIE ERFINDUNGder Wäschefalt-maschine

WIRKLICH GEHEIME WAHLEN in der Ukraine

Page 45: Die Zeit 2006 01

56 DIE ZEIT Leben Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 56 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 56 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

32Mehr Zeit für meinen Sohn und seinen Vater;mehr Schlaf für mich;

mehr Mut zur eigenen Meinung von unseren Politi-kern, weniger Misstrauen an der falschen Stelle;nie mehr Taxifahrer, die über Politik reden;öfter die Frage stellen und hören: Warum eigentlich?;dass die schöne mitteleuropäische Sitte, Menschen erstaussteigen zu lassen, bevor man selbst einsteigt, es dochnoch nach Berlin schafft;längere Arme, damit ich die Yoga-Übungen hinkriege.Wenn ich’s recht bedenke, auch längere Beine;ein Pferd;mehr Kino;nie mehr »Ich sag mal« hören;mal wieder nach Halle fahren.TINA HILDEBRANDT, REDAKTEURIN HAUPTSTADTBÜRO

33Ich wünsche mir 365 Tage ohne Erkältung –oder endlich ein wirksames Mittel dagegen.

GABY GROSSE, SEKRETÄRIN LEBEN

34Ich wünsche mir, dass Die ZEIT ernst und ehr-lich bleibt. Dass sie auch 2006 den Anfechtun-

gen des Zeitgeistes, der nur nach der finanziellen Bilanzfragt, und jeder »Political Correctness« widersteht. Nurdann kann sie zur Rettung der Welt beitragen. SABINE RÜCKERT, REPORTERIN

35Wenn wir die Welt retten wollen, müssen wirmit den Tageszeitungen beginnen. Die sind

nämlich in Gefahr, vielleicht in Lebensgefahr. In allenwestlichen Demokratien siechen sie dahin. In Amerikasinken die Auflagen gerade der besten Blätter, die Leserholen sich die Neuigkeiten aus dem Internet, sie brau-chen keine Zeitung mehr. Denken sie. So denken auchdie Briten, deren Verleger die Zeitungen von Jahr zuJahr billiger gemacht haben, erst beim Preis, dann beimInhalt. Zu Tabloids abgemagert, wird man BritanniensTraditionsblätter, wenn sie der Schwindsucht erlegensind, am Ende kaum vermissen. Und so denken natür-lich auch die Deutschen. Sie nahmen ihre großartigenRegionalblätter immer als Selbstverständlichkeit hinund sehen jetzt zu, wie diese langsam vor die Hunde ge-hen. Es ist ein Jammer und ein großes Unglück. Dennmit jeder ruinierten Zeitung verdorrt ein Fleckchen

Demokratie. Das Internet, die nie abebbende Flut,schwemmt uns – neben mancher Kostbarkeit – Bergevon Informationsmüll ins Haus. Die Zeitung kann esnicht ersetzen. Doch wer sagt das den Arglosen, die sichihr elektronisches Blatt jeden Morgen neu zusammen-basteln? Ohne Navigator werden sie am Ende in derNachrichtenflut ersaufen. Denn man kann alles wissen,ohne das Geringste zu verstehen, wenn keine Redak-tion mehr das Wichtige vom Unwichtigen trennt, nichtmehr prüft, was falsch ist und was wahr. Man muss alsodie Tageszeitung retten, wenn man die Welt retten will.Natürlich auch, wenn man die Wochenzeitungen ret-ten will. Denn wer wird die noch lesen können, wenner das tägliche Lesen verlernt hat?MATTHIAS NASS, STELLV. CHEFREDAKTEUR

36Sollten die Radiohörer des Landes das Mozart-jahr 2006 wider Erwarten unbeschadet überste-

hen, so wird man das für Mozarts Werk keinesfalls sa-gen können. Im Gegenteil. All jenen Menschen, denenseine Kompositionen unbekannt waren (und natürlichgibt es sie), werden sie im Dezember 2006 noch unbe-kannter sein. Und alle anderen, die sie schätzten, wer-den sich fragen, ob es nicht doch eine Art öffentlich-rechtlichen Terrorismus gibt, dessen Ziel akustischerMassenmord oder zumindest kultureller Suizid ist.Denn eines steht schon fest: Die so genannten »Kul-tursender« der Hörfunkanstalten werden uns nur dieschnellen Sätze bringen, die flotten Arien, die bekann-ten Ohrwürmer, die sich nach einem Jahr Dauerberie-selung in Ohrkakerlaken verwandelt haben werden.Anders gesagt: Die Reduktion Mozarts auf einen Liefe-ranten bekannter »Jingles« durch zynische Rundfunk-redakteure wird alle depressiven Befürchtungen Theo-dor W. Adornos übertreffen. Also wünschen wir uns für das Mozartjahr, lieber taubzu werden als betäubt zu werden.MICHAEL NAUMANN, HERAUSGEBER

37Ich wünsche mir, dass die frühere Viva-Mode-ratorin Charlotte Roche nach Monaten der

Entbehrung bei Arte ein grandioses Comeback feiert.MORITZ MÜLLER-WIRTH, GESCHÄFTSFÜHRENDER REDAKTEUR

38Wie ein Hund habe er unter seinem volkstüm-lichen Blatt gelitten, gestand Axel Springer dem

ZEIT-Spaziergänger Ben Witter. Und seine Erbin, Frie-de, die Friesin? Ich erwarte, dass sie mir morgens, ohnerot zu werden, beim Frühstück Bild von Anfang bisEnde laut vorliest. Peter Hahne vom ZDF, der mit demfrommen Grinsen, soll mich in seine Gebete einschlie-ßen. Kann ja nichts schaden. Möge Uli Wickert unsnoch lange erhalten bleiben. Denn mit seiner Abge-klärtheit, seiner Güte, Milde und seiner Weisheit näherter sich uns Alten täglich mehr und mehr an.HAUG VON KUENHEIM, KOLUMNIST

39Ich wünsche mir die Einführung eines »Rea-litätstages« für Politiker: George W. Bush schiebt

einen Tag lang Dienst im Irak, Wolfgang Schäuble sitztauf den Fluren des Ausländeramts, Franz Münteferingist einen Tag lang mit Klaus Kleinschmidt von Siemensunterwegs – natürlich ohne Kameras!ULRICH SCHNABEL, REDAKTEUR WISSEN

40Ich wünsche mir, dass im nächsten Jahr end-lich der Kampf gegen Aids, die verheerendste

Massenvernichtungswaffe unserer Zeit, ernst genom-men wird.BARTHOLOMÄUS GRILL, KORRESPONDENT IN KAPSTADT

41Weil die Rettung der Welt im Kleinen beginnt,wünsche ich mir mehr Zeit für meine Frau.

MARC BROST, STELLV. RESSORTLEITER WIRTSCHAFT

42Nach etwa 23 Zahnarztbesuchen in diesemJahr wünsche ich mir, dass die alten, strah-

lungsintensiven Röntgenapparate endlich durch diebessere Kernspin-Magnetresonanz-Tomografie ersetztwerden, die Entzündungen der Zahnnerven schonentdecken, bevor sie schmerzen. Leider gibt es dasnoch nicht.MARGIT STOFFELS, BÜRO RESSORTLEITUNG LEBEN

43Können wir damit aufhören, Freiheit als eineBedrohung anzusehen?

GEORG DIEZ, REDAKTEUR LITERATUR

44Einen rauchfreien Arbeitsplatz und mehrrauchfreie Restaurants und Cafés.

GABY HANKE, SEKRETÄRIN DOSSIER

45Vor einem Jahr brachte der Tsunami Tod undUnglück nach Thailand. Über eine Tauchbasis

auf Phuket erfuhr ich vom Schicksal der 5-jährigenSupranee und des 10-jährigen Sittisak, meiner heuti-gen Patenkinder. Sie hatten hilflos zusehen müssen,wie ihre Mutter in der Flut ertrank. Ich wünsche mirfür 2006, dass die beiden Kinder mit dem Verlust ih-rer Mutter leben lernen.KOMMISSAR SEITZ, KOLUMNIST

46Ich wünsche mir, dass Jan Ullrich noch mal dieTour gewinnt. Womit soll ich mich sonst nach

der WM beschäftigen?CHRISTOF SIEMES, STELLV. RESSORTLEITER FEUILLETON

47Ich wünsche mir eine gesetzliche Regelung, dieallen Exportweltmeisterwirtschaftsfunktionä-

ren die Verwendung der folgenden Begriffe für mindes-tens zwölf Monate verbietet: Reform, Eigenverantwor-tung, Deregulierung, Entbürokratisierung, Staatsquo-te, Zivilgesellschaft, Schlusslicht, Humankapital. SUSANNE GASCHKE, REPORTERIN

48Ich wünsche mir, dass Görlitz/Zgorzelec Kul-turhauptstadt Europas 2010 wird.

MARCUS KRÄMER, ASSISTENT CHEFREDAKTION

49Ich wünsche mir Religionen, die Halt und Mit-tel zur Freiheit sind und keine Offensivwaffen.

SABINE RÜCKERT, REPORTERIN

50Ich wünsche mir, dass endlich die amerikani-sche Serie Curb your enthusiasm von Seinfeld-

Erfinder Larry David bei uns im Fernsehen gezeigtwird – die misanthropischste, wehleidigste, lustigste,menschlichste Sendung seit langem, die hier garan-tiert keinen Erfolg haben würde. GEORG DIEZ, REDAKTEUR LITERATUR

51Dass in der Herrentoilette im Berliner Büronach gefühlten zwei Monaten der Spiegel über

dem Waschbecken wieder aufgehängt wird.MICHAEL BIEDOWICZ, BILDREDAKTEUR LEBEN

52Alles, was David über Weihnachten weiß, hater in einem SOS-Kinderdorf gelernt. Zwei Jah-

re durfte er dort wohnen, und einmal hat er sogar einGeschenk bekommen. »Wahnsinn! Das erste Ge-schenk meines Lebens.« Wir kennen Davids Geschichte aus dem Magazin derSüddeutschen Zeitung: Der Junge ist mit 14 Jahren nachDeutschland gekommen. Als er etwa drei Jahre alt war,hat ihn eine Frau auf der Straße aufgelesen, währenddes Krieges zwischen Armenien und Aserbajdschan,Mutter und Vater waren erschlagen worden. Von sei-nen Eltern besitzt David nichts, »kein Andenken, keinFoto«. Dann starb auch seine »Pflegeoma«, ihr Sohnholte das Kind nach Russland. »Dort«, sagt David,»habe ich schlimme Dinge erlebt … und bin nachDeutschland geflüchtet, mit Fremden in einem Auto.«Fast vier Jahre lebt er nun in Deutschland, ist hier zumersten Mal in die Schule gegangen und hat ein Berufs-grundschuljahr absolviert, »mit Eins«. Inzwischen ist erzu alt für das Kinderdorf und lebt in einer vom Jugend-amt betreuten Wohnung; auch die muss er verlassen,weil er am 29. Dezember 18 wird. Davor hat er Angst,denn dann muss er wahrscheinlich in ein Asylbewer-berheim ziehen. David möchte Schreiner werden, doch ohne Arbeitsge-nehmigung durfte er die Lehrstelle, die er hätte habenkönnen, nicht antreten. Denn David hat noch nie ei-nen Pass besessen. Jetzt trainiert er jede freie Minute,um Fußballer zu werden. »Das ist meine einzige Chan-ce«, sagt er.Wirklich? Dieses Land hat das Kind mit der unermess-lich traurigen Geschichte umsorgt, so gut es konnte.Nun fehlt noch ein Stück Papier, ein Pass, der, Davidweiß es, Freiheit und Leben bedeutet. Wie er, so wün-schen wir uns, dass er ihn bald bekommt.MARGRIT GERSTE, REDAKTEURIN LESERBRIEFE

53Ich wünsche mir, dass die Menschen in aufrei-benden Zeiten Rituale pflegen, die es ihnen er-

möglichen, durchzuatmen, mit den Nächsten im Ge-spräch zu bleiben und zu sich selbst zu kommen: zumBeispiel den morgendlichen Kaffee im Bett oder denFive o’Clock Tea.MARTIN KLINGST, RESSORTLEITER POLITIK

54Eine waghalsige Bundeskanzlerin, eine schlag-fertige Opposition und – 13 Jahre nach Beginn

der ersten Sondierungsgespräche – ein schwarz-grünesExperiment in Baden-Württemberg.MATTHIAS GEIS, REDAKTEUR HAUPTSTADTBÜRO

55Ich wünsche mir die Wiedergeburt von SteveMcQueen, weil er der Größte war. Ich wünsche

mir Religionsunterricht in Berlin, weil man ihnbraucht, um unsere Kultur zu verstehen – und dassJoschka Fischer in seinem nächsten Buch die Wahrheitüber sieben Jahre Rot-Grün schreibt.CHRISTOPH AMEND, RESSORTLEITER LEBEN

56Man muss die Welt eigentlich nicht schöner ma-chen, denn sie ist ja schon sehr schön, ganz von

alleine. Natürlich wäre sie noch ein klein wenig schö-ner, wenn bei Karstadt in Lüneburg nicht gleich nebender Spielwarenabteilung zur legitimen Steigerung derProfitrate des notleidenden Unternehmens Viva-Por-nos laufen würden, um die man seine Dreijährigen her-umschiffen muss. Das wäre mein Wunsch: keine Por-nos mehr bei Karstadt in Lüneburg. Vielleicht sogar:keine Pornos mehr im Fernbedienungs-Fernsehen auchjenseits von Lüneburg, überhaupt kein Viva- und RTL-Sex mehr für Vorschulkinder. Zugegeben: Das ist kühn.Aber vielleicht lässt sich da was machen. Die Voraus-setzung wäre doch einfach: eine schöne Welt vollerwunderbarer Männer, die sich durch das Abspielen vonPornofilmen in der Lüneburger Herrenabteilung in kei-ner Weise zum vermehrten Kauf von Hosen animierenlassen, sodass die Verkaufserwartungen des Karstadt-Konzerns, die sich an das Abspielen von Pornofilmenin der Herrenabteilung ihrer notleidenden Filialenknüpfen, aufs bitterste enttäuscht werden.Das ist natürlich nur ein Beispiel. Im Grunde wünscheich mir einen groß angelegten Boykott, der bei Karstadt

in Lüneburg beginnt, den miserablen Brötchenstandim Hamburger Hauptbahnhof kurzerhand dahin fegt,wo er hingehört: in die Hölle aller als Lebensmittel ge-tarnten Chemikalien, und sich dann ausbreitet über dasganze Land. Das wäre mein Traum: den ganzen Schundeinfach liegen und verfaulen lassen. Sollen seine gewis-senlosen Produzenten doch selber sehen, wie sie mitihm fertig werden.Schon klar, das ist nicht so einfach. Denn was sollen wiressen, wenn nicht die Lebensmittel-Imitate aus dem Su-permarkt? Wen wählen, wenn nicht die Politiker-Imi-tate aus den Aufsichtsräten? Was lesen, wenn nicht dieRoman-Imitate der jungen amerikanischen Literatur?Wie leben, wenn das Lebens-Imitat Fernsehen unsnicht den Takt schlägt? Das weiß ich auch nicht so ge-nau. Das kann man nicht alles auf einmal lösen. Damuss man eben klein anfangen. Morgen bei den Her-renhosen in Lüneburg.IRIS RADISCH, REDAKTEURIN LITERATUR

57Ich wünsche mir, dass die Globalisierung nichtzu weit ins Private vordringt – Enkelkinder am

andern Ende der Welt sind unpraktisch.Außerdem: Wireless LAN für alle für immer! UndApple-Design überall, wo es um Technik geht;auf keinen Fall Kinder an die Macht;dass Kinder täglich in der Schule singen. Und zu Hau-se auch;dass niemand freiwillig auf Kinder (und damit auf dievielleicht tiefste Liebe seines Lebens) verzichtet;die Erfindung einer Nackenrolle, die sich beim Lesenim Bett nicht platt liegt;mehr Personal in Jugendämtern und mehr Geld für die,die dort arbeiten;ganz viel Sympathie für streikende Ärzte!Ich wünsche mir auch noch, dass mein Topf seinenDeckel wiederfindet.IRIS MAINKA, CHEFIN VOM DIENST

58Ich wünsche mir, dass die Schulkinder inDeutschland nicht mehr mitten in der Nacht

aufstehen müssen, sondern ihren Unterricht frühestensum 8.30 Uhr wie in Frankreich beginnen können.MICHAEL MÖNNINGER, KORRESPONDENT IN PARIS

59Ich wünsche mir, dass mein Sohn unfallfrei indie zweite Klasse versetzt wird.

CHRISTOF SIEMES, STELLV. RESSORTLEITER FEUILLETON

60Ich wünsche mir, dass meine kleine Tochterjetzt auf der Grundschule und auch später

lernt, was sie zum Leben braucht. Es ist so schwer, heu-te schon zu wissen, was in zwanzig Jahren wissenswertund wissensnotwendig sein wird.SABINE RÜCKERT, REPORTERIN

61Ich wünsche mir sehr, dass mein Land die Kin-der, die hier doch so vermisst werden, wieder

entdeckt, viel mehr fördert, viel, viel mehr Geld fürderen Bildung bereitstellt.KIRSTEN ARASIN, SEKRETÄRIN HAUPTSTADTBÜRO

62Ich wünsche meinen Töchtern einen passablenVater.

THOMAS E. SCHMIDT, KULTURKORRESPONDENT IN BERLIN

63Dass mein Sohn (7 M.) bald durchschläft.MAX RAUNER, REDAKTEUR ZEIT WISSEN

64Ich wünsche mir deutlich weniger Knöllchenwegen Falschparkens, dass der nächste Papst

wieder ein Pole wird und dass nicht alle meine Freun-de Kinder kriegen und heiraten. Es reicht nämlichlangsam.ADAM SOBOCZYNSKI, AUTOR

65Mehr Kinder!PATRIK SCHWARZ, REDAKTEUR POLITIK

66Dass gute Lehrer nicht beleidigt sind, wennman schlechte Lehrer kritisiert.

THOMAS KERSTAN, RESSORTLEITER CHANCEN

67Ich wünsche, dass irgendwo in unserer indus-trialisierten Welt, wo Angestellte entlassen und

KINDER müssen nicht mehr so früh zur Schule

MEHR SCHLAF,längere Yoga-Arme,ein Pferd

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Nr.1 29. Dezember 2005 Leben DIE ZEIT 57

Nr. 1 S. 572. Fassung SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 572. Fassung SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Fabriken geschlossen werden, obwohl der Mutter-konzern Profite macht, dass dort die Betroffenennicht nur mit Trillerpfeifen auf die Straße gehen, son-dern Barrikaden errichten und die Gesetze ebensomissachten, wie es uns die Manager mit ihren sozia-len Verpflichtungen vormachen. WOLFRAM SIEBECK, KOLUMNIST

68 Das Universitätsspital Lausanne erlaubt ab2006 den assistierten Suizid. Bislang mussten

Schwerkranke das Krankenhaus verlassen, um mitUnterstützung einer Sterbehilfeorganisation zu ster-ben. Nun ist dies in der Schweiz auch in der Klinikmöglich – ein Vorbild für Deutschland.URS WILLMANN, REDAKTEUR WISSEN

69Einen neuen Pastor wünsche ich mir, unddas ist, ich geb’s zu, ein recht frommer

Wunsch. Denn die Kirche spart, sie spart sogar amErfolg. Unsere Gemeinde ist so lebendig wie wohlkaum eine andere in Hamburg, ja, sie wächst, ziehtLeute an, die mit der Kirche längst abgeschlossenhatten und die sich plötzlich als Ehrenamtliche wie-derfinden, eingebunden in ein ungemein reichesGemeinde- und Glaubensleben. Nur geht jetzt ei-ner der beiden Pastoren in Pension, und seine Stel-le wird, wie es aussieht, nicht voll ersetzt. Ist daseine moderne, protestantische Form der Selbstka-steiung? Strafe für unbußfertigen Erfolg? Zumin-dest wirkt es so, als sei den Kirchenoberen der Zu-strom suspekt, als müssten sie unbedingt alle Ge-meinden gleich behandeln, alle gleich schlecht. Ichwünschte mir, sie würden lieber mit ihren Pfundenwuchern.HANNO RAUTERBERG, REDAKTEUR FEUILLETON

70Ich wünsche mir, dass alle Bundestagspartei-en, die sich so lauthals über die womögliche

Stasi-Vergangenheit von Mitgliedern der Linkspar-tei echauffiert haben, ihrerseits mal den Anteil ehe-maliger SED-Funktionäre oder DDR-Blockpartei-Kader in den eigenen Reihen offen legen. Es ist jabei der Jagd nach Inoffiziellen Mitarbeitern in Ver-gessenheit geraten, welche einflussreichen Postendie sozialistische Diktatur außerhalb der Stasi zuvergeben hatte. EVELYN FINGER, REDAKTEURIN FEUILLETON

71Ich wünsche mir, dass Schalke endlich deut-scher Meister wird. Ich könnte zu diesem

Wunsch noch 300 Zeilen Begründung hinzufügen,will jedoch das Wesentliche nicht verwässern.STEFAN WILLEKE, REPORTER

72Ich wünsche mir eine WM, die Deutschlandjubeln und das Ausland staunen lässt!

ULRICH DEHNE, ONLINE-SYSTEM-ENTWICKLER

73Ich hoffe wider alle Vernunft, dass der 1. FCKöln nicht absteigt und den kölschen Klüngel

überwindet. JÜRGEN KRÖNIG,KORRESPONDENT IN LONDON

74Als Weltmeisterschafts-Gastgeber, Mann undVolksgenosse muss ich mir auch was mit Fuß-

ball wünschen: dass der Heilige Geist dem protestan-tischen Leitbischof Wolfgang Huber die, Vergebung,nuttige Idee ausredet, WM-Spiele in Kirchen zu über-tragen, womöglich mit abendmahlsverwandten Fan-Snacks. CHRISTOPH DIECKMANN, AUTOR

75Dass Togo die Kolonialmacht Frankreich be-siegt und Fußballweltmeister wird!

BARTHOLOMÄUS GRILL, KORRESPONDENT IN KAPSTADT

76Ich wünsche mir, dass Mönchengladbachwirklich nicht in Abstiegsnot gerät und Ango-

la Fußballweltmeister wird.CHRISTOF SIEMES, STELLV. RESSORTLEITER FEUILLETON

77Dem FC St. Pauli den Aufstieg in die 2. Ligaund den DFB-Pokal.

URS WILLMANN, REDAKTEUR WISSEN

78Dass die Fußball-WM ausfällt.KATJA KOLLMANN, GRAFIKERIN LEBEN

79Ich wünsche mir, dass Menschen wieder mehrVerantwortung übernehmen, für sich und die

anderen, besonders für ihre Umwelt.MARK SPÖRRLE, CVD-REDAKTEUR

80Jeder kann etwas tun, damit wir weiter in ei-nem schönen Land leben. Auch engagierte Le-

serbriefe können helfen.INGE WEIK, LESERSERVICE

81Seit das Land immer weniger konkurrenzfähi-ge Waren herstellt, ist es in den Künsten beliebt

geworden, möglichst handwerklich, möglichst sauberzu sein. So malen sie, so schreiben sie, so inszenieren sie.Der Mangel an Ideen und Irrsinn, an Wagemut undWahn ist so eklatant – dass es 2006 zu einem Ausbruchdes Neuen kommen müsste.GEORG DIEZ, REDAKTEUR LITERATUR

82An der Uni in den USA haben wir mitunterdas Fragespiel What’s the best thing in life? ge-

spielt. Fast jeder, notorische Zauderer ausgenommen,wusste schnell eine Antwort. Und nicht irgendeine,sondern seine. »Guter Sex« war ein Renner, »Skifahrenin unberührtem Schnee« ein anderer, ein »warmerBagel mit cream cheese« gehörte auch dazu. Musik kamoft vor, Bewegung und Natur spielten eine Hauptrol-le. Die Menschen sind in dieser Frage nicht einer Mei-

nung, wiewohl die Überschneidungen sehr groß sind.Sie wissen ziemlich genau, was ihre eigene Zufrieden-heit mehrt, was für sie das gute Leben ausmacht. Bloßim Ablauf des Tages und des Jahres vergessen es vieleallzu oft. Mein bescheidener Wunsch mithin: Wennes uns gelingt, den Anteil dieser »besten Dinge im Le-ben« etwas anzuheben, wäre das ein Wohlfahrtsge-winn (hier spricht der Wirtschaftsredakteur!) erstenRanges.UWE JEAN HEUSER, RESSORTLEITER WIRTSCHAFT

83Ich wünsche mir eine alte, weise Frau alsFreundin, die mir von ihrem aufregenden Le-

ben erzählt und da ist, wenn ich Sorgen habe.BENJA WELLER, PRAKTIKANTIN BILDREDAKTION LEBEN

84Ich wünsche mir saubere, rußfreie Kachel- undKaminöfen.

HANS SCHUH-TSCHAN, REDAKTEUR WISSEN

85In der Berliner U-Bahn werden Fahrgäste rundum die Uhr mit den Schlagzeilen einer Boule-

vardzeitung indoktriniert: »Arnie sauer«, »Gwenschwanger«, »Sharon: Brust zu groß«. Ich hätte gern maldie Macht über diese Schlagzeilen. Und sei es nur, umden Verben zu ihrem Recht zu verhelfen.RALPH GEISENHANSLÜKE, AUTOR

86Dass es ein guter Jahrgang für den deutschenRiesling wird: nicht zu fett, feine Säure, gute

Menge.GERO VON RANDOW, CHEFREDAKTEUR ZEIT ONLINE

87Eine ICE-Verbindung Hamburg–Cuxhaven.THOMAS KERSTAN, RESSORTLEITER CHANCEN

88Einen ICE, der nonstop zwischen Hamburgund München verkehrt.

GABY HANKE, SEKRETÄRIN DOSSIER

89Ich wünsche mir, dass die Bahn ihren Internet-Auftritt in den Griff bekommt. Ein Online-

Ticket zu ordern ist eine echte Herausforderung. Mei-ne liebe Nichte, sie ist jung und IT-erprobt, findet: Esliegt nicht am Alter der Benutzer, sondern an der Per-formance der Bahn. Andere können es auch. Die Bahnsollte sich ein Beispiel an der Lufthansa nehmen.NINA GRUNENBERG, AUTORIN

90Für 2006 möchte ich mir mal den Weltfriedenwünschen. Zu diesem trüge es bei, würde Bahn-

chef Hartmut M. unverzüglich den Organen der Luft-hansa übergeben. Er dürfte dann auch DeutschlandsFlug-Bahnhöfe im uniformen Stil des Mehdorn-Fee-lings umbauen (you know what I mean), damit imnächsten Sommer sich die Welt zu Gast bei Mehdornfühlt. Zugreisenden gelingt das bereits in ganz Deutsch-land (außer in Chemnitz).CHRISTOPH DIECKMANN, AUTOR

91Ich wünsche mir, dass die Regionalbahn es unswieder erlaubt, Fahrkarten im Zug vom Schaff-

ner zu kaufen. Dann muss man sich auf dem Weg zumFahrkartenautomaten nicht durch Trauben von Mit-reisenden drängen, die böse auf einen werden, wenn

man keine verbilligte Fünfergruppe mit ihnen bildenwill. Man verpasst auch nicht den Zug, weil der Auto-mat nicht wechseln kann; und man wird nicht in Pin-neberg rausgeworfen, weil man wegen alldem keineFahrkarte dabeihat. Insgesamt hätte man mehr denEindruck, die Regionalbahn hielte einen für einen Rei-senden – und nicht für etwas Lästiges, das nurmehrtransportiert wird.SUSANNE GASCHKE, REPORTERIN

92Mein Wunsch: Zur Rettung der Welt müssenviel mehr kluge Frauen Verantwortung über-

nehmen in Unternehmen und Regierungen. Dannwerden die Gespräche kreativer und die Ergebnisse bes-ser. Dann gibt es weniger Hahnenkämpfe und Kriege.Dann wird mehr gelacht und die Welt wird ziviler.RAINER ESSER, GESCHÄFTSFÜHRER

93Einen Alfa Romeo 155 V6, max. 100 000 km,dunkelgrün metallic, und eine schlagfertige, po-

litisch aktive Verbraucherorganisation, die mir sagt,welche Autoreifen, Bankkonten und Telefone ich kau-fen soll. Und besonders: welche nicht.BURKHARD STRASSMANN, AUTOR

94Die Wiederauferstehung von Heiner Müller.DIRK MERBACH, ART DIRECTOR

95Fünf Zweifel am Wünschen: Wann eigentlichwaren die alten Zeiten, als das Wünschen noch

geholfen hat? Der berühmte Einleitungssatz aus demFroschkönig ist eine spätere Hinzufügung. Sie drücktden Wunsch aus, das Wünschen möge helfen. Zuwei-len hilft es ja. Die Erfahrung jedoch lehrt, dass Wün-sche wie ein Sack Flöhe sind. Einmal geöffnet,entlässt er sie in tausend Richtungen, und jeder er-füllte Wunsch zeugt einen unerfüllten.Der Wünschende ist mit seiner Lage nicht gänzlicheinverstanden, denn andernfalls hätte er nichts zuwünschen. Glück bestünde darin, keinen Wunschmehr offen zu haben. Der Augenblick des größtenGlücks besteht in der Wunschlosigkeit – wie auch derAugenblick des größten Unglücks. Davon handeltzum Beispiel Peter Handkes Erzählung WunschlosesUnglück.Wäre ein jeder wunschlos und zufrieden, so gäbe eskeine Kriege. Mehr haben zu wollen, als man hat, unddem Nachbarn seinen Besitz zu neiden führt abernicht allein zum Krieg, es ist die Triebkraft unserer Le-bens- und Wirtschaftsweise. Der Kapitalismus feiertden Konkurrenzkampf als natürliches Gesetz und ver-spricht, er werde friedlich ablaufen. Diesem Verspre-chen sollte man nicht unbedingt glauben.Wünsche, die nicht dem persönlichen Wohlbefindendienen, sondern dem Glück des Nachbarn oder garder Menschheit, nennt man fromme Wünsche. Da-mit ist gemeint, dass sie weder nutzen noch schaden.John Locke hat einmal bemerkt, das Wort »Wün-schen« bezeichne den niedrigsten Grad des Verlan-gens. Woraus folgt, dass jeder, der den traurigen Zu-stand seines Nachbarn oder der Menschheit zu bes-sern bestrebt wäre, nicht wünschen, sondern wollenmüsste. Solange wir leben, wünschen wir. Zum neu-en Jahr wünschen wir uns, unsere Wünsche möchtenin Erfüllung gehen. Wenn aber alle Wünsche allerMenschen erfüllt würden, wäre das Chaos perfekt. In-sofern sollten wir froh sein über jeden unerfülltenWunsch. Solange wir unerfüllte Wünsche haben, le-ben wir noch. ULRICH GREINER, RESSORTLEITER LITERATUR

96Ich wünsche mir den Weltfrieden. CHRISTOF SIEMES, STELLV. RESSORTLEITER FEUILLETON

97Weihnachten endlich mal gesund sein.BERND ULRICH, STELLV. CHEFREDAKTEUR

98Dass ich mich beim Nassrasieren nicht mehrschneide.

JAN ROSS, REPORTER

99Mehr Hosen in Größe 32/30.HENNING SUSSEBACH, REDAKTEUR LEBEN

100Den 100. Wunsch lesen Sie auf Seite 66– einen Traum von Desmond Tutu

EINE WELTMEISTERSCHAFT,die Deutschland jubeln lässt

EIN ALFA ROMEO,gebraucht, maximal 100 000 Kilometer

EINE BAHN, für die Reisende nicht mehr lästig sind

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58 DIE ZEIT LEBEN Leser schreiben Nr.1 29. Dezember 2005

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Unser Jahrmit der ZEIT

Vor vier Wochen haben wir unsere Leserinnen und Leser gefragt:

Welcher Artikel hat Sie besonders bewegt?Eine Auswahl der Antworten

MIT WOODY ALLEN HABEN WIR IM BETT GELACHTVon KERSTIN KNORPP, 37, aus StuttgartKatja Nicodemus: »Ich pfeife auf mein Vermächtnis«, ZEIT Nr. 26

Das Woody-Allen-Interview geht mir nichtmehr aus dem Kopf. Ich lese die ZEIT meis-tens am Samstagmorgen im Bett – mit einerTasse Espresso und meinem Freund. DiesenArtikel habe ich gleich laut vorgelesen, undwir konnten kaum mehr aufhören zu lachen.Am besten hat mir die Stelle gefallen, an derAllen über den Tod redet: Er sagt, dass dieLeute immer behaupten, dass er »in den Her-zen und im Geist seiner Landsleute weiterle-ben« werde. Er wolle aber lieber in seinem

Apartment weiterleben, und auf sein Ver-mächtnis pfeife er ohnehin. Schön ist auchder folgende Satz: »Das Leben besteht nuraus Strategien, mit dem Leben klarzukom-men«. Und die Liebe hält Allen auch nur füreine Masche, mit der die Menschen sich da-von ablenken, dass das Leben sinnlos ist. Später habe ich die Seite rausgerissen und sieaufgehoben. Den neuen Woody-Allen-Filmhätte ich ohne dieses Interview wahrschein-lich gar nicht angeschaut.

HARALD MARTENSTEIN SITZT AN MEINEM KÜCHENTISCHVon ANDREA BIRKE, 45, aus Emmerting

Harald Martenstein: »In Gemüse veritas«, ZEIT Nr. 16

Am Donnerstagmorgen, wenn die Zeitungkommt, lesen mein siebenjähriger Sohn und ichdas Lebenszeichen von Harald Martenstein. Wirsitzen an unserem kleinen Küchentisch, er isstsein Marmeladenbrot, und obwohl er immer spätdran ist, will er unbedingt »den Martenstein«hören, bevor er in die Schule geht. Er lernt gera-de erst lesen, aber er weiß schon, wo die Kolum-ne steht, und schlägt sofort die richtige Seite auf,wenn er die ZEIT neben meinem Platz entdeckt.Was meinen Sohn zum Lachen bringt, bleibtauch bei mir hängen: Dass Rucola der Verliererder Saison sein soll, fand er großartig. Vielleichtauch, weil er diesen Salat selbst nicht mag, wo-

hingegen Bärlauch bei ihm hoch im Kurs steht. Später bringe ich meinem alten Vater meist dieRessorts Politik und Wirtschaft. Vom Don-nerstagabend bis zum Sonntag bekommen dasFeuilleton, das Leben wie auch das Wisseneine Chance, von mir gelesen zu werden. Wasbis dahin nicht aufgeblättert wurde, hat fastschon verspielt. Von Montag bis Mittwochruht die ZEIT, zugedeckt mit Alltag. Ihre Zei-tung begleitet mich schon seit Anfang derachtziger Jahre, damals noch als Studenten-abo. Es werden nicht allzu viele Jahre hinzu-kommen, dann wird es schließlich ein Senio-renabo.

PETER SODANN GAB MIR HOFFNUNGVon JOSEF NIEHAUS, 59, aus LippstadtJana Simon: »Rolle rückwärts«, ZEIT Nr. 30

Einen Satz habe ich mir unterstrichen: »Solange eseinen Plan gibt, ist noch Hoffnung.« Diesen Satzsagte Peter Sodann in einem Portrait von Jana Si-mon. Sodann alias Kommissar Ehrlicher war ganzkurze Zeit Spitzenkandidat der PDS in Sachsen beider Bundestagswahl. Doch schon zwei Tage nachder Nominierung merkte er, dass er da »irgendwienicht reingehört«. Jana Simon hat mit ihm über sei-nen Sinneswandel gesprochen. »Solange es einen Plan gibt, ist noch Hoff-nung.« Ich habe oft an dieses Zitat denken müs-sen, vor allem bei meiner Arbeit als Geschäfts-führer des Jugendrings in Dortmund. Wer mitJugendlichen arbeitet, ist in einer Art »Ingeni-eurbüro für soziale Entwicklung« beschäftigt.Ohne einen Plan oder ein weiterführendes Zielwäre diese Arbeit sinnlos. Fürs neue Jahr planeich zum Beispiel die Situation von jugendlichenHartz-IV-Empfängern zu verbessern: Wir wol-len ein Ombudssystem aufbauen, bei dem Ju-gendliche ihre Interessen gegenüber der Stadtund der Arbeitsagentur selbst vertreten. Man-chen dieser Jugendlichen wird das Leben durchdiese Behörden nämlich ganz schön schwer ge-macht. Aber jetzt haben wir einen Plan und so-mit auch Hoffnung.

EIN AUTOTEST BRACHTE MIR MEINE JUGEND WIEDERVon TOBIAS TIMMLER, 37, aus HamburgBurkhard Straßmann: »Der Körnerfresser«, ZEIT Nr. 37

Jeden Donnerstag lese ich als Allererstes die Au-tokolumne. Im Gedächtnis bleiben wird mirder Artikel von Burkhard Straßmann. Aus-nahmsweise wurde kein Auto getestet, sondernein Mähdrescher. Irgendwie total überflüssigund dennoch bereichernd. Denn bei mir wur-den Kindheitserinnerungen wach: Wie ich bei

meinem Onkel, einem Bauern, auf dem Mäh-drescher saß, vor mir tausend Hebel undSchrauben. Ein Satz des Artikels ist mir beson-ders im Gedächtnis geblieben: »Russland, liebeAutofreunde, verliert 20 Prozent seiner Getrei-deernte! Warum? Weil die Dresche nichtstimmt!« Ein wunderbarer Satz.

WIR HABEN DARÜBER IN DER FAMILIE DISKUTIERTVon WERNER FRICKE, 69, aus Wieren»Manager ohne Moral«, ZEIT Nr. 49

Dieses Jahr hat mich der Beitrag Manager ohneMoral? im Wirtschaftsressort beeindruckt. Ichfinde es mutig, dass die ZEIT den Zynismuseiner zunehmenden Zahl von Unternehmens-leitern und Managern beim Namen nennt, diesich offenbar nichts daraus machen, die Ren-diten ihrer Unternehmen auf 20 bis 25 Pro-zent zu steigern und gleichzeitig Hunderte,Tausende, Zehntausende von Beschäftigten zuentlassen. Wenn es dazu nicht bald eine breiteöffentliche Diskussion gibt, wird unsere sozia-le Marktwirtschaft schnell ganz zerstört sein. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaftversucht ja derzeit der Bevölkerung nahe zubringen: »Denke nicht, was dein Land für dichtun kann, sondern denke, was du für deinLand tun kannst.« Es ist gut, wenn diese Fra-

ge auch den Herren Ackermann (DeutscheBank), Wennemer (Conti), und anderen ge-stellt wird. Dazu leisten Artikel wie der überdie Moral der Manager einen wichtigen Bei-trag.Wir haben in der Familie diskutiert, wie dieMacht in den letzten Jahrzehnten aus der Po-litik in die Ökonomie ausgewandert ist. DasThema interessiert mich auch, da ich als So-ziologe daran gearbeitet habe. Politische Re-gulierung des kapitalistischen Wirtschaftensfindet immer weniger statt, global sowieso, zu-nehmend aber auch in den Nationalstaaten.Wenn die Politik derart versagt, können unsnur noch soziale Bewegungen und – sie einlei-tend – öffentliche Diskurse vor einem vollendsentfesselten Kapitalismus retten.

WIR WANDERN UND DISKUTIEREN Von ALFRED HAUSS, 73, aus LudwigshafenCerstin Gammelin: »Gut vernetzt«, ZEIT Nr. 34

Jede Woche gehe ich mit zwei anderen Rent-nern wandern, oft begleitet uns dabei ein Arti-kel aus der ZEIT als Gesprächsthema. Ende Au-gust war es Cerstin Gammelins Text Gut ver-netzt, in dem sie die enge Verbindung zwischenPolitikern der damaligen Rot-Grün-Regierungund den großen Stromkonzernen thematisiert.Wir redeten und stapften dabei durch die Kie-fern und Fichten des Pfälzerwalds bergan.Plötzlich begann die Landschaft sich an unse-rer Diskussion zu beteiligen. Vor uns tat sich dieriesige Schneise einer RWE-Überlandleitungauf, wie ein Landschaft gewordenes Zitat ausGammelins Artikel: Die Hochspannungslei-tung dominierte die Aussicht, wie die vier

Großunternehmen RWE, E.on, EnBW undVattenfall den Strommarkt in Deutschland do-minieren – mit freundlicher Unterstützung derBundesregierung. Wir sahen die Masten unddachten an die preistreiberische Politik derStromkonzerne, die in dem Artikel beschriebenworden war. Später erblickten wir am gegen-überliegenden Hang einen weiteren Diskussi-onsbeitrag: Winzer ernten dort als Windpark-betreiber Stromsubventionen. Dank des Arti-kels wussten wir, dass diese Windräder dieStrompreise weiter in die Höhe treiben. DieWanderung endete in einem gemütlichen Res-taurant bei Wein und Saumagen. Irgendwomusste unsere Energie ja wieder herkommen.

MIT DER ZEIT AM MEERVon MARKUS PREISSINGER, 22, aus BayreuthHans W. Korfmann: »WG am Meer«, ZEIT Nr. 41

In seinem Artikel WG am Meer beschreibt HansKorfmann sechs Männer, die sich 1965 einenTraum erfüllen und zusammen ein einsamesHaus am Meer kaufen. Dort verbringen sie mitihren Familien die Sommermonate. Die Idyllewird zerstört, denn um das Haus herum entste-hen riesige Hotels. Ich fand in dem Bericht meinen eigenen Traumvon einem perfekten Leben am Strand wieder:von Einsamkeit, aber auch von schönen Festenmit Freunden, Wärme und dem Meer, das einfachnur da ist. Bei der Lektüre des Textes musste ichan einen Tag in Australien denken: Mit ein paarFreunden bin ich dort zu einem Strand gefahren,der Whitehaven Beach heißt. Man erreicht ihnnur per Segelboot, und wir waren dort alleine mitdem Meer – nur zwei Stunden lang, aber seitherhabe ich mich schon viele Stunden zurück an die-sen Ort geträumt. Ein Foto des Strandes habe ichals Hintergrundbild auf meinem Computer. Wir haben solche Strandträume wahrscheinlichalle manchmal, obwohl wir wissen, dass siedurch eine überzogene Tourismusorientierunglängst zerstört wurde. Aber dieser Artikel mach-te mir Mut, den Traum nicht aufzugeben, undwer weiß, vielleicht gelingt es uns ja an einemanderen Ort, zu einer anderen Zeit, die »Pensi-on am Meer« wieder zum Leben zu erwecken.

DER TAG, AN DEM MEIN VATER STARB Von REGINA KUHN, 39, aus BruchsalHarro Albrecht: »Das vergessene Spiel der Ventile«, ZEIT Nr. 46

In der Serie des Ressorts Wissen Vernachläs-sigte Volkskrankheiten habe ich kürzlich in ei-nem Artikel über Herzklappenerkrankungenfolgenden Satz gelesen: »Viel zu wenig Allge-meinärzte nehmen sich heute noch Zeit, dasHerz des Patienten abzuhören.« Dies sagte einHerzchirurg. Es ist dieser eine Satz, der michveranlasst, diesen Beitrag zu schreiben.Vor acht Monaten bricht völlig unerwartetmein Vater auf dem Hof zusammen, meineMutter bringt ihn ins Haus, im Hausflurbleibt er liegen. Von Nachbarn werden derHausarzt und der Notarzt benachrichtigt. Bei-de treffen ungefähr gleichzeitig ein. Der Haus-arzt hält den Einsatz des Notarztes für über-trieben und hält meine Mutter davon ab, mitin den Notarztwagen zu steigen, welcher mei-nen Vater ins Krankenhaus bringen soll.»Packen Sie lieber etwas Kleidung für Ihren

Mann ein und bringen Sie ihm die Tascheheute Mittag ins Krankenhaus«, sagt er.Mein Vater ist bei vollem Bewusstsein. »Jetztwird alles gut«, sagt sie zu ihm, »jetzt bist duin guten Händen.« Beruhigt setzt sie sich we-nig später in den Garten und erzählt ihrerNichte, wie froh sie ist, dass ihr Mann malrichtig untersucht wird. Zu diesem Zeitpunktlebt mein Vater schon nicht mehr. Ein ent-zündeter Herzklappenflügel ist gerissen.Die rapide nachlassende Vitalität meines Va-ters, eines der wenigen äußeren Symptome ei-ner Herzklappenentzündung, hat der Haus-arzt als Altersdemenz gewertet. Sein Herz hater schon seit Jahren nicht mehr abgehört.Ganz gewiss wäre meine Mutter mit in denNotarztwagen gestiegen, hätte sie um denErnst der Lage gewusst, und mein Vater wärenicht alleine gestorben.

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Nr.1 29. Dezember 2005 Leser schreiben DIE ZEIT LEBEN 59

Nr. 1 S. 59 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 59 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

KERSTIN KNORPP (ganz links) liest die ZEITmeistens am Samstag morgen im Bett – mit einer Tasse Espresso und ihrem Freund

GERTRUD TAMMENA (2. von links) in ihrem Wohnzimmer. Sie war bewegt voneinem in türkischer und arabischer Sprache verfassten Aufruf zur Freilassung der Journalistin Giuliana Sgrena, die im Irakentführt worden war

KLAUS GOLDKUHL (2. von rechts) ausNeuruppin hat sich ein Foto aus der Reihe »Ich habe einen Traum« übers Bett gehängt

HENNING STEUER (ganz rechts) mit seinemSohn Frederik, 2. Er sieht die Straße seinereigenen Kindheit mit anderen Augen, seiter die Serie »Meine Straße« liest

*Auch im neuen Jahr werden wir unsere Leser bitten,von ihren Erlebnissen mit der ZEIT zu berichten.

Sie können uns das ganze Jahr über schreiben an:[email protected] oder per Post an:

DIE ZEIT; Stichwort: Artikel 2006; 20079 Hamburg

MEINE STUDENTIN CHRISTA WOLFVon RUDOLF GROSSE, 80, aus LeipzigHanns-Bruno Kammertöns/Stephan Lebert: Christa Wolf – Interview »Bei mir dauert alles sehr lange«, ZEIT Nr. 40

Der Text, der mich im zu Ende gehenden Jahram meisten beeindruckt hat, war das Interviewmit Christa Wolf Bei mir dauert alles sehr lange.In dem Gespräch geht es um Wolfs komplizier-tes Verhältnis zur Staatsmacht in der DDR undauch um Persönliches: Ihr Verhältnis zu Religi-on, ihre Freundschaft mit Max Frisch und ihrheutiges Leben in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Dabei ist ein ausgewogenes Bildvon Christa Wolf entstanden. Sie wurde beson-ders in den neunziger Jahren kritisiert, zu staats-

treu gewesen zu sein. Das empfand ich als unge-recht, denn in Wolfs Leben spiegelt sich dasSchicksal vieler ehemaliger DDR-Bürger nachder Wende. Ich habe an der Universität in Leipzig Germanis-tik gelehrt und habe noch das Bild von ChristaWolf als Studentin vor Augen. Später haben mei-ne Frau und ich um sie gebangt, als sie auf dem11. Plenum der SED für die Freiheit der Kunsteintrat. Ganz schön angeeckt ist sie, aber wir fan-den ihren Einsatz richtig und mutig.

ICH SEHE VON NUN AN MEINE ZUKUNFTVon HENNING STEUER, 37, aus MelsdorfHenning Sußebach: »In Utopia«, ZEIT Nr. 17

In der Serie Meine Straße erinnern sich ZEIT-Au-toren an ihre Kindheit. So auch Henning Suße-bach. Er weiß, dass die Vergänglichkeit in seinerStraße Einzug gehalten hat. Dies drückt er durchein Bild aus, das mich berührt. Nach dem Besuchbei den gealterten Eltern blickt er in den Rück-spiegel und erinnert sich dabei an ähnliche Rück-

blicke aus dem Heckfenster, als er noch ein Kindwar. Dabei denkt er unausgesprochen sein eigenesZurückbleiben mit. Seit der Lektüre des Artikelsfahre ich anders bei meinen Eltern ab und sehe sieanders im Rückspiegel. Ich sehe sie und dabeimich – und wenn ich den Spiegel umklappe, seheich meine Kinder, die noch in ihrem Utopia sind.

DIE LAGERFEUER MEINER JUGENDVon FRIEDER KORFF, 69, aus NiedernwöhrenUlrich Grober: »100 Jahre Rotgrün«, ZEIT Nr. 32

Ich war überrascht von Ihrem Artikel 100 Jah-re Rotgrün, der die Geschichte der Natur-freunde-Bewegung erzählt. Die Bewegungamalgamiert, besonders in ihrer Entstehungs-phase, sozialrevolutionäres Pathos und Natur-frömmigkeit. Ich war selbst als Jugendlicherbei dieser Organisation aktiv, wanderte mitGleichgesinnten im Weserbergland, wir san-gen und saßen abends am Lagerfeuer. Im Ar-tikel habe ich erfahren, dass auch Willy Brandtder Naturfreunde-Bewegung eng verbundenwar. Das habe ich vorher nicht gewusst. DaWilly Brandts politisches Wirken mich immersehr bewegt hat, war das ein schöner Zufall.

EIN GESCHENK FÜR MEINE NICHTENVon ELKE HERZER, 44, aus RavensburgSiggi Seuß: »Was ist Soof, Mama?«, ZEIT Nr. 33

Als Diplompädagogin muss ich in Sachen Ju-gendliteratur informiert sein. Dieses Jahr binich dank einer Rezension auf ein schönes Kin-derbuch aufmerksam geworden: So B. It vonSarah Weeks. Es beschreibt eine geistig behin-derte Mutter aus der Sicht ihrer Tochter. Ichhabe das Buch meinen Nichten geschenkt undes in einer Fachzeitschrift weiterempfohlen.

ICH WAR BEWEGT Von GERTRUD TAMMENA, 48, aus Ahrensburg

»Aufruf zur Freilassung von Giuliana Sgrena«, ZEIT Nr. 7

Die ZEIT veröffentlichte im Februar einenmehrsprachigen Aufruf zur Freilassung derJournalistin Giuliana Sgrena, die im Irak ver-schleppt worden war. Der Artikel hat michbewegt. »Bewegt« ist dabei durchaus wörtlichgemeint: Ich habe nämlich zur Schere gegrif-fen, den Artikel ausgeschnitten und mich aufden Weg zum nächsten türkischen Kultur-verein gemacht. Dort habe ich einen Manngebeten, den Aufruf aufzuhängen. Gut, dass er gemeinsam von Vertretern ver-schiedener Religionen verfasst worden war.So ein gemeinsames Engagement gibt es vielzu selten. Ich finde es außerdem schön, wennEinwanderer ihre Sprachen und ihre Schrift-zeichen mal in einer deutschen Zeitung ge-druckt sehen. Ich gebe ehrenamtlich Deutschkurse für Mi-grantinnen, und diese Frauen freut so etwas:Sie sind sehr am deutschen Alltag interessiert,und es ist gut, wenn auch mal ein integrati-ves Zeichen von unserer Seite kommt.

JETZT MACHEN WIR EIN EIGENES RADIOVon RAINER HENZE, 34, aus KonstanzUlrich Stock: »Rettet das Radio«, ZEIT Nr. 9

Ulrich Stock hat in seinem Dossier das Unwohl-sein über unsere Radiolandschaft aufgezeigt. Erhat mich und meine Kollegen vom Online-Ma-gazin Laut.de auf die Idee gebracht, dem Dudel-funk abzuschwören und ein eigenes Radio zu pro-bieren. Jetzt ist laut.fm im Internet auf Sendung;

mit einem Musikprogramm abseits ausgetretenerMainstreampfade. Wir spielen vor allem Alterna-tive Rock und kommen ohne Werbeblöcke aus.Dafür gibt es eine musikjournalistische Pro-grammbegleitung: Zu jedem gespielten Titel sindKünstlerbiografien oder Rezensionen verlinkt.

WIR TREFFEN UNS IN EINEM GARTENVon MARGARETHE PFLUMM, 70, RavensburgSusanne Wiborg: »Der Kresse-Report«, ZEIT Nr. 44

Ich lese die ZEIT seit 1961. Damals bin ich ausder DDR geflohen, und ihr Blatt verpasste mirein gute Einführung in die Bundesrepublik.Heute hält die Lektüre mich jung. Zum Beispielmit dem Artikel Kresse-Report. Der Text behan-delt ein Dilemma, das jeder Hobby-Gärtnerkennt: Räume ich die Kapuzinerkresse weg, be-vor der erste Frost sie in unappetitlichen Schleim

verwandelt, oder genieße ich die Pracht bis zumallerletzten Moment? Auch ich stelle mir jedenHerbst die bange Frage: Wie lange noch bezau-bern mich die Blüten und Farben der Kapuzi-nerkresse? Ich habe diese Ausgabe Ihrer Zeitungin meinem herbstlichen Garten gelesen, in derHängeschaukel, mit Blick auf die Kapuziner-kresse, die dort wild und bunt wuchert.

WIE ICH MICH IN DEUTSCHLAND EINLEBTEVon HEINZ VON LICHEM, 63, aus GeltendorfMoritz Müller-Wirth: »Der Fremde«, ZEIT Nr. 49

Im Herbst 1972 bin ich als Gastarbeiter nachDeutschland gekommen. Das war ein großesGeschenk, da ich aus einem Land der Unfreiheitund Korruption kam. In den ersten Monaten imneuen Land schenkte mir meine Frau jede Wo-che die ZEIT. Sie sagte: »Lies das, wenn duDeutschland verstehen willst.« Sie hatte Recht.

Noch heute bin ich ein reger Kiosk-Bahnhof-Tankstellen-Käufer der ZEIT. Am Kiosk schwät-ze ich ein bisschen, in der Tankstelle auch undtrinke einen Espresso. Der für mich schönste Ar-tikel in diesem Jahr war das Porträt über JürgenKlinsmann. Es hieß Der Fremde, und endlichhabe ich Klinsmann verstanden.

NATALIA WÖRNER HÄNGT AN MEINER WANDVon KLAUS GOLDKUHL, 52, aus NeuruppinNatalia Wörner: »Ich habe einen Traum«, ZEIT Nr. 2

Ich habe keine gerahmten Bilder. Ich hänge das,was mir gerade wichtig erscheint (Fotos, kurzeTexte, Karten), mit Nadeln an meine Raufaser-tapete. Manches hängt nur ein paar Tage. Doch seit fast einem Jahr hängt dort eine Seiteaus der Reihe Ich habe einen Traum. Ein großesSchwarzweißfoto und etwas Text. Das Fotozeigt die Schauspielerin Natalia Wörner unmit-telbar nach ihrer Rückkehr aus Thailand. Siehat dort mit ihrem Freund den Tsunami über-

lebt und berichtet davon: »Ich sah nach vorn.Wenige Meter vor uns war die Straße wegge-brochen. Wir sahen unzählige Menschen ausdem Wasser kommen: Nackt, blutüberströmt,schreiend.« Das Foto hat eine unglaubliche Kraft. NataliaWörner ist ganz still und nachdenklich. »DieseBilder in mir, ich weiß gar nicht, wohin mit die-sen Bildern« ist ihr letzter Satz. Man glaubt esihr bedingungslos.

ICH SEHE ROSEN HEUTE ANDERS Von GERTRAUD AICHINGER, 64, aus Linz

Christian Schmidt-Häuer: »Rosen für die reiche Welt«, ZEIT Nr. 30

Ein Artikel hängt seit Juli auf meinem Zei-tungsständer, ich konnte ihn nicht wegwerfen:Rosen für die reiche Welt beschreibt, unter welchgrausamer Ausbeutung Blumen für den Welt-markt produziert werden. Wenn ich einen Ro-

senstrauß erhalte, sehe ich seither südamerika-nische Frauen auf ihren Knien, in der Hocke,die Finger mit Leukoplast vor Pilzen geschützt,mitten im Gift der Spritzmittel, bedroht vonFehlgeburten.

ICH DACHTE AN MEINEN ONKEL Von RENATE SALZ, 58, aus BonnUnter anderem Robert Leicht: »Das letzte Tabu«, ZEIT Nr. 44

Beeindruckt haben mich zahlreiche Beiträge zurSterbehilfe in Ihren diversen Ressorts. Ich habe anmeinen Onkel denken müssen. Er war in einemHospiz, hatte Schmerzen und verlangte vor sei-nem Tod nach einer Morphiumspritze. Sie wurdeihm verweigert, da eine ärztliche Vorschrift be-stand, den Patienten nur alle acht Stunden Mor-phium zu spritzen. Eine als rechtlich verbindlich

anerkannte Patientenverfügung hätte ihmSchmerzen ersparen können. Beim Tod meinerMutter habe ich eine Patientenverfügung vorge-legt, um nach einer Wiederbelebung weitere ärzt-liche Maßnahmen auszuschließen. Ich hoffe, dassauch ich eines Tages längeres Leiden erspart be-komme und bin deshalb Mitglied der DeutschenGesellschaft für Humanes Sterben geworden.

Liebe ZEIT,

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60 DIE ZEIT Leben Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 60 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 60 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Seit einem Jahr gehöre ich zu denPendlern. Ich wohne in einem Vor-ort von Hamburg. Jeden Morgenum 7.45 Uhr steige ich in den Zugund fahre zur Arbeit. 287,6 Kilo-meter weit. Der Hamburger Vorortheißt Berlin, und der Zug ist ein

ICE. Die Fahrt dauert exakt 90 Minuten. Um kurzvor halb zehn sitze ich am Schreibtisch und fragemich, ob ich eigentlich verrückt bin. Doch wennich abends in den Zug nach Hause steige und alldie bekannten Gesichter sehe, denke ich: Ich magverrückt sein. Aber ich liege im Trend.

Es gibt viele Gründe, warum Menschen sich dasantun. Weil die Freundin in Berlin arbeitet. Weiles in Berlin mehr Altbauwohnungen gibt. Weilman Hamburg nicht leiden kann. Aber eigentlichgibt es nur einen Grund, warum Menschen 3000Kilometer pro Woche pendeln: weil es geht.

Hunderte von Millionen Euro hat die Bahn fürdie Hochgeschwindigkeitsstrecke ausgegeben, seitgenau einem Jahr gibt es sie jetzt und mit ihr ei-nen neuen Typ Mensch, der in einer neuen Dop-pelstadt namens Hamburg-Berlin lebt. Anderewohnen in Köln-Frankfurt. Das war die zweiteICE-Städtehochzeit der vergangenen Jahre. Wobeisich ein guter Teil des Pendlerlebens irgendwo da-zwischen auf der Strecke abspielt. Drei Stunden amTag leben wir im Zug. Die Verspätungen nicht ein-gerechnet, und die sind gewaltig.

Uns ICE-Pendler erkennt man an der schwar-zen Netzkarte namens Bahncard 100, die mehr als3000 Euro kostet und die wir Glücklichen uns leis-ten können, womit wir die Möglichkeit erwerben,in unserer Wunschstadt wohnen zu bleiben. Man

erkennt uns an dem Waggon, in dem wir sitzen:zweite Klasse, direkt hinter dem Bordrestaurant.Dort sind Plätze für Vielfahrer wie uns reserviert,Plätze, von denen wir die Normalfahrer mit einemWink unserer Bahncard vertreiben dürfen. Ichweiß nicht, wie viele wir sind. Aber fehlt einer vonuns, frage ich mich im Stillen, was mit ihm ist. Icherkenne jeden anderen Pendler. Dabei tun wirmeistens so, als würden wir uns nicht kennen. Umins Gespräch zu kommen, sind wir morgens zu ver-schlafen, abends zu abgekämpft, und außerdemfürchten wir, den Mitpendler, mit dem wir einmalgesprochen haben, von nun an täglich unterhaltenzu müssen.

An einem der Vierertische sitzt meistens einezierliche Frau mit dunklen Haaren und gewaltigenAugenringen. Sie tippt Zahlen in ihren Laptop. Ichsehe sie seit einem halben Jahr. Heute spreche ichsie an. Bettina Soemer heißt sie und ist 30 Jahrealt. Anderthalb Stunden sind eine lange Zeit. Siefängt an zu erzählen. Davon, wie skeptisch ihrFreund am Anfang war. »Das kriegst du nie hin.Das machst du nicht lange. Das ist ja irre«, hat erim April gesagt. Solche Reaktionen sind wir Pend-ler gewohnt. Wir widerlegen sie durch Beharrlich-keit. Bettina Soemers Chef in Hamburg sagte:»Kein Problem«, und hat ihr den Laptop spendiert,zum Arbeiten im Zug.

Ein paar Reihen weiter sitzt ein junger Mannmit blonden Haaren und kurz geschnittenemBart. Meistens trägt er schicke Hemden und liestZeitung. Die Süddeutsche. Oder den Spiegel. SeinName ist Lars Kotte, er ist Wirtschaftsinformati-ker und arbeitet in Hamburg für einen System-integrator. Das sei so was wie die Telekom, sagt

er im Ton von jemandem, der es aufgegeben hat,anderen Leuten seinen Job zu erklären. »Die Zei-tung ist mein ständiger Begleiter durch die Wo-che«, sagt er. Nie haben wir Pendler so viel gele-sen wie im vergangenen Jahr. Uns macht keineretwas vor, wir wissen, was im Bundestag los ist,und wir kennen die Neuerscheinungen auf demBüchermarkt. »Die Zeit im Zug, ich sehe sie alszusätzliche Freizeit. Zeit für mich ganz allein«,sagt Lars Kotte.

Irgendwie sagen wir alle dasselbe. Das Leben imZug hat uns gleichgeschaltet. Wir alle beteuern,dass wir nicht ewig pendeln wollen. Ein Jahr viel-leicht, bis die Bahncard abgelaufen ist, oder zwei.Und wissen doch, dass wir uns etwas vormachen.Die Jobsituation in Berlin wird nicht besser, Ham-burg dagegen ist die Region Deutschlands mit demhöchsten Pro-Kopf-Einkommen. Wir haben kei-ne Zeit mehr zum Fernsehen, wir alle wünschenuns mehr Zeit mit unseren Freunden, wir allefürchten den Augenblick, wenn wir gerade einge-nickt sind und der Schaffner uns wieder wachrüt-telt. Und für uns alle ist das Wetter ein Problem.Es ist ein Ratespiel. Scheint morgens in Berlin dieSonne, lassen wir den Schirm zu Hause, und inHamburg schlägt uns kalter Wind entgegen, esschüttet. Manchmal vergessen wir aber auch, obwir gerade in Hamburg sind oder doch schon inBerlin, und wir alle blicken ein wenig verächtlichauf die Nichtpendler, diese unflexiblen Langwei-ler. »Distance is distance in mind«, sagt Anne-Ka-trin Escher dazu. Mit ihr steige ich morgens inCharlottenburg in die S-Bahn und fahre die zweiStationen bis zum Bahnhof Zoo, und abends ste-hen wir nebeneinander auf dem Bahnsteig, warten

und frieren zusammen. Trotzdem hat es Monategedauert, bis ich sie nach ihrem Namen gefragthabe. Anne-Katrin Escher, 36, ist Juristin, Exper-tin für Seerecht. Ihr Büro liegt im ehemaligen Ter-minal für die England-Fähre mitten im Hambur-ger Hafen. Sie hat da so eine Idee. Ein Fitness-Stu-dio auf Rädern, das wäre doch was, ein echter Zeit-gewinn. Ein Waggon mit Stepper, Hometrainerund Gewichten. Anne-Katrin Escher sagt, das Pen-deln sei wie ein Marathon. Solange man stur wei-termacht, geht es.

Und wie ein Marathon erfordert auch das Pen-deln ein Höchstmaß an Logistik. Bettina Soemerzum Beispiel hat ihre täglichen Aktivitäten entlangder Buslinie konzentriert, die sie jeden Tag zumBahnhof Zoo nimmt: Supermarkt, Fitness-Studio,Shopping. Alles entlang der Linie M 46. Anne-Ka-trin Escher hat mit ihrem Freund die Abmachung,dass das Essen schon auf dem Tisch steht, wenn sieabends nach Hause kommt. Und ich verabredemich zum Essengehen um 20.25 Uhr am S-Bahn-hof Savignyplatz, 12 Minuten nachdem derAbend-ICE am Berliner Bahnhof Zoo ankommt.Das schaffe ich. Dann ist ein weiterer 13-Stunden-Pendeltag vorbei. »So schlimm ist das auch nicht«,sagt Anne-Katrin Escher. »Andere arbeiten auch so13 Stunden.« Es geht also doch?

Neulich schaute ich aus dem Zugfenster, sahwie jeden Abend irgendwo zwischen Ludwigslustund Wittenberge das mir bekannte Windrad mitdem grün angemalten Pfeiler und dachte: Wir hät-ten schon vor drei Minuten hier sein müssen.Ohne auf die Uhr zu schauen. Das war der Mo-ment, in dem mir klar wurde: Ich fahre dieseStrecke zu oft.

WirPendlerWie der ICE zwischen Berlin und Hamburg unser Leben verändert VON JAN-MARTIN WIARDA

Der Autor am MONTAG, 8.15 Uhr

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FREITAG, 8.15 UhrDONNERSTAG, 8.15 UhrMITTWOCH, 8.15 UhrDIENSTAG, 8.15 Uhr

DICHTER AM BALL 13

LUDWIG HARIG

Fritz Walter spielt das SpielFritz Walter spielt das Spiel. Im Spiel setzt er sein Zeichen.Sein Spiel ist absolut. Das Leben ahmt es nach:Es parodiert das Glück, kopiert das Ungemach,doch ohne seinen Sinn vollkommen zu erreichen.

Fritz Walters Absatzkick lässt Freund und Feind erbleichen.Ein Tor erzeugt Triumph, ein Foul bedeutet Schmach.Der große Heraklit in der Antike sprach:Das Spiel ist ganz real, ist Leben ohnegleichen.

Verfolgung, Täuschung, Streit, Verzweiflungstat und Rache:Für Toren ist es nur die schönste Nebensache.Doch sorglos und labil geht alles in die Binsen.

Im Augenblick entscheidet sich’s, du weißt es:Der starke Körper wird zur Hypothek des Geistes,der sie zurückbezahlt mit Zins und Zinseszinsen.

LUDWIG HARIG, geboren 1927, veröffentlichte u. a. »Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf«, 1999

Bis zur Fußballweltmeisterschaft 2006 stellt die ZEIT eine deutsche Dichter-Nationalmannschaft auf.33 bisher unveröffentlichte Fußballgedichte erscheinen wöchentlich im Ressort Leben. Sie werden im Radio-programm NDR Kultur dienstags und donnerstags jeweils um 15.45 Uhr und um 19.25 Uhr ausgestrahlt.

Die Texte sind auch zu lesen und zu hören unter www.zeit.de/fussballpoesie

Ja, hat der Typ denn noch alle Saiten im Klavier!Murmelte doch der gegelte Schlipsträger, ge-deckter Dreiteiler, Budapester an den Füßen,immerhin so laut, dass er auch ohne Hörhilfengut zu verstehen war: »Man müsste den altenSäcken ihre Rente halbieren.« Er meinte, das waroffensichtlich, unseren älteren Mitbürger, der ander Kasse des Supermarktes stand und, zugege-ben, etwas umständlich in seinem Portemonnaiewühlte. Er suchte nach passendem Kleingeldund begann mit der Kassiererin eine Unterhal-tung über die Frage, ob diese Zwei-Cent-Mün-ze nun eine französische sei oder eine spanische.Er schien alle Zeit der Welt zu haben. Was scher-ten ihn die Leute hinter ihm, die ungeduldig mitden Hufen scharrten und ihm die Rente kappenwollten. Es war übrigens eine finnische Münze,und es war Haupteinkaufszeit.Bitte schön! Gibt es ein Gesetz, das uns gebietet,unsere Gewohnheiten zu ändern und auf einenmitmenschlichen Plausch zu verzichten? Wir dür-fen Rücksicht erwarten. Aber wer bietet uns Sil-berköpfen schon seinen Platz im Bus oder in derBahn an? Auch da wird uns zu verstehen gegeben,wir sollten uns gefälligst außerhalb der Stoßzeitender öffentlichen Verkehrsmittel bedienen.Ja, wer sind wir denn? Uns gebührt, egal wo, einPlatz in der ersten Reihe, zumal wenn wir auf

Verdienste aus der Vergangenheit verweisen kön-nen. Und wer von uns Älteren könnte das nicht?Wer hat die Jungen in die Welt gesetzt, siegepampert und gepäppelt? Und ohne uns kämenoch heute so manche junge Familie in dieBredouille. Der materielle Transfer von Älteren zu Jungen istvon immenser volkswirtschaftlicher Bedeutung.Da langen wir hin, wenn es gilt, dem Schwieger-sohn sein Häuschen mit Garten zu finanzieren,oder löhnen für das altersschwache Auto derTochter. Rund 30 Prozent aller über 70-Jähri-gen, so heißt es in der Berliner Alterstudie vonProfessor Baltes, lassen den Jungen jährlich rundzweitausend Euro zukommen. Also, wenn nichtDankbarkeit, dann wenigstens Respekt.»Schön, dass Sie da sind«, wie oft hören wir die-se heuchlerische Floskel, wenn wir uns in der Öf-fentlichkeit zeigen und ein agiler junger Menschuns, uns begrüßend, unseren Platz weist. Dankunserer digitalen Hörgeräte hören wir ihn, sei-nen Kollegen zuraunend: »Der Alte kann esnicht lassen. Tanzt auf jeder Hochzeit«.Wenn du wüsstest, Bürschchen, einmal packendie Jahre auch dich.

*Haug von Kuenheim ist 71. Nach 40 Jahren bei der ZEIT – unter anderem als Leiter des Modernen Lebens

und stellvertretender Chefredakteur – privatisiert er heute

EIN RENTNER SIEHT ROT

Wer hat euch dennhochgepäppelt!Haug von Kuenheim über den mangelnden Respekt der Jüngeren

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Bei telefonischer Kartenbestellung empfehlen wir sich zu vergewissern, ob keine Änderung des Spielplans oder der Anfangszeit eingetreten ist.

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Mein Gott, gibt es denn keinanderes Thema? Was manliest, wohin man guckt – inZeitungen, Zeitschriften undMagazinen, im Fernsehensowieso, in Volkshochschu-len, Museen und Kinder-

gärten, überall ist nur vom Essen die Rede. Essen,Trinken, Kochen, Fressen, Saufen, Brutzeln – dasGlück der Menschheit scheint davon abzuhängen,dass wir den richtigen Pfannenschaber haben undwissen, wie man Zwiebeln schneidet. Eine Wellevon Belehrungen über modernes Essen ist über unshereingebrochen. Das ist nervtötend, wiederholtsich ständig, ist geschwätzig, aufdringlich und di-lettantisch.

Eine Horde von Nutznießern propagiert denSpaß am Herd, den Spaß beim Essen, den Spaßbeim Degustieren. Sie schwärmen vom Glück beimKartoffelschälen, sie finden das erfüllte Leben aus-schließlich dort, wo der fade Mozzarella sich mitgeschmacklosen Tomaten vereinigt.

Das Grillfest auf dem Balkon ersetzt ihnen dieSonntagsmesse.

Die zivilisierte Menschheit ist von einem Bazil-lus befallen, der sie zwingt, ständig den abgedro-schenen Satz »Der Mensch ist, was er isst« vor sichhin zu brabbeln. Der Vergleich mit den Massen-hysterien des Mittelalters drängt sich auf. Ganz of-fensichtlich sind wir die Opfer einer Zwangspsy-chose, die zu Halluzinationen führt, bei denen derdavon Befallene glaubt, kochen zu können oder ko-chen lernen zu müssen.

Na und? Habe ich diesen Zustand nicht jahre-lang herbeigeschrieben? Habe ich nicht gezetertund die Unwilligen beschimpft, die sich nicht vonihren Bratkartoffeln trennen wollten? Jetzt aber, dader Kaisergranat mit Safransauce zum Küchen-repertoire normaler Familien zu gehören scheint,jetzt ist mir das auch nicht recht?

Hier liegt ein Missverständnis vor. Zunächsteinmal haben Umfragen ergeben, dass in deutschenFamilien immer seltener gekocht wird. Man wärmtVorgekochtes auf oder geht gleich in den Schnell-

imbiss. Der Familientisch in seiner Eigenschaft alsSchule des Geschmacks existiert kaum noch. DieKinder, mit Nutella, Pommes & Majo plus Limoabgefüttert, sind auf Jahre für den kulinarischenGenuss verloren; für Erwachsene rangiert Genussweit hinter Geiz.

Was sich da unter dem Etikett »Besser essen undtrinken« über die Konsumenten ergießt, gleichtdem Karneval, dessen ursprüngliche Intentionenvon Marketingspezialisten in einen großen Rei-bach umfunktioniert wurden. Wirklich gelachtwird dabei nicht, die Heiterkeit ist einer infantilenSchunkelei gewichen.

Ein Volk von Angsthasen,stolz auf seinen Geiz

Nicht anders funktioniert die Massenbewegungder kochenden Deutschen. Auch dabei dominierender Reibach und das stressige Befolgen aktuellerModen. So entspringt die ständig wachsende Be-deutung dieser Bewegung keineswegs einem Mas-

62 DIE ZEIT LEBEN Siebeck Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 62 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 62 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

WOLFRAM SIEBECK kämpft seit dreißig Jahren für mehr Genuss und besseres Essen.Mittlerweile ist ihm die Kochbegeisterung der Deutschen nicht mehr ganz geheuer. Eine Neujahrsansprache

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OB SIEBECK DAS AUCH ESSEN WÜRDE? Der Fotograf Thomas Schwoerer hat ein Jahr lang täglich eine Mahlzeit abgelichtet. Hier eine Auswahl

AUS SIEBECKS KÜCHENSCHRANK

Pfefferkiste

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Das hübsche Holzkistchen könnte auch Zigarren enthalten, der Ständer mit den fünf verkorkten Reagenzgläsern ist ebenfalls ausHolz, die Gläser enthalten Pfefferkörner, dreimal schwarz und zweimal weiß (Cubebe,Malabar, Telli cherry, Muntok, Malabar). Sie legen die Benutzung eines Mörsers nahe,was Hobbyköchen entgegenkommt. Dass dieGläser aus klarem Glas bestehen, ist ein Nachteil, denn wie alle Gewürze scheut auchPfeffer das Licht, das ihm sein Aroma stiehlt;zumal die Gläser hoch sind und mehr Pfeffer enthalten, als eine Durchschnittsfamiliein einem Jahr verbraucht. Dennoch eine hübsche Alternative zum üblichen Sammel-surium eines Gewürzregals.

*Kiste mit fünf Gläsern ( je 70 Gramm), 37,34 Euro.Ständer 8 Euro. www.avecplaisir.de, Tel. 0203/738 53 85

senbedürfnis nach besserer Essqualität, sondernverdankt sich dem Phänomen, dass Kochen einStatussymbol der Mittelschicht geworden ist,obwohl kaum noch jemand seine Gemüse sel-ber putzt und sein Fleisch selber pariert. Das al-les wird vorgefertigt in Supermärkten gekauft.

Ernsthaft diskutiert wird die Qualität unse-res Essens nur hinsichtlich einer möglichen Ge-sundheitsgefährdung. Wobei entsprechend derdeutschen Mentalität maßlos übertrieben wird.Doch auch diese Abart des deutschen Konsumsüberrascht nicht.

Dass wir als beispielhafte Angsthasen dasLeben nur halbwegs meistern, weiß jeder Hob-bysoziologe. Wirklich erstaunlich ist, dass un-sere Gastronomie ein nie da gewesenes Niveauerreicht hat. Es ist kaum zu glauben: ein Volk,das aus Angst vor Seuchen und Bakterien fastzu Vegetariern geworden und stolz auf seinenGeiz ist, dass diese kleinbürgerlichen Kostver-ächter hingehen und es rund zweihundert Res-taurants ermöglichen, weltweit eine Spitzen-stellung einzunehmen.

Das liegt natürlich zuerst einmal am Fernse-hen, das auf allen Kanälen und dadurch fastnonstop Kochsendungen auf das Volk loslässt,wodurch zwar niemand kochen lernt, aber docheine Neugier auf Restaurants geweckt wird, indenen die Typen mit den weißen Jacken in na-tura betrachtet werden können. Dagegen istnichts einzuwenden, zumal der eine oder ande-re Gast feststellen wird, dass das Vergnügen, ineinem Erste-Klasse-Restaurant erstklassig be-kocht und bedient zu werden, auch nicht teurerist als eine modische Brille beim Optiker.

Man sieht kaum den Wald vor lauter Delikatessen

Nein, wirkliche Einwände sind nur zu machenbei dem, was beim Auto Zubehör heißt und im-mer teuer und meistens überflüssig ist. Diese La-wine der versandfertigen Genussmittel, die sei-tenlang in Magazinen angeboten und durch Ka-taloge vorgeführt werden, diese Messerbänk-chen aus dem Designstudio, das hundertsteBuch über Olivenöl, die feinen Weinkaraffen,die bald auf allen Anrichten stehen wie vor fün-fzig Jahren die Bowleschüsseln, die abartigenKorkenzieher, Nudelkocher, Salzsorten, dieserganze dekorative Krimskrams, den niemandwirklich braucht, der aber angepriesen wird, alshinge von seinem Besitz der Aufstieg des Käu-fers in die Gourmetklasse ab. Diese Geschäft-stüchtigkeit ist es, die einem die Lust aufs Ko-chen vergehen lässt.

Angeblich wollen sie uns Konsumenten janur den Weg verkürzen, der zum Genuss führt,uns einen Teil der Arbeit abnehmen, indem sie

uns alles ins Haus schicken. Eingeschweißt, ein-gedost, vakuumiert und tiefgefrostet, werdendie teuren Delikatessen auf das Niveau von»Bratheringen in Tomatensauce« herabgezogen,vor deren Blechgeschmack ich mich schon voreinem halben Jahrhundert geekelt habe. DieProfitgier der Anbieter zerstört in kurzer Zeit,was da langsam herangewachsen war, nämlichdie Erkenntnis, dass Kochen vor allem aus Ar-beit besteht und dass diese Arbeit der eigentli-che Spaß ist, der den Amateur in der Küche be-glückt. Da auch das Fernsehen versucht, denEindruck von Arbeit aus seinen Kochsendungenherauszuhalten, werden diese bald nur noch alsfad und witzlos eingestuft werden, was sie schonseit langem sind.

Adieu, Jamie, putz die Platte, Mälzerboy!Niemand kann uns bei der Lust übertreffen,

die das Auffinden der richtigen Produkte macht.Die Suche nach dem Biosuppenhuhn kannmühsam sein, aber war sie erfolgreich, ist derGewinn unendlich größer, als er uns von cle-veren Händlern versprochen wird. Um einenwinterlichen Bohneneintopf gar zu kriegen, ste-he ich mindestens zwei Stunden in der Küche.Aber es sind Stunden voller Vorfreude auf eineMahlzeit, deren jede Einzelheit meine Hand-schrift trägt und deren Aroma kein Chemikerund kein Verpackungskünstler beeinflusst hat.

Aber sie arbeiten daran. Und wenn wir unsnicht vorsehen, werden sie die Oberhand gewin-nen, die Massenproduzenten und Geschmacks-ingenieure. Unter der glitzernden Oberflächeihrer Versprechungen halten sie alle Maßnah-men bereit, mit denen sie uns bei unserer Be-quemlichkeit packen, in unserer Ahnungslosig-keit überrumpeln und zur Sünde verführen. Da-bei ist ihnen kein Mittel zu billig. Unsere Angstvor der Geflügelgrippe kommt ihnen ebenso ge-legen wie die kriminellen Machenschaften derFleischverarbeiter, deren Namen die Bundesre-gierung nicht veröffentlichen will. Auf jede neueDiät haben sie eine passende Antwort, undwenn sich herausstellt, dass sie nicht schlankund gesund macht, sondern krank und dick,wissen sie auch darauf einen Rat, den wir nurbefolgen müssen, um glücklich zu werden. Zu-züglich Mehrwertsteuer, versteht sich.

Je mehr sich das »Kochen ist in«-Klima auf-heizt, umso gefährlicher wirkt es sich für denKonsumenten aus. Er sieht bald den Wald vorDelikatessen nicht. Das versprochene Schlaraf-fenland werden wir auf keinen Fall erreichen,denn die Mauer aus Kuchen, die es zu durch-knabbern gilt, wird immer dicker und höher.Wir werden zum Narren gehalten von einer In-dustrie, die uns kulinarische Wonnen ver-spricht, aber nur ihre Jahresbilanz im Auge hat.

Prosit Neujahr!

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64 DIE ZEIT LEBEN Autotest Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 01 S. 64 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 01 S. 64 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Jetzt lässt er die Scheibe runter. War ja klar.Der Typ im Wagen neben mir an der Am-pel hat schon ein paar Mal ruckartig denKopf herübergedreht. Die gesteigerte

Appetenz ist selbst über mehrere Meter unddurch das getönte Thermoglas seines schwarzenPorsche Cayenne spürbar. Blau-weiß gestreiftesBusiness-Hemd, Krawatte gelockert, dunkles,nach hinten gegeltes Haar. Sicher Gebieter übereine Agentur oder Kanzlei.

»Darf ich Sie zum Essen einladen?« Er ziehtdabei die rechte Augenbraue leicht hoch. Sie-gessicherer Tonfall – schon im morgendlichenBerufsverkehr. Fehlt bloß noch, dass er zwin-kert. Vielleicht trägt er auch weiße Socken undist doch nur ein Immo-Hai. Wer weiß? SeinAuto ist eine ebenso große Projektionsfläche fürsoziale Fantasien wie das, in dem ich gerade sit-ze. Ich trage ein Kapuzen-Sweatshirt, der Mase-rati ein Wiesbadener Kennzeichen. Was mag dasvermeintliche Business-Alphatier also in mir sehen? Besitzerin einer HipHop-Modemarke?Zahnärztin? Oder einfach nur – Tochter? Wo-möglich denkt er, ich könnte ihm bei den Lea-

sing-Raten für seinen Porsche aushelfen. So vielist klar: Er meint nicht mich, sondern das Auto.Die Ampel schaltet auf Grün. Als Antwort be-kommt er mein süßestes Lächeln – und blicktauf Rücklichter.

Die Frau im Maserati ist mittlerweile einefeste Größe der zeitgenössischen Mythologie.Dazu haben zahlreiche amerikanische Filmeund Fernsehserien beigetragen. In letzter Zeitbesonders der Zickenstadel Desperate House-wives. Schon in der zweiten Folge bekommt da-rin Gabrielle von ihrem Mann Carlos einen Spyder geschenkt. Das hält sie aber nicht davonab, sich mit dem Gärtner zu vergnügen. Gabri-elles Nachbarin, die Turbo-Blondine Edi, seiftderweil, leicht bekleidet, ihren Nissan 350 Zein. Mit dieser Show versucht sie, ihren Nach-barn, den kernigen Klempner, zu verführen.Ohne Erfolg.

Zwei weitere Fälle, die zeigen, dass die Kom-bination aus Fortbewegung und Balz viele Miss-verständnisse birgt. Für manche Männer sindAutos Sexobjekte. Und Frauen schauen solcheMänner manchmal verständnislos an wie Autos.

Wenngleich Gabrielles toy boy um einiges appe-titlicher wirkt als der Porsche-Fahrer am Pots-damer Platz.

Am Gendarmenmarkt lerne ich kurz daraufeinen Motorradfahrer kennen, der mich fah-rend umwirbt, indem er abwechselnd überholtund sich zurückfallen lässt. Er ist wenigstensehrlich: »Schickes Auto.« Ich habe schon ga-lantere Eröffnungen gehört. Doch will ichmich nicht beklagen. Normalerweise fahre ich U-Bahn. Wer die graumuffelige U 6 kennt,wird verstehen, dass ich morgens für kleine Auf-merksamkeiten sehr empfänglich bin. Wie zumBeispiel für die des Bauarbeiters, der mich mitgespielter Verbeugung durch die eigentlich ge-sperrte Baustelle vor der Tiefgarageneinfahrtwinkt und sagt: »Mit so ’nem Auto darf mandas.« Für Berliner Verhältnisse eine geradezusurreale Charme-Offensive.

Noch so ein Erlebnis, und ich glaube, aufcremefarbenen Ledersitzen an einem perfektenTag durch eine perfekte Welt zu gleiten, in derjede Frau das unantastbare Grundrecht auf ei-nen Maserati hat. Der Quattroporte massiert ei-

nem dazu auch noch den Rücken – aber er istbeileibe kein Hausfrauenauto. Zum Marken-image gehört neben serienmäßig eingebautemGlamour auch der Beigeschmack von Motorölund Machoschweiß. Frauen, die solch einenWagen beherrschen, haben es geschafft. Wennsie Maserati fahren, stimmt das im doppeltenSinn. Sie werden nicht nur mit männlichenKonkurrenten im Geschäftsleben fertig, son-dern locker auch mit diesem Wagen, in dem dieHauptrolle – männliche Sichtweise – das Trieb-werk spielt. Bereits im Leerlauf vibriert es un-ruhig. Nicht unangenehm. Eher wie ein kleinerJunge, der ständig Aufmerksamkeit verlangt.

Aber dieser will nicht nur spielen. Und mitdem Quattroporte geht man nicht nur auf diePiste, um Komplimente einzusammeln. Manist, wie in jedem Sportwagen, nie ganz ent-spannt. Aber wenn die Ingenieure sich schon dieMühe machen, den Motor hinter der Vorder-achse und das Getriebe direkt an der Hinter-achse zu platzieren – dann sollte man ein der-art agiles Fahrgestell auch genießen. Dieses istauch bei langer Autobahnfahrt ein souveräner,

ermüdungsfreier Gesellschafter und lässt ver-gleichbar große Limousinen, S-Klasse oder 7er-BMW, wie brave Onkel dastehen. Zudemwirkt der Testwagen mit seiner gewagten La-ckierung überaus cool: retro und futuristisch zu-gleich. Die Wagenfarbe heißt Bronzo Monte-carlo und erinnert daran, dass man mit etwasgrößeren Jetons spielen muss, wenn man diesesDesign-Objekt nicht nur fahren, sondern viel-leicht auch, wie auf den Werbefotos, artgerechtvor einer toskanischen Villa parken möchte.

Für mich waren die Tage mit ihm wie eineheimliche, grundunvernünftige Leidenschaft.Ein Flirt in Gedanken, ohne ernsthafte Absich-ten. Das allein kann einem manchmal schonden Tag retten. Da genügen ein, zwei unerwar-tete Freundlichkeiten. Mehr braucht es garnicht, um Hausfrauen, berufstätigen Frauen,überhaupt Frauen jeder Schicht und jeden Alters ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Undvielleicht öfter mal Menschen, die einem nichtaufs Auto schauen, sondern offen in die Augen.

PS Nächste Woche am Start: Drei ZEIT-Mitarbeiterinnen der Kreativabteilung im Fiat Grande Punto 1.3 Multijet

MARGIT STOFFELS,ZEIT-KOORDINATORIN AUTOTEST,

IM MASERATI QUATTROPORTE

UNTER DER HAUBE

MOTORBAUART/ZYLINDERZAHL:V-Motor, 8 Zylinder, 4244 ccm Hubraum

LEISTUNG: 294 kW (400 PS)

AUTOMATISIERTES 6-GANG-GETRIEBE,BESCHLEUNIGUNG (0–100 KM/H):5,2 Sekunden

HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT: 275 km/h

DURCHSCHNITTSVERBRAUCH:15,8 Liter auf 100 km (Super)

KOSTEN (PRO JAHR):Vollkaskoversicherung:keine Angaben möglich,Steuer: 290 Euro

BASISPREIS: 107 200 Euro

Frauen-spielzeug

Bei diesem Wagen gehört Glamourzur Grundausstattung

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Nr.1 29. Dezember 2005 Spiele DIE ZEIT 65

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SCHACH

LOGELEI

Waagerecht: 5 Ein auftaktvoller Ruf zumneuen Jahr 8 Das Publikum beklatschtein …, aber keinen Sonnenaufgang (Fr.Hebbel) 13 Wachsen vershalber, spruch-weise, Erinnerung für Erinnerung 16 Sobleibt man auf Distanz zum Einerseits wiezum Andererseits 18 Sind essenziell fürsZeremoniell 19 Muss man dem ordentli-chen Boss nicht ausdrücklich sagen, wenndie fällig sind 20 Wie alles naht, was naht,aber auch von solchem Gehen ist die Rede21 Ziemlich runde Sache, lässt von Glückreden 23 Häufigste Urlaubsrichtungsanga-be 25 Bei Wagner im Walde kein textilori-entiertes Geschehen 26 Fünf vor zwölf 29Sprichwörtlich: … ist vieler Sorgen besteArznei 31 Häufigster Silvestertagesord-nungspunkt 32 Ihrer fabelhaften Welt Ar-rangeurin 34 Flockiger Fall von Fall 36 In-teressante Schichtungsgeschichte in Mer-gelgruben? Spielen ihre Rolle bei derOpernrollenvergabe 39 Kommt hier Ski-fahrern, dort Fernsehern unter 40 Bru-talität wider Rede 41 Volksmunds Tipp:Was morgen … kann sein, das nenne nichtdein! 42 Jahresabschlusswort der hof-fentlich positiven Art 43 Ein herzlich … ist des Alters zweite Jugend (Goethe) 44Wie Wasserweltbewohnernachwuchs: pfeiftlänger, als Kracher knallt.Senkrecht: 1 Ein paar kleine mögen mildeGabe vom Besitzergreifer sein 2 Tun flugswas Gutes für die Frühstückstischberei-cherung 3 Spielplatz der wohlbeleuchteten

Sorte 4 Lust ohne … ist das Glück (So-krates) 5 Begleitet den letzten Gang im alleJahre meistbeachteten Dinner 6 Abgebro-chene Mittagsruhe, anredlich verwendbar7 Was man sich so reichlich wünscht, siesollen’s bringen 8 In der Gewässerweltzwecks Fortbewegung extremitätig 9 Al-penwasser, verhält sich zum Almenjob wieLeib zu Blei 10 Kontrapunkt zum Wohlauch: hat Anteil an Winterlandschaftsku-lisse 11 Höchst wirksam im Baumaterial-transportwesen 12 Denke beratend an dieVergangenheit, genießend an die Gegen-wart und … an die Zukunft (J. Joubert) 14Ihr Hocker: gern im 39 waagerecht 15 Rat,zu erteilen nach zu viel Verweilen 16 Werals solcher gelten will, bemühe sich, gut inReform zu sein und zu bleiben 17 Volks-munds Wunsch: Was … und ehrlich ist,das kommet in der Welt fort 22 Schnee vonvorgestern, beim Aufzählungsergänzerklein geschrieben 24 Lehrakt, artenüber-greifend zumeist 27 Vom guten neuenspricht ein Kehrwerturteil 28 Wird wohlnoch ein Leberüberläufer draus werden 30Kein Batzen: Schon etwas … wirkt dieNeujahrsnacht dank 8 waagerecht 32Größtmöglicher Vorsatz für Tag undMacht 33 Beim Fachbuch anhangs zu er-wähnen 35 Von ihm der Kiss From A Rosefürs Ohr 37 Wo des Bleibens nicht so ohneweiteres ist, wie Stars und Reitschüler wis-sen 38 Wie mundet wohl Erdbeere, abernicht Ananas?

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:Waagerecht: 7 ZECHEN 10 SODAWASSER 15 GUT 16 »Mais-chen« und MAISCHEN 17 APPETIT 19 SOU inSou-per 20 TELLER 21 PUTTE 22 KIRSTEN mit Kir 23 KIT-TEL 24 EMS aus S-e-m-mel 26 FENCHEL aus Fe-l-che-n 27 ELK in Zwieb-elk-uchen 28 GEREBELT 30 RAHM (UdoJürgens, »Aber bitte mit Sahne«) 32 ELEATEN 34 ANET inRom-anet-exter 35 »die Spreu vom WEIZEN trennen« 37 GENIESSEN 41 QUELLEN 42 GEWUSST 43 TOGA 44 TISCHREDE 45 GEWUERZ. – Senkrecht: 1 RETSINA 2 ANSTELLEN 3 KOHL (W. Busch, »Max und Moritz«) 4 MANET, »Das Frühstück im Freien« 5 RAPPER 6 FETT-au-gen 7 ZUCKERHUT bei Feuerzangenbowle, in Rio 8 HAUS9 EISTEE 10 SCENE = Szene (engl.) 11 DELIKT aus delik-a-t12 Beckett, »WARTEN auf Godot« 13 spülen und SPULEN14 RIESLING nicht von Riese oder rieseln 16 MORCHEL 18 ETE = Sommer (franz.) 23 Gerichts-,Weh-KLAGE 25 METEOR 28 »GENUG!« 29 BESTE 31 MILCH-straße 33 »Sanfter ENGEL« = Eis mit Orangensaft 34 AES = Erz,Geld in Mens-aes-sen 35 WEIN 36 ZEH 38 EWER 39 BergISEL in Skire-isel-and 40 STUR

AUFLÖSUNG AUS NR. 51(WEIHNACHTSPREISRÄTSEL):Waagerecht: 6 Präsent-KOERBE 9 CHRISTFEST 13 ARS =Kunst (lat.), in Pol-ars-tern 15 UNDHEIZDIEST 19 grazie =danke (ital.) und die GRAZIE 20 »Star Trek«-Serie »DeepSpace NINE« 21 Sindbad der SEEfahrer 22 SOAVE23 UBENNACHGEBUEHR 28 SUN = Sonne (engl.)29 OELEN 30 LEIN-tuch, -wand 32 DASSUNSDASKIND36 MEER 37 TORE 39 ERNEUT 40 LEINJANICHTFRIER47 ALTONA 48 HOEHE 49 SAENTIS 51 zu hören undZUHOEREN 52 TAETIGEN. – Senkrecht: 1 DORA im Tele-fonalphabet 2 EBNEN 3 EHEN 4 PIZ 5 PESO 6 Rilke, »DasKARUSSELL« 7 RUIN 8 Etna und EDNA Krabappel 9 CHIC10 RIEGE in Lotte-riege-winner 11 TIE 12 STAR in Fe-star-rangement 14 SZENARIO aus I-s-a-r-z-o-n-e 16 DEB = Debatte, Deutscher Eishockey-Bund 17 ESEL 18 AVENTU-RIN 21 SELA 24 Markt-BUDE 25 HOSTIEN beim Abend-mahl 26 UNKE in D-unke-ln 27 HENNING Mankell 31 IDEE 33 DOCHTE 34 SETS 35 IRRE 38 RHEA 41 ETUI42 NNO = Nordnordosten 43 JAEH 44 AHR 45 NOEL 46 FATA 50 TEE

Der Lösungsspruch ist dem Gedicht »Kalendarium fürLandleut« von Joseph Weinheber entnommen.

Wir bedauern nochmals, dass in der Grafik des Weih-nachtspreisrätsels ein Feld zu wenig blau markiert war.

UM DIE ECKE GEDACHT NR. 1787

Bislang wartete das ZEIT-Scrabbleturnier mit zwei Serien auf.Zum einen wechselten sich die Geschlechter beim Siegen re-gelmäßig ab, zum anderen gewann noch nie ein ehemaligerChampion erneut. Die erstgenannte Reihe riss, da BlancaGröbli-Canonica die Nachfolge von Anna-Elisabeth Grabbeantrat, die zweite hielt. So scheiterte die Siegerin von 2002,Claudia Aumüller, im Halbfinale, stellte eine Runde zuvor al-lerdings einen sagenhaften Turnierrekord auf. In der zweitenPartie gegen Peter Sternagel machte sie nicht nur 90 PunkteRückstand wett, mit 613 Punkten in einem Spiel gelang ihrgleichzeitig ein fürwahr Scrabble-historisches Ergebnis. In dieser Situation platzierte sie ein eher selten gebrauchtes,mit knapp 90 Punkten dotiertes Wort. Wie lautet es? SEBASTIAN HERZOG

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:Haags Lösung lautete OBSZÖNSTEN auf 8F–8O. 60 (30x2) Punkte gab es für die-ses Wort, ferner 12, 11, 6, 12, 5, 2 und 50 Punkte für GELOBET, BEY, ARZT, BÖE, SEH,ES und als Bonusprämie.Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 23. Auflage,verzeichnet sind. Scrabble-Regeln unter www.scrabble.de

SCRABBLE

Zwei Menschen in vollkommener HarmonieLEBENSGESCHICHTE

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Als sie geboren wurde, kam am anderen Endedes Landes ein schüchterner, unbeholfenerJunge gerade in die Pubertät. Sie war die Toch-ter eines Politikers, der sie nach einer Bahnsta-tion nannte, durch die er kurz vor ihrer Geburtgefahren war. Sein Vater war Bankier mit fes-ten Vorstellungen, wie der, sein Sohn würdeeinmal Anwalt. Der aber entdeckte im Thea-terklub seiner Schule, dass das Leben auchSpaß machen konnte, und wollte Schauspielerwerden. Als der Vater sich weigerte, das»törichte Abenteuer« zu finanzieren, schriebder junge Mann einen leidenschaftlichen 23-seitigen Brief an eine Großtante mit der Bitteum finanzielle Unterstützung. Mit Erfolg, erschloss die Theaterakademie ab und spielte fürHungergagen in 200 Stücken. Sie inszenierteals Elfjährige kleine Tanzaufführungen, und als16-Jährige stand sie Modell für die Allegoriedes Strebens nach Höherem, die heute nochden Hof ihrer Schule ziert. Bald schon arbei-tete sie als Statistin und Revuemädchen in ei-ner boomenden Industrie, die auch ihn in den

Westen des Landes zog. Während sie in Ne-benrollen Exotinnen mimte, begann er seineKarriere als ewiger Bösewicht und charmanterVerführer. Als er endlich Hauptrollen bekam,die er nicht seinem Aussehen, sondern seinerattraktiven Stimme verdankte, war er nie ganzHeld oder Schurke, sondern immer etwas da-zwischen. Sie fiel auf durch ihren schrägenWitz; Erfolg hatte sie, als sie endlich Frauenspielen durfte, die ihrer Persönlichkeit ent-sprachen: Frauen, die mit wissendem Lächelnallenfalls die Augenbraue heben, nie die Stim-me, und dabei stets sich selbst treu bleiben.Schlagartig berühmt wurde sie durch einenGangsterfilm, der einem echten Gangster zumVerhängnis wurde: Er geriet in den Hinterhaltder Polizei, als er in Chicago ins Kino ging, umseine Lieblingsschauspielerin zu sehen, unddafür mit seinem Leben bezahlte. Ihr war esschrecklich, ihn ins Verderben gelockt zu ha-ben, aber auch für sie war dieser Film schick-salhaft: Sie plumpst darin ihrem zukünftigenLeinwandpartner buchstäblich auf den Schoß.

Während der Dreharbeiten fiel dem Regisseurauf, wie sehr sich die beiden in den Pausenamüsierten. Ihre unterkühlte Komik brachteeine bisher unbekannte alberne Seite des ele-ganten Filous zum Vorschein, ebenbürtig lie-ferten sie sich geistreiche Wortgefechte. Diesebesondere Chemie wollte der Regisseur in ei-nem Film festhalten. Ohne große Erwartun-gen gab ihm das Studio nur 16 Tage für dieDreharbeiten. Es wurde ein Hit, mit dem dielängste Leinwandpartnerschaft der Filmge-schichte begann. 16 Filme drehten sie mitein-ander, davon sechs als Serie, in der sie als mon-dänes Ehepaar vorführen, wie viel Spaß manauch in der Ehe haben kann. Im wirklichen Le-ben aber ging es ihnen wie ganz normalenMenschen: Gemeinsam brachten sie es auf sie-ben Ehen – nie miteinander –, ihre vier schei-terten alle. Mit ihrer entwaffnenden Art, sichnasekräuselnd zu behaupten, wurde sie aberzur beliebtesten Schauspielerin: 20 MillionenFans kürten sie zur »Queen of Hollywood«.Ihm wurde das Herz gebrochen, als die Sexgöt-

tin, mit der er verlobt war, plötzlich starb. Spä-ter wurde er mit einer kaum bekannten Frausehr glücklich, fand aber immer schwerer guteRollen. Nach 30 Jahren und 97 Filmen been-dete er seine Karriere und lebte zurückgezogennoch einmal so lange – im Westen. Sie unter-brach ihre Karriere während des Kriegs, umbeim Roten Kreuz zu arbeiten, spielte später ei-genwillige Frauen, engagierte sich aber auchpolitisch. Mit über 70 Jahren begann sie eineTheaterkarriere – im Osten. Unvergessenbleibt das Paar, das nie eins war, für seine Bon-mots: »Ich habe Hunger – lass uns etwas trinken!« Wer war’s? WOLFGANG MÜLLER

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:Es war Romy Schneider (1938 bis 1982),Tochter des Schauspielerpaares Magda Schneider und Wolf Albach-Retty.Die Titelrolle in »Sissi, Mädchenjahre einer Kaiserin« machte sie 1955 zum Kultstar in Deutschland und Österreich. Zwei weitere Sissi-Filme folgten, ehe sie nach Paris floh, perfekt Französisch lernte und dort arbeitete.Mit Alain Delon war sie 1958 bis 1963 liiert; mit EhemannHarry Meyen lebte sie ab Mitte der Sechziger in Berlin.Nach der Scheidung ging sie zurück nach Paris und überzeugte in verschiedenen Charakterrollen

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Auf den Schachverleger Manfred Mädler gehtdie Anregung zurück, Klopapierrollen mitSchachproblemen zu bedrucken. Gewisser-maßen zweifach nützlich – zuerst wird nochder Geist angeregt, bevor das Ganze einer an-deren Bestimmung zugeführt wird. Der be-geisterte Problemkomponist Vladimir Nabo-kov hätte an dieser nicht nur anatomisch-to-pografischen Antinomie vermutlich seineFreude gehabt. Daran musste ich jedenfalls denken, als ich inder Schachkulturzeitschrift Karl einen Auf-satz von Dr. Michael Negele über den im Al-ter von 97 Jahren gestorbenen Gedächtnis-und Blindschachkünstler Georges Koltanow-ski fand. Der hatte dieses von ihm selbst kom-ponierte Problem (Weiß setzt in 2 Zügenmatt) in endloser Folge auf eine Tapete ge-druckt und zum Kauf angeboten. Bei allerSchachbegeisterung vielleicht doch etwas un-ruhig in größeren Räumen.Im »Normalschach« wurde er zwar der besteSpieler Belgiens, aber aufsehenerregende Er-folge feierte er aufgrund seines außergewöhn-lichen Gedächtnisses (er beherrschte achtSprachen) nur im Blindschach. Es hieß, dassman gegen Koltanowski die gleichen Chan-cen habe, gleichgültig, ob er die Bretter vorAugen hätte oder nicht. 1937 spielte er gleich-zeitig 34 Partien blind (natürlich alle gegen»sehende« Gegner), wobei er 24 gewann und10 remisierte. Seine Frau war weniger beein-druckt: »Ich weiß nicht, wie er das schafft. Ervergisst doch sogar, einen Laib Brot mitzu-bringen.«Ab 1939 lebte der jüdische Koltanowski inden USA. 1948 übernahm »Kolty« dieSchachspalte des San Francisco Chronicle, diean fünf Tagen der Woche erschien. So schrieber in 52 Jahren insgesamt 19 980 Kolumnenund betreute noch weitere Zeitungen. Dane-ben hatte er eine halbstündige Fernsehsen-dung Koltanowski on Chess und spielte inSchulen, Gefängnissen und auf Luxuslinern,kurzum überall.Unübertroffen war seine »Springerwande-rung«. Für drei Schachbretter mit je 64 Fel-dern ließ er sich für jedes Feld vom Publikumeinen Begriff zurufen, studierte das Ganzeetwa fünf Minuten lang und ließ dann blindeinen Springer über sämtliche 192 Felderwandern, wobei er jedes Feld nur einmal be-rührte und dabei den jeweiligen Begriff nann-te. Verglichen damit, ist die Lösung des Pro-blems doch ein Kinderspiel! HELMUT PFLEGER

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:Mit welchem überraschendenZug gewann Schwarz?Nach dem Eindringen desschwarzen Turms ins weißeLager mit 1…Tf3! hatte Weißzwar verschiedene, aber alle-samt unbefriedigendeVerteidigungszüge und gabdeshalb gleich auf. In derHauptvariante nach 1.axb7

gewinnt Schwarz mit 1…Dh1+ 2.Ke2 Txe3+! 3.Kxe3 Dxe1+4.De2 Lxf2+ 5.Kxe4 Dxb1+ eine Figur

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SUDOKU

Füllen Sie die leerenFelder so aus, dass injeder Zeile, in jederSpalte und in jedem3x3-Kasten alle Zah-len von 1 bis 9 ste-hen. Mehr solcherRätsel im Internetunter www.zeit.de/sudoku

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:

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Sieben Freunde sind auf dem Jahrmarkt unter-wegs und treffen auf ein Zelt mit der Aufschrift»Lassen Sie sich die Zukunft mit der neuen Al-phametik-Wahrsagetechnik vorhersagen!«. Billund Nina beschließen, das auszuprobieren. Siebetreten das Zelt und kommen kurz darauf miteinem Zettel in der Hand wieder heraus. Aufdem Zettel steht:BILL

+ NINALIEBE

Emil und Emma möchten wissen, was bei ih-nen herauskommt. Die beiden gehen in dasZelt und erhalten einen Zettel mit der Auf-schrift:EMIL

+ EMMALIEBE

»Na, so was!«, ruft Helen erstaunt aus. »Bill, lassuns zwei das auch mal ausprobieren!« Das ma-chen die zwei dann auch, und fast schon er-wartungsgemäß kommen sie mit folgendemZettel heraus:

BILL+ HELENLIEBE

Daraufhin die beiden Rudis: »Mal sehen, ob dasauch bei uns klappt!« Und siehe da:RUDI

+ RUDILIEBE

Welches der vier Paare hat die größte Liebe auf-zuweisen? ZWEISTEIN

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:4484 + 4814 = 9298

Das World Wide Web ist schon was Praktisches:Kaum tippt man den Namen dieser Insel in eineSuchmaschine, schon erscheint – vorausgesetzt,man hat den Namen richtig geschrieben! – dieoffizielle Homepage des Eilands.Die Endung der Adresse ist zur Hälfte identischmit einer neuen, die erst in diesen Wochen ver-fügbar wird, und auf der Homepage erfährt dergeneigte User zum Beispiel, dass im September2004 in einem Wald der Insel ein Ballon ge-funden wurde, den 23 Tage zuvor ein Brautpaarin den Niederlanden hatte steigen lassen. Aberauch für den historisch Interessierten gibt esContent. So lernt man, dass die Insel einmalzum Besitz einer Bruderschaft mit martiali-schem Namen gehörte und später einer Orga-nisation, die als kriegerischer Haufen begonnenhatte und heute eine kirchliche Institution ist.Wie heißt die Insel? RAFI REISER

AUFLÖSUNG AUS NR. 52:Die Insel heißt Nevis und liegt in der Karibik. Auf ihr wurde1757 Alexander Nevis geboren, der erste Finanzminister der USA. In die Dreiecksgeschichte waren Lord Nelson, derenglische Botschafter in Neapel Sir William Hamilton undseine Frau Lady Emma Hamilton verwickelt

Page 53: Die Zeit 2006 01

66 DIE ZEIT LEBEN Ich habe einen Traum Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 66 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 66 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Ich habe einen Traum, und ich glaube,Gott träumt diesen Traum auch. Wir alleträumen ihn, denn jeder von uns ist einKind Gottes. Es ist der Traum von dergroßen weltweiten Familie, zu der wir allegehören. Ich gebe zu, das klingt ziemlichschlicht und sentimental. Aber in Wirk-

lichkeit ist es sehr radikal. Was heißt das denn: eineWelt, eine globale Familie? Es heißt, dass es keineAußenseiter gibt. Alle gehören dazu, Schwarzeund Weiße, Reiche und Arme, Kluge und weni-ger Kluge, Schöne und nicht so Schöne, Unver-sehrte und Behinderte, Frauen und Männer,Schwule, Lesben und Heteros, einfach alle, ohneAusnahme.

Und stellen Sie sich vor: Ich träume, dass sogarOsama bin Laden und George Bush Mitgliederunserer Familie sind! Der israelische Premier Scha-ron und der palästinensische Präsident Abbas auch.Merken Sie jetzt, wie radikal dieser Traum ist?

Aber mein Traum wirft schwierige Fragen auf.Wenn wir wirklich alle dazugehören, wenn wir alleBrüder und Schwestern sind, wie können wir daMilliarden für Waffen ausgeben, für Werkzeugedes Todes? Wie können wir das tun, obwohl wirdoch ganz genau wissen, dass schon ein Bruchteildieser Milliarden reichen würde, dass unsere dar-benden Schwestern und Brüder überall auf derErde sauberes Trinkwasser, genug Essen, einemenschenwürdige Unterkunft, eine gute Schul-bildung und eine angemessene Gesundheitsfür-sorge hätten?

Eine Milliarde Erdenbürger müssen mit einemDollar am Tag auskommen. Mit einem Dollar!Das ist lächerlich! Wie kann man von einemDollar überleben? Wie soll sich davon eine ganzeFamilie ernähren? Warum schwadronieren wir ei-gentlich so viel darüber, wie man die Armut über-winden könnte? Warum handeln wir nicht ein-fach? Wissen wir denn nicht, dass die globale Kluftzwischen Armen und Reichen fatale Folgen hat?Sie macht unsere Welt zu einem gefährlichenPlatz. Kriege brechen aus, weil die Menschen ver-zweifelt sind. Sie sind verzweifelt, weil sie hung-rig, krank und arm sind. Ich träume von einerWelt ohne Krieg. Ja, ja, ich weiß, das klingt schon

wieder ziemlich naiv. Aber ich höre nicht auf, vondieser Welt zu träumen. Von einer Welt des Tei-lens, nicht des Konkurrenzkampfes. Von einerWelt, in der nicht immer nur der Stärkste gewinnt.Von einer Welt, in der sich nicht wiederholt, waswir bei der Flutkatastrophe in New Orleans mitansehen mussten. Das war alles andere als eine Fa-milie. Da haben viele Menschen gelitten. Und ei-nige mussten sterben, weil sie arm waren. Undvielleicht auch, weil sie schwarz waren.

New Orleans hat gezeigt, wie weit wir von die-ser einen Familie entfernt sind. Aber ich träumeweiter, immer weiter. Ich bin wirklich kein blauäu-giger Optimist, aber ich habe Hoffnung. Warum?Weil wir letztendlich alle das gleiche moralischeUniversum bewohnen. Ist das nicht wunderbar?

Überlegen Sie mal: Wer sind denn die Men-schen, die wir am meisten bewundern? Bei derenAnblick wir weiche Knie bekommen? Es sindnicht die starken, aggressiven, rücksichtslosenZeitgenossen, nicht die Machos. Es sind beschei-dene Leute, Leute wie Nelson Mandela, der DalaiLama oder Mahatma Gandhi.

Wir spüren, dass sie gut sind. Wir alle haben eineArt Antenne, mit der wir ihre Güte empfangenkönnen. Das Böse hingegen erweckt unseren Zorn.Wenn jemand ein Kind missbraucht. Wenn je-mand Gewalt gegen Schwächere anwendet. Wennsich jemand als Rassist versündigt. Aber das Böse istdas Abartige, am Ende wird das Gute siegen. Schau-en wir nur in die Geschichte, auf die scheinbar all-mächtigen Männer, auf Nero, Hitler, Mussolini,Franco, Idi Amin, auf die Erfinder der Apartheid.Sie dachten: We are running the show. Denkste. Aus-nahmslos alle scheiterten, alle bissen ins Gras.

Aber bleiben wir einmal bei den Grausamkei-ten der Geschichte: dem Holocaust, den so ge-nannten ethnischen Säuberungen in Bosnien,dem Völkermord in Ruanda. Oder nehmen wirdas, was sie hier in Südafrika unter dem Vorzei-chen der Apartheid getan haben … Na ja, sie woll-ten uns nicht ausrotten, aber sie haben viele Leu-te umgebracht, sie behandelten Menschen wieMüll, und am Ende höhlten sie ihre eigeneMenschlichkeit aus. Wie kann es zu diesen Grau-samkeiten kommen? Sie entstehen, weil wir im-

mer wieder versuchen, irgendwelche Grenzen zwi-schen uns zu ziehen. Zwischen Juden und Deut-schen. Zwischen katholischen und protestanti-schen Nordiren. Zwischen weißen und schwarzenSüdafrikanern. Gott aber sagt: Nein! Tut es nicht!Ich träume davon, dass wir alle Grenzen nieder-reißen. Denn meine Humanität beruht auf Ihrerund umgekehrt. Ubuntu nennen wir das in unse-rer Kultur. Es bedeutet: Ein Mensch wird nurdurch andere Menschen zum Menschen.

Genau das lehrt die Bibel gleich am Anfang.Sie wissen schon, die Geschichte, als Gott Adamschuf und Adam im Garten lebte und eine fantas-tische Zeit mit all den Tieren hatte. Aber der guteMann war trotzdem nicht rundum glücklich, alsosprach Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch ein-sam sei. Und er schlug vor: Adam, wie wär’s, wenndu dir ein Kuscheltier unter deinen Mitgeschöp-fen suchtest? Und Adam sagte gleich: Kommtüberhaupt nicht infrage. Also ließ ihn Gott ein-schlafen, und dann – jeder kennt die Story – schufer aus der Rippe Adams dieses umwerfende We-sen … Und als Adam erwachte, rief er: Wwwwow!Jetzt habe ich genau das, was mir der Doktor ver-schrieben hat!

Diese Geschichte lehrt: Wir sind aufeinanderangewiesen. Wir sind in einem fein gewobenenNetzwerk verbunden. Wir sind eine Familie. Undjedes Mal, wenn wir das vergessen, bekommen wireine Menge Scherereien. Das ist mein großerTraum, der Traum von der Weltfamilie.

Aber da fällt mir noch ein Traum ein, ein ganzkleiner. Ich wünschte, wir hätten Deutschlandneulich beim Fußballländerspiel geschlagen. Aberihr hattet ja diesen jungen Burschen, der drei Toreschoss, wie hieß er doch gleich? Podolski, richtig.Sehr gut. Sehr gut. Sehr gut. Aber ich hoffe, unddas ist mein kleiner Traum, dass wir euch aufmi-schen, wenn ihr zur Weltmeisterschaft 2010 nachSüdafrika kommt.

Gott segne euch!

AUFGEZEICHNET VON BARTHOLOMÄUS GRILL

FOTO VON TOBY SELANDER

DESMOND TUTU,74, Erzbischof von Kapstadt,arbeitete zunächst als Lehrer,bevor er seinen Beruf aus Protest gegen die Bildungspolitik des Apartheid-Regimes aufgab.Bald darauf wurde er zum anglikanischen Priester geweiht –und zum kämpferischen Gegner der Rassentrennung. 1984 erhielter den Friedensnobelpreis.Tutu leitete die Wahrheits- und Versöhnungskommission,die Verbrechen während der weißenHerrschaft aufklärte.Diese ging 1993 zu Ende.Desmond Tutu ist seit 1955 verheiratet, hat vier Kinder. Hierträumt er davon, dass die Mensch-heit sich als globale Familie begreift –und dass Südafrika Deutschland endlich im Fußball besiegt

DER 100. WUNSCH ZURRETTUNG DER WELT

»Ich träume davon, dassniemand mehr arm ist. Ich

weiß, dass das naiv klingt, abereine Milliarde Erdenbürger

müssen mit einem Dollar amTag auskommen.

Wie soll sich davon eine ganzeFamilie ernähren?«

DESMOND TUTU

Audio www.zeit.de/audio

Page 54: Die Zeit 2006 01

Monsieur Christian Pol-Roger ist ein Mann, dermit einem einzigenStreichholz ein Kamin-feuer anzünden kann. Erträgt ein Tweed-Sakko,das so grün ist wie die

Tapete im Salon, und eine Krawatte, die fastso rosa ist wie der Sessel, auf den er sich setzt.Er hat die heitere Erscheinung eines Men-schen, der weiß, wohin er gehört. Hinter ihmhängen Bilder mit ernsten Männern, vor sichhat er eine Flasche mit einem edlen schwarzenEtikett. »Pol Roger« steht da, so hieß sein Ur-großvater; »Cuvée Sir Winston Churchill1995« steht da, Pol Roger war Churchills Lieb-lingsmarke.

»Dieser Champagner schmeckt immernoch genauso, wie er ihn gemocht hat«, sagtChristian Pol-Roger, er nimmt die Flasche,hält sie in der Hand und erzählt weiter. Er er-zählt vom Urgroßvater, der Notar war in Éper-nay und darum immer wusste, wo ein Wein-berg günstig zu kaufen war; er erzählt vonKonrad Reuss, der Pol Rogers Champagnernach England brachte; er erzählt von der ré-putation, »denn danach sollte jeder streben,gerade heute«; er erzählt von der philosophie decontenance und wie sich im Champagner dieHarmonie und die Komplexität in einem per-fekten Verhältnis bewegen müssten. Er er-zählt, dann hält er inne.

Zeit ist etwas, das man in Worte kleidet.Christian Pol-Roger nimmt die Flasche, löst,ohne hinzusehen, den Draht um den Korken,umfasst ihn und löst ihn sanft. Épernay ver-schwindet und die Champagne und ganzFrankreich. Es ist nichts zu hören außer demKnacken des Feuers. Und dem leisen Plät-schern, als er den Champagner in zwei Gläsergießt. Und so steigen die Flammen auf, und sosteigen die Luftblasen auf. Alles bewegt sichund ist doch vollkommen ruhig. So ist das.

Die Farbe erinnert an Stroh,Gold oder einfach an die Sonne

Champagner ist der reine Augenblick; ist Ge-genwart mit aller Vergangenheit; ist Explosionund Entspannung; ist Mythos und Wahrheit;ist rein und klar und da; ist etwas, das in derErinnerung entsteht und lebt.

Champagner ist kein Getränk. Champa-gner ist eine Geschichte, die vor sehr langerZeit begonnen hat, die blutig war, grausamund wunderbar; eine Geschichte, die sich indem kleinen Ort Épernay widerspiegelt, vonden Anfängen Europas bis zu dem Wahnsinn,der diesen Kontinent fast zerriss; eine Ge-schichte, die von Lebemännern und Königenund Revolutionären und immer wieder vonFrauen handelt, von starken Frauen und schö-nen Frauen, denn Champagner ist immer aucheine Feier der Schönheit.

Und zwar mit jedem Schluck neu. Das be-ginnt mit der Farbe, die so gelb schillert, dassman darin Stroh sehen kann oder Gold odereinfach nur die Sonne. Es geht mit dem Ge-ruch weiter, der einen in eine Bäckerei vollerfrischer Brioches führt oder in einen Obst-garten mit Zitronenbäumen oder über einenTeich hinweg auf eine Blumenwiese. Dannbreitet sich ein See aus im Mund, der ganzflach zu sein scheint, aber so viel weiter reichtals der Gaumen. Die Tiefe öffnet sich, wennder Champagner hinabstürzt, über Felsen, dieunerkannt sind und grün bemoost und ge-fährlich. Das Echo dann ist all das zusammenund vieles mehr. Es stellt uns vor die Frage, obwir nur das kennen können, an was wir unserinnern.

Ein Schluck Champagner trägt uns zurück:in unsere eigene Biografie, in die Kindheit, mitdem Geschmack von Karamell oder Honigoder getrocknetem Obst; oder in die Vergan-genheit eines geschundenen, eines göttlichenLandes. Das scheinbar Leichte am Champa-gner ist ohne das Andere, das Schwere, dasDunkle, nicht zu haben. Wenn er ein Ge-heimnis hat, dann dieses: Der Reichtum desChampagners ist die Fülle seiner Bestandteile.Das sind Hunderte verschiedene Weine. UndHunderte verschiedene Geschichten.

Da gab es Georges Danton, der seinenChampagner mit zur Guillotine nahm. Da gabes Claude Moët, der seinen Namen einem Vor-fahren verdankte, der bei der Krönung KarlsVII. in Reims rief: »Het moet zoo zijn!« Da gabes Charles-Henri Heidsieck, der 21 Jahre altwar, als er 1811 auf einem Schimmel nachMoskau ritt, um dort Napoleon mit einer La-dung Champagner zu begrüßen. Da gab esCharles-Camille Heidsieck, den sie auchChampagne-Charlie nannten, der als Ersterden Markt Amerika eroberte, bis er im Bür-gerkrieg zwischen die Fronten geriet und fastals Spion hingerichtet wurde.

Sie alle waren Glücksritter des guten Ge-schmacks, die Männer und die Frauen, die denChampagner groß gemacht haben in den ver-gangenen Jahrhunderten, eigentlich seit demMoment, als sich Ludwig XIV. und sein Hofund vor allem Madame Pompadour dafür be-geisterten. Die Champagne ist ein Gebiet soweit im Norden, dass Weinbau nur noch ge-rade so möglich ist. Also mussten sie sich et-was ausdenken, die Weinbauern der Champa-gne in Reims und in Épernay. Sie mussten einGetränk herstellen, das besser schmeckte alsdie Trauben, aus denen es gemacht wurde; siemussten dafür sorgen, dass Champagner mehrist als die Summe seiner Zutaten. Also habensie einen Mythos erschaffen. Und der Welt einGeschenk gemacht. Oder wie Christian Pol-Roger sagt: Champagner ist eine Art Theater,Champagner bereitet die Bühne für die Schau-spieler und die Selbstdarsteller, Champagnerist das Schauspiel selbst. Die »passion de com-

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Der Keller des Champagnerhauses DE CASTELLANE ist einer der sehenswertesten im Ort

Der Firmensitz von Moët & Chandon,zu dem auch ein Verkostungsraum gehört

REISEN Nr. 1 29. Dezember 2005 DIE ZEIT 67

Nr. 1 S. 67 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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pagners besuchen, hier lagern in dunklen Ecken diebesten Jahrgänge, 1928 etwa oder 1911, hier bauensich entlang der Gänge die Flaschen zu dunklenMauern auf, die sich elegant zwischen die Steinwöl-bungen drücken. Hier herrscht bei aller Düsterheitimmer etwas von der Euphorie, die der Champagnernun einmal verbreitet.

Man kann also den Champagner verstehen, in-dem man hinabsteigt; oder man fährt hinauf, zumHerrn Dom Pérignon nach Hautvillers, ein paar Ki-lometer nur über die Marne, jenen schicksalhaftenFluss, der sich heute unschuldig durch das Talschlängelt. Oben, dort, wo einmal das Kloster warund heute nur noch die Kirche steht, die schwereromanische Kirche mit der Grabplatte von DomPierre Pérignon, oben sieht man auf die Côte desBlancs, wo der Chardonnay angebaut wird, auf dieMontagne de Reims, wo Pinot Noir wächst, und aufdas Marne-Tal und die Weinberge voll Pinot Meu-nier. Hier hat alles angefangen, und die Landschaft,die sich vor einem ausbreitet, die flachen Hügel, der

Fortsetzung auf Seite 68

Die labyrinthischen Keller der kleinen Stadt Épernay bergen

zweihundert Millionen FlaschenChampagner – und mindestens

ebenso viele Geschichten VON GEORG DIEZ

muniquer«, die diesem Getränk innewohnt,die sei das Wichtigste überhaupt. Dabei schauter sich um, in diesem Salon in dem alten Fa-miliensitz, einer Kulisse, der die Zeit ihren Reizgegeben hat.

Man kann den Champagner also am bestenverstehen, indem man direkt nach Épernayfährt, in diese kleine Stadt, die immer ein we-nig im Schatten von Reims steht und doch ei-nige der besten Champagner hinaus in dieWelt schickt. Entlang der Avenue de Champa-gne stehen sie alle nebeneinander, die Stein-paläste der Champagner-Häuser, Monumenteeiner vergangenen Zeit und doch einer rechtgegenwärtigen Größe in dieser schmalen, vielbefahrenen Straße, die vom Zentrum hinaus-führt, einen Hügel hinauf und mitten hineinin die Weinberge. Es hat etwas von gutenNachbarn, wie sie hier residieren und reprä-sentieren, die großen Firmen und Familien indieser charmanten kleinen Stadt. Champagnerist hier erste Bürgerpflicht.

Selbst wenn sich die Bürger wie bei Moët &Chandon hinter einem vier Meter hohen gol-denen Eisenzaun verstecken: Sie haben hierschon Napoleon beherbergt und sind auchheute sehr imperial. Und sie können einemüberzeugend erklären, warum es gut und sinn-voll ist, zum ganzen Essen Jahrgangs-Champa-gner zu trinken, denn dieser Brut passt wirk-lich gut zu Jakobsmuscheln, und jener Rosé istperfekt zu Lamm. Ein paar Häuser weiter kannman bei De Castellane genau studieren, wasmit den drei verschiedenen Weinen passiert,aus denen fast jeder Champagner gemachtwird, den roten Trauben Pinot Noir und PinotMeunier und der weißen Traube Chardonnay.Und drüben, bei Boizel, kann man den Cham-pagner eines Familienunternehmens probie-ren, vielleicht erklärt einem Frau Roques-Boi-zel in ihrer durchaus sprudelnden Art sogarselbst etwas von der Philosophie des Hauses,oder Herr Roques-Boizel beschreibt, warum ervon den drei Champagner-Trauben den Char-donnay am liebsten mag.

Bei Mercier fährt man im Zug durch die Kellergewölbe

Oben also, auf Straßenniveau, geht es in Éper-nay um den Genuss des Champagners. Untenaber, dort, wo die eigentliche Wunderwelt derStadt ist, dort geht es um sein Geheimnis. Hierlagern sie, zweihundert Millionen Flaschen, indieser Schattenstadt unter dem freundlichenÉpernay, über hundert Kilometer von Kellernund Gängen, von Treppen, Verliesen und säu-erlich riechenden, manchmal bemoosten,manchmal sehr schick hergerichteten Laby-rinthen, die tief in die Kreidefelsen getriebenwurden. So endlos sind die Gewölbe, dass dieKellerei Mercier ihre Besucher sogar mit einemkleinen Zug durch ihre Gewölbe fährt. In denKellern kann man die Geschichte des Cham-

Alles Gute kommt von unten

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Page 55: Die Zeit 2006 01

ANREISE: Zum Beispiel mit easyJet (www.easyjet.com)ab Berlin-Schönefeld nach Paris-Orly. Preise variierenstark je nach Reisedatum. Anfang Januar kosten Hin- undRückflug um die 215 Euro inklusive Steuern. Weiter nachÉpernay mit dem Mietwagen

UNTERKUNFT: Hôtel les Berceaux, 13, Rue des Berceaux,Tel. 0033-3/26 55 28 84, Übernachtung ab 75 Euro

Best Western Hôtel de Champagne, 30, Rue Eugène-Mercier, Tel. 0033-3/26 53 10 60, www.bw-hotel-cham-pagne.com. Zimmer von 75 bis 115 Euro

Beide Häuser liegen zentral zwischen Innenstadt undAvenue de Champagne mit vielen Kellereien

KELLEREIEN: Regelmäßige Kellerführungen und Champagner-Verkostungen bieten etwa Mercier, Moët &Chandon, de Castellane oder Esterlin. Nur nach Verabredung kann man Boizel (Tel. 033-3/26 55 21 51)oder Pol Roger (Tel. 033-3/26 59 58 00) besuchen

RESTAURANTS: Sehr gut isst man im Restaurant LeThéâtre, im Le Bacchus Gourmet oder im La Table Kobusin Épernay oder etwas außerhalb im Les Crayères

AUSKUNFT: Office de Tourisme, 7, Avenue de Champagne, F-51331 Épernay, Tel. 0033-3/26 53 33 00,www.ot-epernay.fr; www.epernay.net

68 DIE ZEIT Reisen Nr. 1 29. Dezember 2005

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Der Keller des Champagnerhauses MOËT & CHANDON

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Hautvillers

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Paris

Information

schwere Himmel, aus dem es so oft regnet, zweihun-dert Tage im Jahr, was gut ist für den herben, den säu-erlichen Geschmack des Champagners, diese Land-schaft ist weder lieblich noch rau. Es ist eine Land-schaft, die ihre Wunden gut versteckt, unter Weinber-gen, deren Wurzeln tief reichen in diesen alten eu-ropäischen Boden.

Dieses Land ist getränkt mit dem Blut von 2500Jahren Krieg. Da waren die Schlachten des Hunnen-königs Attila, bei denen hier an einem einzigen Tagzweihunderttausend Männer getötet wurden; da warChlodwig, der sich in Reims taufen ließ, weil er dieGermanen geschlagen hatte; da war der Dreißigjähri-ge Krieg, der Krieg von 1870/71 und der von 1914 bis1918, als ganze Generationen von jungen Soldaten dieKeller der Champagne plünderten und ihr Blut aufden Feldern entlang der Marne vergossen.

Das alles ist präsent in einem Schluck Champa-gner, in dieser Geschichte, die vom Leben handeltund vom Tod und dabei nie bitter schmeckt, vielleichtmanchmal herb, aber immer voll von einer Ahnungeines Jenseits, das es gut mit uns meint. Schon hier,schon heute.

Es ist eine Geschichte, die nur in den Mauern ei-nes Klosters beginnen konnte. Da war also jenerMönch Dom Pérignon, der den Champagner erfun-den hat, eigentlich aus Versehen. Es war seine Idee, dieTrauben so zu pressen, dass die rote Farbe der Schalennicht mit in den Saft floss; es war sein Gedanke, ver-schiedene Weine zu mischen, damit sie Ludwig XIV.besser schmeckten; es war sein Problem, dass die Fla-schen, in die er seinen Wein füllte, immer wiederexplodierten.

Lange mussten Masken die Kellermeistervor explodierenden Flaschen schützen

Eine ganze Weile lang trugen die Kellermeister bei ih-rer Arbeit schwere Eisenmasken, zu viele Augen warenschon von Scherben verletzt worden. Wie genau Hefeund Zucker die Gärung vorantreiben und die Luft-blasen produzieren, das fand erst sehr viel später LouisPasteur heraus. Dom Pérignon immerhin legte seinenLieferungen schon mal einen Brief bei, in dem erschrieb: »Monsieur, ich schicke Ihnen hier 26 Flaschenvom besten Wein der Welt.«

Was er meinte, das ist die eigentliche Kunst, bisheute: Durch die verschiedenen Trauben, die demChampagner Struktur geben und Fruchtigkeit undFinesse, durch diese Assemblage, bei der Weine ausden verschiedensten Lagen und aus unterschiedlichenJahrgängen verwendet werden, um in jedem Jahr einen

annähernd gleichen, möglichst grandiosen Geschmackzu erzeugen – durch dieses kunstvolle Mischen erhältjeder Champagner seinen eigenen, besonderen Cha-rakter, der über die Zeiten hinweg konstant sein soll-te. Und nur nach besonders guten Sommern ent-scheiden sich die Kellermeister dafür, einen Jahrgangs-Champagner herauszubringen.

Seit Dom Pérignon hat sich in der Herstellungnatürlich vieles verändert – und vieles ist doch gleichgeblieben. Die drei Traubensorten werden meist imSeptember geerntet und gepresst und getrennt gela-gert, vier bis sechs Wochen, auf 16 Grad gekühlt inmeterhohen Stahltanks. Danach werden die Weine ge-mischt und in Flaschen abgefüllt, es werden 25Gramm Zucker hinzugegeben und Hefe, für die zwei-te, die Flaschengärung, die meist mindestens drei Jah-re dauert, liegend in den unterirdischen Irrwegen.Dann folgt der bekannteste, aber nur mechanische Teilder Champagner-Produktion. Es geht darum, das sogenannte Depot aus der Flasche zu bekommen, alsovor allem die überschüssige Hefe, die sich im Lauf derJahre abgelagert hat. Die Lösung für dieses Problemfand die vielleicht berühmteste Witwe aller Zeiten, dieveuve Clicquot.

Seitdem denken die meisten Menschen, dass dasRütteln und Drehen der Champagner-Flaschen etwasmit der Qualität zu tun habe. Dabei ist die Sache ei-nigermaßen banal. Vor der Witwe Clicquot wurdendie Champagner-Flaschen eine Weile auf den Kopf ge-stellt, damit das Depot sich im Flaschenhals sammel-te, wo man es leicht entfernen konnte. Effektiver aberwar die Clicquot-Methode, bei der die Flaschen in ei-ner Art Holzbrett steckten und über eine Woche hin-weg jeweils um ein Viertel nach links oder wieder nachrechts gedreht und dabei immer sachte etwas steilerangehoben wurden. Heute gibt es dafür Maschinen,und nur die besonderen Cuvées werden noch vonHand gerüttelt.

Das Geheimnis des Champagners ist also ein biss-chen prosaischer – und damit umso mythenschwerer.Er ist das Getränk der Könige, er ist das Getränk derGenießer, der Gauner und der Stars. Und er ist dasGetränk der Gentlemen, wie Christian Pol-Roger ei-ner ist.

Das Feuer im Kamin ist fast heruntergebrannt,draußen, über den Hügeln von Épernay, ist es dunkelgeworden, drinnen, wo der Champagner sein Werktut, sind ganze Wunderwelten zu bestaunen. »Fantas-tisch«, sagt Christian Pol-Roger und hält sein Glas inden Feuerschein. »Sehen Sie, je kleiner die Luftblasen,desto besser der Champagner.« Dann schweigt er. DieLuftblasen steigen auf. Es scheint, als ob sie aus demNichts kämen; es scheint, als entstiegen sie einem Glasohne Grund. Ohne Gewicht. Ohne Geschichte. Esscheint, als ob es nur diesen Augenblick gäbe. Das istdie schöne Lüge des Champagners.

Alles Gute kommt von untenFortsetzung von Seite 67

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Page 56: Die Zeit 2006 01

Nr. 1 29. Dezember 2005 Reisen DIE ZEIT 69

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Er kam und schaute. Mit seiner Leica.Und dann machte er Kunstwerke aus seinen Aufnahmen, komponierte, reihte sieaneinander wie zu einem Film. Der SchweizerFotograf Jakob Tuggener (1904 bis 1988)hatte eine Obsession für die Feste der Reichen und Schönen, der Highsociety,wie sie damals hieß, und die im Grand HotelDolder in Zürich (unser Bild, 1948) ebensotanzte wie im Palace Hotel in St. Moritzoder beim Wiener Opernball. Für Tuggenerwaren es »Märchen, was man da sah anFrauen, Schönheit und fließendem Seiden-glanz«. Und als Expressionist verstand er»nicht das Abbilden, sondern das Bilden-wollen« als Voraussetzung für seine Arbeit.Wie er diese längst verrauschten Ballnächtein Szene setzte, zeigt eine Ausstellung in der Hermesvilla, dem Wiener Refugium unserer Kaiserin Sisi, ihrerzeit eine leiden-schaftliche Sammlerin von Fotografien –vornehmlich schöner Frauen. PUT

Ballnächte. Bis 12. März. Wien Museum Hermesvilla,Lainzer Tiergarten,Wien. Dienstag bis Sonntag 9 bis16.30 Uhr (1. Januar geschlossen), Eintritt 4 Euro,Bildband 49,90 Euro. Auskunft: Tel. 0043-1/50 58 74 70,www.wienmuseum.at

Herr Kraus, kann man bei Ihnen einenFlug zu den Sternen buchen?Wenn es denn sein soll, bringen wir unse-re Kunden zur Raumstation ISS. Sie sinddort zwar nicht auf einem Stern, aberschon ziemlich nah dran, immerhin rund400 Kilometer über der Erde. Höher gehtes im Augenblick nicht.Was genau bieten Sie an?Weltraumtourismus, der an die Grenzendes heute technisch Machbaren führt.Zum Beispiel Astronautentraining wieden Flug in einer der MiGs, dieser enormwendigen Jets, in denen die Astronautenüben, Belastungen durch Geschwindig-keit und Höhe auszuhalten. Dann habenwir im Bereich Luftfahrt noch den Schwe-relosigkeitsflug. Wir fliegen mit zehn Gäs-ten in einer riesigen vierstrahligen Ma-schine, die innen leer ist. Bei einem spezi-ellen Manöver, dem so genannten Para-belflug, erreichen wir zwischen 20 und 30Sekunden lang Schwerelosigkeit. Wie fit muss man denn als Teilnehmersein? Der Anspruch an die persönliche Fitnessist nicht besonders hoch. Man sollte abergefasst sein auf körperliche Belastung beiallen Flügen und auch beim Astronau-tentraining am Boden wie etwa in derZentrifuge oder im Tieftauchbecken.Um dem Credo der Raumfahrt, »safetyfirst«, gerecht zu werden, und um unsereKunden vor Schäden zu schützen, erwar-ten wir von allen Teilnehmern einefliegerärztliche Untersuchung. Wie viele Leute haben denn bisher teil-genommen?Pro Jahr sind es circa 50 Personen. Ab 18Jahren geht das los. Unser ältester Teil-nehmer beim Schwerelosigkeitsflug warüber 60. Was kostet so ein Ausflug?Das hängt von der Maschine ab. EinenFlug mit der MiG 23 bieten wir ab 5000Euro an. Sie verbraucht während der Tour,die 30, 40 Minuten dauert, circa vier Ton-

nen hoch raffiniertes Kerosin. Die MiG 25schluckt in derselben Zeit ungefähr dasDoppelte. Wo starten Sie?Bei den MiG-Flügen von Schukowskij, ei-ner Stadt unweit von Moskau, die für dieLuftfahrt lebt. Sie haben dort die bestenFlugzeuge und die besten Piloten. Wir flie-gen nur von April bis September, und zwartagsüber. Natürlich am liebsten bei schöns-tem Wetter. Wir gehen bis auf 28 000 Me-ter rauf, rund die dreifache Flughöhe einerVerkehrsmaschine, und das mit bis zudreifacher Schallgeschwindigkeit.Warum wollen die Leute mitfliegen?Grob gesagt, gibt es zum einen die Aben-teurer, die ihre körperlichen Grenzen tes-ten und erleben wollen, wie brachial dieseFlugzeuge fliegen können. Zum anderensind es Damen und Herren, überwiegendHerren, die Geschwindigkeit erfahren undeinmal Mach 3 am eigenen Leib spürenmöchten. Und dann gibt es noch die spe-zielle Klientel, die will einfach hoch hinausund den Blick auf die Erde genießen, densonst nur Astronauten haben. Welchen Ausblick hat man denn aus ei-ner Höhe von 28 Kilometern?Man sieht die gebogene Atmosphären-schicht in einem sehr hellen Weiß. Ab ei-ner Höhe von 26 Kilometern guckt manam helllichten Tag auf den Mond, dieSterne und relativ unbehindert insschwarze Weltall, und unter sich erkenntman die bereits deutlich gekrümmte Erd-oberfläche.Und wie sehen die Teilnehmer aus, wennsie runterkommen?Die meisten Kunden haben Schwierigkei-ten, die Maschine zu verlassen. Sie sinddurchgeschwitzt und so fix und fertig, alshätten sie einen Marathonlauf hinter sich.Wenn es gut geht, steigen sie mit zittrigenKnien aus dem Flugzeug. Wenn es schlechtläuft, werden sie rausgetragen.

INTERVIEW: THOMAS VOIGT

Flug an die Grenzen

THOMAS KRAUS, 42, Chef des Weltraumreisebüros European-Space-Tourist in Bonn, bietet Erlebnistourismus auf voller Höhe

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70 DIE ZEIT Reisen Nr. 1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 70 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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ARNO GEIGER, 37, SCHRIFTSTELLER

Ins Gespräch kommenNach einer überstürzten und unbedachtenReise in den zentralspanischen Winter und ei-nem aus persönlichen Gründen vorhersehbarenttäuschenden Abstecher an die Ostsee be-zweifle ich allmählich, ob durch Reisen fürmich viel zu gewinnen ist. Sonderlich gern las-se ich diesen Gedanken nicht an mich heran,bin aber doch bestrebt, weiteren Enttäuschun-gen dieser Art aus dem Weg zu gehen. Zumin-dest will ich in Zukunft mein Herz zum Hirnauf Reisen schicken und mir sorgfältiger über-legen, was ich BRAUCHE und wovon icheventuell etwas BEHALTEN könnte. Ich habein den letzten Jahren zu viele Kirchen und Rui-nen gesehen und etliche europäische Museenmehr oder weniger neu katalogisiert, als gingees mir weniger ums Reisen als um jene Bilder,die andere auf Reisen gemalt haben. Dabei –muss ich zugeben – interessieren mich Bildernicht sonderlich, sie sind lediglich leicht ver-fügbar, das heißt, im Voraus einplanbar. Rich-tig begeistern (besessen machen) könnte mich,was Flaubert auf seiner Ägyptenreise be-schreibt, als ihm die vielen Tempel langsam aufdie Nerven gehen: diese unbezwingbare Neu-gier, nach dem Leben der Menschen zu for-schen, herauszufinden, was sie treiben, wohersie stammen und wie sie heißen, was sie gera-de jetzt beschäftigt. »Und wenn es sich um eineFrau (besonders reiferen Alters) handelt, sowird der Kitzel brennend. Gesteht doch, wieman sie sogleich sehen möchte, nackt bis insHerz hinein!« Deshalb nehme ich mir vor, aufReisen in Zukunft mehr zu reden, die Welt alsKrankenhaus zu betrachten, in dem der Rei-sende ein Patient ist, den seine Krankheit le-gitimiert, sogleich mit jedem bekannt und imGespräch zu sein.Arno Geiger wurde für seinen Roman »Es geht uns gut« im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Er lebt in Wien

INGO ARNDT, 37, FOTOGRAF

Kamera weglegenJedes Jahr bin ich sechs bis acht Monate fürmeine Reportagen in der ganzen Welt unter-wegs – Indien, Australien, Afrika, Mittelame-rika. Doch anstatt die Landschaften auf michwirken zu lassen, muss ich als Tier- und Pflan-zenfotograf mein Motiv fokussieren, geduldigden Moment abwarten, bis der junge Breit-schnauzen-Kaiman seine Eierschale sprengtoder der Epauletten-Flughund zur Landungansetzt. Obwohl ich mich dem Naturschutzverbunden fühle und meine Bilder nicht alsTrophäen begreife, bin ich doch immerschussbereit. Gerade kehre ich aus Costa Ricazurück, wo mein Arbeitstag vor der Morgen-dämmerung begann und, anders als im vordi-gitalen Zeitalter, nicht etwa schon mit demSonnenuntergang endete. Heute wertet manbis spät in die Nacht die Bilddaten auf demComputer aus, um am nächsten Tag eventu-ell Nachbesserungen vornehmen zu können.Meine Gedanken kreisen auf diesen Tourenalso ständig um die Arbeit. Daran möchte ichim nächsten Jahr etwas ändern: Mindestenseine Stunde pro Dienstreisetag soll mein Blickziellos schweifen. Ingo Arndt veröffentlichte mit Claus-Peter Lieckfeld den Band»Logbuch Polarstern«. 2004 erhielt er für seine Naturfoto-grafie den World Press Photo Award. Er lebt in Mörfelden

NINA ÖGER, 30, UNTERNEHMERIN

AusschlafenOb man wirklich so viele Tage wie Flugstun-den braucht, um im Geist am Reiseziel anzu-kommen? Auf mich trifft diese Faustregel je-denfalls nicht zu. Ich fliege ständig zwischenunseren Büros in Amsterdam, Hamburg undAntalya hin und her und empfinde die Um-triebigkeit nicht als Stress. Wenn man vonKindesbeinen an in ein Unternehmen hinein-wächst, wird der Arbeitsplatz zum Wohnzim-mer. Trotzdem wünsche ich mir manchmalmehr Gemächlichkeit. Deshalb ist mein Vor-satz, auch in Zukunft eine alte Familientradi-tion fortleben zu lassen. Wer permanent un-terwegs ist, braucht nämlich Rituale. Das be-deutet für mich: mit den Eltern, Oma und al-len Mann wie früher jedes Jahr durch dieÄgäis zu kreuzen. Heute nehme ich meinekleine Tochter, Freunde und manchmal auchmeinen Vater mit. Drei bis vier Tage im Au-gust gehören nur uns. Mit einem Gulet, ei-nem türkischen Holz-Motorsegler, ankernwir in stillen Buchten, steuern ein paar grie-chische Inseln an. Auf dem Meer dauert jederTag eine kleine Ewigkeit. Jenseits von Fest-land und Terminkalender hat man nur eineWahl: abschalten! Ich schlafe bis 8 Uhr aus,springe nach dem Zähneputzen ins Wasser,lese meiner Tochter Bücher vor, döse in derSonne und empfinde jeden Augenblick – dasSchwappen der Wellen an der Bordwand, denGeschmack eines guten Essens. Von der Er-innerung an die gedehnte Zeit zehre ich biszu meinem Geburtstag im Januar. Und dannist schon fast wieder August.Nina Öger leitet zusammen mit ihrem Vater Vural Öger das ReiseunternehmenÖger Tours. Sie lebt in Hamburg

HEIDE SIMONIS, 62, POLITIKERIN

Keine KlimaanlageWenn ich mir dabei zuschaue, wie überstürztich manchmal in alltäglichen Situationen rea-giere, wie hektisch ich zum Beispiel meineHandtasche durchwühle, möchte ich mirmehr Gelassenheit verordnen. Deshalb neh-me ich mir vor, Hanoi wiederzusehen – einenOrt, der noch immer etwas müde wirkt. Dortist die rasante Modernisierung, die Shanghai,Hongkong und Singapur mit ihren Glitzer-bauten immer austauschbarer macht, nochnicht angekommen. Wenn ich an Hanoi den-ke, höre ich den leicht quietschenden Venti-lator unter der Decke des Hotelzimmers, indem keine Klimaanlage für eisgekühlte Tem-peraturen sorgt. Ich stelle mir vor, wie die Hit-ze durch den Schatten der Arkaden kriechtund die Turbulenzen der Moderne draußenbleiben. Natürlich plädiere ich nicht für einVerharren in kolonialen Zuständen. Den kri-tischen politischen Blick lege ich niemals ab.Aber in Vietnam spüre ich noch die Einbet-tung der Menschen in Geschichte und Natur.Da zieht es mich hin. Und zwar mit leichtemGepäck und Kriminalromanen, in denen derMörder immer gefasst wird. Heide Simonis war von 1993 bis 2005 Ministerpräsidentinvon Schleswig-Holstein und ist nun ehrenamtliche Vorsitzende von Unicef. Sie lebt in Bordesholm bei Kiel

RÜDIGER NEHBERG, 70, ABENTEURER

Gutes tunIm nächsten Jahr könnte die Aktion meinesLebens stattfinden. Die von mir gegründe-te Menschenrechtsorganisation Target!, diegegen die weibliche Genitalverstümmelungin afrikanischen Ländern kämpft, plant eineAktion, die in der gesamten islamischenWelt für Aufsehen sorgen soll. Schon jetzthaben wir zwölf Scheichs, Sultane und an-dere Würdenträger davon überzeugen kön-nen, dass der Brauch der Mädchenbe-schneidung nicht mit dem Koran und derEthik des Islams zu vereinbaren ist. Bis hinnach Mekka soll unsere Botschaft vordrin-gen! Schon im vergangenen Jahr habe ichden Großmufti von Mauretanien dazu be-wegt, diese Barbarei zur Sünde zu erklären.Meine Mitarbeiter und ich haben die Kun-de unter die Nomaden gebracht. Mit 14 Ka-melen zog unsere »Karawane der Hoffnung«500 Kilometer durch die Wüste. Lange Zeitbestanden meine Reisevorsätze darin, die ei-genen Grenzen auszutesten: 1000 Kilome-ter ohne Nahrung und Ausrüstung zu wan-dern oder per Tretboot den Atlantik zuüberqueren. Mein Kampf für die Entrech-teten setzte erst ein, als ich vor 20 JahrenZeuge des Völkermords an den brasiliani-schen Yanomami-Indianern wurde. Damalswurde mir klar, dass selbst ein kleiner Ham-burger Vorstadtbäcker durch sein Engage-ment etwas in der Welt bewegen kann. Fallsdie vorerst noch geheimen Aktionen deskommenden Jahres erfolgreich verlaufen,bin ich bereit, zum Islam überzutreten.Rüdiger Nehberg, gelernter Bäcker, wurde als Extremreisender bekannt.Er engagiert sich für Menschenrechte

Gute Reisevorsätze

STEPHANIE MAIR-HUYDTS, 42, VERLEGERIN

Kinder mitnehmenIm nächsten Herbst steht ein Highlight aufdem Programm. Endlich sind unsere Kin-der mit sechs und neun Jahren groß genug,um eine Fernreise zu unternehmen. Alle zu-sammen wollen wir nach Namibia aufbre-chen, Tiere beobachten und Naturwundererleben. Auf dem Globus haben wir schonoft exotische Ziele angepeilt. Die erstenBücher, die unser Sohn zur Hand nahm, alser noch gar nicht lesen konnte, waren Reise-führer. Doch nun kommt für ihn und unse-re Tochter die Zeit, die weite Welt mit eige-nen Augen zu sehen und nicht nur mit demFinger auf der Landkarte zu erkunden. Ih-nen die Fremde zugänglich zu machen – dasist ein Wunsch, der mich in der Erziehungantreibt. Natürlich wollen wir auch weiter-hin die Sommerferien in der Bretagne ver-bringen, das Baguette beim altbekanntenBäcker kaufen und auf die vertrauten Felsenkraxeln. Aber ich wäre als Reisebuchverlege-rin im falschen Beruf, wenn ich nicht selbstgern neues Terrain erkundete. Diesen Wis-sensdurst möchte ich auch unseren Kindernnahe bringen.Stephanie Mair-Huydts gehört der Reisebuchverlag MAIRDUMONT

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Nr. 1 S. 71 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

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YOKO TAWADA, 45, SCHRIFTSTELLERIN

Kabellos reisenWährend meiner letzten Reise durch Japanbesuchte ich einen Schrein, in dem seit Ge-nerationen eine Familie von weißen Schlan-gen gehalten wird. Die Schutzgöttinnen la-gen wie verknotete Kabel in einem Glaskas-ten, sodass man nicht gleich sehen konnte,welcher Körper zu welchem Kopf gehörte.Mir fiel sofort das deutsche Wort »Kabel-salat« ein, wahrscheinlich, weil ich mich un-terwegs oft über den Kabelsalat in meinemReisekoffer ärgerte. Das sind Kabel, mit de-nen man den Computer ans Internet an-schließt, die Videokamera mit dem Compu-ter verbindet oder einfach die Zahnbürsteund das Handy auflädt. Die elektrischenGeräte, die man braucht, werden immermehr. Wenn es so weitergeht, werde ich ei-nes Tages eine elektrische Lesebrille tragen,die auch ein Kabel benötigt. Ich habe mei-nen Computer immer bei mir, damit ich un-terwegs ungestört weiter an einem Textschreiben kann, der woanders spielt. Dabeihabe ich doch Angst, von der Reise nicht ge-nug mitzubekommen. So nehme ich Städte,Landschaften und Menschengesichter digi-tal auf, damit ich die Reise später in Ruhe ge-nießen kann. Dadurch entsteht aber in mei-nem Kopf genau so ein Kabelsalat wie inmeinem Koffer. Ich möchte gern vom nächs-ten Jahr an ohne elektrische Geräte reisen.Ich werde ein kleines Heft aus Japanpapierin die Tasche stecken und unterwegs nur dasaufschreiben, was ich gerade vor mir sehe.Yoko Tawada, geboren in Tokyo, lebt seit 1982 in Hamburg.Von ihr erschien zuletzt die Erzählung »Das nackte Auge«

Nr. 1 29. Dezember 2005 Reisen DIE ZEIT 71

Elf erfahrene Reisende erzählen,was sie im nächsten Urlaub besser machen wollen

HANS WERNER OLM, 50, KOMIKER

Bildbände anschauenIch wollte schon immer nach Italien. DreiMonate am Stück wie ein kleiner Goethe zuFuß gehen oder mit der Postkutsche fahren.Mich bilden, essen und in aller Seelenruhe soviel wie möglich aufsaugen. Entschleunigungbis zum Stillstand. Aber daraus wird nichts.Ich habe zu viel Erfolg mit meinen Program-men. Statt nach Siena reise ich nach Zwickau,Sangerhausen, Nürtlingen, Leck. Ich be-schwere mich nicht, ich bin ja dankbar, mitfünfzig Jahren noch so gefragt zu sein. Aberdeutsche Hotelzimmer befremden mich. Ichwerde also mein eigenes Kopfkissen mit aufdie Tour nehmen und mir einen Teller mitObst hinstellen, so wie es meine Mutter frü-her gemacht hat. Dann werde ich die Mini-bar ausräumen, mit Sonnenbrille und Kappeverkleidet in den Discounter gehen und mirvertraute Sachen in den Kühlschrank stellen,damit es heimeliger wird. Meinen Traum willich trotzdem nicht aus den Augen verlieren.Deswegen habe ich mich mit Bildbändenüber die Toskana eingedeckt. In die werde ichmich im nächsten Jahr auf meiner BerlinerTerrasse vertiefen. Hans Werner Olm ist mit dreißig Jahren Bühnenerfahrungeiner der dienstältesten deutschen Komiker. Vom 15. Januaran zeigt ProSieben seine Comedy-Serie »Olm unterwegs«

ELISABETH GÜRTLER, 55, HOTELIERE

Früher buchenDas Geschäft bringt es mit sich, dass ich Viel-fliegerin bin. Treffen mit unseren Agenten inLas Vegas, Tokyo oder Dubai – das gehörtzum Tagesgeschäft. Schlechte Erfahrungenhaben mich bewogen, auf die Fluggesellschaftzu achten. Wenn man zum Beispiel mit eineramerikanischen Airline oder mit Air Francereist, ist man als Österreicher schon sehr er-staunt. Gequält nehmen Stewardessen dieWünsche der Passagiere zur Kenntnis; bei denFranzosen gibt es nicht einmal einen zweitenKaffee aus dem Pappbecher. Ich selbst möch-te aber auch etwas zu meinem Reisekomfortbeitragen, indem ich die Unsitte ablege, stetsim letzten Augenblick zu buchen. Um vongünstigeren Tarifen zu profitieren, werde ichversuchen, das Prinzip der Rechtzeitigkeiteinzuführen. Dann könnte ich immer meinenLieblingsplatz reservieren: ganz weit vorn undam Gang. Zu viele Menschen im Blickfeldmachen mich nämlich nervös. Und nach derLandung muss ich möglichst schnell hinausans Tageslicht. Überhaupt: das Licht! Einefrühe Buchung von Hotelzimmern hätte denVorteil, dass ich garantiert nur sonnige Zim-mer bekäme. Ich hasse dunkle Räume mitAussicht auf Innenhöfe. Mindestens zweiFenster gegen den Lichthunger wünsche ichmir.Elisabeth Gürtler ist Geschäftsführerin des Wiener Traditionshotels Sacher

STEFFEN KOPETZKY, 34, SCHRIFTSTELLER

Entspannter packenEs ist halb elf Uhr nachts. Meine Frau befin-det sich seit einer halben Stunde im Kellerund sucht nach gewissen edlen Sandalen, diesie mir einst geschenkt hat und die nun in ir-gendwelchen Kisten mit der Aufschrift »Som-merzeug« verschwunden sind. Draußen fielden ganzen Tag lang Schnee, und dement-sprechend hatte ich auch gepackt, bis mirdann wieder in Erinnerung kam, dass aufmeinem Reiseplan ja ein Besuch der südindi-schen Hafenstadt Chennai steht. Ein Blick insInternet ergab, dass es dort um die dreißigGrad warm ist, ich mich also gänzlich ver-packt habe. Die Dinge, die ich jetzt einpackenwill, sind allesamt irgendwo. Ohne meineFrau wäre ich verloren. Dass sich dieser Kon-flikt kurz vor dem Klingeln des Taxifahrers,der mich um vier Uhr zum Flughafen brin-gen wird, überhaupt ergeben konnte, liegtnatürlich nur an meinem Reise-Grundfehler:das Herannahen des Aufbruchs so lange zuignorieren, bis buchstäblich keine Zeit mehrist und alles, was es einzupacken gilt, eilig vomSpeicher, aus der Wäsche oder den besagtenKisten herbeigeschleppt werden muss. Ichwill eben keinen Abschied mehr nehmen,sondern einfach bei meiner Familie bleiben.Den Jungen über Wochen nicht zu sehen, denSchreibtisch verwaist zurückzulassen – ein-fach nicht auszudenken. Immer wieder wan-dere ich durch das Haus, von einem Ort zumanderen; und alles, was ich sehe, deprimiertmich, da ich ja nicht bleiben darf. Natürlicheine absurde Haltung!

Wenn es einen guten Vorsatz für das Rei-sen gibt, dann den, endlich wieder mit jenerSorglosigkeit zu packen wie vor dreißig Jah-ren, ganz am Anfang. Als ich nämlich einkleines Kind war, so erzählen meine Elterngern, hatte ich die Angewohnheit, schon beiden geringsten Unstimmigkeiten den klei-nen Avon-Koffer, den mir meine Mutterzum Spielen überlassen hatte, mit meinerSchmusedecke, einem Bären und einem Bil-derbuch zu packen und zu verkünden, dasses mir hier nicht mehr gefalle und ich ver-reisen würde. Ich ging dann bis auf dieStraße und einen Schritt um die Ecke, blick-te auf den Waldrand in der Ferne und auf daswiesige Grün der großen Baulücke – und je-nes Gefühl, dem Offenen der Welt entge-genzublicken, war so überwältigend, dass ichmeine Reise damit auch schon hatte undäußerst zufrieden, manchmal sogar tief be-wegt zu meinen Eltern zurückkehren konn-te. Dann öffnete ich den Koffer und präsen-tierte jedes einzelne Stück darin, als wäre esein Mitbringsel aus weiter Ferne.Steffen Kopetzky lebt in Berlin. Er ist künstlerischer Leiter der »Biennale Bonn 2006: Indien«.Soeben erschien sein Erzählungsband »Lost/Found«

ASFA-WOSSEN ASSERATE, 57, GENTLEMAN

Vor Freude singenChurchill hat gesagt, dass es eine Strafe sei, zuarbeiten, um Geld zu verdienen. Leider mussauch ich arbeiten, wenn ich überleben will.Meine Freizeit findet allenfalls an verlänger-ten Wochenenden statt. Zwei WochenStrandurlaub wären mir ein Gräuel. Ich binschon braun genug und trete in der Öffent-lichkeit höchst ungern spärlich bekleidet auf.Lieber spanne ich aus von der modernenWelt. Wenn ich mich in meinem Club inLondon aufhalte, schließe ich die Augen undgaukle mir vor, im 19. Jahrhundert zu leben.Der nächste Sommer wird mir hoffentlichGelegenheit bieten, dieses Gefühl in Salzburgzu kultivieren. Obwohl ich es mir nicht leis-ten kann, alle Aufführungen im Mozartjahrzu besuchen, werde ich mir meine Lieblings-opern Die Entführung aus dem Serail und denFigaro nicht entgehen lassen. Natürlich wer-de ich mit der Bahn anreisen, die pünktlicherist als ihr Ruf. Ich habe kein Auto und ver-meide das Fliegen, weil ich das gemächlicheAnkommen in unserer schnelllebigen Weltbevorzuge. Ich genieße den Besuch des Spei-sewagens und eine gepflegte Plauderei. InSalzburg tauche ich dann ein in die gute alteZeit. Die Musik Mozarts vermag zweierlei: Siespendet Trost und Glückseligkeit. Dafür mussman nicht mit Partitur unterm Arm erschei-nen. Ich lasse die Töne auf mich wirken undmuss nur der Versuchung widerstehen, lautmitzusingen. Das bewahre ich mir für denHeimweg durch die Nacht auf.Prinz Asfa-Wossen Asserate arbeitet als Unternehmensberater und lebt in Frankfurt am Main.Bekannt wurde er durch das Buch »Manieren«

Die Vorsätze von Ingo Arndt,

Asfa-Wossen Asserate, Elisabeth Gürtler,

Stephanie Mair-Huydts, Rüdiger Nehberg,

Nina Öger und Heide Simonis

wurden aufgezeichnet von Christiane Schott.

Hans Werner Olms Vorsatz notierte Andrea Thilo

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72 DIE ZEIT Reisen Nr. 1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 72 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 72 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Es gibt wenigstens einen Grund, nach Wien zu fah-ren: seine Kaffeehäuser. Die freundlich-herablas-senden Kellner, der kleine Schwarze mit dem obli-gatorischen Glas Wasser, die Zeitung – diese Me-lange ist einmalig. Christopher Wurmdobler, Re-dakteur der Wiener Stadtzeitung Falter, stellt allewichtigen Kaffeehäuser – von Adam’s Café-Restau-rant (dem ehemaligen Café Monopol) bis zum CaféZartl – in seinem aktuellen Führer vor, illustriert mitFotos von Gerhard Wasserbauer. Bei jedem Kaffee-haus erfährt der Leser kurz etwas zur Geschichte undzur aktuellen Bedeutung. In einem kleinen Kaffee-haus-ABC erklärt Wurmdobler dann zum Beispielden Unterschied zwischen Ober und Obers. Nebenden Klassikern stellt er auch moderne Kaffeehäuservor – zu allem Überfluss sogar die neumodischenCoffeeshops, die Zerstörer nicht nur der Wiener

Kaffeehauskultur, zum Glück aber nur auf ein paarSeiten. Wurmdoblers Buch ist ein empfehlenswer-ter Führer durch die Stadt, und wer es gerade nichtnach Wien schafft, der kann sich wenigstens etwasvon der Atmosphäre nach Hause holen. STANChristopher Wurmdobler: »Kaffeehäuser in Wien,ein Führer durch eine Wiener Institution«; Falter Verlag,Wien 2005; 248 S., 25,50 ¤

Wintersport abseits des Pistenrummels fächert sichimmer mehr auf – vom Langlaufen über Rodeln,Schneeschuhlaufen, Winterwandern bis zur klassi-schen Skitour. Alles nicht mehr gerade Geheim-tipps, aber doch recht verlässliche Varianten für einintensiveres Naturerleben. Verführerische Vorschlä-ge, vom Layout raffiniert in Szene gesetzt, macht dasGemeinschaftswerk der Bergsteigerredaktion desBayerischen Rundfunks. Die Autoren rasen mit

dem Schlachtruf »Aus der Bo, hinten hängt da Dei-fe dro« auf Deutschlands längster Rodelstrecke zuTal oder gleiten einer Klosterbrauerei entgegen,locken mit dem Hochgefühl der ersten Spur imSchnee und Himalaya-Assoziationen in Winter-stürmen, laben sich am besten Topfenstrudel imBregenzer Wald oder in urtümlichen Wirtshäusern.Die Tourentipps erstrecken sich vom Allgäu bis nachSüdtirol, halten sich meist fern der bekannten Zie-le, sind oft auch mit Kindern zu schaffen, steckenvoller Infos und machen einfach mächtig Lust. ALBErnst Vogt/Stephan Frühbeis/Thomas Hainz/Georg Weindl/ Andrea Zinnecker: »Winterberge. Das etwas andere Wander- undTourenbuch«; BLV Buchverlag, München 2006; 144 S., 15,95 ¤

Wer auf Billigairlines fliegt,kann auch mit studen-tischem Budget Europa kreuz und quer erkunden.Doch welche Linie hat welche Ziele auf dem Plan,

und wie kommt man von den teilweise entlegenenFlughäfen in die Stadt? Fragen, die der Marco-Polo-Führer Fly away in seinem Informationsteilbeantwortet und danach 20 europäische Flugzielevon Barcelona bis Warschau in gewohnt kurzerund knackiger Form vorstellt, samt Tipps für denschmalen Geldbeutel: Mit welcher Bus- oderBahnlinie lässt sich eine Stadtrundfahrt machen?An welchem Sonntag im Monat öffnen die Mu-seen kostenlos ihre Pforten? Abgerundet wird dasMehr-für-weniger-Programm mit Lektüretippszum Einstimmen auf die jeweilige Traumstadt. TV»Marco Polo – Fly away«; Mairdumont, Ostfildern 2005; 168 S., 4,95 ¤

»Was für ein Vergnügen, sich in den Sand fallen zulassen, die salzige Luft auf der nackten Haut zuspüren und dem ›lieblichen‹ Gekreisch der Möwen

zu lauschen.« Bernd Siegmund drückt aus, warumman den wilden Weststrand bei Prerow nicht ver-gisst, und Fotograf Thomas Grundner liefert die Bil-der von der Halbinselkette Fischland, Darß, Zingst.Die Aufnahmen nähern sich dem Kleinod an derOstsee zum einen über seine unverwechselbare Na-tur – die Sandstrände mit den Windflüchtern, denin Windrichtung gewachsenen Kiefern, die Weitedes Meeres am Bodden oder der urtümliche DarßerWald mit seinen drei Meter hohen Farnen; zum an-deren vermitteln Aufnahmen von Fischerkaten,Reetdächern und Zeesbooten, von Anlegern undHäfen einen Eindruck vom Leben und der Kultur.Die informativen Texte gehen vor allem auf die Ge-schichte der Orte und ihrer Bewohner ein. TV

Bernd Siegmund/Thomas Grundner: »Fischland/Darß/Zingst«;Hinstorff Verlag, Rostock 2005; 64 S., 9,90 ¤

Lesezeichen

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GABRIEL GARCIA MARQUEZin den Straßen von

Cartagena, Kolumbien

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CHANCEN Nr.1 29. Dezember 2005 DIE ZEIT 75

ZEITLÄUFTE Seite 84

In Cartagena de Indias, gerade gegenüberder Jesuitenkirche San Pedro Claver, be-findet sich ein Portal aus schwerem Tro-penholz. Darin ist ein zwergenhaftesTürchen eingelassen, ein Durchschlupf,gemacht, um sich den Kopf anzuschla-gen. Als der Besucher eintritt, durch-

schneidet ein Fluch die träge Schwüle des In-nenhofs: »Gabo, du bist ein Hurensohn, dukommst nie.«

Gabo ist der karibische Kosename für Gabri-el García Márquez. In dem kolumbianischen Ko-lonialstädtchen Cartagena hat der Nobelpreisträ-ger für Literatur viele Jahre seines Lebens ver-bracht. Vor zehn Jahren gründete er dort eineJournalistenschule, die Fundación de Nuevo Pe-riodismo Iberoamericano (FNPI). Hier sollengute Investigatoren und von der Magie der Spra-che und dem Spiel mit Geschichten beseelte Er-zähler herangezogen werden, klassische Repor-terfiguren, wie man sie aus den Anfangszeiten derGroßstadt kennt.

Siebzig Prozent der Berufsanfänger im Jour-nalismus, so sagen die Umfragen, knüpfen ihrenBerufswunsch an den Mythos der Reportage. Siewollen selbst ein storyteller werden. Kaum einererreicht das Ziel. Es ist nie anders gewesen. Stattin die internationale Elite aufzusteigen, wartenauf die meisten die entzauberte Welt der Medien-industrie und das dürre Brot des media worker,des Informationsverwerters.

Die Schüler sollen sich ihr Leben langwie eine Mafia verbunden fühlen

Dreitausend Absolventen haben die FNPI schondurchlaufen. In ihr gibt es weder Zeugnisse nochTeilnahmebestätigungen. Die Kost auf demStundenplan unterscheidet sich auf den erstenBlick nur unwesentlich vom Angebot hiesigerVolontariate oder Hochschulen. Aber eben nurauf den ersten Blick. Der Kurs heißt nicht Kurs,sondern ganz handwerklich taller, Werkstatt.

Die Bewerber, in der Regel um die dreißigJahre alt, sollen bereits fest im Beruf verankertsein. Bei der Auswahl der Stipendiaten achtet dieStiftung weniger auf formale Qualifikation alsauf das persönliche Bild.

Gefragt sind eine »ehrliche Subjektivität«,Empathie, Passion und eine Berufung zum Be-ruf. Auch der Dozent ist kein Dozent, sondern

ein maestro, ein Vorbild. Der im Augenblick imdichten Tabakqualm durch den Leersaal wiegt,heißt Miguel Angel Bastenier. Er besitzt den Kör-perbau eines Mönches vom Kloster Andechs,kommt von El País in Madrid und besitzt eineerstklassige internationale Reputation. Obenanim Wertekatalog stehen eine personale Form derWissensvermittlung und die Weitergabe einesjournalistischen Gestus, einer Haltung und»Handschrift«, die man imitieren soll.

Topografische Mittelpunkte der Kurse bildendie Redaktionskonferenzen und die tertulia, derentspannte Schwatz in den Kaffeepausen, beidem es aber durchaus zur Sache gehen kann. Ehr-fürchtig und andächtig lauschen die Jungen dermeisterlichen Kritik. Zum Wertekosmos dieserscholastischen Bildungsidee gehört die dauerhaf-te Freundschaft. Der Meister begleitet die Novi-zen auch nach dem Kurs weiter, und diese blei-ben sich wie eine »Mafia« (García Márquez) ihrLeben lang verbunden.

So ist auch Cartagena nur das Mutterhaus desWerkes. Der Rest ist ein Wanderzirkus. Übers Jahrzieht der von Gabo, dem Schriftstellerpapst, ein-gesetzte Prior Chaime Abello Banfi, auch er eineGestalt aus dem monastischen Bilderbuch, hochgebildet, jovial und mit dem Laster der Völlerei imKampfe liegend, von Ort zu Ort, von Mexiko bisArgentinien. Derlei will finanziert sein. Keine Fra-ge, der literarische Lateinamerika-Boom von einsthat den Schriftsteller reich gemacht. Doch das hatseine negativen Folgen. Offiziell sieht Gabo sein

Kind in Cartagena selten. Zuweilen verlässt er seinExil in Mexiko, um inkognito anzureisen. Gernsagt man nicht, warum. Aber es ist so: Die IkoneGabo gilt als ein potenzielles Entführungsopfer.Während man in europäischen Städten vergleich-barer Größe die Mordopfer an einer Hand ab-zählen kann, gehen sie in Cartagena wie in ande-ren lateinamerikanischen Städten jährlich in dieHunderte.

Was hat der Schriftsteller mit dem Journalis-mus zu tun? Viel. Für García Márquez ist derJournalismus ein literarisches Genre. Gleich einpaar Häuser weiter, in der Calle San Juan de Dios351, da, wo heute die Lottoannahmestelle ist, re-sidierte früher die Redaktion von El Universal.Dort und in der Nachbarstadt Barranquilla hatGabo mit dem Schreiben angefangen. AußerhalbLateinamerikas meist nur als wunderbarer Fabu-lierer geschätzt, hat er seine Schreibkunst immerals ein Instrument der politischen Auseinander-setzung gesehen. Er wollte keinen Gringo-Jour-nalismus, sondern einen eigenen lateinamerika-nischen, der sich aus den Geschichten der einfa-chen Menschen speist.

Nach heutigen Begriffen kann man sich kaumvorstellen, wie dilettantisch dieses Projekt begann.

Journalismus, wie ihn García Márquez einstals empírico erlernte, war aus dem Mangel gebo-ren, nicht professionell, sondern informell. 1955wird er als Korrespondent nach Rom und Parisgeschickt. In den frühen journalistischen Arbei-ten spürt man die Not des Randständigen, derkaum mehr hat als seine Gabe zum Fabulieren,dem die offiziellen Nachrichtenkanäle verschlos-sen bleiben und der sich eigene Zugänge und Per-spektiven verschaffen muss.

Das Informelle und der Blick vom Rand aufdas Zentrum, vergleichbar dem eines staunendenKindes, das die Welt unverständlich und auchverrückt findet, haben ihre Magie nicht verloren.Dieser besondere Blick und die Idee, das Lebenwie eine Werkstatt zu betreiben, scheinen für denlateinamerikanischen Kontinent typisch. PauloFreire und Ivan Illich haben daraus ihre antiin-stitutionelle Pädagogik der »entschulten« Gesell-schaft geformt. Aber das ist eine Generation her,und die Jungen auf den Schulbänken gedenkender Zeiten, als Lateinamerika boomte, mit un-verblümter Ironie.

1994, im Gründungsjahr der FNPI, erschienGarcía Márquez’ Roman Von der Liebe und an-

deren Dämonen. Darin hat die Kritik mittlerwei-le eine hübsche Anekdote, einen vielsagendenKommentar des Meisters auf Hundert Jahre Ein-samkeit ausgemacht: Ein marqués trifft auf einenArzt, der sein soeben in die Ewigkeit eingegan-genes Pferd betrauert. Der Gaul war ausgerech-net 100 Jahre alt geworden. Längst beklagte derSchriftsteller selbst die »Hollywoodisierung« undVerklärung seines Werkes in einer Art Dritte-Welt-Romantik.

Viele der Lehrer kommen aus Europa und den USA

Dabei hatte der Lateinamerikaner, auch dasgehört zur Ironie der Geschichte, sein Werk im-mer als »Brücke zum Westen« verstanden. DerName seiner Stiftung erinnert nicht zufällig an dieTradition des new journalism eines Truman Ca-pote oder Tom Wolfe in den USA. Ein guter Teilder Lehrer am FNPI, Juwelen des Fachs wie derPole Ryszard Kapuscinski, John Lee Anderson(New Yorker) oder Jean-François Fogel (LeMonde), kommt aus Europa oder den VereinigtenStaaten. Ihr Unterricht erinnert an die ChicagoSchool des Journalisten und Soziologen RobertEzra Park. Park vertrat einen erfahrungsorientier-ten Journalismus. »Go into the district« oder »Getacquainted with the people« hießen seine Parolen,mit denen er seine Studenten ins Feld schickte. InCartagena treffen sich Journalisten, die mehr Zeitauf der Straße als am Schreibtisch verbringen.

Einen ungeheuren Wust an Medienstudien-gängen haben die Bedürfnisse globaler Kommu-nikation in den letzten Jahren auch hierzulandegeboren. Die literarischen, informellen und inves-tigativen Denk- und Traditionslinien der Journa-listik spielen in ihnen praktisch keine Rolle mehr.Heute werden sie eher an Orten gepflegt, wo mansie nicht vermutet, etwa an den drama depart-ments der amerikanischen Universitäten wie Chi-cago, von einem erwählten Kreis Berliner Ethno-logen um Rolf Lindner oder an Kunsthochschu-len wie dem Deutschen Literaturinstitut in Leip-zig. Oder eben in Cartagena. In den nächsten Jah-ren will García Márquez’ Wanderzirkus vermehrtauch in Europa gastieren, mit der IberischenHalbinsel als Einfallstor. Die Kulturmission derkolumbianischen Kosmopoliten kann nicht scha-den, dem alten Gaul des Geschichtenerzählenswieder auf die Sprünge zu helfen.

ZeilenausMacondoDie Schreibschule von Gabriel García Márquez bildet Journalistenfür ganz Südamerika aus VON HANS-VOLKMAR FINDEISEN

Nr. 1 S. 75 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 75 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Filmemacher haben noch bis zum 10. Januar Zeit,ihre Experimental- oder Werbefilme, Musikclipsoder Computeranimationen beim Kurzfilmfesti-val an der Hochschule der Medien Stuttgart(HdM) einzureichen. Thema oder Genre des Bei-trags können frei gewählt werden. Die einzige Auf-lage ist eine Maximaldauer von zehn Minuten.www.kufife.de

Die Robert Bosch Stiftung schreibt den NaT-Wor-king-Preis 2006 für exzellente Kooperationspro-jekte von Schülern, Lehrern und Wissenschaftlernaus. Bewerben können sich langjährige Initiativenvon Forschungseinrichtungen und Schulen, diegemeinsam Schüler für Naturwissenschaften undTechnik begeistern. Deren Projekte sollen einenbesonderen Wert auf die Vermittlung von wissen-schaftlichen Methoden legen und die Zusammen-arbeit von Schule und Wissenschaft fördern. Dasbeste Projekt erhält 50 000 Euro. 30 000 Euro ste-hen für den zweiten und 10 000 Euro für den drit-ten Preis zur Verfügung. Für die Teilnahme amWettbewerb ist zunächst nur eine Kurzbewerbungbis zum 27. Januar erforderlich. Informationenunter www.bosch-stiftung.de/natworking

Für den Master-Studiengang Angewandte Ethiknimmt die Uni Münster noch bis zum 15. März Be-werbungen entgegen. Das viersemestrige Studiumbeginnt im April und kostet rund 6900 Euro. Es sollmit den Grundlagen ethischen Denkens vertrautmachen und einen fachgerechten Umgang mit ethi-schen Problemen im Berufsalltag ermöglichen.www.uni-muenster.de/AngewandteEthik

Mit einem Stipendium fördert die gemeinnützigezis Stiftung für Studienreisen jährlich bis zu 50Schüler und Auszubildende zwischen 16 und 20Jahren. Sie erhalten 500 Euro für eine selbst orga-nisierte, mindestens vierwöchige Reise ins Aus-land. Mit einem Thema und Reiseland ihrer Wahlkönnen sich Interessierte für das kommende Jahrbis zum 15. Februar bewerben. www.zis-reisen.de

Den »MBA Logistik« bietet die Dresden Internatio-nal University berufsbegleitend von Mai an ge-meinsam mit der TU Dresden an. Das viersemes-trige Programm richtet sich an Ingenieure, techni-sche Führungskräfte und den Führungskräften-achwuchs. Die Bewerbungsfrist endet am 28. Fe-bruar. Informationen: www.dresden-internatio-nal-university.com/629.html

Die Strategiekonferenz »Lebe Europa!« vom 17.bis 19. März in Riga steht hoch qualifizierten Stu-dierenden und Doktoranden offen. Zusammenmit Managern, Wissenschaftlern und Strategiebe-ratern von Booz Allen Hamilton diskutieren sieüber den Wirtschaftsraum Europa und die Aus-wirkungen des globalen Wettbewerbs. Außerdementwickeln sie Wachstumsstrategien für einzelneUnternehmen. Bewerbungsschluss ist der 3. Fe-bruar. www.lebe-europa.boozallen.de

Tipps und Termine

i Tipps zur Stellensuche und einen aktuellenJob-Newsletter finden Sie unter www.zeit.de/chancen

ANZEIGEDER BESONDERE TIPP

SCHULEN DES SCHREIBENS

CARTAGENA Wer mehr über das Insti-tut in Cartagena erfahren möchte, dieFundacion Nuevo Periodismo Ibero-americano,der wird im Internet fündigunter www.fnpi.orgWeil das Institut ausdrücklich latein-amerikanische Journalisten födern will,

steht es leider hiesigen Lernwilligennicht offen. Wer in Europa etwas ähnli-ches sucht,schaue am besten zum Part-ner des FNPI in Spanien:

MADRID An der Universität Madridgibt es die Escuela de Periodismo

U.A.M./El PAiS. Auch ein Masterstu-diengang wird dort angeboten. Nähe-res unter www.uam.es/otroscentros/periodismouampais/ default.html

LEIPZIG Das Deutsche Literaturinsti-tut Leipzig bietet eine Kombination

zwischen literarischem und journalis-tischem Schreiben. Wie an einerKunsthochschule kann auch vonNIchtabiturienten ein Hochschuldi-plom erworben werden.Weitere Infor-mationen und Zugangsvoraussetzun-gen unter www.uni-leipzig.de/dll/

BERLIN Das Institut für EuropäischeEthnologie an der HU Berlin veranstal-tet im Rahmen des Studiums in den Se-minaren von Professor Rolf Lindner re-gelmäßig Recherche- und Reportage-projekte in angelsächsischer Tradition.Infos: www2.hu-berlin.de/ethno/

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ZEIT ChancenSTELLENMARKT UND BILDUNGSANGEBOTE

SEMINARPLANER: z.B. Coach-Fortbildung an der Fairness-Akademie, Fairness-Stiftung,Frankfurt/M.STUDIENGÄNGE: z.B. MBA im Fernstudium,Allfinanz Akademie mit FernUniversität Hagenund University of WalesTOP-JOB: Unternehmenskommunikation beiIVU Traffic TechnologiesJOBFINDER LIFESCIENCES: Head of DepartmentProduct Analysis, Mercuri Urval SALEHRE UND FORSCHUNG: Führungspositionenan Universitäten und FachhochschulenFÖRDERER DER WISSENSCHAFT: z.B. Graduier-tenkolleg "Calcium-Signaling and Cellular Nanodomains" am Universitätsklinikum desSaarlandes

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76 DIE ZEIT Chancen Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 76 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 76 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Statt ins Büro geht Dr. Jürgen Römp-ke heute an die Uni. Der leitende Mit-arbeiter der Münchener Rück be-sucht das Seminar »Strategisches Un-

ternehmensmanagement« für Führungskräfteaus dem Weiterbildungsangebot der Ludwig-Maximilans-Universität in München. Römp-ke ist zufrieden: »Es ist interessant zu schauen:Bin ich noch auf dem neuesten Stand, undgibt es Felder, wo ich es nicht bin? Die LMUist am Puls der Entwicklung.« Die 320 Eurofür die halbtägige Veranstaltung bezahlt dieMünchener Rück. Regelmäßige Teilnahme anWeiterbildungsangeboten gehören bei demVersicherungsunternehmen »zum guten Ton«,sagt Jürgen Römpke.

Nicht nur die Münchener Rück investiertin die Zukunft. Rund 14 Milliarden Euro ga-ben die deutschen Arbeitnehmer 2002 für be-rufliche Weiterbildung aus, so steht es in einerStudie des Bundesinstituts für Berufsbildung.Der Bedarf ist groß. Und er wächst stetig, weildie Halbwertszeit von Wissen sich verkürzt; le-benslanges Lernen wird zur Notwendigkeit.»Der Bereich Weiterbildung ist ein unglaub-lich expandierender Markt«, sagt Andrä Wol-ter vom Hochschul-Informations-System(HIS). Nach einer HIS-Studie nehmen 90Prozent der Akademiker innerhalb der erstenfünf Jahre nach ihrem Studienabschluss an ei-ner Weiterbildungsmaßnahme teil – Compu-terkurse, Kommunikations- und Interaktions-trainings, Management- und Sprachkurse ste-hen ganz oben auf der Beliebtheitsskala.

Das Berichtssystem Weiterbildung desBundesministeriums für Bildung und For-schung schätzt allerdings, dass die Hochschu-len am gesamten Weiterbildungsmarkt nur ei-nen Anteil von fünf Prozent haben, den gro-ßen Rest teilen sich private und betrieblicheAnbieter, Kammern und Verbände. Ein milli-ardenschwerer Markt, ein weites Feld also, dasdie Universitäten und Fachhochschulenbrachliegen lassen? Andrä Wolter vom HIShält eine solche Kritik für unfair, die Hoch-schulen hätten längst angefangen, das Feld zubeackern. »In den vergangenen zehn bis fünf-

zehn Jahren hat sich einiges bewegt. DieHochschulen sind deutlich aktiver gewor-den«, sagt Wolter. Immer mehr Zentren fürWeiterbildung werden eingerichtet, beste-hende ausgebaut. Die LMU München bei-spielsweise geht demnächst mit einem kom-pletten Weiterbildungsstudiengang »Philoso-phie, Politik, Wirtschaft« an den Start. Undhat ihre Produktpalette in den vergangenenJahren kontinuierlich erweitert: Es gibt In-house-Seminare, interaktive Workshops mitRollenspielen in Fachbereichen von Interkul-tureller Kommunikation über Marketing bishin zu Psycholinguistik. Besonders gefragtsind weniger wirtschaftswissenschaftlichedenn persönlichkeits- und organisationspsy-chologische Angebote, die so genannte SoftSkills trainieren.

Sprung aus dem Elfenbeinturm

Mehr und mehr sehen sich die Hochschulenals Alternative zu den privaten Anbietern.Sandra Strasser, Koordinatorin für Wissen-schaftliche Weiterbildung an der LMU,glaubt an einen Qualitätsvorsprung derUnis: »Wir liefern wissenschaftliches Hin-tergrundwissen, achten aber auch auf denPraxisbezug.«

Den Vorwurf, aus dem Elfenbeinturm he-raus zu dozieren, weisen die Hochschulen vonsich. »Die Kunden wollen den Praxisbezugoder ihr Geld zurück«, sagt Christoph Heinen.Er ist Geschäftsführer der Aachen Global Aca-demy (Aglac), der Weiterbildungsakademieder Technischen Hochschule Aachen. Siepflegt enge Kooperationen mit Siemens, derDeutschen Bahn, RWE, ThyssenKrupp. Undmit den Weiterbildungsseminaren verbesseresich auch die Qualität der Lehre, sagt Heinen:»Für viele Professoren ist das wie ein Tritt inden Hintern.«

Im Jahr 2000 gegründet, gehört die Aglacwie das LMU-Programm zu den Neulingenam Weiterbildungsmarkt. Pionierarbeit habenin den 1970er Jahren die Universitäten Augs-

burg und Hamburg geleistet, als ein »Markt«noch gar nicht existierte. »Der Gedanke amAnfang war, Wissen in die Gesellschaft zu tra-gen«, sagt Helmut Vogt, Leiter der Hambur-ger Arbeitsstelle für Wissenschaftliche Wei-terbildung. Entsprechend ist das Kurspro-gramm eher soziokulturell ausgerichtet undreicht von Kriminologie bis hin zu Ein-führungen in den Buddhismus. Ums Geldging es den Gründern anfangs nicht.

Und eigentlich ist das bis heute so geblie-ben. Das seit über 30 Jahren aktive Zentrumfür Weiterbildung und Wissenstransfer(ZWW) der Uni Augsburg bringt »nicht diedicke Kohle aufs Sparbuch«, sagt GabrieleHöfner, Bereichsleiterin am ZWW. Ein Semi-nar »BWL kompakt – Praxiswissen für Nicht-kaufleute und Jungunternehmer« kostet zwar1800 Euro pro Tag, die Richtschnur heißt aberKostendeckung. Viele Weiterbildungseinrich-tungen schaffen es gerade so, sich selbst zu tra-gen, ein Eigenfinanzierungsanteil von 70 bis80 Prozent gilt schon als Erfolg. Sogar an derFH Konstanz, die der Stifterverband für diedeutsche Wissenschaft als Hochschule mitdem besten Weiterbildungsangebot ausge-zeichnet hat, ist man froh über die »schwarzeNull« am Ende der Bilanz. »Die Theorie, mitWeiterbildung die Kassen der Hochschulen zufüllen, ist völliger Unfug«, sagt Roland Lu-xemburger, Leiter der Zentralstelle für Wei-terbildung. Denn die Hochschulen profitie-ren finanziell nur dann von den Angeboten,wenn die unterrichtenden Professoren ihreHonorare nicht in die eigene Tasche, sondernin ihre Lehrstühle stecken.

Das weiß auch das Centrum für Hoch-schulentwicklung. Projektleiter Yorck Henersieht zwar durchaus finanzielle Vorteile fürdie Hochschulen, »aber die Hoffnung, dasssie sich auf diesem Weg selbst finanzierenkönnen, besteht nicht«. Auch Andrä Woltervom HIS hält höchstens einen höheren Ei-genfinanzierungsanteil für realistisch, nichtaber eine große Einnahmequelle für die Unis.»Da kann ich nur sehr vor einer Enttäu-schung warnen.«

Ein Tag Uni für 1800 EuroDer Markt für berufliche Weiterbildung boomt. Auch die Hochschulen kämpfen um ein Stück vom Kuchen VON SABRINA EBITSCH

Sie sind Professor und zugleich Chef einer Firmafür Software-Technik, wie schaffen Sie das?An technischen Universitäten gibt es das oft, dassProfessoren nebenher Gutachten schreiben oder fürUnternehmen arbeiten. Normalerweise erhalten siefür ihre Nebentätigkeiten eine Genehmigung, dochan ihrer Lehrverpflichtung ändert sich nichts. Fürmich kam das nicht infrage. Das bekommt schnelleinen Grauschleier, den ich nicht möchte, so nachdem Motto: Wie kann man das alles unter einenHut bringen, Lehre und Nebentätigkeit? Darumhabe ich mit meinem Fachbereich geredet und ver-einbart, dass ich nur 50 Prozent der Veranstaltun-gen mache und ganz offiziell 50 Prozent meiner Zeitals Geschäftsführer meiner Spin-off-Firma arbeite. In Hamburg sind Sie der einzige Professor,der dasso macht. Sind Ihre Kollegen weniger ehrlich?Ich möchte es anders sagen: Ich kann mir kein ein-faches Modell vorstellen, wie man 100 Prozent Leh-re mit dem vollen Einsatz in einem Unternehmenvereinbaren kann. Um sich nicht in Konflikte zubringen, persönliche oder dienstrechtliche, kann ichden von mir eingeschlagenen Weg nur empfehlen,er hilft über diese Probleme hinweg. Ich will aberauch ganz deutlich sagen: Wenn man diese Dop-pelbelastung auf sich nimmt, tut man das nicht, umGeld zu verdienen. Das kann man einfacher haben. Warum denn dann?Für die Software-Technik kann ich sagen: Meine Ar-beit in beiden Welten ist wechselseitig sehr be-fruchtend und bringt auch den Studenten eineMenge. Mein Unternehmen hat 33 Mitarbeiter, da-von sind zwölf Studenten. Bei denen stelle ich si-cher, dass ihr Job studienförderlich ist. Sie bekom-men einen Ausbildungsvertrag, in dem steht drin,dass sie nur Dinge bei uns tun, die ihren Studien-zielen nützen, dass sie betreut werden in ihrem Stu-dium und dass die Firma ihnen auch nach Ende ih-rer Arbeit für uns den Zugang zu den Unterlagengarantiert, die sie etwa für ihre Diplomarbeit brau-chen. Bei den Verträgen nehmen wir immer denTechnologietransferverein an der Uni mit hinein alsneutrale Instanz, damit keine einseitige Abhängig-keit des Studenten vom Professor entsteht. Besserkann man Theorie und Praxis nicht verzahnen.

INTERVIEW: JAN-MARTIN WIARDA

GefragtHEINZ ZÜLLIGHOVEN,56,Professor an der Universität Hamburg und UnternehmerFo

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D ie Burg« nennen die Hallenser ihre Hoch-schule für Kunst und Design. Stolz sind sieauf Burg Giebichenstein. Schließlich hat

die Hochschule auch international einen guten Ruf.Zehn Prozent der Studenten kommen aus dem Aus-land, die größte Gruppe bilden die Chinesen, ge-folgt von den Amerikanern. Die deutschen Studen-ten kommen zu einem Drittel aus dem Westen.

Wer an der Burg studieren möchte, kann ausden Fachbereichen Kunst und Design wählen: Ma-lerei und Bildhauerei werden ebenso angebotenwie Industriedesign, Modedesign oder Multime-diadesign. Der Werkstattbegriff wird groß ge-schrieben an der Hochschule und eine umfangrei-che Grundlagenausbildung in den Fächern Natur,Anatomie, Ästhetik oder Philosophie. Personell istsie hervorragend ausgestattet. Wo gibt es schonEinzelunterricht?

Ulrich Klieber ist seit 2003 Rektor. Der 52-jäh-rige Württemberger ist längst auch Sachsen-An-haltiner geworden. Den Designstandort Hallemöchte er nach vorn bringen. Ein Designhaus istangedacht. Die Absolventen sollen bei der Exis-tenzgründung unterstützt werden.

Die Hochschule wurde 1915 als Handwerker-schule der Stadt Halle vom Architekten PaulThiersch gegründet und im Sinne der Ideen desDeutschen Werkbundes geleitet. Sie war Kunstge-werbeschule, bekam Zulauf von ehemaligen Bau-häuslern. Während der NS-Zeit wurde nur Hand-werk gelehrt. Nach Kriegsende kamen die ange-wandten Künste ins Spiel und die künstlerischeWerkgestaltung. Von 1958 bis zum Mauerfallblieb Burg Giebichenstein Hochschule für indus-trielle Formgestaltung. Als solche und als Design-schmiede Ost wurde sie über die deutsch-deutscheGrenze hinaus bekannt. Zu sozialistischen Zeitengab es viele Kontakte in die Bruderstaaten. Von1982 bis 1984 hat die Burg beispielsweise auf Kubaeine Kunsthochschule aufgebaut; dorthin ist manjetzt gefahren, um die alten Fäden aufzunehmen.

2006 feiert Halle 1200-jähriges Stadtjubiläum.Die Hochschule, gerade 90 geworden, wird ihrenTeil zur Feier beitragen.

Eine feste BurgDie Hochschule für Kunst und Design in Halle zieht Studenten ausaller Welt an VON INGE AHRENS

Weitere Informationen i im Internet:www.zeit.de/2006/1/halle

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ZEITLÄUFTE84 DIE ZEIT Nr.1 29. Dezember 2005

Nr. 1 S. 84 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Nr. 1 S. 84 SCHWARZ cyan magenta yellowDIE ZEIT

Die furchtlose FrauNächstes Jahr ist Mozart- und Rembrandt-, ist Heine- und Kolumbus-Jahr.Vor allem aber ist es das Jahr

der Josephine Baker: 2006 wäre der legendäre Showstar 100 geworden VON FRANZ ANTON CRAMER

ZWEIMAL JOSEPHINE:In Berlins Theater des

Westens tanzt sie 1929 voreiner riesigen Baker-

Karikatur Benno v. Arents’

witzigen Charleston. Oftnur im Profil zum Publi-

kum, sodass ihre Gestaltwie ein grotesker Scheren-

schnitt erscheint, dann wiederen face, mit schielenden Augen,

entfaltet sie eine unglaublicheparodistische Rasanz und erotische

Bonhomie. Das sind sie, in einer Per-son: die entfesselten zwanziger Jahre.

»Voulez-vous de la canne à sucre?«,»Möchten Sie Zuckerrohr?«, flachst sie

wenige Jahre später in der Kolonial-RevueParis qui remue. »Es ist viel besser noch als die

Banane. / Meine Damen, lassen Sie sich raten,/ greifen Sie zu, und zieren Sie sich nicht!« Dieironische Laszivität, die frivole und luxuriösüberhöhte Nacktheit, das Spiel mit den Klischeesvon der »schwarzen Venus« – all das katapultiertdie Baker in den Zenit des Showhimmels. Ihrbrauner Teint wird so populär, dass sogar unterden blassen Damen am Strand von Deauville dasSonnenbad in Mode kommt.

Bakers große Rivalin, der Pariser Musical-Star Mistinguett, hält mit einem Song da-gegen: »Paris ist ’ne Blondine / die aller Weltgefällt«. Die Antwort kommt prompt: »Wenn

ich eine Weiße wäre …«, trällert Baker 1932in La Joie de Paris mit blonder Perücke, »… dannhätte das Glück, / das ich mit dir empfinde, / im-

mer noch dieselbe Farbe. / Die Sonne mag dasÄuß’re tönen / aber meinen Teint / verleiht

mir meines Herzens Feuer.« Jose-phine Baker lässt sich nicht

einschüchtern, niemals.

Zusammen mit ihrem Agenten und LiebhaberPepito Abatino, angeblich ein italienischer Graf,macht sie jetzt das große Geld. Sie posiert fürPomade, für Haarwaschmittel, Strümpfe, Autosund dergleichen mehr. Baker gründet eineNachtklubkette mit Ablegern in allen Großstäd-ten, wo sie Gastspiele gibt. Sie betreibt ihre eige-ne Produktionsfirma, sie lässt mehrmals ihreMemoiren schreiben, zuerst 1927 – da ist sie ge-rade 20 –, Bestseller allesamt.

Das Geld sprudelt, sie hält sich einen Privatzoo,bewohnt eine Villa im vornehmen Vorort Le Vé-sinet westlich von Paris, hat livrierte Diener undspendiert, ob zum Déjeuner, zum Tee oder vordem Diner, natürlich nur Champagner. Die gro-ßen Modekünstler entdecken sie, Bakers Eleganzschlägt alle neureichen Attitüden.

1930 erhält sie von der Direktion des Casinode Paris für ihre neue Revue einen Gepardengeschenkt. Die Presse liebt diesen Einfall, undJosephine liebt Chiquita, mit dem sie über dieBoulevards flaniert. Mit Witz und Würde gibt sieselbst das von der hauptstädtischen Zivilisationgezähmte wilde Tier. »Elle est la plus parisienne despanthères«, befindet schmachtend die Schrift-stellerin Colette: Sie sei die pariserischste allerPanterkatzen …

Aber auch andernorts weckt die Baker Begehr-lichkeit. Der Berliner Theaterfürst Max Reinhardtetwa will sie nach ihrem ersten Preußen-Gastspielim Winter 1925/26 gleich bei sich behalten, umaus ihr, dem »Naturding«, eine »Schauspielerin« zuformen. Baker lehnt ab. Sie hat schon einen gutenVertrag mit den Folies-Bergères in der Tasche.

Doch Baker löst nicht nur Entzücken aus.Konservative Wertehüter protestieren schon frühund sehr vehement gegen die ihnen unerträglichekulturelle Schande. Bakers Auftritte in Wien,München, Budapest geraten regelmäßig zu Kund-gebungen des tobenden Zeitgeistes. In Berlinsprengen SA-Trupps die Vorstellung, ins faschisti-sche Italien darf sie erst gar nicht einreisen.

Auch in ihrer alten Heimat ist sie nicht über-all willkommen. In New York, wo sie 1935 ihrenEuropa-Erfolg zu wiederholen hofft und in denZiegfield Folies, choreografiert von GeorgeBalanchine und mit Kostümen von VincenteMinelli, in einer bombastischen Ausstattungs-revue gastiert, schlagen ihr rassistische Ressen-timents und puritanische Häme entgegen. Undtrotz all ihres Ruhms und all ihres Geldes: Aufdem amerikanischen Schiff, das sie zurück nachEuropa bringt, muss sie als Farbige im Unter-deck reisen …

Paris aber jubelt ihr zu. Und sie weiß längst,wohin sie gehört. 1937 nimmt sie durch Heiratmit dem Industriellen Jean Lion die französischeStaatsbürgerschaft an. Kurz vor dem Einmarschvon Hitlers Wehrmacht in Paris verlässt sie dieStadt und zieht sich auf ihr Schloss Les Milandes

in der Dordogne zurück, in den unbesetzt geblie-benen Teil Frankreichs, den Marschall Pétain re-giert, Staatspräsident von Deutschlands Gnaden.In Sorge um ihren jüdischen Mann, aber auch auspatriotischer Gesinnung will sie sich nicht arran-gieren. »Solange die Deutschen auf französischemBoden stehen, werde ich in meiner Heimat nichtmehr singen«, erklärt sie. Eine Haltung, die sie füreine Unterstützung der Forces Françaises Libresprädestiniert, der Résistance.

Josephine Baker leistet tatsächlich Agenten-dienste, transportiert Dokumente, schmuggeltKassiber über die Grenzen. Sie wird nicht kon-trolliert, sie hat Zugang zu höchsten Kreisen. AlsUnterleutnant der Luftwaffe – ihr Pilotenpatenthat sie bereits 1937 erworben – erhält sie späterfür ihren Einsatz die große Verdienstmedaille derRésistance-Kämpfer und, aus der Hand von Ge-neral Charles de Gaulle persönlich, das goldeneLothringerkreuz.

Während des Krieges aber durchlebt sie nochbittere Stunden. In Marrakesch zieht sie sich1941 als Folge einer Fehlgeburt eine schwereBauchfellentzündung zu, von der sie sich ein Jahrlang nicht erholt. Man fürchtet um ihr Leben,schließlich geben die Zeitungen ihren Tod be-kannt. Zur alliierten Invasion in Nordafrika istsie allerdings wieder auf den Beinen und begrüßtdie Befreiungsarmee mit ihrer Hymne »J’ai deuxamours, mon pays et Paris« – »Ich liebe beide, meinLand und Paris.«

Die furchtlose Frau träumt längst einen neu-en Traum. Sie will eine Familie gründen, eineganz besondere, eine Modellfamilie. Eigene Kin-der kann sie nicht bekommen. Stattdessen möch-te sie, mit dem Segen von Papst Pius XII., aufihrem Anwesen in der Dordogne Adoptivkinderbeherbergen, möglichst viele, alle von unter-schiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Es soll einZeichen gegen Rassenhass und nationalen Wahnwerden. Insgesamt zwölf Schützlinge holt sie zusich, Kriegswaisen und Armutsopfer, aus Euro-pa, Afrika, Asien und Amerika, denen sie mitrührender Hingabe eine Welt in der Welt zuschaffen versucht.

Sie selbst zeigt sich nur sporadisch in Les Mi-landes. Gastspielreisen, Plattenaufnahmen, im-mer noch ist sie rastlos unterwegs. Der Unterhaltdes Anwesens – sie hat dort ein Hotel, einenNachtklub, einen Musterbauernhof und einenFreizeitpark eingerichtet – verschlingt Unsum-men. Und obwohl Hunderttausende Gäste jedesJahr kommen, trägt sich das Ganze nicht. Ihr vier-ter Ehemann, der Musiker Jo Bouillon, trennt sichEnde der fünfziger Jahre von ihr, der Betriebgleitet ihr mehr und mehr aus den Händen. TrotzInterventionen und Solidaritätsaktionen vonBrigitte Bardot, Monacos Fürstin Gracia Patricia,von Fidel Castro und dem französischen Präsi-denten scheitert das Unternehmen. Das Schlosswird unter dramatischen Umständen im Mai1968 zwangsversteigert, ein knappes Jahr spätermuss sie ihr geliebtes Les Milandes endgültigräumen. Das Foto von Josephine Baker, in Kopf-tuch und Bademantel vor der Tür ausharrend, in-mitten ihrer übriggebliebenen Habseligkeiten,geht um die Welt.

Der Traum ist zerplatzt, die »Regenbogenfami-lie« ohne Einkommen, die Karriere auf demTiefpunkt. Schließlich bietet ihr das monegassi-sche Rote Kreuz Asyl. Baker, die unermüdlich ge-gen Armut und Diskriminierung gekämpft und1963 an der Seite von Martin Luther King amMarsch auf Washington teilgenommen hat,Baker, die von Israels Premierministerin GoldaMeïr und Jugoslawiens Marschall Tito, von Ro-bert Kennedy in den USA und, natürlich, vonGeneral de Gaulle eingeladen und freundschaft-lich empfangen worden ist, Baker, der luxuriöse,glamouröse Superstar einer ganzen Epoche – sielebt jetzt als Mittellose unter Millionären an derCôte d’Azur.

Erst 1974, nach mäßig erfolgreichen Come-back-Versuchen, nach allerlei Reibereien auch inden USA wegen ihres Engagements für die Bür-gerrechte, ergreift ein Kreis von Getreuen in Pa-ris die Initiative und ermöglicht die Jubiläums-gala Joséphine im Bobino. Der 50. Jahrestag ihrerAnkunft in Frankreich steht bevor. Und wirklichwird die Show am 8. April 1975 ein riesigerErfolg. Staatspräsident Valéry Giscard d’Estainggratuliert; Paris, die Stadt, die gern und schnellvergisst, ist zu einer alten Liebe zurückgekehrt.

Josephine Baker plant schon für eine Welt-tournee. Doch dazu soll es nicht kommen. Am Tagnach der zweiten Vorstellung von Joséphine erlei-det Baker einen Schlaganfall und fällt ins Koma.Am 12. April, einem Samstag, ist sie tot.

Beerdigt wird sie, im Kreis der Freunde, in Mo-naco. Doch zuvor gibt es eine Trauerfeier in Paris,einen Staatsakt. Wie es einer bedeutenden Vetera-nin des Krieges gebührt, ehrt Frankreich sie mit21 Schuss Salut. Die hinreißende Spaßkünstlerin,der Jahrhundertstar der Revue wird es als letztenlauten Tusch genommen haben, als einen letzten,dröhnenden Beifall nach einem großen Leben.

Der Autor ist Publizist und lebt in Berlin und Paris

Sie war ein Genie, ein Genie der guten Laune.Abertausende Fotos zeigen sie mit Hingabeund Perfektion bei der Sache, bei der Arbeit,bei der Produktion des strahlendsten Lächelnsder Welt. Josephine Baker, ob als unver-schämter junger Star oder als würdige alteDame, schien nur eine Botschaft zu verkör-

pern: das Leben, ein Spaß. Dabei hat sie selber, die zu einemInbild der Mo-derne wurde und die Kunst der Revue neuerfand, oft genug erfahren, dass das Leben nichts als dasLeben ist, also kein Spaß.

Schon in ihrer Kindheit hatte Josephine Freda MacDo-nald, geboren am 3. Juni 1906 in St. Louis im US-Bundes-staat Missouri, nicht viel zu lachen. Sie war die unehelicheTochter einer Schwarzen und eines Spaniers. Die Eltern tin-gelten mit Kleinkunstnummern durch trübe Kneipen; baldsetzte sich der Vater ab. Die Mutter heiratete einen arbeits-losen Alkoholiker, der zum Lebensunterhalt der wachsendenFamilie nichts beitrug. Zweimal wurde Josephine, die Älteste,zu weißen Familien als Dienstmagd »in Pflege« gegeben. Daserste Mal wäre sie fast verhungert, das zweite Mal versuchteder Pflegevater, sie zu vergewaltigen.

Im Sommer 1917, Josephine war gerade elf Jahre alt ge-worden, erlebte sie in St. Louis eines der schlimmsten Pogro-me der US-Geschichte. Aufgehetzte weiße Bürger drangen indas Schwarzenviertel ein, wo die Familie lebte, und wüteteneine Nacht lang. Wie viele Menschen umgekommen sind,weiß niemand ganz genau, manche Berichte sprechen von 100Toten. Das Elend ihrer Kindheit, die Erfahrung des Rassen-hasses, der harte Kampf ums tägliche Überleben prägten ihrenBlick auf die Welt, auch als sie längst ein Star geworden war.

Der Weg dorthin war hart. »Tanzen ist die beste Art, michwarm zu halten«, sagt sie mit 13. Da hat sie schon eine kurzeEhe hinter sich (aus der sie nur ihren Nachnamen behält) undist als Aushilfstänzerin mit einer Wandertruppe durch die Süd-staaten unterwegs. Zuvor musste sie Alter und Herkunft ver-schleiern – kein Theaterdirektor hätte ein Kind wie sie enga-gieren dürfen. Hinzu kam, dass sie als Mischling und hell-häutige Schwarze anfangs weder dem Geschmack des schwar-zen noch später dem des weißen Publikums entsprach, den ei-nen war sie zu dunkel, den anderen nicht dunkel genug.

Trotzdem: Mit 16 Jahren hat sie es bereits bis zur Ostküs-te geschafft. 1922 tritt sie zunächst als Zweitbesetzung indem schwarzen Erfolgsmusical Shuffle Along auf, das in Phi-ladelphia aufgeführt wird. 1924 folgt die bombastische ShowChocolate Dandies, die später nach Moskau und Leningrad(heute St. Petersburg) auf Tournee geht.

Mit dieser Revue gelingt Josephine der Sprung nach NewYork, an den Broadway. Mit den schlackernden Charleston-Paraphrasen, ihren wild durcheinander zappelnden Armenund Beinen, dem kunstvollen Schielen und dem frechen Grin-sen im Gesicht wird die schelmische, entfesselte Gliederpup-pe zum Publikumsliebling. Eine Erkrankung der Sängerin ver-schafft Josephine dann endgültig den Triumph: Sie darf nichtnur tanzen, sondern auch die Hauptrolle singen. Von da an istkein Halten mehr. Ihre Gage steigt und steigt, ihr Lebensstilwird aufwändiger, ihre Familie bekommt ein anständigesHaus, ihre jüngere Schwester eine Schulausbildung. Dochihre eigentliche Karriere liegt da noch vor ihr.

Eine reiche Dame der New Yorker Gesellschaft hat sichin den Kopf gesetzt, die aufregend neue, in den USA halbbewunderte, halb abschätzig behandelte afroamerikanischeRevuekultur, die sich seit Chocolate Dandies durchgesetzt hat,endlich dem amüsierhungrigen Europa vorzustellen. Dazutut sich Caroline Dudley Reagan mit einem noch reicherenHerrn der Pariser Gesellschaft zusammen: mit Rolf de Maré.

Der Spross einer reichen schwedischen Adelsfamilie warnach dem Ersten Weltkrieg in die französische Hauptstadtgekommen und hatte zwischen 1920 und 1924 bereits mit sei-nen »Schwedischen Balletten« der europäischen Avantgardeden Kopf verdreht. Die Malerfürsten der Moderne, darun-ter André Derain, Fernand Léger, Giorgio de Chirico, lie-ferten Kostüme und Bühnenbilder, Paul Valéry und Ar-thur Honegger, Jean Cocteau und Darius Milhaud sorg-ten für Musik und Libretto und erfanden gemeinsamjene schrillen Gesamtkunstwerke einer antiakademi-schen Ballettkultur, in denen die Moderne sich dieGuckkastenbühnen eroberte.

Caroline Dudley stellt aus den New YorkerTruppen ein neues Ensemble zusammen und schicktes über den Atlantik. Hier ist alles »Afrikanische«schon lange en vogue, eine Jazz-Revue mit schwar-zen Darstellern kommt gerade recht. Im Oktober1925 hat die Revue nègre im mondänen PariserTheater Comédie des Champs-Elysées Premiere, siewird eine Sensation.

Bakers erster Auftritt: Auf allen vieren, Arme und Bei-ne durchgestreckt, so erscheint sie, giraffenhaft, auf derBühne. Dann fällt sie in einen wilden Charleston, schnei-det Grimassen, wackelt kunstvoll mit dem Hintern undspringt schließlich in einem Satz auf einen Pappmaché-Baum. Bei dem zweiten Auftritt an diesem Abend hat sieso gut wie gar nichts mehr an. Auf den Schultern einesstattlichen schwarzen Tänzers thronend, lässt sie sich vonihm in die Luft werfen, um in eleganter Flugrolle imStand zu landen. Zuletzt führen beide einen »primitivenPaarungstanz« vor, der mit einem »orgiastischen Schauerihrer Körper« endet, wie die Presse entgeistert berichtet.Die Revue nègre spielt fast zwei Monate in Paris, es folgteine lange Tournee durch Europa. Über Nacht ist JosephineBaker zum Star geworden.

Nahezu im Jahresrhythmus gibt es neue, immer aufwän-digere Revuen in den Tempeln des Pariser Nachtlebens: in denFolies-Bergères, im Casino de Paris, später im Bobino und imOlympia. 1926 ersinnt Louis Lebercher das Programm für Lafolie du jour. Dazu gehört jener berühmte »Bananentanz«, derBakers Erkennungszeichen wird. Mit einer Spur Strass, an-sonsten aber nur mit einem kuriosen Röckchen bekleidet, andem Bananen aus Pappmaché zappeln, tanzt sie ihren wahn-