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C M Y K LUNZENAUER HEIMATBLATT 2015 LUNZENAUER GESTERN & HEUTE • Beilage im Amtsblatt der Stadt Lunzenau • an alle Haushalte Heimatblatt Ausgabe 2015 2015 Veränderungen in unserem Stadtbild – Die ehemalige Eisen- und Materialwarenhandlung Bönitz 1898 und das Areal an der Friedensstraße heute.

LUNZENAUER Heimatblatt LUNZENAUER HEIMATBLATT 2015 · im Heim Maria Pauline …, die in Torgau für einen Diebstahl 1Tag Gefängnis bekam; für sieben Fälle im Landkreis Torgau bekam

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LUNZENAUER HEIMATBLATT 2015

LUNZENAUER

GESTERN & HEUTE • Beilage im Amtsblatt der Stadt Lunzenau • an alle Haushalte

Heimatblatt

Ausgabe 20152015

Veränderungen in unserem Stadtbild – Die ehemalige Eisen- und Materialwarenhandlung Bönitz 1898 und das Areal an der Friedensstraße heute.

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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser des Lunzenauer Heimatblattes,

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Liebe Heimatfreunde,

es ist wieder soweit, Sie stöbern gerade im neuenHeimatblatt der Stadt Lunzenau.In diesem Jahr können wir wieder interessante Beiträgepräsentieren, vom Mädchenheim über den Mühlhof biszur Göhrener Brücke. Ein zentrales Thema stellt dasKriegsende vor 70 Jahren dar, die Erinnerungen an dieseZeit sind für die Nachwelt unbedingt zu bewahren.Wiederum ist es uns gelungen, vor allem auch dank IhrerSpendenbereitschaft, das schöne Jahresheft herzustel-len: Danke!

Herr Dietrich Lindner

Frau Rosl Sikora

Familie Celia und Dieter Wiesemann

Familie Peter Böttger

Herr Wolfgang Leuschel

Familie Ursula und Armin Poch

Familie Hannelore und Hans Georgi

Frau Elke Stötzner

Familie Renate und Rolf Rößner

Frau Margarethe Pfefferkorn

Familie Rosmarie und Gert Hortenbach

Familie Renate, Ursula und Hans Gert Pfefferkorn

Herr Gottfried Böttger

Familie Ida und Gerhard Hofmann

Herr Carl Schenk

Herr Johannes Scheibe

Frau Ingeborg Kopmann

Familie Hannelore und Werner Nitzsche

Herr Gerhard Sittner

Frau Annerose Böttger

Frau Christine Hübner

Familie Karin und Peter Mehner

Danke auch für Ihre zukünftigen Spendenbeiträge.

Unsere Kontoverbindung:Sparkasse Mittelsachsen

IBAN: DE06 8705 2000 3120 0004 33BIC: WELADED1FGX

Kennwort: Heimatblatt 2016

Wichtig! Aus buchungstechnischen Gründen bittenwir Sie, erst ab Januar 2016 Ihre Überweisungen zutätigen.

Das Heimatblatt auch im Internet: www.lunzenau.de

nun ist es wieder soweit! Sie halten die Jahresausgabe2015 des Lunzenauer Heimatblattes in Ihren Händen.Viele fleißige Helfer haben daran in den zurückliegendenMonaten gearbeitet. Dafür danke ich allen Beteiligten.Vielen Dank auch für die Geldspenden, mit denen wirdiese Ausgabe ermöglichen konnten.Stets sind wir bemüht Zeitzeugen zu finden, die uns ihreErlebnisse und Erfahrungen aus längst vergangenenTagen berichten. So auch in der diesjährigen Ausgabe.Sie finden interessante Berichte und so manchesWissenswerte rund um Lunzenau.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und bitte Siegleichzeitig um Unterstützung für die inhaltliche Ausge-staltung des Heimatblattes 2016.

Es grüßt Sie recht herzlichstIhr

Ronny HofmannBürgermeister

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Das Haus, heute samt aller „Vogelschen Häuser“ unterDenkmalschutz, schaut immer noch beherrschend überTeile der Stadt. Fachwerk und Zwerchgiebel sind Stilanlei-hen aus älteren Zeiten. - Der Industrielle Wilhelm Vogel ausChemnitz plante, ledige junge Frauen, die in seinen Fabrikenarbeiten sollten, dort unterzubringen. (Man musste denknappen Arbeitskräften in der Zeit der aufblühenden Indu-strien etwas bieten.) Der Andrang unverheirateter Bewerbe-rinnen war aber so bescheiden, dass Vogel das Heim imJahre 1906 der Inneren Mission der evangelischen Kirchepachtfrei (!) zur Verfügung stellte. Ein Heim entstand für„schwererziehbare“ und in prekären Verhältnissen lebendejunge, nicht mehr schulpflichtige Mädchen. Es war daszweite Heim dieser Art in Sachsen.Im Folgenden kennzeichnen Anführungsstriche die gekürz-ten Zitate aus Archivgut des Kreisarchivs. - Die „Genossen-schaft Mädchenheim Lunzenau“ wurde Anfang 1906gegründet. Amtshauptmann, Bürgermeister und Honoratio-ren bildeten das „Kuratorium“. Man gab sich eine „Satzung“. -Die „Pfleglinge“ mussten in der Möbelstoffweberei arbeiten.Sie erhielten pro 6-Tage-Woche 8 bis 12 Mark Lohn. Davonzahlten sie für Kost und Logis in der Woche 6,65 Mark. (EineMark Silber von 1913 entspricht etwa 4,70 Euro.) GespartesGeld war den Schwestern zu übergeben. Jedem „Zögling“wurde es im Konto-Buch gutgeschrieben. Zu Weihnachtenund Ostern erhielten die besten Arbeiterinnen Prämien. DasTaschengeld war nicht üppig, denn sicher hatten sie fürgelegentliches Ausgehen gar keine Zeit. Eine Genehmigungdafür erhielten nur die Bravsten, natürlich in Begleitung. Inder Hausordnung vom 30.Mai 1906 werden die „Hausge-nossen den Schwestern und während der Arbeit der Fabrik-leitung unterstellt“. „Züchtiges Betragen“ ist befohlen.„Unnützes Geschwätz ist zu unterlassen“. - Ein auslegbarerBegriff. - „Reinlich und sauber“ solle man sein und „Tätlich-keiten untereinander sind unzulässig.“ Alle ein- und ausge-henden Post-Sendungen wurden von der leitenden Schwe-ster kontrolliert. Besuch durfte sonntags von 14:00 bis 16:00empfangen werden. „Fürsorge und Obhut“ sollten in „evan-gelisch-christlichem Geiste zu sittlichem Lebenswandel,geregelter Erwerbstätigkeit, zu sicherem Lebensunterhalt“führen. Drei Jahre waren für die Erziehungszeit veran-

DAS MÄDCHENHEIM ZU LUNZENAU von Peter Böttger

schlagt. Der „Verpflichtungsschein“ musste vom Vater oderVormund oder vom Pfleger unterschrieben werden. Es gabauch den Fall „der die elterliche Gewalt ausübendenMutter“. Immerhin! Die einmalige Aufnahmegebühr betrug20,00 Mark. Wer sich freiwillig in diese Obhut begab, zahltenichts. - Der Tagesverlauf war in der Hausordnung festge-legt: 5:00 Wecken / Ankleiden, Waschen, Lüften, Bettenma-chen bis 5:20 / bis 5:30 Kaffeetrinken und kurze Andacht. /Ab 6:00 bis 12:00 Arbeit in der Fabrik mit 20 Minuten Früh-stückspause. Die Mittagspause von 11/2 Stunden zehrtenzum Teil schon die Wegezeiten zum und vom Heim auf. Von13:30 bis 18:00 wurde wieder in der Fabrik gearbeitet. Fastschon ein 8-Stunden-Tag! - Man sieht die Mädchen förmlichhasten und sausen, wie die Rekruten. - Abends ist nähen,flicken und stricken angesagt. Unterricht in Religion, Turnenund Gesang kommt dazu. „9 1/4 ist Zubettgehen, wobeigrößte Ruhe herrschen muss. Die Kleidung ist zusammen-gefaltet und geordnet abzulegen.“ „Sonntags ist Kirchgang,nachmittags können gemeinsame Ausflüge oder Spieleunternommen und Briefe geschrieben werden. Im Übrigenbestimmt die leitende Schwester, was geschieht.“ Wer Erholung von der Fabrikarbeit brauchte, bekam Hausar-beit und hatte mehr Pausen, allerdings ohne Entgelt. - DieBelegung betrug 60 „Heimlerinnen“. Fünf Diakonissen-Schwestern, zwei Gehilfinnen und zwei angestellte Haus-mädchen betreuten die Insassinnen. Wer von den „Zöglingen sich nicht gesittet“ benahm, „gegenAnständigkeit, Ordnung und Sauberkeit“ verstieß, wurdebestraft. Das Strafregister: „Verweis / Besuchsverbot / KOSTBE-SCHRÄNKUNG / Entziehung des Taschengeldes / Strafar-beit / Stubenarrest.“Bei „Unverbesserlichkeit“ drohten „völlige Absonderung“und „Ausstoßung aus dem Heim“. Wir erkennen eine Kombination von Unternehmerinteressenund sozialem Gewissen. Schwierige Abkömmlinge ausnichtbegüterten Kreisen durfte der Staat, durften die örtli-chen Verwaltungen nicht mehr übersehen. Unternehmerwollten dabei gerne als Wohltäter wahrgenommen werden,wenn es sich rechnete. Der soziale Einfluss gesellschaftskri-tischer Kräfte auf das Leben im Kaiserreich war so groß

v.r. Marie Scheubner, Hans Scheubner, Klaus Scheubnersowie Metha und Max Scheubner (Eltern von Hans Scheubner)

Ansicht historisch um 1965

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geworden, dass man schwache und gefährdete jungeMenschen nicht einfach zwischen Wochenknast undHerumstreunen verlumpern lassen durfte. Gerne bedienteman sich der Hilfe caritativer Organisationen. In der Indu-striegesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts ging es vielenarbeitenden Menschen besser als in Jahrzehnten zuvor.Aber es gab immer noch Armut, es gab Entwurzelte. Einigekonnten ihre vielen Kinder nicht alle erziehen. - Was dieStrenge angeht, die wohl im Mädchenheim herrschte, sokommt man zu dem Schluss: Sie war bedingt durch dieschwierige Aufgabe und die Erwartungen der Gesellschaftan jeden Menschen im Lande. Man kann die heutigePädagogik nicht mit der damaligen vergleichen. AbsolutemGehorsam gegenüber Gott, Kaiser und Vaterland war allesLeben untergeordnet. Obrigkeit und öffentliche Verwaltung,Justiz, Militär, die tragenden Säulen des Staates, prägtendie Menschen. - Hört und liest man heute von armutsgefähr-deten Geringqualifizierten wünscht sich mancher fürmanchen mehr fürsorgliche Strenge, als zurzeit oft üblich. Einige der Mädchen möchten wir gerne kennenlernen. Aberdas Wichtigste aus ihrem Leben bleibt uns verborgen. Esgibt keine Belege dafür, wer die Erziehungsziele erreichte,heiraten konnte und mit eigener Familie anständig zu lebengelernt hat. Wir erfahren nur, wer warum in das Heim mussteoder durfte. Niemand berichtet uns, wie Satzung und Haus-ordnung tatsächlich angewendet wurden. Wenige altePapiere über einige, hier unvollständig genannte Personen,geben uns ein wenig Einblick.Diese jungen Menschen waren Schwererziehbare, derenEltern im Zusammenleben mit ihnen scheiterten, oder Verur-teilte auf Bewährung, oder Haftentlassene, die Hilfe zurWiedereingliederung benötigten. Ihr Alter reichte von 16 bis21 Jahren. Die Satzung schloss die Aufnahme von Prostitu-ierten aus. Aber gnädige Ausnahmen hat es anscheinendgegeben.Gleich nach der Inbetriebnahme des Heims mussten Turbu-lenzen gemeistert werden. Am 23. September 1906 schriebder Stadtwachtmeister Max Zweinig eine Anzeige gegenFrieda Anna … und Martha Emilie …, denn sie „haben sogetan, als wollten sie in die Badestube. Die Schwestererlaubte, den Schlüssel vom Brett zu nehmen. Sie entwen-deten aber den Hausschlüssel und sind nun im grauenStaubmantel und weißem Strohhut flüchtig. Beide Mädchensind gänzlich mittel- und legitimationslos und dürften sichvagabundierend und Gewerbsunzucht treibend umhertrei-ben.“ (Das Letztere hat der Mann wohl vermutet. GraueMäntel und Strohhüte waren Anstaltskleidung.) Die beidenwurden aus Chemnitz zurück gebracht. - Der Rat der StadtDresden, das Krankenpflegeamt, bescheinigt der Polizei inLunzenau, dass die Z. „hier nicht durch die öffentliche Kran-kenpflege unterstützt“ wurde. Es wird aber bescheinigt vonder dortigen Polizeidirektion, dass die Z. in Dresden wegen„Gewerbsunzucht“ 5 Tage Haft erhielt. Zu der Zeit war dasMädchen 19 Jahre alt. Aus Böswilligkeit oder übersprudeln-der Phantasie schrieb „die Z.“ an einige Zeitungen, einMädchen habe ein uneheliches Kind bekommen, sei ausdem Heim geflohen, in der Muldental-Bahn überfallen undauf Lunzenauer Flur tot aufgefunden worden. Das Burgstäd-ter Tagblatt und Chemnitzer Blätter brachten die schauerli-che Geschichte, worauf der Bürgermeister Strass Protesteinlegte. Auch Pfarrer Grundmann wandte sich an die Pres-se. Der Chefredakteur des Burgstädter Blattes entschuldig-

Ansicht heute

te sich beim Bürgermeister schriftlich für den Abdruck der„falschen Nachricht“ und bat andererseits in seiner journali-stischen Verantwortung, den Namen seiner „Informantin“nicht nennen zu müssen. Man kannte ihn schon. - Die Stadt-verwaltung verwendete einen kleinen Vordruck, um an denHerkunfts-Orten über jegliche zugezogenen Personen nach-zufragen. Es heißt darin: Die Person X, geboren am… sei zurpolizeilichen Anmeldung hier angekommen und es wird umAntwort gebeten, ob und welche Vorstrafen bestehen. DieAntworten samt Nennung der Delikte stehen handschriftlichauf dafür vorgesehenen Formularen. Da ist unter den Neuenim Heim Maria Pauline …, die in Torgau für einen Diebstahl1Tag Gefängnis bekam; für sieben Fälle im LandkreisTorgau bekam sie 1 Monat. Natürlich hatte sie die Kostender Verfahren zu tragen. (Wovon wohl, fragt man sich.) FürUnterschlagung in 3 Fällen und 7 Diebstähle saß Erna …1Jahr und sieben Monate. Helene … hatte sich wegenBetrugs und Benutzung falscher Namen zu verantworten,erhielt einen gerichtlichen Verweis. Martha Emilie … bettelteund mauste „fortgeführt“; dafür rückte sie einmal 2 Wochenund einmal 6 Monate ein. Klara Alma … wurde vom Königli-chen Amtsgericht Limbach wegen Betrugs zu 9 WochenGefängnis verdonnert. Am 1. März 1907 entließ die Sitten-polizei Leipzig die Frieda … - Emilie Hulda … saß 1909 zwei-mal 2 Wochen wegen Diebstahls. 1911 setzte es eine zwei-jährige Bewährungsfrist für Anna Elisabeth … wegen Sitt-lichkeitsvergehens. Im selben Jahr wurde eine Person ausdem Heim verstoßen. Am 1. März 1913 wird Gertrud Agnes… in das Frauenheim Borsdorf „überführt“. 1915 sind am12. Juni Hermine … und Klara … „aus dem Heim entwi-chen“. Der Stadtrat von Falkenhain wurde um Festnahmeersucht. Am 18. Juni sind die beiden 16-Jährigen wieder imhiesigen Mädchenheim abgeliefert worden. - Bedrückung,Angst, Unverständnis, Sehnsucht, Heimweh, Freiheitswilleund Leichtsinn mögen die armen Geschöpfe umgetriebenhaben.Über die 17 Jahre des Bestehens sind diese Fälle nicht soungeheuer viele, selbst, wenn wir nicht alle finden konnten.Wir wollen daher der leitenden Schwester glauben. Sieschrieb 1910 in einem Bericht: „Die meisten Mädchen sindja froh, wenn sie endlich entlassen werden, darüber wirdman sich nicht wundern dürfen. (Es ist) ihnen doch bei uns

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recht gut gegangen und der Aufenthalt hat viele äußerlichund innerlich in die Höhe gebracht. Manche sind auch offendankbar für die Wohltat des Aufenthaltes.“ Die Schwesterwürdigt die „gesetzlichen Bahnen“ sagt aber auch, dass imLande mehr solcher Häuser nötig seien. „Aber anderswobieten sich wohl nicht so günstige Vorbedingungen wie inLunzenau“, schrieb sie. Im Jahre 1923, dem Inflationsjahr, wurde die Genossen-schaft aufgelöst. Genaue Gründe dafür können hier nichtgenannt werden. Finanznot und Einbruch der Produktionmögen die Hauptrolle gespielt haben, zum Leidwesen derZöglinge und Betreuerinnen. Jedenfalls brauchte manWohnungen und die Firma Wilhelm Vogel bat 1924 umStundung der Gewerbesteuer, weil sie sonst den Umbaunicht finanzieren könne. Der Rat gewährte den Aufschubeiner Tranche von 10.000,00 Mark. (1 Goldmark von damalswird mit einem Wert von etwa 17,00 Euro verglichen.) EinGlück war es für die Bevölkerung Lunzenaus und seinerUmgebung, sowie für den Stadtsäckel, dass die Firma dieInflation überlebt hat. Broterwerb war wieder gegeben undSteuereinnahmen flossen. Der haushälterische Vogel schlugdem Bürgermeister vor, den Erlös aus dem Verkauf der 60eisernen Betten und der 60 Anstaltsschränke (Genossen-schafts-Eigentum) mit zum Bau zu verwenden. - 1924erstand die Goldmark aus der Asche der Inflation und dasVermögen der ehemaligen gemeinnützigen Genossenschaftbetrug aus Wertpapieren 3.000,00 Mark. BürgermeisterArnold verwaltete die Sache treuhänderisch. Mit diesem

Kapital und den angesammelten Zinsen erhielt 1936 dieOrtsgruppe der Nazi-Partei das Heim, welches dann einBDM-Heim wurde. (faschistischer Bund DeutscherMädchen) Einiger privater Wohnraum blieb dabei erhalten.Nach Kriegsende und braunem Spuk nutzte der VEB Möbel-stoff- und Plüschweberei sowie der VEB Papierfabrik ab1946 die Wohnungen für Werksangehörige. - Die Geschich-te des markanten Hauses ist eingebunden in die gesell-schaftliche Entwicklung während des Kaiserreiches, derWeimarer Republik, in der Zeit des Dritten Reiches und ineiner danach erhofften besseren Zeit.

Notiz des Herausgebers zum Mädchenheim-Thema:Hans Scheubner geb. 1920, gest. 2003, ehemalsBetriebsleiter des VEB Möbelstoffweberei, wohnte mitseiner Ehefrau Marie ab 1950 per amtlicher „Zuweisung“im Mädchenheim. Marie hat über alle Umbrüche hinwegvon Kind an seit 1924 darin gelebt, sage und schreibe 90Jahre lang. Mit 93 Jahren hat sich unsere Mitbürgerin alseine der letzten Bewohner des Mädchenheims in einAltenheim begeben.

Alles Gute, Marie Scheubner!

Wir danken Herrn Peter Böttger für seine umfangrei-chen Recherchearbeiten im Kreisarchiv und auch durchpersönliche Kontakte!K.M.

Erinnerung an meine Kindheit und JugendGudrun Hantusch (geb. Heinig)

Von den vielen interessanten und schönen Berichten im„Heimatblatt“ inspiriert, kommen auch mir Erinnerungen anmeine Kindheit und Jugend.Mein Arnsdorfer Opa erzählte mir, dass mich der „Klapper-storch“ in ihrem Garten, hinter dem Buchsbaum im Novem-ber 1940 abgelegt hätte. Von meinen Eltern erfuhr ich, dasssich in unserem Haus früher einmal eine „Weinstube“befand.Wir bewohnten am Markt in Lunzenau ein Mehrfamilienhaus.Das Geschäft „Kohlehandel und Fuhrgeschäft“ befand sichin der Altenburger Straße im „Burgkeller“, dem Elternhausmeines Vaters. Die Toiletten waren im Hof, außerhalb desWohnhauses, als „Plumpsklo“.

Im Hof befand sich auch das Waschhaus. Wäschewaschenwar eine manuelle, kraftzehrende Prozedur. Nach dem Kalt-einweichen wurde die Wäsche im Waschkessel gekocht. DieFeuerstelle befand sich unter dem großen Kessel. Wasch-maschinen kannten wir nicht. Beim Wäschekochen mussteman aufpassen, dass der Kessel nicht überkochte. Nachdem Waschen wurde die Wäsche mehrmals in großenWannen gespült, was sehr anstrengend war. In „fortschrittli-chen und modernen“ Haushalten gab es eine Wringmaschi-ne. Bei Liebers in der Friedensstraße oder bei Milch-Richtersin der Bachgasse konnte man die Wäsche schleudern. Dazuwurde die Wäsche in Eimern oder Wannen mit dem Hand-wagen dorthin gebracht. Die große Metalltrommel mitnasser Wäsche wurde durch Handkurbel gedreht und dabeiziemlich trocken geschleudert. Manche Hausfrauen legtendie weiße Wäsche auch zum Bleichen auf die Wiese, wo siemehrmals befeuchtet wurde.Die große Zinkwanne, ca. 1,70 m lang und ca. 0,70 m breit,wurde einmal in der Woche, meist am Wochenende, vomWaschhaus durch den Hausflur, die Treppe hochgehievtund in unserer kleinen Küche aufgestellt. Etliche Töpfe mitheißem Wasser standen auf dem Küchenherd, auch in derim Ofen befindlichen Pfanne war heißes Wasser. Damitwurde die Wanne gefüllt und es erfolgte der Reihe nach dasBaden. Nach Ende dieser Zeremonie wurde die Wanne perHand und Gefäß leer geschöpft, das Badewasser „landete“im Ausguss auf dem Hausboden.Während des Krieges, bei nächtlichem Fliegeralarm, holtemich meine Muttel aus dem Gitterbett. Wir suchten im Kellerunseres Hauses Zuflucht mit den anderen Hausbewohnern,Aufnahme ca. 1945 meine Eltern und ich

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auf engstem Raum. Zusammengedrängt, bei Kerzenschein,warteten wir mit bangen Herzen, bis der Spuk endlich vorbeiwar.Für den Kriegsdienst wurden Fahrzeuge eingezogen, u. a.unser Omnibus mitsamt Fahrer Onkel Kurt. Mein Papaäußerte diesbezüglich: „Macht keinen Krieg, wenn ihr nichtshabt.“ Dafür kam er für eine Zeit nach Bautzen in Haft. MeineMuttel führte das Geschäft weiter (Kohlehandel und Fuhrge-schäft).Ich erinnere mich noch, dass Marcel, Jean und Louis, 3Franzosen, bei uns arbeiteten. Mein Papa war indes auch imKrieg. Die Franzosen hatten im „Burgkeller“ Kost und Logis.Sie fuhren Lkw und arbeiteten mit den Pferden, d. h. derKohlehandel und das Fuhrgeschäft liefen weiter. Nach demKrieg schrieb uns Louis noch aus seiner Heimat. Frau Brück-ner, eine ehemalige Lehrerin, übersetzte die Briefe. Siewohnt bei Schirrmeisters in der August-Bebel-Straße mitihren Kindern Gisela und Albrecht. Letzterer war mein Schul-freund. Er lebt heute in den USA.Als nach dem Krieg viele Menschen eine neue Heimat such-ten, weiß ich noch, dass in unserem Haus im Erdgeschoss(jetzt Büro von REGIOBUS) eine Familie mit 4 Personenvorerst eine dürftige Bleibe fand. Ein ehemaliger Soldat inverblichener Uniform suchte bei meinen Eltern Arbeit undfand sie auch. Ihm überließ meine Muttel Zivilkleidung, dieleider nicht neu war.

Arnsdorf verbrachte. Opa hatte einen kleinen Bauernhof miteinem Schimmel. War das ein Erlebnis, wenn ich mit Opa unddem Pferdefuhrwerk nach Lunzenau in die „Stadtmühle“,„Mittelmühle“ oder „Böttgermühle“ fahren durfte. In der„Stadtmühle“ (gegenüber Drogerie Meister) nahm michmanchmal Herr Gellert oder Frau Herrmann im Fahrstuhl mit.Zur „Sägemühle“ Bauer nahm mich Opa auch mit. DieSägemühle stand etwas vor dem Freibad und wurde irgend-wann zurückgebaut. Das dazugehörige Wohnhaus stehtheute noch.Onkel Kurt hatte aus Frankreich einen Tretroller mitge-bracht, das war für uns Kinder eine Sensation.Nach der Getreideernte zierten viele „Puppen“ die abgeern-teten Felder. Das waren mehrere zusammengestellte,gebündelte Getreidegarben. Weil das Essen sehr rar war,suchten Ährenleser die abgeernteten Felder ab. Auch aufKartoffelfeldern wurde damals gestoppelt.Unsere Omnibusse fuhren im Werksverkehr im Buna-WerkHalle. Dadurch erhielten wir Deputatgas in Flaschen für Lkwund Pkw. Benzin- und Dieselmarken gab es kontingentiertund diese waren nur durch die ATG erhältlich. Das Bürodazu war im Rathaus, Fräulein Bauer und Herr Karle arbeite-ten dort.Das Stadtbild prägten vorwiegend Pferdefuhrwerke alsVerkehrsmittel. Als Mietwagen fuhren noch Liebers und ichglaube Herr Krug. Ich erinnere mich noch an Herrn Scheub-ner, der die großen Papierrollen mit dem Pferdefuhrwerk vonder Fabrik zum Bahnhof Lunzenau transportierte.Die Bauern Scheubner, Sparbert und Matthes hatten eben-falls Pferde, auch Kohlen-Seidels und Kohlenhändler Frie-drich (später Jordan) sowie Kohlenhändler Walter, BauerJahn in der Karl-Marx-Straße und Herr Götze neben demKino „Tivoli“ hatten ein Pferd. Ach, da fällt mir ein, auchSpediteur Walter Hofmann mit Sohn Arthur hatte 2 Pferdeund später einen Traktor.Das war die Zeit, wo Sperlinge paradiesische Zeiten hatten.Leider vermisse ich heutzutage diese kleinen gefiedertenFreunde.Ebenso freuten sich die Kleingärtner über die vielen „Pfer-deäppel“ und sammelten diese ein.Neben der Apotheke, stadteinwärts, befand sich ZschachesSchmiede. Die Pferde erhielten hier „neue Schuhe“. Auchein Ziegenbock versprühte seinen Duft.Zu Hochzeiten und Kindtaufen wurde teilweise mit demLandauer gefahren. Ebenso wurden Verstorbene von zuHause zum Friedhof mit dem Leichenwagen gefahren.Damals gab es dafür in Lunzenau noch kein Auto. DieserWagen war schwarzfarbig mit teilweise mattsilbernen Dekorund seitlich befindlichen geschliffenen Glasscheiben. DieLeichenträger trugen eine livreeartige Uniform mit dazupassendem Hut.In meiner Kindheit gab es keine Müllabfuhr per Auto. Nein,das wurde mit Pferden und Wagen erledigt. Die „Aschebut-ten“ wurden von Männern per Hand auf den Aschwagengekippt. Die Abfuhr erfolgte im Winter wöchentlich. DerAscheabladeplatz befand sich ungefähr in der Nähe, woheute der Reiterhof Meinig ist.Albert Pfefferkorn zog mit dem Handwagen sowie mitSchaufel und Besen ausgerüstet, durch die Stadt und sorg-te für Sauberkeit.Wir haben als Kinder auf dem Markt gekreiselt.Im Güterbahnhof Lunzenau arbeitete Herr Viola. Bei demmusste ich die Frachtbriefe für die erhaltene Kohle abgeben.

Meine Muttel fuhr Mietwagen. Sie war viel unterwegs mitOpel P 4, Olympia, Kadett oder dem Adler (6-Sitzer). Sie fuhrnach Chemnitz, Dresden, Leipzig o. ä. Oft durfte ich mitfah-ren, wenn Platz war. In Chemnitz sehe ich heute noch vormeinem geistigen Auge die zerbombte Stadt und die vielenTrümmerberge.Meine Vorschulzeit verbrachte ich u. a. im Kindergarten.Dieser befand sich damals beim Dr.-Max-Vogler-Park,später Schulhort, heute Grundstücke Meinig. Tante Liesbeth(Frau Weidner) war eine sehr liebe „Ersatzmutti“. Frau Mannwar wohl „Tante“ oder „Köchin“. Damals war da oben noch viel freies Feld, von AWG (jetztWohnungsgenossenschaft) keine Spur. Wenn meine Muttelmich morgens schon vor der Öffnungszeit brachte hatte ichein mulmiges Gefühl, bis endlich eine „Tante“ kam.Wenn bei uns zur „Hofarbeit“ kein Mann zur Verfügung stand,musste Muttel oder Tante Hanna diese Arbeit tun (Kohlenschaufeln). Viel Zeit für die Familie war bei uns leider nicht. Sokam es, dass ich meine Kindheit auch bei Oma und Opa in

Aufnahme August 1949 links der Mietwagen, mit dem meineMutti auch Hochzeitsgesellschaften zur Trauung in dieKirche fuhr

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Zu dieser Zeit kamen Brennstoffe wie z. B. Brikett, Siebkoh-le und Eierbrikett per Bahn an. Die Bahnhöfe Lunzenau,Cossen und Langenleuba-Oberhain waren stark befahren.Nicht nur Güter wurden befördert, sondern auch vieleMenschen benutzten die Bahn und fuhren größtenteilsdamit zu ihrer Arbeitsstelle.Torfsteine wurden per Landabsatz (Lkw) geholt und demLkw direkt zum Verbraucher gebracht. Unsere Mitarbeiterwaren telefonisch nicht erreichbar und wenn abends oder anSonn- und Feiertagen Kohlen ankamen, sagten meine Elternpersönlich Bescheid bei den Mitarbeitern (es gab nicht injedem Haushalt ein Telefon). Diese Waggons mussten soschnell wie möglich entladen werden. Die Zeit dafür warvorgegeben, wenn diese überschritten wurde, musste„Standgeld“ gezahlt werden. Es gab kein Förderband. DieKohle wurde per Hand mit Schaufel oder Gabel entladen.Das war Knochenarbeit. Meine Eltern konnten sich immerauf unsere fleißigen, zuverlässigen und treuen Mitarbeiterverlassen.Außer Kohle fuhren unsere LkW auch Milch von den umlie-genden Dörfern (u. a. Jahnshain, Linda, Meusdorf, Rathen-dorf) zur Molkerei Lunzenau.Infolge der Kohleheizung strömte aus den Schornsteinengiftiger Qualm. In der Stadt war „dicke Luft“. Die Luft war aufdem „Biesig“ viel besser. Von Dr. Henning wurde erzählt,dass er seinen Patienten zum Gesundwerden Spaziergängezum „Biesig“ verordnete.Familie Freudenberg führte im Erdgeschoss meines Eltern-hauses ein Ladengeschäft für Haushalt-, Glas und Küchen-artikel u. v. m.Neben dem Laden befand sich ihr Wohnzimmer. Vor demgroßen Mittelfenster standen wir ängstlich, als die Panzermit ohrenbetäubendem Lärm über den Lunzenauer Marktrollten. Uns klopfte vor Aufregung das Herz bis zum Hals.Ein Panzer drehte sich kreisförmig während der Fahrt.Damals standen 2 Tankzapfsäulen auf dem Markt, eine vorunserem Haus und eine vor dem Haus der Familie Weck. EinGlück, dass der Panzer diese nicht umgerissen hat.Frau Posern, die damals im Eckhaus (ehem. SchuhgeschäftGötze) ein Ofengeschäft führte, betankte später die Fahr-zeuge der MTS und LPG mittels dieser Tanksäulen.Im Friseurgeschäft Stein, neben dem „Sächsischen Hof“stationierte sich die russische Kommandantur. Das Friseur-geschäft wurde neben uns, im Haus Bretthauer, eingerich-tet. Auch Dr. Henning hatte in diesem Haus seine Praxis.Meine Muttel fuhr des Öfteren russische Offiziere u. a. auchnach Bad Elster. Auf so einer Fahrt mit dem Kadett hatte sieirrtümlich die Papiere vom P4 dabei. Bei der Kontrolle wurdedies festgestellt und der Pkw wurde beschlagnahmt. Trotzsofortiger nachfolgender Vorlage der richtigen Papiere bliebder Pkw konfisziert.Von 1947 bis 1955 besuchte ich die Schule Lunzenau. Gerndenke ich an diese Zeit zurück. Zwischen Jungs undMädchen gab es wenig Streit. Ich habe im Schulchor mitge-sungen und war auch kurzzeitig im Schulorchester unter derLeitung von Herrn Ludwig. Aber wie das so ist, da gab esauch noch anderes und ich habe das Flötespielen nicht zugenau genommen, sehr zum Missfallen meiner NachbarnManfred W. Herr Ludwig hat das nicht bemerkt - zum Glück.Unsere Pferde vertilgten allerhand Futter, was es damalsnicht reichlich gab. Meine Eltern pachteten deswegen diegroße Wiese im Heinrich-Heine-Park, gleich nach demEingang rechts. Später standen dann zum Parkfest Karus-

sells, Schießbude u. a. dort. Auch unterhalb der Turnhalle ander Altenburger Straße, diese „hängende Wiese“ pachtetenmeine Eltern. Ehe ich mit ins Freibad durfte, war erstHeuwenden bzw. Einfuhr angesagt. Dies hat mir wenigerFreude bereitet. Viel lieber wäre ich mit meinen Freundinnenins Bad gegangen.Vorbei am „Schützenhaus“ und dort bei „Amme Gustl“ erstschnell noch eine Himbeer- oder Waldmeisterlimonade getrun-ken. Der Hersteller diese Limo, Herr Paul Friedrich, fabriziertediese in der Friedensstraße. Mit seinem Pferdegespann belie-ferte er auch die Gaststätten. In „Sittners Gaststätte“ Göhrenregistrierte der Gastwirt Herr Salomo die Bestellung von Limounter dem Pseudonym „Pau-Frie-Lu“ (Paul-Friedrich-Lunze-nau, früher Bier-Hainichs in der Friedensstraße).Das „Muldenschlößchen“ Lunzenau wurde eine Zeit langvon Herrn Benno Koch mit Gattin und Ober Fritz bewirt-schaftet. Als es dann in unserer Republik schon „aufwärts“

Juli 1952 Schulausflug mit unserem Klassenlehrer HerrnSittner und Gattin

1. Mai 1952 Kundgebung auf dem Markt

Juli 1953 Klassenfoto auf dem Schulhof

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ging, verkaufte Herr Koch Speiseeis durch das Küchen-schiebefenster, für uns Kinder war das großartig.

Schreibwaren- und Büchergeschäfte, 2 Drogerien, 1 Eisen-warenhandlung, Kolonialwarenläden Textil- und Kurzwaren-geschäfte u.v.m. In 5 Familienbetrieben wurden Zigarrenhergestellt. (s. Anhang)Mit meinen Freundinnen Brigitte A., Helga H. Karin L. Moni-ka L. sind wir mit Puppe und Wagen im Heinrich-Heine-Parkzum Spielen gewesen. Dabei kann ich mich noch an einenetwa 2 m hohen Holzzaun erinnern, der straßenseitig denPark begrenzte. Im Winter sind wir im Park Schlitten gefah-ren, ebenso im Richtergrund oder als „Anhänger“ von derAugust-Bebel-Straße oben über die Friedensstraße bis zurDr.-Otto-Nuschke-Straße. Da musste man aufpassen, dassdie Kurve gelang, sonst - oh Malheur … Autos brauchten wirnicht zu befürchten, es fuhren keine. Wo jetzt an der Rochlit-zer Straße NETTO und das Seniorenheim stehen, war eine„Schneeschuhpiste“. Meine Freundin Ingrid T. beherrschtediese Strecke meisterhaft.Wir haben mit Puppen und im Winter mit der Puppenstubegespielt. Viel Zeit verbrachten wir mit Lesen und Brettspie-len. Wenn es auch materiell nicht gut aussah, aber wir hatteneine schöne, unbeschwerte Kindheit und Schulzeit. ZumSpielen war es bei Höligs auf dem Backofen schön warm.Frau Ackermann legte auf den Hausboden Filzdecken -diese waren „unsere Wohnung“. Fernsehen oder Handyfehlten uns nicht. Über den Elsbach führten 2 Fußgänger-stege zum Kellerberg, dort spielten wir Verstecker. DerElsbach wurde angedämmt und selbstgebaute, kleinePapierschiffe segelten den Bach entlang.Meine Freundin Gerlinde musste im Sommer die Kühe undSchafe vom Bauernhof am Markt über den Markt zur Wiesean der Friedensstraße treiben. Am Tivoli-Kino vorbei ernte-ten wir dabei von manchen Jungs spöttische Bemerkungenund Hänseleien.Als wir 1955 die Schule verließen trennten sich unsereWege. Doch die Freundschaften von damals bestehen z. T.heute noch. Meine Schwester wurde 1954 geboren. ZuHause gab es viel zu tun, so dass ich im elterlichen Geschäfttätig war.

Im Frühjahr und Herbst fand auf dem Markt Jahrmarkt statt.Zu diesem Anlass war Herr Solarz aus Penig mit seinemEiswagen vertreten. Ich sehe heute noch, wie sich die rundeScheibe hinter der Eismaschine drehte und eine bunte, ring-förmige Spirale entstand. Das Eis schmeckte vorzüglich. Vordem Schlafzimmer meiner Eltern wurde die Berg- undTalbahn aufgebaut. Die Musik dudelte den ganzen Tag bisabends spät. Abends liefen die beliebten Schnelltouren, diedurchs Mikrofon angekündigt wurden. In Richtung Kirchestanden Katzschmanns mit ihrem Kinderkarussell. Dies warbestückt u. a. mit Miniautos-, Motorrad, Fahrrad, Omnibus,Hubschrauber, Feuerwehrauto mit Leiter und Klingel u. a. m.Anschließend stand die Kahnschaukel, teilweise rundherumdrehbar. Auch Kettenkarussell und Riesenrad warenmanchmal mit vertreten.Vor der Fleischerei Roscher (heute Seyferth) stand einKasperle-Theater. Der Eintritt betrug 20 oder 50 Pfennige,genau weiß ich es nicht mehr. Auch Schitoffs „Reitschule“war u. a. mit vor Ort. Herr Schitoff war manchmal nicht ganznüchtern. Später „gastierte“ er noch auf dem Mendelssohn-platz. Die Jahrmarktsbuden standen von der Kirche bis zurFriedensstraße. Eine manche „Wundertüte“ erfreute dasKinderherz.Im Oktober, zum Herbstjahrmarkt, kam es vor, dass bei derBerg- und Talbahn vom Dach Schnee gefegt werdenmusste. Ich glaube, eine Karussellfahrt kostete 20 Pfennige. In der Schule gab es Schulspeisung in Form eines Roggen-brötchens. Dieses kostete täglich 5 Pfennige. Es gab Kinder,deren Eltern diesen Luxus nicht bezahlen konnten. Fast alleLebensmittel, auch Brot, gab es auf Marken, wie auchBrikett und Holz. Die Marken wurden 10 x 10 geklebt und beider Behörde abgerechnet.In Lunzenau wurden in zwei Kinos Filme gezeigt. Wenn im„Sächsischen Hof“ Maskenball stattfand, standen wirKinder an der Toreinfahrt und bestaunten die maskiertenund lustig verkleideten Tanzpaare. Im Kulturhaus fand oftTanz statt. Am 1. Weihnachtsfeiertag war Feuerwehrball. ImGasthof Cossen war wöchentlich Tanz, der manchmal in„Nahkampf“ ausartete. Auch im Gasthof „Zeisig“ wurde dasTanzbein geschwungen.In unserem Städtchen herrschte geschäftiges Treiben. Vielekleine Läden belebten die Stadt. Ich glaube es gab u. a. 7Friseurgeschäfte einschl. Barbiere, 6 Tischler, 11 Bäcker, 6Fleischer, 5 Gärtnereien, 4 Maßschneider, 1 Kürschner,

Ich glaube es war das Jahr 1956, als wir vom Rat des Krei-ses Rochlitz beauftragt wurden, die Omnibuslinie Lunzenau- Rochlitz und Lunzenau - Bahnhof Cossen zu eröffnen. Wirfuhren 4.50 Uhr zum Bahnhof Cossen für 30 Pfennige/Fahrt.Zum Markt Rochlitz kostete die Fahrt 1,45 Mark und begann6 Uhr. Ich verdiente 1,05 Mark/Stunde.Es herrschte viel Betrieb bis Cossen und ich hatte zu tun, alleFahrgäste abzukassieren. Auch nach Rochlitz beförderten wirviele Fahrgäste. Die meisten hatten eine Wochenkarte.

Bildmitte - unser Wohnhaus Markt 16

Schulentlassung 1955

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Meine Eltern hatten in all den Jahren keinen Urlaub. Wennbei Oma und Opa ein- bis zweimal im Jahr Schlachtfest war,nahmen sich meine Eltern einen halben Tag frei. Das warimmer ein schönes Familienfest.In unserer betriebseigenen Werkstatt wurden die Fahrzeugerepariert. Die Schlosser mussten erfinderisch sein, Ersatztei-le waren Mangelware, wie auch viele andere Dinge. Dasführte dazu, dass betriebsübergreifende Hilfsbereitschaft undSolidarität herrschte und auch sonst oft im Alltag vorkam.Außer dem Linienbetrieb fuhren unsere Busse Schichtarbei-ter/innen für die Spinnerei Amerika. Auch Sonderfahrteninnerhalb der Republik wurden durchgeführt.Einige Jahre war ich Mitglied der BSG „Fortschritt“ Lunzen-au, Sektion Kegeln. Die Krönung unserer sportlichen Lauf-bahn war die Teilnahme als Amateurmannschaft beimSportfest in Leipzig. Das Kulturhaus verfügte über eineKegelbahn. Im Hof dieses Grundstückes wurde später nocheine Doppel-Kegelbahn errichtet und viele Wettkämpfewurden ausgetragen. Herr Hans Günther war unser Trainerund mit Willy Werner, der Lkw-Fahrer der Möbelstoffwebereiwar, sind wir auf dem Lkw sitzend zu Wettkämpfen nachKarl-Marx-Stadt und ins Erzgebirge gefahren.Die Entlohnung im volkseigenen Sektor war wesentlichbesser als im privaten Gewerbe. Mein Papa zahlte unserenMitarbeitern deswegen auch „Lohn auf die Hand“, das warSteuerhinterziehung. Wir wurden 1960 enteignet und Papawurde zu 11 Monaten Haft verurteilt.Mein Mann und ich fanden in der Lunzenauer MolkereiArbeit. Auch trotz negativer Geschehnisse lebe ich gern hier.

Anmerkung: Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständig-keit. Sollte ich einige erwähnenswerte Menschen nichtgenannt haben, war das nicht meine Absicht.

Bäcker01. Hertel02. Müller03. Meinig04. Wüstner05. Seidel06. Schöllhammer07. Mothes08. Lippold09. Hermsdorf10. Hölig11. Blaue

Fleischer01. Krasselt02. Auer03. Roscher04. Killig05. Vogler06. Mehnert

Gärtner01. Dähne02. Willy Mende03. Arthur Mende04. Müller (Geisler)05. Arnold

Schneider01. Rebl02. Nitzsche03. Werner04. Hofmann

Friseur/Barbier01. Hoppe02. Krumbiegel03. Stein (Eichhorn)04. Eckhardt05. Opitz06. Petzold07. Günter

Tischler01. Schulze02. Frommhold03. Kunze04. Keppler05. Schröder06. Zink

Zigarrenmacher01. Schindler02. Seyfert03. Hofmann04. Zschämisch05. Steinbach

Eine Taube macht noch keinen Sommervon Karin Scheubner

Auf gelegentlichen Spaziergängen verweile ich oft vor einemGrundstück, auf dem sich ein großer Taubenschlag befin-det.Das Gurren dieser Tauben erinnert mich daran, dass in den50-iger Jahren in Lunzenau Taubenliebhaber den „Vereinder Brieftaubenzüchter“ gründeten.Mein Stiefvater, Paul Harrasch, gehörte zu den Gründungs-mitgliedern. Ich erinnere mich außerdem noch an MaxBothe, Gerd Berthold, Walther Dörrer, Hans Metzler.Durch die Vereinsgründung wurde die Futterzuteilung für dieTauben abgesichert. Denn vieles gab es zu dieser Zeit ja nurdurch „Zuteilung“.

Die Liebhaberei meines Stiefvaters brachte insbesonderefür mich, ich war damals ungefähr 10 Jahre alt, in denSommermonaten einen für mich unliebsamen Umstand mitsich.Dieser ist eigentlich die Ursache, weshalb ich mich beiTaubengurren an den Brieftaubenverein erinnere.An bestimmten Wochenenden hatte ich nämlich Ausgehver-bot weil „Taubenfliegen“ war.Brieftauben verschiedener Vereine wurden an einen vorherbestimmten Ort gebracht, dort raus gelassen und musstendann ihren heimischen Taubenschlag schnellstens wieder-finden. Die teilnehmenden Vereine mussten ihre Tauben

vorher nach strengen Regeln beringen.Die schnellste Taube aller teilgenommenen Vereine wurdenach einem mir nicht bekannten Prinzip ermittelt. Vorausset-zung dafür war eine bestimmt Uhr, zu der der Ring derangekommenen Taube dann gebracht werden musste.Diese Aufgabe oblag im Laufschritt mir und zog sich solange hin, bis alle mitgegebenen Tauben wieder da und dieRinge in der Uhr waren. Anfänglich gab es bei den Vereins-mitgliedern in Lunzenau nur 1 solche Uhr, die bei einemMitglied stationiert war. Die überbrachten Ringe wurdendann in dieser Uhr zeitlich registriert. Der Weg jedes einzel-nen Teilnehmers zu dieser Uhr (ob zu Fuß, mit dem Fahrrad,oder Moped) wurde vorher genau zeitlich vermessen unddann verrechnet.

Auch der Umstand, dass manchmal eine Taube aus unse-rem heimischen Taubenschlag (nach der Listenauswertung)zu den schnellsten gehörte, versüßte mir den nächstenHausarrest wegen Taubenfliegen nicht.Und so war ich sehr froh darüber als meine Eltern einesTages beschlossen, wir sparen auf eine eigene Uhr, wasnatürlich mit Verzicht auf andere Dinge verbunden war.Ich weiß nicht, ob es heute in Lunzenau noch einen Brief-taubenverein gibt, das Gurren von Tauben wird jedenfallsmeine Erinnerung an den damaligen wachhalten.

Gewerke in Lunzenau um 1950

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Schlammschlacht in LunzenauGerhard Sittner

Keine Bange, ich habe nicht die Absicht, aus dem Nähkäst-chen der Lunzenauer „High Society“ zu plaudern. Schlamm-schlacht war ein Sommerferienvergnügen. Der Elsbach (deBache) war noch nicht „verpflastert“. Auf schlammigemGrund wuchs „Fischfutter“ und im Wasser tummelten sichFische, die wir „Dreckschmerlen“ nannten. Wir, das warenHorst Hildebrand(t?), Horst Baier (gefallen), Heinz Baier,Herbert Harzendorf (Fanuz), Heinz Werner (Schnecke), RolfNitsche (gefallen), Hans Finsterbusch, Werner Müller ausDöbeln (Bocks Werner), der seine Ferien bei seinen Großel-tern Bock verbrachte, die in der „Linde“ wohnten, HeinzUhlig (wer von ihnen lebt noch?) und ich. Wir holten uns alteEimer vom Schutt und füllten sie mit Schlamm aus demElsbach. Spielplatz war die Brücke, die von der AltenburgerStraße zum Schäfereiweg führt. Das erste Haus war dieSchürzenzentrale Harzendorf. Wir bildeten zwei Parteien.Eine bezog auf der Brücke Stellung, die andere unter derBrücke. Die Partei unter der Brücke versuchte ihren Stel-lungsnachteil beim Schlammwerfen durch List und über-fallartige Angriffe auszugleichen. Wenn die Eimer leer waren,füllten wir sie erneut, wechselten die Stellungen und dienächste Schlammschlacht begann.

Hört doch mal zu!

Oh ihr Menschen, soll ich's wagenund Euch diese Worte sagen?

Ob Ihr's wollt oder auch nicht,ich denke, es ist meine Pflicht.

Ich liebe den Menschen, die Tiere, die Pflanzen.Ich liebe Himmel und Erde im Ganzen.

Von Intelligenz zeugt dies alles,doch werden wir´s schätzen und worauf unsere Zielesetzen?

Man stellt schnell fest, die meisten verfehlen das Ziel,denn ohne nachzudenken tun sie das Schlechte zuviel.

Sie frönen dem Mammon und all den Gesellen,wie Neid und Hass an vielen Stellen.

Geldgier und Macht wird allem vorangestellt,egal, ob eines Tages alles zusammenfällt.

Warum ist so mancher nicht auf dem Teppich gebliebenund ist auch mit etwas weniger zufrieden?

Warum reicht nicht der eine dem anderen die Hand,so käme man doch viel besser durch's Land.

Obwohl jeder die Fähigkeit hat zu vergeben,wird alles getan, ihm zu erschweren das Leben.

Was ist nur los mit dem menschlichen Gehirn,es ist doch perfekt, oder sollt ich mich irr'n?

Seid Ihr zu keinen Kompromissen bereit,so kommt ihr im Leben nicht sehr weit.

Nichts reicht uns mehr aus, immer mehr wird gebraucht.Die Erde wird ihrer Ressourcen beraubt.

So sollten wir von ihr nicht nur nehmen,sondern ihr auch die Luft zum Atmen geben.

Wartet nicht, bis alles zerbrichtund das letzte Lichtlein gänzlich erlischt.

Vergebet einander und wachet nun auf,seit etwas bescheidener, Mensch und Natur wartendarauf!

W. J. Heber/Burgstädt ♥ 2014

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Aus der Heimat – Die Göhrener Brücke Werner Nitzsche

Es war nach dem Krieg in dem 40iger Jahren. Die Leutegingen sonntags wieder spazieren. So war es auch bei uns.Mein Opa Max bestimmte immer wo es hin ging und das wargut überlegt. Es wurde der gute Zwirn angezogen,einSchlips umgebunden und mit Oma und Spazierstock ginges Richtung Göhren. Ich weiß es noch genau,denn ich hatteauch einen kleinen rosa Kinderspazierstock. Natürlichmusste ich mich noch nicht stützen und so nahm ich denStock um unterwegs an dem Wegrand damit alles zu entfer-nen, was da gerade im Wege war. Also es ging durch denEichberg an der Mulde entlang mit dem Ziel noch einen Platz in Sittners Gasthaus zu bekommen. Die Gaststätte warfür mich als Kind damals ein höchst interessanter Ort.Hatten wir dann im Biergarten Platz gefunden, war meinBlick und mein ganzes Interesse auf die große Eisenbahn-brücke über die Mulde gerichtet. Wenn dann noch ein Zugüber die Brücke fuhr, hatte ich immer ein Gänsehautgefühl.So etwas vergisst man nicht und im Alter kommen dann dieErinnerungen an diese Zeit. Der Biergarten oder die Wirt-schaft war eben immer ein Grund nach Göhren zu spazieren.Bei dem Bier, meine Oma wollte immer noch Zucker in dasBier und ich Limonade, wurde dann aber diskutiert. DieLeute hatten sich viel zu erzählen,nur das Thema war ebenein anderes. Nun aber zurück zu dem Bauwerk Brücke oderrichtiger Viadukt. Es hat mich mein ganzes Leben langimmer wieder fasziniert und mein Interesse geweckt etwas

darüber zu recherchieren. Das will ich hiermit tun.

Die Göhrener Brücke hat Geschichte geschrieben zu gutenwie zu schlechten Zeiten. In guten Zeiten überqueren dieZüge von Chemnitz nach Leipzig zweigleisig das monumen-tale Bauwerk. Aber schlecht zu betrachten war die Tatsachedas sich auch Selbstmörder nachweislich in die Tiefegestürzt haben. Nun aber etwas über die Brücke selbst. Esist zu seiner Zeit der drittgrößte Monumentalbau der Eisen-bahngeschichte in Deutschland. Das Göhrener Viaduktgehört daher zu den imposantesten Brückenbauten aus derFrühzeit des Eisenbahnbaues. Es verbindet den Wechsel-burger Ortsteil Göhren und den Lunzenauer Ortsteil Cossenmiteinander. In einer Höhe von 68 m und zwei Etagen über-spannt sie heute die Zwickauer Mulde in einer Länge von381 m. Die Grundsteinlegung erfolgte am 27.Mai 1869 undbereits zwei Jahre später die Fertigstellung. Zeitweise wurdean dem imposanten Bauwerk mit bis zu 5000 Arbeitern und340 Pferden gearbeitet. Bis zu der Sanierung in den Jahren1982 bis 1986 betrug die ursprüngliche Länge sogar 512 m.Heute fährt immer noch die Bahnlinie Chemnitz – Leipzigüber die Göhrener Brücke.

Liebe Freunde des Heimatblattes das war es für dieses Mal.Das nächste Jahr wieder etwas aus unserer Heimat. Bleibtalle gesund oder werdet es. In alter Frische.

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Das Kriegsende in Lunzenau am 15. April 1945Wolfgang Bönitz

In diesem Jahr jährte sich nun schon zum siebzigsten Malmit dem Einzug der US-Truppen das Ende des Krieges inunserer Region. Die Monate des letzten Kriegsjahres warenfurchtbar, die Zahl der Luftangriffe nahm außerordentlich zu,Dresden, Plauen und Chemnitz wurden u. a. stark zerstört,Flüchtlinge aus dem Osten des Landes, aus Schlesien undPommern zogen mit Pferdewagen in langen Kolonnen durchdie Städte und Gemeinden, aber sie wussten nicht wo siebleiben konnten. Das deutsche Verkehrssystem wurde fasttotal außer Betrieb gesetzt, Eisenbahnbrücken, Tunnel, dieüberwiegende Zahl der Lokomotiven, Signal- und Stellwer-ke, Werkstätten und Instandsetzungsbetriebe wurdenvernichtet. Von den ca. 400.000 Luftkriegstoten des gesam-ten Krieges ließen allein in den letzten 12 Wochen 120.000Menschen ihr Leben. Wurden im gesamten Kriegsjahr 1944650.000 Tonnen Bomben abgeworfen, so fielen 1945 alleinin den vier Monaten bis zum Kriegsende 500.000 Tonnen!In der Bevölkerung wurde angstvoll gerätselt, wer wohlzuerst in unsere Heimat einrücken würde - die Truppen derWestalliierten oder die Rote Armee? Aber wir hatten noch einmal Glück - es waren die Einheitender US- Armee.Am 11. April war der Unterricht in den Schulen in der Umge-bung zu Ende, denn die amerikanischen Truppen kamenimmer näher. Am 12. April, einem Donnerstag, wurde ich -damals knapp 14 Jahre alt - aufgefordert, die Beräumungvon Waffeneinlagerungen zu unterstützen, um sie unschäd-lich zu machen. In der Reithalle in Hohenkirchen lagerten z.B. noch viele Panzerfäuste. Am Freitag besuchten meineMutter und ich meine Großeltern in Oberelsdorf. Plötzlichfuhren mit dem Fahrrad ca. fünf Pimpfe, alle in meinem Alter,am Haus vorbei in westliche Richtung. Sie hatten Kleinkali-bergewehre und einige Panzerfäuste umgehängt. An derSpitze fuhr der SS - Mann Pütz, der seit 1944 der Schule inLunzenau zugeordnet war. Als er mich sah, forderte er michauf, mitzufahren und Deutschland noch zu retten! MeineMutter, ich sehe die Szene noch genau vor mir, winkte ener-gisch ab. „Der bleibt hier“! Er bestand nicht auf meinHeldentum und die Gruppe fuhr weiter. Nach etwa zweiStunden rasten die fünf Pimpfe auf dem Fahrrad wiederzurück. Alle Waffen hatten sie weggeworfen. SS- Pütz warnicht mehr dabei, er war auch abgehauen. Gut, so kamendie Jungs wenigstens mit dem Leben davon. Sie hatten dieamerikanischen Truppen gesehen, und bei deren Mengeund Ausrüstung war ihnen doch das Kämpferherz in dieHose gerutscht. Die amerikanischen Soldaten waren, wieich später feststellen sollte, von solchen fanatisierten Hand-lungen ganz junger Burschen sehr beeindruckt. Ihre erstenFragen lauteten fast immer: „Did you belong to the Hitlery-outh or even to the Werwolf“? (Gehörtest du zur Hitlerjugendoder sogar zum Werwolf). Sie wollten auch nicht glauben,dass die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend obligatorischwar.Am Sonnabend konnten wir den noch weit entferntenGeschützdonner hören. Alle Lebensmittelhändler hattenoffizielle Order erhalten, die Lager weitgehend zu räumenund die Lebensmittelkarten im Voraus zu bedienen. So stan-den wir überall an und hatten gar keine Zeit, die flüchtendendeutschen Truppen ernsthaft zu betrachten. Ausgemergelteund unausgeschlafene Männer, die wohl nicht wussten,

warum sie nun eigentlich noch ihr Leben riskieren sollten.Einige beherzte Bürger, darunter der Arzt Dr. Langowski undder seinerzeitige Betriebsleiter der Graetz AG, Voigt sowieder Bauunternehmer Stein aus Oberelsdorf konnten verhin-dern, dass Lunzenau von einigen Typen - darunter auch derBetriebsleiter der Strumpffabrik Hohenkirchen, Kupfer -noch in Kampfhandlungen einbezogen und sogar dieMuldenbrücke zur Sprengung vorbereitet wurde. Am Sonntag, dem 15. April 1945, gegen 12 Uhr 30, fuhr dererste amerikanische Jeep langsam an unserem Fenstervorbei. Ihm folgte ein unaufhaltsamer Strom an Panzern,beladenen LKW und anderen bewaffneten Fahrzeugen. Dasging stundenlang, ja eigentlich tagelang, so. Manchmalstockte der Tross und wir hatten Gelegenheit, neugierigerste Kontakte aufzunehmen. Am Nachmittag gab es nocheinen ernsthaften Zwischenfall. Ein Flugzeug, wohl einFieseler Storch, ein langsames Aufklärungsflugzeug derdeutschen Luftwaffe mit der Kampfeignung eines Kanin-chens, versuchte noch einige kleinere Bomben auf denamerikanischen Tross abzuwerfen. Die Amerikaner brüllten:„Get off the road“ (Runter von der Straße) und brachten ihrelangsam tackernden Flugabwehrkanonen zum Schuss. Sietrafen nicht, aber dafür kam der Pilot des Fieseler Storchnoch zum Abwurf und traf; aber keine amerikanischen Fahr-zeuge! Er traf in Oberelsdorf ein kleines Häuschen, dasvöllig zerstört wurde und durch umherfliegende Bombens-plitter noch acht auf der Straße stehende Einwohner, diesich die vorbeiziehenden US-Kolonnen aus der Nähe anse-hen wollten. Es waren nur Frauen und alte Männer. EinSoldat war nicht dabei. Die acht Toten wurden in einerGemeinschaftsanlage auf dem Oberelsdorfer Friedhofbegraben.Es blieb der einzige ernste Zwischenfall; der Krieg war füruns erst mal vorbei, aber die Spannung, was nun werdenwürde und wie man das alles bewältigen müsse, die wuchsnoch. Gab es doch für das, was vor uns lag, noch keineErfahrungen. Die musste nun jeder selbst machen. Dieamerikanischen Soldaten verhielten sich fast durchweg zivi-lisiert. Es gab keine wirklichen Übergriffe. Sie waren natür-lich hinter den Mädchen her. Aber auch da ist mir vonVergewaltigungen nichts in der Erinnerung. Vieles wurdewohl auch mit Cadburys milk chocolate wieder gut gemacht.Am nächsten Vormittag ging ich zum Markt, um neugierigfestzustellen, was sich da so tat. Ein Offizier hatte dieLeitung der Stadt übernommen und hetzte nun vom Bürger-meister bis zum Laufmädchen alle umher. Vor dem Rathausstanden amerikanische Doppelposten und ließen niemandin das Gebäude. Auf dem Markt war das fröhlichste Treiben.Alle Fremdarbeiter aus Europa, die bisherigen Kriegsgefan-genen und die Zwangsverpflichteten, liefen jetzt völlig freiherum und von ihrem Verhalten gegenüber der deutschenBevölkerung hing viel ab. Ich habe noch das Bild einer Grup-pe weißrussischer Mädchen vor Augen, die leicht be-schwipst, mit hochroten Köpfen und glücklichen Gesich-tern, mit amerikanischen Soldaten schäkerten. Wie wohlmuss ihnen in diesen Stunden gewesen sein. Aber auch sieund alle anderen Fremdarbeiter, die doch sicher einigenGrund zur Vergeltung gehabt hätten, verhielten sichmenschlich. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie bei ihrenArbeitgebern, meist Bauern und Handwerker, als Mitmen-

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schen geachtet worden waren. Lediglich in der Möbelstoff-weberei wollten sich einige Fremdarbeiter an ihren Peinigernrächen, gewiss auch aus gutem Grund. Diese mussten eineGrube ausgraben und sollten dort erschlagen werden. Oderwollte man ihnen nur Angst einflößen? Amerikanische Soldaten beendeten die Zeremonie vor einerEskalation.Ich stand noch immer am Marktplatz, dicht neben demstreng bewachten Rathauseingang, als Frau Meister, meinesehr geschätzte Englischlehrerin, vorbei kam. Und nun kames bei mir zu einer Reflexhandlung. Ich knallte die Hackenzusammen, riss den rechten Arm hoch und grüßte laut mitHeil Hitler, wie wir das immer unseren Lehrern gegenübertun mussten. Im gleichen Augenblick wurde mir erschrockenbewusst, dass ich mit diesem Gruß Sch.... gebaut hatte.Frau Meister reagierte nicht und ich schaute mich vorsichtigum, ob meinen Gruß jemand bemerkt hatte. Die Rathaus-wache war kaum 3 - 4 Meter entfernt!Ich hatte Glück, niemand beachtete mich. Langsam entfern-te ich mich; bloß jetzt nicht auffallen. Plötzlich bekam ich vonhinten einen derben Stoß und stolperte vom Trottoir auf dieStraße. Ich war einem Kriegsgefangenen, einem nun eben-falls freien, französischen Offizier im Weg gewesen. Jetzttrollte ich mich erst mal nach Hause. Von meinem „stram-men Gruß“ habe ich aber da nichts erzählt!

Am Nachmittag des gleichen Tages sind wir - teilweise überFeldwege, denn alle Straßen waren von Militärfahrzeugenbelegt - nach Oberelsdorf gegangen, um nach den Großel-tern zu sehen. Dort stand ich in der Haustür als mein sechs-jähriger Cousin Klaus mit einer gefundenen Rolle Pfeffer-minzdrops kam. Ich übersetzte ihm die Aufschrift, als einSergeant in einem haltenden Jeep vor der Haustür in deut-scher Sprache sagte: „Nicht essen, was wir wegwerfen“. Mitaller Arroganz eines Pimpfs antwortete ich in Englisch: „Ichweiß das“. Dabei warf ich die Dropsrolle in den Graben.Heute ist mir klar, dass die beiden annahmen, ich werfeihnen das Ding vor die Füße. Die beiden Amis im Jeep spra-chen miteinander und ich hörte mehrmals das Wort „fresh“.Das übersetzte ich für mich mit „pampig“ und so hatte erwohl den Eindruck von mir. Plötzlich entsicherte der Soldatauf der Steuerbordseite seine MP und legte sie über denReservereifen auf mich an. Mir wurde mulmig zu Mute. Derandere stieg aus, baute sich vor mir auf und hielt mir infließendem Deutsch, amerikanisch gefärbt, einen Vortragüber die Minderwertigkeit der deutschen Soldaten. Ich hieltzum Glück meine Klappe, denn ich hatte schon auf derZunge „So wie in den Ardennen?“. Da waren es doch dieAlliierten, die im Dezember 1944 die Flucht ergriffen hatten.Er nahm wieder Platz im Jeep und befahl mir „Geh insHaus“. Ich war froh, dass es vorbei war. Hinter dem Fensterhatten meine Mutter und Oma Emma den Vorgang aufge-regt verfolgt. Von meiner gewissen Rotzigkeit habe ichnichts gesagt. Die beiden Amis waren ja wieder weg. Aberich war künftig etwas vorsichtiger.In den nächsten Tagen und Wochen habe ich mich immerwieder an die Amis herangemacht und sie angesprochen. Eswar ja angenehm, sich mit ihnen gut verständigen zu könnenund meine Sprechfertigkeit nahm von Tag zu Tag zu. Auchkonnte ich manches von den guten Dingen abstauben,Schokolade, Kaugummi und anderes mehr. Ich stand mitihnen an der Muldenbrücke, die sie bewachen sollten undübersetzte die Fragen und Antworten der Passanten. Ich saß

mit ihnen im Jeep, wenn sie zur Molkerei fuhren, um Milchund Butter zu holen und übersetzte ihre Wünsche. Anmanchen Tagen sprach ich wohl mehr Englisch als Deutsch.Einmal stand ich an der Straßenkreuzung in Obergräfenhainund schwatzte mit dem dortigen US-Wachpersonal. Meingutes und auch gepflegtes Fahrrad stand am dortigenBrückengeländer. Vorbei kamen zwei ehemalige Gefangeneder Roten Armee mit uralten Fahrrädern, die sie irgendwo ansich genommen hatten. Mein Fahrrad sehen und es nehmenwollen war das Werk eines Augenblicks. Mein Fahrrad! Injener Zeit von höchstem Wert, ja sogar wirklich unverzicht-bar! Ich klärte die beiden US- Soldaten auf. Die griffen deut-lich für mich ein und die beiden Russen fuhren nach einigemZögern ohne mein Rad von dannen. Sie wussten wohl auchdie Situation nicht zu deuten, da ich mit den Wachpostenenglisch sprach. Na egal, aber für mich ein großer Erfolg -eben durch Kenntnisse in einer Fremdsprache.Nach einigen Wochen der Besatzungszeit - die Kapitulationder deutschen Wehrmacht war mit viel Geballer und Leucht-spurmunition gefeiert worden - hatten sich die US-Soldaten an den neuen Nachkriegszustand gewöhnt undließen es sich gut gehen. Viel freie Zeit hatten sie ja nun, ihreWäsche wurde von Lunzenauer Hausfrauen gewaschen undmit begehrten Nahrungsmitteln bezahlt, die Soldaten warenrasiert und sahen sauber aus, desgleichen ihre Jeeps, andenen sie voll Hingabe putzten. Sie wohnten in Häusern, diefür sie freigemacht wurden. Deren Bewohner mussten beiVerwandten oder Bekannten unterkommen und es gab mitgroßer Gewissheit in Lunzenau keine Wohnung, die nichtwenigstens drei bis vier Dauergäste (Evakuierte, Flüchtlinge,Arbeiter aus verlagerten Industriebetrieben, Bewohnerbeschlagnahmter Häuser) aufgenommen hatte. Ich erinnere mich, dass ich im Haus des FriseurmeistersKrumbiegel, der sein Anwesen in der Friedensstraße(damals Friedhofsstraße) auch räumen musste, mit lässigauf dessen Betten ruhenden Soldaten schwätzte und hoffte,von den gerade für die laufende Woche zugeteilten Fertigra-tionen ein wenig abstauben zu können. Plötzlich betrat derHausbesitzer selbst die Räume und schaute michmisstrauisch an; es reichte ihm sicher, dass sich die Solda-ten in seinen Möbeln lümmelten, ich war da für ihn völligüberflüssig. Er hat es mir aber nicht nachgetragen und michspäter immer sehr gut bedient, wenn bei mir wieder Haar-schnitt angesagt war.Auf den Straßen und Plätzen wurden uns unbekannte Ball-spiele mit einem noch nie vorher gesehenen eiförmigen Ball

August-Bebel-Straße 1945 Amerikanische Soldaten

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ausgetragen, wobei uns zunächst schleierhaft war, wie derBall sich überhaupt in eine vorher bestimmte Richtungbewegen konnte. Aber nach und nach begriffen wir auchdas.Am Abend fuhren die US- Soldaten gut gelaunt in Jeepsdurch die Stadt, wobei der Beifahrer fast immer das rechteBein demonstrativ lässig auf dem vorn befindlichen Reser-vereifen abgelegt hatte. Sie waren natürlich nach jungenFrauen und Mädchen auf der Suche und ich wurde oftgefragt, ob ich eine hübsche Schwester habe, die gernSchokolade isst.Schokolade war wohl generell das große Lockmittel derjungen Burschen, um Kontakt mit Mädchen zu erreichen.An einem Sonntag sah ich im Vogel'schen Park einige sehrjunge GI's mit ihrem aus Pappe gepressten Freizeithelm imArm, darin lagen mehrere Tafeln Schokolade, dem vollenSonnenschein ausgesetzt, die sie verheißungsvoll zeigtenund recht fröhlich einigen Mädchen nachstiegen. Da es sehrwarm war, hatte die Schokolade schon beträchtlich ihreForm verloren. Welche Erfolge sie mit der leicht geschmol-zenen braunen Süßigkeit erzielten, weiß ich natürlich nicht.

Nun war ja auch soviel freie Zeit für die GI's vorhanden, dassTruppenbetreuung sinnvoll wurde. Leider kam es nicht zumAuftritt eines Filmstars wie Ava Gardener oder einer anderenattraktiven Künstlerin im Vogel'schen Park, der dazu gutgeeignet gewesen wäre; es blieben die beiden Kinos mit einpaar deutschen Revuefilmen und diese Filme - zum Aufmun-tern der Deutschen im letzten Kriegsjahr gedreht - erheiter-ten nun die jungen Leute der US-Army. Es lief z. B. der Film„Die Frau meiner Träume“ mit Marika Rökk. Eines Tageshatte sich ein winziger Zirkus auf dem Schützenhausplatzfür einige Vorstellungen stationiert. Wie er über das Kriegs-ende gekommen war, ist mir noch heute unklar. Er hatte u. a.einige dressierte Kleintiere, einen Clown und zwei sehrhübsche Seiltänzerinnen. Die Darbietungen waren ange-sichts der Situation in der sich Deutschland befand, sehranerkennenswert. Nach dem Ende der Vorstellung drängtesich die gesamte Zuschauerschar um die beiden hübschenArtistinnen. Ich hoffte ein wenig Übersetzerdienste anbietenzu können, doch die Mädels sprachen selbst sehr gutEnglisch. Ich begriff, dass ich hier nichts mehr zu suchenhatte und trollte mich von dannen. Doch auch wir wurden kulturell mit einem für uns neuemGenre bekannt gemacht. Aus den Lautsprechern der Armyklangen etwas blechern und kratzig Melodien, die unsaufhorchen ließen und faszinierten. Es waren die begeistern-den Titel der Band's von Glenn Miller, Benny Goodman u. a.und hervortönend die herrliche Trompete von Harry James.Bei mir und vielen meiner Altersgefährten entwickelte sichdabei eine Liebe zu dieser Musik, die lebenslang anhaltensollte. Die „American Patrol“, die „Moonlight Serenade“, „Inthe mood“ von Glenn Miller und „Don't be that way“ vonBenny Goodman - wir hätten stundenlang zuhören können! Die GI's waren aber auch zu allerlei Schabernack auf unsereKosten aufgelegt. Auf der Straße von Rochsburg nach Penigkam mir einmal ein Jeep entgegen, der eine der bei denTruppen im Kampfeinsatz üblichen Fast Food- Packungenverlor. Das waren bunte Pappschachteln in einer den heuti-gen Packungen aus der Tiefkühltruhe vergleichbaren Größe,die mit dem Aufdruck Breakfast, Dinner oder Supper auf diegeeignete Mahlzeit verwiesen. Sie enthielten Dauerbackwa-ren, Butter, Fertiggerichte zum Erwärmen, drei oder vier

Zigaretten und noch einiges andere zur Ergänzung. DerInhalt war uns bekannt, denn die Pappschachteln, diegeleerten Konservendosen und sonstigen Überreste dereingenommenen Mahlzeiten, blieben natürlich achtlos amPlatz der Esseneinnahme liegen und so sahen viele Straßenund Plätze aus wie eine Müllhalde. Es gab halt noch keine„Gelben Säcke“!!Ich stürzte mich also begierig auf die auf der Straße liegen-de, offensichtlich unversehrte Packung. Aber Pustekuchen,sie war mit öligen Putzlappen gefüllt! Natürlich versuchten wir auch an die Lebensmittel undanderen guten Dinge der Truppen heranzukommen und grif-fen zu, wo immer sich die Möglichkeit dazu bot, d. h. wirklauten und schämten uns keinesfalls dafür. Das warMundraub und fiel, so waren wir überzeugt, nicht unter„normalen Diebstahl“. Wurde man erwischt, musste man mitArrest in einem auf dem Rathaushof befindlichem Raum -wahrscheinlich die ehemalige Ausnüchterungszelle der imRathaus stationierten Polizeiwache - rechnen oder einembesonders probaten Mittel: Der Dieb musste von dengestohlenen Lebensmitteln soviel essen, dass er es wiederausspie, dass ihm schlecht wurde oder er am Ende sogarkrank. Ich hörte von Fällen wo einem Täter z.B. Zucker oderSchokolade in solchen Mengen hinein gezwungen wurde,dass der einschlägige Handel ihn wohl lebenslang alsKunden wegen Appetitlosigkeit verlor! Wir malten uns beider Erörterung dieser Fälle dann aus, was demjenigenpassieren würde, der eine Tüte Mehl ergriffen hatte unddamit ertappt wurde!!Einigen Aufwand machte der amerikanischen Besatzungs-macht die große Anzahl deutscher Kriegsgefangener, die inLunzenau auf dem Schützenhausplatz mehrere Tage imFreien lagerten und erbarmungswürdig vor sich hin hunger-ten. Von Lunzenauer Frauen wurde ihnen ein wenig Brot undeinige Kartoffeln durch die Abgrenzung gereicht. Die US-Dienststellen waren auf so viele deutsche Gefangene wohlnicht eingerichtet gewesen und taten sich sehr schwer, dieprimitivsten Bedingungen zum Überleben zu schaffen. Dieeingeschätzte Anzahl der feindlichen deutschen Soldatenkam wohl nur in den kampfstrategischen Überlegungen deramerikanischen Seite vor; dass diese bald als Gefangene inihre Versorgungspflicht fielen, war aber kaum bedachtworden. Wie zum Hohn lagen noch überall amerikanischeFlugblätter in einer auffälligen Farbe umher, auf denen dendeutschen Soldaten im Falle ihrer Kapitulation die gleichenRationen wie den amerikanischen Soldaten angekündigtwurden. Auch Pustekuchen!In der Küche des Hotels Sächsischer Hof, das von Deut-schen in dieser Zeit nicht betreten werden durfte, wurden fürdie US- Soldaten warme Mahlzeiten zubereitet. Wir standenmit knurrendem Magen vor dem Tor, sahen in die offenen,duftenden Kochgeschirre und beneideten die Soldaten indiesen Augenblicken sehr. Besonders das als Beilage gege-bene weiche Weißbrot schien uns eine Köstlichkeit zu sein.Später wussten wir dann, welch pappige Sache das Brot inWahrheit gewesen ist. Hinter dem Hoteleingang war auf derlinken Seite eine Pinnwand mit Passbildern deutscher Frau-en und Mädchen angebracht, vor denen die Soldaten wegendes Verdachtes auf Geschlechtskrankheiten gewarntwurden. Für uns war nur die große Überschrift lesbar,deshalb wussten wir, um was es dabei ging. Näher heran,um zu erkennen wer da abgebildet war, kamen wir bei demständig bewachten Eingang nicht.

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Aus heutiger Sicht ist zu bedauern, dass von deutscherSeite keine Photos aus dieser Zeit mehr vorliegen dürften,doch der nahezu erste Befehl der Kommandantur lautete,dass alle Photoapparate und feststehenden Messer abzu-geben seien. Aus Angst vor möglichen Durchsuchungenhaben wir dem auch Folge geleistet. Ich kam aber mit unse-rer Fotobox und meinem Finnenmesser, einem sogenanntenPuuko, an dem ich sehr hing, nicht weit. Ein US-Soldatnahm mir auf der Straße alles gleich ab. Das Messer hängteer sofort an sein Koppel und die sehr einfache, billige Foto-box nahm er erstaunt auseinander; ich bin überzeugt, er hatdamit nie wieder eine Aufnahme machen können. Man kannsicher davon ausgehen, dass nahezu alle bei den vormali-gen US- Soldaten heute vorliegenden Fotos aus jener Zeitmit Apparaten aufgenommen wurden, die auf diese Weise inihren Besitz geraten waren. Wenige Tage später musstenwir auch unsere Radioapparate abgeben - um nicht dieNachrichten der noch regierenden Nazis zu hören - die aller-dings in einem Hofgebäude des Rathauses eingelagertwurden und nach einigen Wochen von den Besitzern wiederabgeholt werden konnten. Das waren ja zu dieser Zeit rechtgroße, schwere Geräte, meist mit einem gewichtigen Holz-gehäuse umgeben. Für die hatten die Soldaten keineVerwendung. Wir waren nun aber eine Zeitlang völlig ohneNachrichten, denn es gab ja auch keine Zeitungen und diekargen öffentlichen Anschläge der Besatzungsbehördenund des von ihnen eingesetzten Bürgermeisters warenebenfalls nicht sehr informativ. Es schwirrten viele Parolenund Gerüchte in dieser Zeit umher und wie groß deren Wahr-heitsgehalt war, konnte kaum jemand feststellen. Nur lang-sam sickerte z. B. durch, dass die Amerikaner sich baldwieder zurückziehen und ihren damaligen Waffenbrüdernaus der Sowjet-Union unser Territorium wohl im Austauschfür einen Teil der Hauptstadt Berlin überlassen würden.Das Schwimmbad in Lunzenau - es war ja mittlerweileSommer geworden - wurde ausschließlich für die US-Solda-ten reserviert. Als ich in Unkenntnis dieser Neuigkeit trotz-dem versuchte das Bad zu betreten, teilte mir der Lunzenau-er Bademeister mit, dass ich nicht schwimmen dürfe.Verknurrt wandte ich mich daraufhin an einen in der Nähestehenden, sehr jungen Unterleutnant der US- Army und batum die Erlaubnis zum Schwimmen. Außerordentlich höflichantwortete er mir, das sei für Deutsche z. Zt. nicht möglich,der amerikanische Stadtkommandant habe so entschieden.Wieder Pustekuchen!Mit fortschreitender Besetzung wurden, so schien es, dieSoldaten immer jünger. Viele mögen gerade zwanzig Jahrealt gewesen sein. Sie gingen nicht aus, ohne einen der klei-nen, leichten amerikanischen Karabiner über die Schultergehängt zu haben, der, so der Eindruck, zur Ausgehuniformgehörte. Dazu trugen sie oft noch private Pistolen am Gürtel,die manchmal vermuten ließen, dass sie aus einem Wild-westfilm entwendet worden waren. Die jungen Männerließen trotz allem zur Schau getragenen Selbstbewusstseineine erhebliche Unsicherheit erkennen, und wir nahmenauch an, dass das verbliebene Gefahrenpotential im Fein-desland von ihnen doch wohl überschätzt wurde.Nach und nach zeigte sich auch die militärische Disziplinwieder der Öffentlichkeit durch das Marschieren ingeschlossenen Formationen. Als ehemalige Pimpfe, denendas Marschieren durch hartes Exerzieren beigebrachtworden war, amüsierten wir uns immer über den laxenMarschstil der US- Soldaten. Das „Links, zwei, drei, vier“

des deutschen Kommandos, klang bei den Amis „Hooo,hobb, hobb, hobb“. Wir äfften es gern nach, natürlich nur, wenn wir nicht beob-achtet wurden. Erst später begriffen wir, dass derenMarschstil einfacher und weniger ermüdend war, als derunsere und damit der menschlichen Natur angemessenerals unser strammes Paradieren. Nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 war ich aufdem Marktplatz anwesend, als eine größere Einheit sich dortsammelte und ein höherer, schon älterer Offizier, wahr-scheinlich ein Oberst, eine kurze Rede zum Kriegsende hielt.Er ging auf die Leistungen und überstandenen Kämpfe derEinheit ein, mit Nennung der Orte, und lobte den Einsatz derSoldaten. Er nannte weiter die Namen und Dienstgrade derGefallenen und ließ zu ihren Ehren strammstehen undsalutieren. Danach gingen sie zu einem Gottesdienst in dieKirche in Lunzenau. Die Pfarrer der US-Army trugen auchdie normale, etwas dunklere Uniform der Offiziere, hattenaber am Kragenspiegel, soweit erinnerlich, ein Kreuz. Ichhabe einen Pfarrer mehrmals beobachten können, wenn ermit Soldaten sprach und so seinen seelsorgerischenBeistand leistete. Da er eine randlose, blitzende Brille trug,ein freundliches, sanftes Lächeln auf dem gut genährtenGesicht hatte, dazu dunkelbraune, elegant wirkende flacheSchuhe an den Füßen, unterschied er sich schon dadurchvon dem sonstigen amerikanischen Typ, der in Schnürstie-feln und entweder ein wenig martialisch oder spöttisch undselbstsicher blickend daher kam.Einen Ami sprach ich mal auf einem Truck an, der Zeitungengeladen hatte. Es war die Armeezeitung „Stars and Stripes“.Ich erbat und bekam eine. Es waren ja nur wenige Wochenvergangen, seit die US-Army das KonzentrationslagerBuchenwald bei Weimar und die Briten Bergen - Belsen inNiedersachsen befreit hatten. Auch die Kenntnisse überDachau waren noch frisch. So war die ganze Zeitung vollerBilder und Berichte, was man dort gesehen hatte. Und soerfuhr auch ich erstmals mehr von diesen Scheußlichkeiten.An eine Lüge oder bewusste Tatsachenverstellung konnteich nicht glauben. Dazu waren die Sprache und Bilder zueindringlich. Das hatte ich mir so nicht vorstellen können. Ichvernahm auch erstmals den Namen Auschwitz. Diesen Orthatten zwar die Sowjets schon im Januar 1945 eingenom-men, aber es fügte sich halt alles zusammen.Natürlich waren wir in der Schule und in den Zeitungen mitder sogenannten Judenfrage konfrontiert worden. Aber daich nie einen Juden gesehen oder gar kennengelernt hatte,war das alles so, als ob man mir etwas von Kannibalenerzählt hätte; interessant, aber weit weg. Die Erwachsenenmunkelten zwar manchmal von ganz üblen Dingen, abermeist vermieden sie die Information an die Kinder darüber.Wusste man doch nicht, wie diese solche Vermutungenweiter verwendeten.Mich hat die deutsche Schuld an den Ereignissen schondamals, also kurz nach dem Krieg, sehr bewegt, aber dieAufarbeitung war noch am Anfang. Erst in den 60er Jahrenwar der Erkenntnisprozess besser gereift.1980 lernte ich endlich einen Juden persönlich kennen; daswar ein Emigrant, der 1937 als sehr junger Mann die Fluchtaus Deutschland ergriffen hatte und in Indien, in Bombay,gelandet war. Er war ein Übersetzer, den wir zur sprachli-chen Überarbeitung unserer Angebote in das in Indiengängige geschäftliche Englisch geheuert hatten. Er wolltevon mir wissen, wie alt ich sei. Ich sagte es und da meinte er,

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er frage jeden Deutschen danach, um weiter zu erkunden,was er denn im Dritten Reich gemacht habe. Ich war zu jung,um schon ein Verbrecher gewesen zu sein. Ich habe michmit ihm noch sehr intensiv unterhalten und viel über dasJudentum, über die deutschen Juden und natürlich auchüber Indien gehört.

Eines Tages tauchte an der Muldenbrücke mein frühererRektor Herold auf. Er war sehr freundlich zu mir und meinte,er hätte sich nicht vorstellen können, dass ihn der Führer soenttäusche. Ich dachte mir: Mein Rektor Karl Herold, wennDu da so lange gebraucht hast, ist das überraschend. DasGefühl hatte ich schon, als Du noch zu Recht meinenmangelhaften Fleiß bei der Substituierung von Gleichungenmit zwei Unbekannten kritisiert hast. Aber ich war ein dreizehnjähriger Schüler und Du warst derüberall wegen seines Wissens und seines Fleißes hochangesehene Rektor der Schule in Lunzenau.Das alles habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Ich habe mich höflich von ihm verabschiedet, auch nicht wiebisher immer die Hacken zusammen geknallt und Heil Hitlergebrüllt, sondern artig und zivil Auf Wiedersehen gesagt. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er wurde kurz darauf vonder Roten Armee interniert und kam in das bisherigeKonzentrationslager Buchenwald. Dort erkrankte er an einerlagerbedingten Krankheit und verstarb im Winter 1945/46.So hat er für seinen Irrtum noch sehr hart büßen müssen. AlsLehrer hätten wir uns aber keinen besseren wünschen

können und deshalb werde ich auch nicht vergessenkönnen, was er uns alles beigebracht hat oder dafür sorgte,dass es uns beigebracht wurde, eben auch die doch nunsehr nützlichen Kenntnisse der englischen Sprache.

Am Sonntag dem 1.Juli 1945 verließen die US-Truppenwohlgeordnet auf gut geputzten Fahrzeugen Lunzenau undzogen sich nach Westen in die ihnen vorbehaltenen Gebietezurück. Nur wenige Minuten später kamen die Truppen derRoten Armee über die Muldenbrücke - mit Pferdewagen. AnMotorfahrzeuge kann ich mich nicht erinnern. Der Unter-schied zu den in gebügelten Hosen abfahrenden US- Solda-ten war sehr deutlich.Doch nun begann für uns wirklich die Nachkriegszeit mit derSicherung der grundlegenden Lebensbedingungen - demtäglichen Brot, der Lebensmittel für die sehr einfachen Mahl-zeiten, dem Bemühen im Winter mit der rechtzeitigenBeschaffung von Brennmaterial auch wenigstens eine halb-wegs warme Stube zu haben, der notwendigen Kleidung füralle Jahreszeiten, und - und - und... Es war eine schlimme Zeit, aber - der Krieg war vorbei! Es gab zum Glück eigentlich sofort viele Möglichkeiten eineArbeit zu finden, eine Lehre zu beginnen und einen (fast!)geordneten und zivilen Tagesablauf trotz aller Probleme imAlltag zu bewältigen.

Nach und nach ging alles seinen - wirklich nicht einfachen -Gang...

70 Jahre KriegsendeAuszug aus den Erinnerungen von Frau Annemarie Schlosser aus Göritzhain

(Tochter von Gustav Schlosser, war mit Hans Scheerer zusammen Inhaber der Papierfabrik I. Scheerer in Göritzhain)

Wie ich das Ende des Krieges miterlebte

13. bis 16. April 1945Seit Februar war eine deutsche Kompanie in Göritzhaineinquartiert worden, bei uns wohnte zuerst ein Oberleutnant(in Gretels Zimmert), dann bis zum Eintreffen der Amerika-ner, Leutnant Franz Althoff. In der Nacht vom 12. zum 13.04. wurde er telefonisch nachWechselburg zum Stab beordert. Am Tag hatten wir zumersten Mal das Schießen von der Front gehört, die Amerika-ner wurden jeden Tag hier erwartet.In der Nacht, als die Kompanie abrückte, war auch unserMercedes beschlagnahmt und mitgenommen worden. Am13.04. rief Franz von Mutzscheroda an, wo er mit einerKompanie in Stellung lag und die amerikanischen Panzererwartete.Da der Wagen zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingtgebraucht wurde, hätte Vati ihn gern zurückgehabt. Mit Listund Tücke brachte Herr Hentschel (Chauffeur für Fabrik undFamilie) ihn am Samstag zurück. Gegen Abend erreichten die amerikanischen Panzer Mutz-scheroda und verwickelten die deutsche Kompanie inKämpfe. Franz's Gruppe schoss mit Panzerfäusten dreiPanzer ab. Mit 2 von 42 Mann zog er sich nach Nöbelnzurück.Auf Bitten der Kompanie war Herr Hentschel mit demMercedes wieder nach Nöbeln gefahren, um Essen für dieSoldaten dorthin zu bringen, dies war am Sonntagvormittag,dem 15. April.

Vati war nach dem Mittagessen mit dem Rad zum Gasthofgefahren, um Herrn Kupfer, der hier mit dem Volkssturmeiniges vorhatte, zu sprechen und ihn davon abzuhalten,irgend einen Widerstand zu leisten, der die schlimmstenFolgen für das Dorf haben würde.Plötzlich Motorengeräusch - die Dorfstraße herunter, ausRichtung Lunzenau, endlose Kolonnen von Wagen undPanzern, in Staubwolken gehüllt - die Amerikaner! Wir sahenes vom Steg aus mit an. Sie fuhren in Richtung Wiederau;das fand ich sehr beruhigend, da andernfalls die kleineGruppe von Lt. Anders (Chef der Marschkompanie inNöbeln) arg bedroht gewesen wäre.Schließlich nahm die Kolonne ein Ende. Doch als wir beimKaffee saßen, hörten wir erneutes starkes Motoren-geräusch, und jetzt war die Seitenhainer Straße in den Staubgehüllt, den die dort fahrenden amerikanischen Fahrzeugeaufwirbelten. Nun wartete ich auf Schießerei aus RichtungNöbeln, aber es war kaum etwas zu hören. Es war unklar,was aus den wenigen Leuten dort geworden war, die nochvon Anders' Kompanie übrig waren.Vati meinte, sie würden sich wohl der Übermacht ergebenhaben.Frau Marquart (bei uns aus Leipzig evakuiert) hatte Sorgeum ihre Schwiegertochter in Nöbeln. Die Kolonnen rolltennoch immer, als sie sich mit Christa auf den Weg machte,um nach dem Rechten zu sehen. Ich ging mit und wirmussten den ganzen Weg neben den amerikanischen Fahr-zeugen und Panzern herlaufen - es war unfassbar, dass sienun da waren. Wir begriffen das ja noch nicht; es war wie im

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Traum und nur ein Glück, dass Göritzhain keinen Wider-stand geleistet hatte, sondern aus vielen Häusern die weißeFahne hing. Unterwegs hatten wir zum ersten Mal deutscheSoldaten in Gefangenschaft abziehen sehen, das war trau-rig. Die Straße war aufgewühlt von den schweren Fahrzeu-gen.Franz saß in unserer Küche im Mantel, ein Tuch um denHals, ein Bein gequetscht und ein Trommelfell durch dieExplosion der Panzerfaust lädiert - innerlich und äußerlichziemlich erschöpft. Was nun? Er musste sich entschließen.Für ihn stand fest, sich zur deutschen Linie durchzuschla-gen, was wir für unmöglich hielten, ein Blick aus demFenster zeigte, dass ringsherum die Amerikaner waren. Vatiriet ihm sich zu stellen, da alles sinnlos sei, aber davon woll-te er nichts hören. Mit Lt. Anders und zwei Stabshelferinnenverabschiedete er sich, wohin sie sich wenden wollten,wussten sie noch nicht.Als sie weg waren, wurde eine Haussuchung durch dieAmerikaner angekündigt. Sie fand nicht statt. Wir hattenkeinen Alarm mehr. Einzelne Schüsse in der Umgegendwaren zu vernehmen. Ein paar Amerikaner blieben alsBesatzung im Dorf - Brückenwache. Kaufmann Schönfeldmusste sein Haus räumen. Herr Jentsch kam mit seinerMutter, ob sie Sachen in die Mühle bringen könnten. ihrHaus und noch 10 andere Häuser mussten geräumt werden,es kämen 1.200 Mann nach Göritzhain. Ausgang nur von 6Uhr morgens bis 21.00 Uhr abends. Alle Waffen musstenabgegeben werden. Die Wälder wurden durchkämmt.

17. AprilFrüh um 6.00 Uhr aufgestanden, um nach Brot anzustehen -ohne Erfolg. Mit Christa Marquart nach Nöbeln gegangen,um es beim dortigen Bäcker zu versuchen, ein abenteuerli-cher Weg, Die Amerikaner hatten auf beiden Seiten derSeitenhainer Straße Stellungen ausgehoben für schwereArtillerie, es wimmelte von Soldaten. Werden sie uns durch-lassen? - Ja, aber gemütlich war es nicht. In Nöbeln gab esauch kein Brot.Unser Mädchen ist am Sonntag, wo sie frei hatte, nichtwiedergekommen, so haben wir viel Arbeit. Oft kommenAutos und Soldaten hier herunter, ein Glück, dass Vati sogut englisch spricht. Er wird deshalb auch immer mehr alsDolmetscher ins Dorf geholt.Am Abend kamen 7 deutsche Soldaten aus dem Wald zumVorschein, wollten etwas zu trinken. Dann gingen sie zurKommandantur um sich zu stellen. Viele Klagen kommenüber das Benehmen der Amerikaner.

18. AprilVati war von 11.00 bis 14.00 Uhr in der Kommandantur.Währenddessen kamen 7 Amerikaner „looking round“. Inder Fabrik musste Herr Nemeth alle Türen aufschließen, siesuchten nach deutschen Soldaten. Nachmittags Schießender schweren Artillerie in Seitenhain Richtung Chemnitz,furchtbare Detonationen, Fensterscheiben und Lampengingen kaputt. Neue Ausgangszeiten: 7.00 bis 9.00 Uhr und16.00 bis 18.00 Uhr. Sonst nur auf Nebenwegen.

19. AprilNachmittags Waldbrand hinter der Eisenbahnbrücke. FrauNemeth hat zwei deutsche Soldaten getroffen, die es vorHunger nicht mehr ausgehalten haben und sich stellen woll-ten. Sie waren bis zuletzt mit Franz zusammen.

24. AprilIn den letzten Tagen war ziemliche Ruhe eingetreten, konntenfast hier unten vergessen, dass die Amerikaner im Ort sind.Jetzt plötzlich große Unruhe: Amerikaner scheinen ziemlicheilig abzuziehen, in jeder Richtung. Es heißt, die Russenkommen und besetzen Sachsen. Im Dorf gibt es die tollstenGerüchte: Hitler tot - Hitler hat kapituliert - Ribbentrop sei mitzur Konferenz in San Francisco - Waffenstillstand! TanteHanna besuchte uns abends, im Dorf habe ihr ein amerikani-scher Offizier gesagt, heute Nacht seien die Russen da.

25. AprilBeginn der Konferenz von San Francisco. Man ist allgemeinder Ansicht, dass die Russen kommen. Fliehen hat keinenZweck. Die Amerikaner heben auf den Höhen Stellungen fürMaschinengewehre aus, bleiben sie und wozu das alles?Vielleicht gegen deutsches Militär, das von den Russen beiWaldheim zurückgedrängt wird.Im Dorf geht der Wagenverkehr der Amerikaner eifrig hinund her.An diesem Tag, gegen 16.00 Uhr, kamen drei Amerikaner imangeheiterten Zustand zur uns, und bedienten sich auch beiuns selbst. Und dementsprechend verhielten sie sich dannauch. Sie gingen durchs ganze Haus, nahmen mit, wasihnen gefiel, drohten Vati zu erschießen, setzten ihm unun-terbrochen die Pistole an die Stirn. Zwischendurch erschienimmer mal wieder einer von ihnen im Herrenzimmer, Vatiwurde im Esszimmer festgehalten, sahen Gretel und wolltesie unbedingt mit ins Schlafzimmer haben, was wir mit Müheverhindern konnten. Wir waren ihnen ausgeliefert. Erstgegen 20.00 Uhr kriegten wir sie los. Wir waren ziemlichfertig, im Haus sah es schrecklich aus. Gegen 22.00 Uhrkamen sie wieder und gingen nach Mitternacht. Danachblieben wir alle zusammen in einem Stockwerk.

26. AprilDie Erlebnisse des Vortages haben uns schreckhaftgemacht. Die Schwiegertochter von Frau Marquart siedeltezu uns über, da alles ungewiss ist und es besser ist, zusam-men zu bleiben.

27. AprilWo Franz stecken mag? Zwei Sachsen standen vor demHaus, die sich nach Hause durchschlagen wollten. Sie über-nachteten im Gefolgschaftsraum. Die militärische Lage hierist merkwürdig. Wir sind Hauptkampflinie, stark von Ameri-kanern besetzt, Chemnitz ist fest in deutscher Hand, dazwi-schen Niemandsland. Eine Vereinigung der amerikanischenund russischen Truppen ist noch nicht erfolgt, obwohl schontagelang angekündigt - politische Gründe? Göring ist vonHitler auf seine Bitte hin seines Amtes enthoben - gesund-heitlich Gründe.

28. AprilHimmler soll Kapitulation an England und Amerika angebo-ten haben, nicht an Rußland, daher von beiden Seiten abge-lehnt. Was ist mit Hitler? Er soll im Sterben liegen. Der Ducemit 16 anderen Faschisten von italienischen Nationalistenerschossen (alles Meldungen des Senders Luxemburg).

30. AprilDie Amerikaner im Ort langweilen sich, knallen mit demGewehr herum, schießen Vögel ab. Hitler soll in letzter Zeit

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mehrere Schlaganfälle gehabt haben. Heute Morgen sindhier im Ort zwei deutsche Offiziere von den Amerikanernerschossen worden.

01. MaiAbends nach dem Nachrichtendienst in einem der beidendeutschen Sender: „Wir bringen eine ernste und wichtigeMitteilung für das deutsche Volk“. Wagnermusik, dannTrommelwirbel. „Der Führer in seinem Gefechtsstand in derReichskanzlei bis zum letzten gegen den Bolschewismuskämpfend, gefallen.“ Dönitz Nachfolger. Seine Ansprache -der Kampf geht weiter. Das ist Wahnsinn!

04. MaiWir haben unentwegt amerikanischen Besuch, teils nett, teilsfrech. Vorhin kam ein Offizier und holte unsere beiden Radiosab, gegen Quittung. Abends wurde eins zurückgebracht.

05. MaiMittags durchsuchten zwei unverschämte Amerikaner dasHaus von oben bis unten. Wieder ziemlicher Artilleriebe-schuss. Abends waren die zwei Kerle von mittags wieder da,stockbesoffen, zerrten Vati aus dem Haus, drohten mitschießen und prügeln, warfen Steine gegen die Fenster.Mutti hatte währenddessen einen schweren Herzanfall.

06. MaiDrei Amerikaner wollten Briefumschläge. Nehmen auch 6Flaschen Apfelsaft ungefragt mit. Dönitz hat die Wehrwolf-Bewegung verboten. Wo ist Himmler?

07. MaiNeuer Bürgermeister: Heilkundiger Bergmann, früher Sozial-demokrat; 1. Beigeordneter: Kommunist Müller.Morgens kamen drei Offiziere und unterhielten sich im Vati,sehr korrekt und höflich. Der Oberst eröffnete Vati, dass dieRussen bestimmt hierher kämen. Er meinte, dass sie garnicht so schlimm seien, alles deutsche Propaganda. Aberdie Aussagen der Flüchtlinge???Nach dem Mittagessen wurde bei uns ein Schild in dreifa-cher Ausfertigung mit der Aufschrift „out of bounds“ ange-bracht. Damit war das unbefugte Betreten des Grundstücksdurch amerikanische Soldaten verboten. Leider nicht vonden Russen.Mittweida wurde von den Amerikanern an die Russen über-geben. Tanta Hanna will mit Pferd und Wagen nach Nord-deutschland.

08. MaiKapitulation. Alliierter Sieg in Deutschland.

10. MaiVati war im Dorf, um sich um unser Radio zu kümmern,dass, wie der Offizier sagte, unberechtigterweise geholtworden war. Heute ist Himmelfahrt - kommen die Russen?

11. MaiHelga und Christa Marquart mit dem Rad nach Leipzig, umnach ihrem Haus zu sehen. Wahnsinnige Hitze.

12. MaiIn Scharen kommen jetzt deutsche Soldaten vorbei. Sie sindvon der Tschörner-Armee, die im Sudetenland kämpfte, die

Russen haben sie nach Haus geschickt. Nur SS und Offizie-re behalten sie da.

13. MaiDie deutschen Soldaten kommen jetzt zu tausenden vorbei.Vormittags waren Amerikaner mit Lastauto hier, um Klopa-pier für Gefangene in Glauchau zu holen. Sonst sind alleAmerikaner aus Göritzhain und Umgebung weg, nur von derZivilverwaltung in Lunzenau wird eine Brückenwachegeschickt.

14. MaiLt. Anders mit einem Feldwebel da. Leider keine Nachrichtvon Franz.

15. bis 24. MaiHatte eine Grippe. Ununterbrochener Flüchtlingsstrom ziehtvorbei, Mutti und Gretel kochen und kochen, manchmal bisabends 21.30 Uhr. Viele von ihnen übernachten im Gefolg-schaftsraum. Am 21. ebbt der Strom ab, die Tschecheslo-wakei hat die Grenzen geschlossen. Die Frage, kommen hierRussen oder bleiben die Amerikaner steht im Raum. InWiederau sind die Russen. Nachrichten aus dem Erzgebirge- furchtbare Plünderungen. In Göritzhain hat sich ein „Aktionsausschuss“ gebildet aufInitiative eines ostpreußischen Kommunisten namensHecht. Alle Männer müssen zu Straßenbau. Vati schippt seitvorgestern auf der Seitenhainer Straße.

25. MaiNeueste Gerüchte: 1. Chemnitzfluss Grenze zwischen Amerikanern und

Russen.2. Russen übernehmen Deutschland bis Frankfurt/M3. Amerikanische Besatzung von früher kommt zurück, soll

Russen vertreiben, die sich nicht zurückziehen wollen.

26. Mai3 Göritzhainer zurück (von den Amerikanern aus dem Gefan-genenlager in Zwickau entlassen. Einer davon war beiMagdeburg Sturmgeschützler. Weiß nichts über Gerhard. Errichtete aber Grüße aus von Franz.

27. bis 31. MaiTage voller Unruhe. Vati hat nach vielen Bemühungen denMercedes und Benzin freibekommen fürs Geschäft. Wolltenach Zwickau fahren, kam nur bis Waldenburg.Herr Hecht von Aktionsausschuss geht bei uns ein und aus,beschlagnahmt unser Schaf und eine Kuh, schimpft über dieSauwirtschaft im Milchabliefern usw. Bei Kössers beschlag-nahmte er von Flüchtlingen abgestellte Koffer und schafftedamit Stimmen gegen sich.Unsere Gegend ist noch sehr amerikanisch. Was wird bloßam Ende dieser völlig wirren Verhältnisse stehen?

01. JuniAlle Einwohner des Dorfes mussten ins Rathaus zur Abgabeeines Fingerabdruckes für den neuen amerikanischen Pass,Kennkarte gilt nicht mehr. Unser Steg war völlig gesperrt.Herrn Hentschels Schwester Lisbeth ist aus Chemnitzgekommen, sie haben sehr unter den Russen leiden müssenund unter Hunger. Die Russen haben schlimm gehaust,geplündert, geraubt, Frauen misshandelt. Alle nach Chemnitzreinkommenden Lebensmittel werden mitgenommen.

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05. JuniVati wurde morgens von Amerikanern im Auto nach Lunzen-au geholt. Kaum war er weg, kamen Jänichens hier an (sieist Bürgermeisterin in Hohenkirchen, er in Lunzenau). Siewollten Vati darauf vorbereiten, dass er in Göritzhain Bürger-meister werden soll. Mittags kam Vati zurück. Er hatte denKommandanten inständig gebeten, ihn nicht zum Bürger-meister zu machen. Er wollte nur die Fabrik wieder in Gangbringen. Es half nichts.

06. JuniVon Vati wurde der Aktionsausschuss aufgelöst und derDolmetscher abgesetzt (zweifelhafter Mann der die Leuteanschreit und ihnen Sachen und Geld wegnimmt; er steht ander Brücke bei den Amerikanern).Seit heute Abend steht ein russischer Posten an unseremSteg auf der anderen Seite, 5 Russen in der Aue an derEisenbahnbrücke. Östlich der Chemnitz die Russen? An derBrücke im Dorf stehen auf der einen Seite die Amerikaner,auf der anderen Seite die Russen. Ein Schlagbaum wurdevon den Russen errichtet, keiner darf die Brücke betreten.

07. JuniCapt. R. hier, um sich die Verhältnisse mit den Russen anzu-sehen, war mit Vati im russischen Hauptquartier. Vati hatnicht erreicht, dass die Brücke geöffnet wird, um Leute, diedrüben waren, zurückzulassen.Abends die gute Nachricht: Die Brücke wird morgen denganzen Tag offen sein, dann für immer geschlossen. Lt.Radio fordern die Russen Sachsen und Thüringen. Capt. R.zieht morgen mit seinem ganz Bataillon (Burgstädt, Lunzen-au, Rochlitz) ab, sie kommen zum Einsatz nach Japan. Essollen neue Amerikaner kommen.Am späten Abend kommt ein amerikanischer Kurier ausLunzenau. Die Brücke bleibt, außer sonntags, von 7.00 bis21.00 Uhr offen. Plötzlich wüstes Gejohle im Hof. DreiRussen und drei Amerikaner fallen sich um den Hals. EinAmerikaner rief zu Vati: „Bürgermeister, komm her, das seinDeine Freunde, don't be afraid.“Von den Russen in Göritzhain und Seitenhain hört man Gutes,sie benehmen sich fabelhaft anständig. Bleibt das so?

08. JuniMorgens um 9.00 Uhr sind alle Brücken frei, keine Postenmehr.In den 5.00-Uhr-Nachrichten aus Berlin (russischer Sender):unter anderen Städten werden Chemnitz, Leipzig, Magde-burg, Halle russisch. Also doch! Abends waren Jänichensda. Die Verhältnisse sind noch ungeklärt. In Göritzhain istkein Russe mehr zu sehen. In Lunzenau an der Brückestehen auf der einen Seite russische, auf der anderen Seiteamerikanische Posten.Von einem Mann aus Wiederau, der aus dem Gefangenenla-ger Zwickau entlassen wurde, erhielt ich einen Brief vonFranz. Er rechnet mit seiner baldigen Entlassung, weiß abernicht, ob er hier vorbeikommt.

09. JuniDas Vorrücken der Russen gestern bis an die Mulde in Lunzen-au war eigenmächtig. Die Abwesenheit der Amerikaner wurdeausgenutzt. Tante Hanna will ihre Mutter und Kinder nachGreene schicken. Deshalb fährt sie mit Vati zum Kommandan-ten in Lunzenau, um einen Passierschein zu erhalten.

10. JuniHeute morgen ist Frau Grobler mit den Kindern weg. TanteHanna scheint zu bleiben. Nachmittags war Herr Tauchnitz(ein ausgebombter Mann aus Leipzig, wohnt in Cossen)daund behauptet, die Russen hätten sich wieder hinter dieChemnitz zurückgezogen.

11. JuniEin amerikanischer Offizier hat Herrn Tauchnitz gesagt, dasslt. Jalta-Abkommen die Russen bis an die Elbe, wenn nichtsogar an die Oder, zurückmüssen. Wir können es nichtfassen. Sind wir doch erlöst?

12. JuniMittags 12.00 Uhr - die amerikanische Brückenwache imDorf ist verschwunden. Vati fährt nach Lunzenau underfährt, dass wir seit 12.00 Uhr russisch sind. Und das nachder Nachricht von gestern!! Von den höchsten Höhen in dietiefsten Tiefen. Unter den Russen fehlt mir jeder Mut, jedeLust zum Leben.Tante Hanna will nun doch weg. Auch Holtzapfels wollenweg, kamen vorhin zum Verabschieden, hatten sich inner-halb von 2 Stunden dazu entschieden.

13. JuniHeute Nacht sind die Russen nun tatsächlich gekommen.Hier und in Stein nicht, dafür wimmelt es in Hohenkirchenvon ihnen. Die arme Frau Jänichen. Ihr Mann musste alsBürgermeister nach Lunzenau übersiedeln und wer einmalüber die Brücke ist, kommt nicht mehr zurück.Um uns ein wüstes Durcheinander - Flucht.Nachmittags sind Tante Ines und Onkel Otto weg, ebenfallsTante Hanna (mit dem Mercedes). Herr Hentschel hat gehört,dass Herr Hecht etwas gegen Vati plant. Dies ist für Vati einungemütliches Gefühl, aber er hat damit gerechnet. Vorwer-fen kann Vati niemand was, aber gegen Anschwärzungen istman machtlos. Scheußlicher Zustand! Er ist noch Bürgermei-ster, kann aber praktisch nichts mehr machen, da er keineAmerikaner mehr im Rücken hat. Herr Hecht ist wieder gänz-lich oben auf, stellte sich Vati als Vorstand der KPD vor.

14. JuniEndlich im Radio eine amtliche Meldung zu dem, was hiervor sich geht. Am Nachmittag erschien Herr Hecht mit einemrussischen Offizier, um den Mercedes zu beschlagnahmen,der aber nicht mehr da ist. Wütend darüber nahmen sie denAdler, der aber erst fahrbereit gemacht werden musste. DerRusse freute sich wie ein Kind über den Wagen, obwohl erkeine Ahnung von Autos zu haben scheint.

15. JuniWenn man den Hecht entlarven könnte. Er soll inOstpreußen ein großer Nazi gewesen sein, wer will dasheute aber noch feststellen. Er war als Stabsgefreiter mitdem Flak-Lehrgang unter Oblt. Jahn hier. Franz wüsste viel-leicht war über ihn, wenn er nur mal käme.

16. JuniRadio London meldet, bis 31. Juni sollen die Russen dasGebiet, das ihnen zugesprochen wurde, besetzt haben.Dann sollen auch die Grenzen bekanntgegeben werden.

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17. JuniAmerikaner waren da und erstaunt, Tanta Hanna nicht anzu-treffen. Sie wollten sie in Greene besuchen. Ich gab ihnenBriefe für sie mit.

19. JuniIn Göritzhain ist die KPD am „Ruder“, kein Sozialdemokrathat mehr was zu sagen. Heute wurde Vati in sehr anständi-ger Form seines Amtes als Bürgermeister enthoben.Kommunist Müller ist jetzt Bürgermeister. Von Herrn Hechthaben nun auch alle endlich die Nase voll und haben ihm alleÄmter und Rechte abgenommen, womit er hoffentlichunschädlich gemacht wurde.

20. JuniAus vielen Ortschaften werden jetzt die Evakuierten undFlüchtlinge ausgewiesen und bekommen keine Lebensmittel-karten mehr - überall großes Flüchtlingselend, die Trecks blei-ben stecken, zum Teil werden sie ausgeraubt. Über die schle-sische Grenz werden sie überhaupt nicht mehr gelassen.

22. JuniVorhin waren zwei Russen da, die von Hecht bis ans Arbei-terhaus begleitet und dann weiter zu uns geschickt wurden.Hecht hatte vorher Herrn Krötsch aufgefordert, von uns dasRadio zu beschlagnahmen; da dieser das ablehnte, tutHecht es nun auf diese Weise.

24. JuniZwei Russen wollen Vatis Rad haben. Er wollte GerhardsRad geben, aber sie wussten, dass er ein Adler-Gang-Radhatte. Sie nahmen es mit. Vati schickte zum Bürgermeister,aber der ließ ausrichten, dass er beim Militär nichts machenkönne. Sie konnten gar nicht Rad fahren, wir beobachtetensie vom Fenster aus.

25. JuniHeute habe ich bei Großer in Markersdorf einen Besuchabgestattet und meine Papiere geholt, ich war da kriegs-dienstverpflichtet. Neues Gerücht: Russen erhalten Hamburger Hafen, gebendafür Sachsen und Thüringen auf.Am Abend war Herr Crz aus Chemnitz da, nach langer Zeitmal ein vergnügter Abend.

27. JuniGerhards Geburtstag - wo mag er nur sein?

29. JuniDie Lunzenauer Brücke wird seit kurzem überhaupt nichtmehr geöffnet.

30. JuniRadio London gibt bekannt, am 1. Juli beginnen die Bewe-gungen der alliierten Besatzungstruppen zur Besetzung derGrenzen. Die Demarkationslinien sind festgelegt, bis 4. Julisoll alles beendet sein.

01. JuliVati schickte mich zur Lunzenauer Brücke, ob sich was tut. Ichfuhr nach Hohenkirchen zu einem Klassenbruder. Von dem austelefonierte ich mit Eberhard Reumuth aus Lunzenau. Ich hörte,dass die Amerikaner vor kurzem Lunzenau bis auf den letzten

Mann verlassen haben. Auf der Straße sieht man schrecklichesElend - alles Menschen, die aus dem Sudetengau ausgewiesensind und hier keine Lebensmittelkarten bekommen. Siemüssen ja verhungern. Aus den Cossener Baracken musstenauf Befehl der Russen alle dort untergebrachten Flüchtlingeinnerhalb 1 Stunde raus. Sie betteln um Essen, keiner kümmertsich um sie, da keine zentrale Organisation da ist.

02. JuliNun ist es unabwendbar. Herr Kern schickt uns aus Freibergeinen schlimmen Bericht, dort herrschen völlig russischeVerhältnisse. Aus Berlin kommt die Nachricht, dass dieRussen alle Fabriken abbauen. Keine Post, kein Telefon!

03. JuliAllmählich werden die Folgen der russischen Besatzungerkennbar. Kein Bauerngut soll über 8 Acker groß bleiben.Die Eisenbahnstrecken werden auf 1 Gleis abgebaut, Fabri-ken ausgeschlachtet.

08. JuliHeute war eine partielle Sonnenfinsternis zu sehen.

13. JuliVati ist sozusagen in den Gemeinderat aufgenommenworden. Gretel war 8 Tage bei Anni in Zwönitz, diese dannhier. Auf meinen Brief an Christa Höffer im Erzgebirge kamAntwort. Ein Anfang!!

22. JuliAbends war Frau Jänichen da. Sie ist seit der russischenBesatzung in Hohenkirchen völlig fertig. Seit einigen Tagenals Bürgermeisterin abgesetzt. Seit einigen Tagen ein radi-kaler Kommunist an ihrer Stelle. Das Dorf hat zu leiden,Abgaben über Abgaben. In die Pfarre kommen die Russenmitten in der Nacht zum Baden.

24. JuliAbends fährt ein Auto vor, hupt. Das Auto fährt hinter zuNemeths, hält vorm Haus. Sie nehmen Herrn Nemeth mit:SA-Sturmführer. Haussuchung. In 2, 3 Tagen sollte erzurück sein.

26. JuliDie Brücke in Lunzenau ist offen. Die Russen ziehen nachWesten weiter, die Besatzung in Hohenkirchen ist weg.

02. AugustHerr Nemeth ist noch nicht zurück. Auch unser alter Bürger-meister Fritzsche wurde von den Russen geholt. Er hattenoch Waffen und Munition, was als Verbrechen gilt.

04. AugustGlücklicher Tag - Gerhard lebt. Ein Brief von ihm vom 11.Juni aus dem Lazerett in Stendal ist gekommen. Seit 5. Maiin russischer Gefangenschaft, hat eine Verwundung amlinken Oberarm, nicht gefährlich, aber langsam heilend.Geht ihm prima, Essen tipptopp.

24. AugustEs gibt hier schon die 3. Woche kein Fleisch - Schlachtver-bot. Vom 21. bis 22. August war ich in Meerane. Unterwegsendlose Reihen Pferd- und Packwagen Richtung Osten

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gesehen, auf der Rückfahrt in Glauchau sehr viele deutscheHeimkehrer, zerlumpt und runterkommen - aber siekommen zurück.Wo ist Gerhard?

27. AugustAm Abend kam eine russische Kommission, bestehend auserstklassigen Fachkräften, erkundigten sich eingehend überdie Fabrik, nahmen alle Maschinen auf. Das kann der Anfangvom Ende sein. Wir hoffen, dass wenigstens 1 Papierma-schine bleibt..

Im September waren dann die Grenzen festgelegt. Vati sagt, wenn hiernicht bald eine Änderung kommt, werden wir alle zugrundegehen. Keine Aussicht mehr; verrückt könnte man werden,wenn man hört, wie im Westen alles in Ordnung kommt undfast geregelte Verhältnisse herrschen. Wenn wir doch dortwären.

Die Enteignung begann. Wir rechneten damit, dass auchMuttis Gut und die Firmenfelder enteignet werden, dannhätten wir keine Selbstversorgung mehr. Am 05. Oktoberkam das Schreiben vom Bürgermeister: Enteignung desGütchens.

16. OktoberIch fahre mit Frau Werner los - Ziel Hamburg! Dort kamen wiram 01. November morgens an. Von Schleswig-Holstein kamauch Ebbe nach Hamburg und gemeinsam fuhren wirAnfang Dezember zurück nach Göritzhain. Am Heiligabendstand auch Gerhard vor der Tür.

Im Frühjahr 1946ging ich endgültig weg von zu Haus, durch ein Flüchtlingsla-ger, wieder nach Hamburg, um dort eine Sprachen- undHandelsschule zu besuchen. Hamburg ist mir zur zweitenHeimat geworden.

Ein alter Fronweg von Hartmannsdorf über Burgstädt nach RochsburgNach einem älteren Beitrag von Otto Ströbe

Vor etwa 800 Jahren wanderten aus Thüringen und Nieder-sachsen, vom Rhein und Main große Scharen deutscherBauern in das Land zwischen Saale und Elbe ein, welchesdeutsche Könige, Herzöge und Markgrafen den Sorben undWenden in schweren, jahrhundertlangen Kämpfen entrissenhatten. Hier empfingen die Einwanderer Land aus denHänden weltlicher und geistlicher Herren, von Grafen undRittern, Bischöfen und Äbten. Die ihnen zugeteilten Hufenwaren wesentlich größer als die in ihrer alten Heimat.Allerdings war dieses Land größtenteils noch unbebauterWald-, Sumpf- und Heideboden, denn die Sorben hatten mitihren Holzpflügen nur die lockeren Talböden bestellt, aberunter ihren Äxten, Spaten und eisenbeschlagenen, von Pfer-den gezogenen Pflügen der Einwanderer verwandelte ersich bald in fruchtbare Äcker und Wiesen.Es entstanden erstmals an Flüssen und Bächen unsererGegend lang gestreckte Dörfer, die man als Reihen- oderWaldhufendörfer bezeichnet. Benannt wurden die meistennach dem Anführer des Siedlerhaufens, wie z. B. Heiner,Burkhardt, Gottfried, Hartmann, Konrad (Chursdorf) oderWittigo (Wittgensdorf). Die neuen Ansiedler brauchten denGrundherrn für dieses ihnen verliehene Land nichts zubezahlen, hätten es auch nicht vermocht, da die meistenvon ihnen jüngere, damals nicht erbberechtigte Bauernsöh-ne waren. Sie waren aber pflichtschuldig, für sich selbst undihre Nachfahren, dem Grundherrn einen ewigen Zins zuzahlen. Der bestand neben einer bescheidenen Geldabgabehauptsächlich in Getreide, Flachs, Geflügel und Vieh.Für den gnädigen Herrn, der große Ländereien, das sogenannte Rittergut, für sich und seinen Unterhalt zurückbe-

hielt, waren die Siedler verpflichtet, landwirtschaftlicheArbeiten zu verrichten. Pflügen, ernten, Heu machen, Zäuneflechten, Holz schlagen und fahren, bei der Jagd und demFischfang behilflich sein und mehr dergleichen Arbeiten, daswar das, was man Frondienste nannte.

Sogar ihre Gespanne hattendie Vollbauern, Pferdnergeheißen, mitzubringen,während die erst später

aufkommenden Häusler, zudenen auch Burgstädtergehörten, nur zu Handfronenverpflichtet waren. Einschreibkundiger Beamterdes Grafen, der die Schoß-und Zinsregister führte unddarum Schösser hieß, sagte die Frontage dem Ortsrichteran. Der hatte nun dafür zu sorgen, dass Hand- Spannfrönerpünktlich vollzählig an der Arbeitsstelle erschienen. Nichtselten mussten die Fröner vor Tag und Tau aufbrechen,besonders diejenigen unter ihnen, die einen weitenAnmarsch hatten. Zu ihnen gehörten die Bauern von Hart-mannsdorf, die der Herrschaft Rochsburg zins- und fronpf-lichtig waren. Begleiten wir sie auf ihren Weg zum Hofe-dienst. Zunächst ging es die Dorfstraße abwärts, die am

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Impressum:

Herausgeber: verantwortlich für den Inhalt Stadt Lunzenau, Bürgermeister Ronny Hofmann Gesamtherstellung, Anzeigeneinkauf und Vertrieb: Riedel Verlag & Druck KG,Gottfried-Schenker-Straße 1, 09244 Lichtenau / OT Ottendorf, Telefon: 037208 / 867100, e-Mail: [email protected], Verantwortlicher: Reinhard Riedel Erscheinungsweise: Das Heimatblatt erscheint jährlich, kostenlos in allen freigängigen Haushalten in Lunzenau miteingemeindeten Ortsteilen.

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Bache entlang, in den ältesten Zeitenim Bachbette entlang, auf Göppers-dorf zu führte. Dies aber zinste undfronte der Herrschaft Penig, war alsofür die Hartmannsdorfer Ausland.Doch hatten letztere von jeher dasRecht eines freien Fronweges durchdie Göppersdorfer Flur, ein Recht, dassie an den Gerichtstagen des oberenDingstuhles immerzu rügten, d.h. inErinnerung brachten.

Zunächst benützten die Hartmannsdorfer Fröner inGöppersdorf einen Weg entlang des Bachbettes, bzw. diespätere Dorfstraße. Um aber den großen Bogen, den derBach auf seinem weiteren Laufe durch Burkersdorf undHeiersdorf macht, abzukürzen, wandten sie sich in etwa derGegend der heutigen Albertsburg nach links in die Felder. Erst Göppersdorfer, dann Burkersdorfer Wirtschaftswegefast rechtwinklig schneidend, stießen sie bald auf denBurkersdorfer Viehweg, d.h. die heutige Straße nach Mühlauund Chursdorf, und zwar dort, wo heute die Fahrstraße nachHelsdorf abzweigt. Sie ist der modernisierte Hartmannsdor-fer Fronweg, von da aber nur bis zur Waldesecke.

Während die Helsdorfer Straße scharf nachlinks biegt, führt geradeaus ein ziemlich brei-ter, ungepflegter Fahrweg in den Wald amRoten Stein, wo er sich stellenweise zumHohlweg verengt. Dieser heute meist vonAusflüglern begangene Weg sah jahrhunder-telang die Hartmannsdorfer, Burkersdorferund Burgstädter Fröner nach Rochsburgzum Hofedienst ziehen. Von rechts hergesellten sich zu ihnen die Heiersdorfer, vonlinks bald darauf die Helsdorfer Fronpflichti-gen. Der Weg ähnelt heute noch stellenweiseeiner mittelalterlichen Fahrstraße, besonders

dort, wo er steil ins Muldental hinunterführte. Am rechtenMuldenufer ging es nun flussaufwärts bis ungefähr zu derStelle, wo heute der Kettensteg ist. Hier stand um 1630 einHolzsteg, den natürlich die Fröner mit ihren Geschirren nichtbenutzen konnten. Für sie war eine Furt da.

Die Fröner aber mussten hindurch, um dann auf steilemWege den Gutshof zu erreichen, wo der Schösser sie schonerwartete, um ihnen die Arbeit anzuweisen. Bei anbrechen-der Dunkelheit kehrten sie auf demselben Wege, den sie inder Morgendämmerung gekommen waren, nach ihrenDörfern zurück.

In ältesten Zeiten waren dieFrondienste gering bemes-sen und wurden willig geleis-tet. Im Laufe der Jahrhunder-te aber änderten sich dieVerhältnisse sehr zu ungun-sten der Bauern. DurchRodung von Wäldern und

Trockenlegung von Sümpfen vergrößerten sich die Herr-schaften allmählich ihre Acker- und Wiesenfläche, die Zahlder Fröner blieb aber immer die gleiche. Der Gutsherr wargegenüber den Bauern wirtschaftlich und rechtlich stärker,da er gleichzeitig ihr Gerichtsherr war. Die auf dem Bauerliegende Fronlast wurde immer drückender, sein Widerwillegegen die erzwungenen Dienste immer größer. Kam es doch nicht selten vor, dass seine Ernte auf demFelde verdarb, weil Fron-dienste ihn verhinderthatten, gutes Erntewetter fürsich auszunützen. Herren-dienst ging ja, einem altenSprichworte zufolge, sogarvor Gottesdienst. Wie eine Kunde aus längstvergangenen Zeiten mutetuns das Fronwesen heute an, und doch sind noch keinehundert Jahre verflossen, seit die Hartmannsdorfer undBurkersdorfer Fröner zum letzten Male nach Rochsburg zumHofedienst zogen. Das Ende der bäuerlichen Erbuntertänig-keit zu schildern, überlasse ich einer anderen berufenenFeder.

Foto:J. Heber

Furt in der Mulde in Rochsburg bei Bauarbeiten 2008 Foto: D. Seifert

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Dieter Seifert, Jürgen Heber, Eugen ZschageAutorenkollegium Burgstädt

Mein Vater Heinz Vogel

Am 04.12.1915 wurde meinVater Heinz Vogel als vier-tes Kind von Otto Ernst undMartha Kamila Vogel gebo-ren. Über seine Kindheitweiß ich nicht viel, aberspäter als junger Mannmusste er in den Krieg.Er hat als einer von weni-gen Stalingrad in Gefan-genschaft knapp überlebt.Er war Sanitäter.Ich könnte mir vorstellen,da es dort sehr kalt war, hat

er den Beruf des Kürschnersmeisters gewählt.Am 04.12.2015 würde er 100 Jahre alt werden. Leider ister am 15.05.1988 verstorben.

Marion Spreer (geb. Vogel)

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Rund um den MühlhofErinnerungen aus der Kinder- und Schulzeit in der Stadt LunzenauErinnert-Recherchiert-Niedergeschrieben von Otto Lorenz, Lunzenau, Mai 2014

EinleitungMein Elternhaus war unmittelbar in der Nähe des Mühlhofes,der Stadtmühle Lunzenau. Hier in diesen Bereich wuchs ichauf, spielte als Kind und Schüler auf diesen Platz.Für alle Kinder, die hier im Bereich wohnten, war es der idea-le Punkt zum Spielen und anderen Abenteuern. Für uns wares der beste Spielplatz. Hervorzuheben ist dabei, dass inunmittelbarer Nachbarschaft interessante Bereiche lagen,die zu vielseitigen Spielen Anregung und Möglichkeitenboten. Es war der gesamte Bereich des Elsbaches, derKellerberg und Richtergrund. Während der Suche nach Kindheitserinnerungen fand ich ineinem Fotoalbum ein Bild, auf denen eine große Anzahl vonKindern neben einen großen Schneemann standen. Ich warnur mit dem Kopf zu sehen, unmittelbar im Bereich desHalses. Nach kurzen Überlegungen muss es die Zeit(1928/31) gewesen sein, eventuell nach dem strengenWinter 1929.Diese Feststellung ließ in mir die Tatsache entstehen, diedamaligen Verhältnisse aufleben zu lassen und für die Nach-welt zu hinterlassen. Ich habe mich bemüht, die Ereignisseso darzustellen, wie wir diese als Kind bzw. Schüler erlebthaben

Unser Kinderparadies - Der Mühlhof und seine UmgebungVor den Mühlhofgebäude und seinen Nebengebäudenerstreckt sich der Mühlhof und wird von der AltenburgerStraße begrenzt. Dieses Areal wird in zweifacher Nutzungverwendet. Der größte Teil ist die gewerbliche Nutzung. Hierwird das Getreide zur Bearbeitung angeliefert und die Ferti-gerzeugnisse abgeholt. Ein Teil ist mit Pflaster versehen.Täglich rollen hier Pferdefuhrwerke an, mit unterschiedlicherWagengröße. Zu Spitzenzeiten, z.B. Getreideernte herrschthier ein sehr hoher Fahrverkehr. Jeder Anlieferer möchte derErste sein. Der verbleibende Teil dieses Platzes ist unserAufenthaltsort und Spielzentrum. Eingebettet ist diesesStück Land zwischen den Giebel der Mühle und den Restau-rant Stadt Altenburg. Es ist unser Freizeitparadies.Hier war unser Treffpunkt, jeder konnte kommen und gehen,wie es ihn gefiel. Es entstanden dabei größere Gruppen,sowie kleinere Grüppchen und auch Alleinspieler. Die Fest-legung der jeweiligen Aktivitäten ergab sich meist nachlängerer Beratung. Wichtig war, dass die gemeinsameTätigkeit interessant, abwechslungsreich und lehrhaftenInhalt hatte. Dieses Zusammenleben bildete die Grundlagefür das kommende Leben in einer Gesellschaft, in der sozia-les und kollektives Verhalten gefordert wurde. Hier tummel-ten sich die Kinder und Jugendliche, vom Säugling, dergerade das Laufen gelernt hatte, bis zum Schüler, der inkurzer Zeit die Schule verlässt und in das Arbeitslebeneintritt.

Wer waren die Kinder des Mühlhofes?Es waren Kinder aus unterschiedlichen Familienverhältnis-sen und Weltanschauungen. Für uns Kinder hatten sie nurein Ziel, die besten Voraussetzungen für ihr Leben zu schaf-fen. Für sie war es nicht leicht, diese Aufgabe zu erfüllen. Esherrschte Not, Elend und Armut, sowie Arbeitslosigkeit.Diese Zeitumstände hatten auch Auswirkungen auf dieLebensführung. Manchmal sagten meine Eltern: „Heute war

Schmalhans Küchenmeister“ Mit diesem Ausspruch wurdedeutlich gemacht, dass es ein einfaches Essen war undwenig Geld zur Verfügung stand. Weitere Merkmale zudieser Zeit finden darin ihren Ausdruck, dass wir als Kinderab April bis Oktober Barfuß gelaufen sind, auch in die Schu-le. Die vorhandenen Schuhe waren vielseitig einsetzbar,aber nur im Herbst und Winter. An Ober- und Unterbeklei-dung war nur ein Mindestbedarf vorhanden. In den Familienmit mehr Kindern war es die Regel, dass die vorhandeneOber-und Unterbekleidung, sowie Schuhwerk von Kind zuKind gereicht wurde. Mit diesen Sachverhalten haben wiruns abgefunden und nicht beeinflussen lassen, wir hattenuns daran gewöhnt. Für uns galt nur, eigenständig und viel-seitig in einer Gemeinschaft von Kindern zu sein und tüchti-ge Menschen zu werden. Aus der Vielfalt unserer Aktivitätenauf den Spielplatz sollen einige typische Art und Weisendargelegt werden. Es gab gemeinsame Spiele, sowie inner-halb von Gruppen oder Einzelpersonen… Mit an erster Stel-le stand das „Suchspiel“. Aus den Kreis der Teilnehmerwurde eine Person ausgewählt, die sich verstecken musste.Ihr Auftrag bestand darin, sich so zu verstecken, dass sienicht gleich gefunden werden konnte, sich aber selbst, ohnegefunden zu werden, den Ausgangspunkt erreicht. Nunbegann die Gruppe laut von 10 bis 1 zu zählen und derVerstecker rannte los. War die letzte Zählzahl verklungen,rannten alle los, um den Verstecker habhaft zu werden. Daswar ein Gerenne, weil jeder den Verstecker finden wollte, umals nächster Verstecker zu sein. In den meisten Fällen wurdeder Verstecker entdeckt und gefangen. Mit selben Eifer undEinsatz wurde das Spiel „Räuber und Gendarm“ durchge-führt. Hier war die Gruppe in zwei Bereiche eingeteilt. Einewar der Räuber und die andere der Gendarm. Der Inhalt derHandlung bestand darin, dass sich zwei Gruppen einen klei-nen Ringkampf leisteten, mit dem Ziel, wer ist der stärksteBereich. Die Kampfhandlungen verliefen ohne Nachwirkun-gen und Verletzungen. Hoch im Interesse standen in der abendlichen Dämmerungdie sogenannten „Mutprobenläufe“. Die Aufgabe für denLäufer bestand darin, durch mehrere hinter den Grund-stücken gelegenen Grundstücke, ohne gesehen zu werden,den Ausgangspunkt zu erreichen. Der Kurs für diesenMutlauf erstreckte sich ab der Litfass-Säule, GrundstückZigarrenfabrik Seifert, Meister, Welsch, Schlegel, Lippmann.

Der Mühlhof mit alter Stadtmühle

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Oftmals wurden aus dieser Gesamtstrecke einzelneStrecken festgelegt. Einen besonderen Höhepunkt dieserMutprobe war, dass in einen Gefäß Wasser aus dem Teichvon Zigarrenfabrikant Meister mitgebracht werden musste.Hatte der Probant seine Mutprobe, ohne gesehen zuwerden, erfüllt, erhielt er ein Lob von allen und stieg einenRang im Gruppenbereich.Nicht zu vergessen ist das Spiel mit „kleinen und großenKugeln“, den sogenannten Murmeln. Als erstes wurden klei-ne Ziellöcher ausgehoben, in die es galt, die höchtmöglicheMenge kleiner Kugeln einzubringen. Jeder Spieler hattedazu eine Anzahl von Kugeln (meist 10 Stück). Je nach Fest-legung wurden nun eine Anzahl Kugeln auf den Boden fallengelassen und das Spiel begann. Mit einer Kugel musste eineandere Kugel so getroffen werden, dass diese in das Ziel-loch gelangte. Die Spielrunde ist beendet, wenn der ersteSpieler all seine Kugeln sicher in das Zielloch eingebrachthat. Er ist der Sieger. Über die nachfolgende Reihenfolgewird die noch vorhandene Kugelzahl genutzt. Dieses Spielerforderte Konzentration, logisches Denken und Ausdauer.Mit dem Einsatz von unterschiedlichen Kugelgrößen lässtsich der Schwierigkeitsgrad des Spieles weiter erhöhen.Das liebste Spiel der Mädchen waren ihre Puppen und derKinderwagen. Die Art der Puppen und ihre Gesichter, sowieBekleidung waren vielfältig. Es waren einfache Puppen, diedie Eltern oder sie als Kind selbst angefertigt hatten. AlsAusgangsmaterial wurde meist ein alter Strumpf genom-men. Ausgestopft mit Holzwolle oder ähnlichen Material.Kopf, Arme, Beine gestaltet und angebracht und fertig warsie, die Puppe. Echte Puppen aus dem Handelbereichwaren selten hier bei uns. Die Bekleidung wurde aus Stoffre-sten zugeschnitten und zusammengenäht. Ebenfalls warennur vereinzelte Puppenkutschen gekauft, die Mehrzahlbestand aus persönlichen Gesichtspunkt und Material. Sehr beliebt waren dabei die Puppenkutschen aus einenOber- oder Unterteil eines Schuhkartons. Ein paar Kissen,Decken eingelegt, Bindfaden zum Ziehen angebracht undfertig war der Kutschwagen. So manch ein Mädchen hatteoftmals für ein kleines Baby nur eine Streichholzschachtel.Stolz spazierten sie mit ihrer Gefährtin in der nahen Umge-bung herum.Spielten sie nicht mit ihren Puppen, so stand „Himmel-Hopp“ auf der nachfolgenden Betätigungsform. HimmelHopp ist ein Sprungspiel, das in einer genau festgelegten,gekennzeichneten Figur zu absolvieren ist. Die Grundformbesteht aus einer Längenachse mit 6 bis 8 Feldern, in derGröße 40x40 cm und darüber verlaufenden Halbbogen/dem Himmel. Im zweiten Drittel der Grundform zweigenmindestens Felder zur Seite ab. Die Nutzung dieser Felderwar vielseitig möglich, die gültige Variante wurde immer erstfestgelegt. Grundsätzlich galt, entweder mit beiden Beinenspringen oder nur mit einen. Hinzu kamen Kreuzbeinsprün-ge und Drehsprünge. Ausgehend von diesen Sachverhaltwurden die entsprechenden Durchgänge durchgeführt. DerSprung in den „Himmelbereich“ musste stets mit einemDrehsprung erfolgen. Der Rückweg zum Anfangsort erfolgteunter denselben Bedingungen. Bewertet wurde wie folgt:Zeit, unterlaufene Fehler, Qualität der Sprünge. Diese Spiel-art ist einfach, doch abwechslungsreich und interessant undsportlich wertvoll für Gleichgewicht und Konzentration.Die Aufzählung der Spielarten könnte vielseitig aufgezeigtwerden, einige will ich jedoch in Erinnerung bringen. Spiel mit den KreiselAn einen Holzstab ist ein Bindfaden angebracht. DieserFaden wird um den Kreisel gewickelt und durch schnelles

Blick vom Harthberg auf das Areal des Mühlhofes

abdrehen von den Faden in Drehung versetzt. Jetzt gilt es,mit diesen Faden weiter in Drehung zu halten. Das Spielendet, wenn die Drehung zu Ende ist.In dieser Form lässt ebenfalls das Spiel über eine festgeleg-te Strecke durchzuführen.

Rad- oder ReifentreibenRadtreiben – Ein kleines bis mittleres Rad von Handwagenoder ähnlichen Fahrzeugen erhält in der Nabe einen Stockeingesetzt, der als Führungsstab genutzt wird. Mit der Handwird das Rad zum Laufen gebracht. Jetzt wird mit dem Stabin der Hand der Führungspunkt erfasst, das Rad geschobenund gelenkt. Es gibt dabei das freie Fahren und Fahren nachfestgelegten Kurs.Reifentreiben – Hier wird ein einfacher Holzreifen in Bewe-gung versetzt und mittels eines Stockes weitergetrieben.Ein einfacher Holzreifen wird in Bewegung gebracht. Miteinen Stock wird er so bearbeitet, dass die Drehbewegungweiterhin erhalten bleibt. Auch hier gilt, welche Variantegewählt wurde, zählt. Mit dem Fall des Reifens bzw. abwei-chen von Kurs scheidet der Spieler aus. Wer als letzter nochtreiben kann, ist der Sieger. In vielfältiger Art und Weise gibtes Spiele mit dem Ball. Ballfakeln ist eine Disziplin, die mitunterschiedlichen Ballgrößen zwischen Person und Ball-wand absolviert werden. Ballwerfen erfolgt in der GruppeMann zu Mann oder in Paar-Form. Auch hier sind unter-schiedliche Ballgrößen sehr beliebt. Wettrennen erfolgten inverschiedenen Formen, Kurz- oder Mittelstrecke, mit undohne Hindernis.Figuren drehen, Gesichter ziehenTausch von ZigarettenbildernSeifenblasen blasenZiele - größte, höchste, weiteste

Hier abschließend ein paar Ereignisse, die wir oftmals erle-ben konnten.Der Essenkehrer – Regelmäßig wurde von ihnen der Putzder Schornsteine vorgenommen. Schwarz gekleidet, mitZylinder auf dem Kopf war er unterwegs. Am Eingang desHauses, das zum Kehern stand, lehnte ein schwarzer Sack,in denen der Rus aufbewahrt wurde. (Zulieferung für dieHerstellung von schwarzer Schuhcreme)Jetzt sahen wir alle nach oben zum Dachfirst.Aufgestiegen war er beim Bäcker Hölig, stand freistehendoben. In der Hand das Seil mit Eisenkugel und Besen, das erdann langsam in der Esse hinab lies. Nacheinander immerauf den First entlang bis zu Schindlers war er am Kehren.Immer wieder waren wir von dieser Artistik begeistert undhaben stets versucht, dieses Schauspiel zu erleben.

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LUNZENAUER HEIMATBLATT 2015

Der Gasmann – Im Haus Classe wohnte Herr Baumann. AlsArbeiter war er in der Firma Wilhelm Vogel als sogenannterGasmann eingesetzt. Seine Person war riechbar, dennwegen dem Umgang mit Gas hatte seine Bekleidung davonGeruch genommen. Nach Arbeitsschluss und zu bestimm-ten Wetterlagen konnte man diesen Gasgeruch feststellen.Zu so einer Zeit setzten wir Jungen in größeren Abstandhinter Herrn Baumann, um diesen Duft in uns aufzunehmen.Wenn wir dann bei diesen Tun nicht erkannt worden und esals normaler Ablauf von statten ging, waren wir besondersfroh.

Dieser Zeitraum wurde auch dadurch gekennzeichnet, dassHandwerksgesellen, Bettler und Zigeuner durch die Stadtzogen. Die Zigeuner – hatten mit ihrer Sippe im Pfarrholz fürmehrere Tage ihr Quartier aufgeschlagen. Die Erwachsenenzogen als Scheren- und Messerschleifer durch die Stadt.Frauen und Kinder liefen bettelnd herum. So wie sie gekom-men waren, waren sie auch wieder weg. Vereinzelt gab esauch Differenzen zwischen Bürger und Zigeuner. Verliefmeist friedlich.

Mit dem Ende des Jahres 1932 ging gleichfalls die Gemein-schaft „Mühlenhofkinder“ zu Ende. 1933 trat eine neue Gesellschaftsordnung in Kraft, die zueinen 2. Weltkrieg führte und Deutschland in größten Ruin,Not und Elend zurückgelassen hat.

5. Tummelplatz - ElsbachbereichDer Quellbereich des Elsbaches liegt am Ortsausgang vonOberelsdorf. Hier an der Anhöhe liegt sein weitverbreitetesQuellgebiet. Hier beginnt sein kurven- und windreichernatürlicher Bachverlauf. Einmal eilt er ungestüm voran,andererseits lässt er sich Zeit auf seiner Wanderung. ÜberSteine springend und Wellen schlagend strebt er seinen Zielzu. Unterwegs schließen sich kleine Nebenbäche an. Einigeim Tal vorhandenen Mühlen führt er Wasser zu, damit dasMühlenrad sich drehen kann. Auch den Teilchen in seinerNachbarschaft liefert er Wasser, damit die erforderlicheWasserhöhe gesichert wird.Am Stadtanfang von Lunzenau, in der Höhe des Pfau´schenSteinbruchs wird der Bachlauf erstmalig durch ein Wehrgesperrt. Mit dieser Anlage wird die Wasserzuführung zurStadtmühle gesichert. Über die schiefe Ebene des Wehresfolgt der weitere Verlauf. Das beginnende Bachbett hat einstarkes Gefälle, sodass einen hohe Fließgeschwindigkeitentsteht. Im Bereich der Stadtmühle wird dieser schnelleLauf durch eine Felswand gestoppt. Es bildet sich ein star-ker Strudel, der Erde und Fels bearbeitet. Es entstehenLöcher und Spalten im Fels-und Erdreich- ein Tummelplatzfür Fische und andere Wassertiere. Der Strudel führt dazu,dass der Bach nach links abdreht. Nachdem der Bach unterder Brücke vorbei geflossen ist, fließt schon ein kleiner Bachaus den Richtergrund, der auch mitreisen will. Einige Meterweiter kommt das Wasser des Mühlgrabens zu seinen Bachzurück. Gemeinsam fließt nun der Elsbach mit seinen Zuläu-fen der Zwickauer Mulde zu- er wird einen langen Lauf biszum Meer antreten.Unser Betätigungsbereich erstreckte sich von der Felswandmit Wasserstrudel bis zum Grundstück der ZigarrenfabrikSchindler. Hier herrschten ideale Bedingungen, dasauszuüben, was es in einen solchen Bachverlauf erlebenkann. In Gruppen und Grüppchen, sowie als Einzelnerkonnte man das ausüben, was einen gefiel. Das Vergnügenam Bach begann meist mit den sogenannten „Bach sprin-

gen“. Jeder suchte sich eine geeignete Sprungstelle in einerin Frage kommenden Breite. Bevor es begann, wurdennoch die Bewertungsfaktoren der Sprünge festgelegt. Esgalt in der Regel die Weite des Sprunges oder die darge-stellte Flugfigur. Jetzt ging es los. Natürlich gab es auchSprünge, die mit der Landung im Bach endeten. Da gab esein großes Hallo. Der Ausgelachte reagierte meist sofort miteinen Guss Wasser auf den Spötter. Im Handumdrehenentwickelte sich eine tolle Spritzschlacht, an der sich allebeteiligten. So schnell, wie die Schlacht begann, endete sieauch, neues begann. Kleine Gruppen und einzelneerschlossen den Bachlauf auf ihre Art. Wasserstampfen,spritzen mit Armen und Beinen, hineinsetzen, sowie legenwaren die liebsten Dinge. Aus den Wasser treten, inSchlamm waten und wieder ins Wasser, das war eine feineSache. Etliche errichteten einen kleinen Stau, in den sie amÜberlauf ein selbst gebasteltes Wasserrad zum Einsatzbrachten. Mit großer Begeisterung wurden Papierschiffegefaltet, mit denen dann verschiedene Wettkämpfe durch-geführt wurden.Wettkampfdisziplinen waren:

das schnellste Schiffdie weiteste Fahrtdie längste Haltbarkeit

Eine große Teilnehmerzahl war begeistert von diesem Spiel.Die Gewinner in den Disziplinen waren erfreut und stolz.Diese Art von Bootsrennen wurde auch mit aus Kiefernrindegeschnitzten Booten durchgeführt, sowie gewertet. Oftmalswurde an einer ausgespülten Wasserecke ein Stau errichtet,in dessen Bereich die Schiffe zum Schwimmen eingesetztwurden. Damit es mehr Spaß machte, erhielten die Booteein Segel, die Windmacher waren die Bootsführer. Natürlichwaren in unseren Bereich auch Fische (Dreckschmerlen),kleine Krebse, Frösche, sowie weitere Wassertierartenvorhanden. Wurde ein Tier gefangen, so kam es in einWasserglas und wurde allen gezeigt und entsprechenderläutert. Nach der Schau wurden die Tiere wieder in dasBachbett eingesetzt. Der Höhepunkt des Sommerswährend der großen Schulferien war der Bau einer Stau-mauer über den gesamten Bachbereich. Der Aufbau erfolg-te unter der Elsbachbrücke, damit wir in aller Ruhe und inmehreren Tagen diese Tätigkeit vornehmen konnten. Obklein oder groß, alle wollten und konnten mitarbeiten. Esgalt Steine zu sammeln, Gaspatzen abzustechen, Lehmherbei zu holen und Schlamm bereit zu stellen. Das Bauzielbestand darin, einen Mindestwasserstau von 50 cm Höheund einer Länge von 15 m zu erzielen. Von den Dammbau-ernwurde konzentrierte Arbeit gefordert, denn trotz größterVorsicht Traten verschiedene kleine Brüche auf. Trotzdieser Missgeschicke wurde das Ziel erreicht. Jetzt kamdas Schönste, hinein in den Stau, jeder tat dies auf seineArt. Stehend, sitzend, liegend. Plantschen und ruhen wardas beliebteste. Zur Sicherheit der Staumauer war dieWellengestaltung nicht gestattet. Aber unsere Disziplinwurde belohnt, in dem zum Abschluss der Nutzung alle soviel Wellen schlagen konnten, wie er wollte und der Dammbrach. Jetzt begann die Jagd mit der Flutwelle, doch wirwurden schnell abgehängt- der Bach war schneller. Nach-dem wurde dieser Platz wieder aufgeräumt und in Ordnunggebracht. Während unseres Aufenthaltes im Bachbereichzeigten die Anwohner Verständnis für unser Tun. War eseinmal zu laut, mahnten sie uns. Ganz anders sahen dasunsere Polizisten in ihrem Revier im Rathaus. WachtmeisterNestler/ Stadtmühle, Richter/Pfau Steinbruch, Hälsig/Friedhofstraße. Sie waren bemüht, uns vor eventuellen

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Unarten und Streichen abzuhalten. Während ihrer Diens-trunden tauchten sie deshalb unverhofft oder gezielt auf. Eswar immer wieder wie ein Katz und Maus Spiel. Wir erkann-ten sie und flüchteten, aber manchmal wurden wir gestelltund mussten uns mahnende Worte anhören, sowie unterihrer Aufsicht Ordnung schaffen.

Einiges zum SteinschleifenAus einen Stück roten Ziegel, am besten von Dachstein sollein kleines Schmuckstück werden. Es wird festgelegt, wiedie Figur aussehen soll und das Schleifen beginnt. Mit derFührungshand wird das zu schleifende Teil über eine raueSteinfläche, unter Zuführung von Wasser bearbeitet. Beiallergrößter Vorsicht kam es aber auch vor, dass währenddes Schleifens das Stück zerbrach - mit neuen Mut begannes dann von vorn. Nach Abschluss dieser Schleifarbeitenwurden sie alle begutachtet. Es gab keine Sieger, denn allehatten sich bemüht, das bestmöglichste Ergebnis zu erzie-len. Das war die Zeit im Elsbereich.Anmerkung der Redaktion:Diese Erinnerungen stellen nur einen Auszug aus denumfangreichen Kindheitserinnerungen von Herrn Lorenzdar. Die gesamte Dokumentation kann im Ortsarchiv derStadt Lunzenau eingesehen werden. ehemalige Gaststätte „Stadt Altenburg“ am Mühlhofplatz

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