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HEFT 17, Herbst 2000 Inhalt Globalisierung und Informationsgesellschaft Grundlagenforschung trifft auf Zahnmedizin „Tissue engeneering“, PRP in der Knochenregeneration Minimalinvasive Wurzeloberflächenbearbeitung Okklusion und CMD Membrangeschützte Heilung von Extraktionswunden Kursberichte Neue Wege gehen - aber richtig, Lembach Gerald Bowers Study Club, Baltimore Magne et Magne, Natürliche orale Ästhetik, Wiesbaden Clean, Shape and Phil, Günzburg Clean, Shape Pack II, Ruddle Santa Barbara

NEUE GRUPPE NEWS - Heft 17 - Herbst 2000

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HEFT 17, Herbst 2000

Inhalt

Globalisierung und Informationsgesellschaft

Grundlagenforschung trifft auf Zahnmedizin

„Tissue engeneering“, PRP in der Knochenregeneration

Minimalinvasive Wurzeloberflächenbearbeitung

Okklusion und CMD

Membrangeschützte Heilung von Extraktionswunden

Kursberichte

Neue Wege gehen - aber richtig, LembachGerald Bowers Study Club, BaltimoreMagne et Magne, Natürliche orale Ästhetik, WiesbadenClean, Shape and Phil, GünzburgClean, Shape Pack II, Ruddle Santa Barbara

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Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, liebe Freunde derNEUE GRUPPE, mit unserer Jahrestagung setzen wir einen Schwerpunkt in der Fortbildungzum Thema Ästhetische Implantologie. In den letzten Jahren hat es aufkeinem Teilgebiet der Zahnheilkunde einen solchen Behandlungsfort-schritt gegeben wie auf dem Sektor der Implantologie. Es gab und gibtunzählige Methoden und Systeme auf dem Markt, die jedoch nicht allezu dem gewünschten Erfolg führen. Zusätzlich kommen neue Erkenntnis-se der Frühbelastung, Anwendung von Eigenblut (PRP) und neue Verbin-dungskonzepte Implantat/Prothetik dazu.Die Evidenzstudien der letzten Jahre, verbunden mit Erfahrung aus derParodontologie im Schleimhautmanagement, zeigen jedoch die unge-ahnten Möglichkeiten dieser Kombination.Unsere eingeladenen Referenten aus Europa und den USA werden dazuihre Vorstellungen darlegen. Der gemeinsame Vortrag der Herren Professoren Belser und Buser zeigtalle Möglichkeiten der Versorgung von Frontzahndefekten auf.Die amerikanischen Kollegen David Gelb und Richard Lazzara setzen auffrühe Versorgungen und Erhaltung der Knochenstrukturen. Prof. LouisRose beschäftigt sich mit der Sofortbelastung. Dr. Peter Wöhrle schließtden Kreis zwischen Chirurgie und Prothetik. Auch wird die Globalisierungmit mehr Information und Vergleich der Sozialsysteme nicht vor unseremBerufsstand halt machen. Prof. Dr. Dr. Radermacher stellt unseren Sektorkritisch dar, mit dem starke Veränderungen in unserem Berufsbild entste-hen werden. Dennoch sehe ich darin Chancen, dass der tüchtige, infor-mierte und auf dem Stand der Wissenschaft stehende Zahnarzt neue undbessere Möglichkeiten findet.Die Vorstellungen der NEUE GRUPPE in der Fortbildung führen in dieserRichtung. Die Kombination von Kongressen mit Praxisfortbildung in klei-nen Gruppen fördert in hohem Maße die Kompetenz der Kollegen. Des-halb werden wir auch in Zukunft Fortbildungsveranstaltungen auf höch-stem fachlichen Niveau durchführen. Auch die Frage der Zertifizierungund die Stellung der berufsständischen Fortbildungsinstitute werden unsnoch beschäftigen. Aus unserer Sicht darf es nicht zu einer Einschränkungder privaten und individuellen Veranstaltungen kommen. Die Vielfalt bie-tet den Kollegen ein breites Spektrum.Die Qualität der gebotenen Fortbildung wird sich letztlich im Rahmen derInformationsgesellschaft durchsetzen. Dabei muss die Bestätigung derFortbildung durch den Veranstalter auch bei geänderten Weiterbil-dungsregeln gewährleistet sein.Die NEUE GRUPPE – Nachrichten sind mit ihren Beiträgen und Informa-tionen ein Forum der Aktivitäten unserer Mitglieder und Freunde.

Mit herzlichen GrüßenRolf Herrmann

Editorial

Glückwünsche Günther Lomberg feierte am 2. August seinen 80sten Geburtstag. DieFreunde der NEUE GRUPPE gratulieren herzlich und wünschen alles Gute.Am 30 Oktober wurde Axel Bauer 65. Herzliche Glückwünsche zu die-sem Festtag. Zu seinem sechzigsten Geburtstag am 10. November gratulieren wirBerthold Meister von ganzem Herzen.

Die NEUE GRUPPE wünscht allen Jubilaren beste Gesundheit und allesGute.

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Neue Gruppe

Der vorliegende Text beschäftigt sich in Teil I mit der Situation des Wirt-schaftsstandorts Deutschland. Es ist noch nicht lange her, da war dieserStandort weltweit ein Beispiel für Wohlstand in Verbindung mit sozialerAusgewogenheit und Umweltverantwortung. Und die Sehnsucht der Bür-ger gilt diesen guten Zeiten. Sie möchten eigentlich nicht wahrhaben,dass sich die Randbedingungen für das Erreichbare wesentlich veränderthaben. Der vorliegende Text beschreibt, wieso sich in der Folge derökonomischen Globalisierung diese Randbedingungen für deutsche undeuropäische Staaten dramatisch verändert haben. Die Rolle der Infor-mations- und Kommunikationstechnik in diesem Kontext wird beleuchtetund ebenso die Frage, ob der Weg in eine weltweite Informations- undWissensgesellschaft in Verbindung mit der ökonomischen Globalisierunguns dem seit der Rio-Weltkonferenz auf der Tagesordnung der Weltpoli-tik stehenden Ziel einer nachhaltigen Entwicklung näher bringt.

In Teil II werden vor diesem Hintergrund die Anpassungsnotwendigkeitenin Deutschland und Europa an diese Veränderungen diskutiert. Die vor-gestellten Überlegungen zielen auf eine Doppelstrategie, die Anpassun-gen an den aktuellen Weltmarktdruck mit politischen Initiativen für einebessere Weltordnung verbindet. Konsequenzen für die Zukunft der Arbeitund die Zukunft der Sozialsysteme in den entwickelten Industrienationenwerden vor diesem Hintergrund ebenfalls diskutiert. Einige Hinweise be-treffen aktuell notwendige Anpassungsmaßnahmen, die allerdings in ver-nünftige weltweite politische Aktivitäten eingebunden werden sollten.

Schließlich werden in Teil III eine Reihe von Beobachtungen und Anre-gungen gegeben, die sich auf den Medizinsektor beziehen. Dabei gehtes insbesondere um intelligente Anpassung an Weltmarktzwänge unteraktuellen Bedingungen der Globalisierung, aber auch um eine nach wievor wichtige soziale Orientierung.

Einige Hinweise zu Verantwortungsfragen schließen den Text ab.

I. Weltwirtschaftliche Herausforderungen

I.1. Die Globalisierung und ihre Folgen

Für die heutige Situation der Weltwirtschaft ist der Prozess der ökonomi-schen Globalisierung charakteristisch. In diesem Prozess wachsen dieMärkte immer mehr zusammen. Angebote werden vergleichbar, Kauf undVerkauf von Leistungen können überall auf diesem Globus erfolgen. AlsBeispiele genannt seien deutsche Automobilprodukte, die in Brasilienmontiert werden, während Teile dieser Fahrzeuge in anderen Erdteilengefertigt werden. Ähnlich wird heute schon die Reisekostenabrechnungvieler deutscher Großunternehmen im südostasiatischen Raum bearbeitetund die Wahrnehmung der Kunden-Betreuungsfunktion großer Telekom-munikationsanbieter von den niederländischen Antillen aus sichergestellt.Die rasch voranschreitende Globalisierung resultiert wesentlich aus denveränderten politischen Bedingungen, aber mindestens ebenso sehr ausden Möglichkeiten der modernen Informations- und Kommunikations-technik. Diese Technologie überwindet Distanzen und beseitigt früher be-stehende staatliche Eingriffsmöglichkeiten, etwa beim grenzüberschrei-tenden Informationsaustausch. Charakteristisch ist heute insbesondere dieMöglichkeit der weltweiten Einbindung von Personen in Wertschöp-fungsketten, was zur Auslagerung von Arbeit führt, und die relativ freie,weltweite Beweglichkeit von Geld über elektronische Medien, was denstaatlichen Zugriff auf Gewinne, Einkommen und Vermögen im Sinne ei-

Globalisierung und Infor-mationsgesellschaft:Herausforderung für dieGesellschaft, die Sozial-systeme und den medizi-nischen Sektor

von Prof. Dr. Dr.F. J. Radermacher

Forschungsinstitut für an-wendungsorientierte Wis-sensverarbeitung (FAW)Helmholzstrasse 1689081 Ulm

email:[email protected]

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ner an den Prinzipien der Industriestaaten orientierten Sozialpolitik er-schwert. Ganz charakteristisch ist etwa die stürmische Entwicklung derSoftware-Technologie in Indien oder die Chipproduktion in Korea. DieserProzess wird sich weiter fortsetzen. Wissen und Bildung und ebenso Ka-pital sind heute weltweit verfügbar. Für Investitionen von etwa 30.000,—DM kann man heute junge Menschen fast überall auf der Erde in denWeltmarkt eingliedern (Multimedia-Workstation, Kommunikationsverbin-dungen). Zu bedenken ist dabei, dass ein Land wie Indien heute im Aus-bildungsbereich bereits ausgesprochen leistungsfähig ist. Indien bildet anseinen etwa 300 Universitäten jährlich so viele englischsprachliche Gra-duierte wie die USA aus und mit der weiteren Telematisierung der Aus-bildung über Multimedia-Systeme auf globalen Netzen wird sich dieserProzess der Qualifizierung junger Menschen rund um den Globus weiterfortsetzen.

Die beschriebene Entwicklung ist für unser Gesellschaftssystem und unsereSozialsysteme äußerst problematisch, weil wir in diesem Prozess auf dop-pelte Weise unter Druck geraten: zunächst durch die Wirkung auf unse-re Arbeitsplätze. Hierzu gehört die Möglichkeit der Auslagerung großerTeile von Wertschöpfungsketten in andere Länder (Osteuropa, Ostasienusw.). Damit geht mittlerweile indirekt die Notwendigkeit der Rücknahmebestimmter gewachsener sozialer Standards einher. Zum anderen ergibtsich parallel hierzu die abnehmende Möglichkeit einer unseren bisheri-gen Vorstellungen entsprechenden Besteuerung hoher Einkommen, Ge-winne oder Vermögen, insbesondere dann, wenn diese bei global ope-rierenden Unternehmen anfallen. Tatsächlich ist mittlerweile der Anteil derSteuereinnahmen aus Arbeitseinkommen deutlich größer als derjenigeaus Unternehmensgewinnen. Dadurch ist es uns immer weniger möglich,Ausfälle aus Arbeitseinkommen durch höhere Steuereinnahmen aus Un-ternehmensgewinnen zu substituieren. Dies hat heute schon zur Folge,dass sowohl beim Steueraufkommen als auch bei der Finanzierung derSozialsysteme, der normale Arbeitnehmer immer mehr zum Träger desgesamten Systems wird, was bei dem zunehmenden Druck auf die Ar-beitseinkommen langfristig große Schwierigkeiten erwarten lässt. Sozi-alpolitisch ist es dabei besonders schwierig zu verkraften, dass heute Un-ternehmen, vor allem solche, die international operieren, an der Börseoftmals dann besonders gut dastehen, wenn sie viele Mitarbeiter entlas-sen, wobei ein steuerlicher Zugriff auf die anfallenden Gewinne nicht wiefrüher möglich ist und diese Gewinne zudem eher im Ausland als im In-land reinvestiert werden.

I.2. Die Gewichte in der weltweiten Wirtschaft verschiebensich dramatisch

Die soeben beschriebenen Probleme der Globalisierung sind typisch fürdie entwickelten Industrieländer. Ihnen steht auf der anderen Seite ein Auf-schwung hoher Dynamik in Schwellenländern und manchen Entwick-lungsländern gegenüber. Insbesondere der südostasiatische Raum mit In-dien und Südchina, Malaysia, Indonesien, aber durchaus auch der ost-europäische bzw. frühere sowjetische Raum, Lateinamerika und anderesind auf dem Weg, sich in den Weltmarkt einzugliedern und substantiellaufzuholen; daran ändern in einer mittelfristigen Perspektive auch die ak-tuellen wirtschaftlichen Turbulenzen in diesen Regionen wenig. Die bereitserfolgten bzw. absehbaren Fortschritte sind allerdings mit zwei prinzipi-ellen Problemen behaftet, zum einen mit dem nach wie vor dramatischenweltweiten Bevölkerungswachstum, durch das die Einkommenssituation

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pro Kopf sich in vielen Fällen nicht so verbessert, wie dies aus einer ent-wicklungspolitischen Sicht eigentlich wünschenswert wäre, zum anderndurch die aus diesen Veränderungen resultierenden sozialen Problemeund globalen Umweltbelastungen, wobei gerade der letzte Punkt unterdem Aspekt der Globalisierung eine zentrale Bedeutung zu gewinnendroht.

I.3. Die Zielvorstellung einer nachhaltigen Entwicklung

Eine zentrale Herausforderung beim Übergang in ein neues Jahrtausendheißt nachhaltige Entwicklung. Die Erde ist heute bedroht durch eine im-mer rascher wachsende Weltbevölkerung, den ungebremsten Verbrauchvon Ressourcen, die zunehmende Erzeugung von Umweltbelastungen undschließlich die immer raschere Beschleunigung von Innovationsprozessen,die letztlich zu einer Unregierbarkeit unserer Gesellschaften führen kön-nen. Die Hoffnung, dass der technische Fortschritt, z. B. in Form einer zu-nehmenden Dematerialisierung (Erhöhung der Ressourcenproduktivität),die resultierenden Probleme lösen wird, hat sich bis heute nicht erfüllt. Dasist u. a. eine Folge des sogenannten Rebound-Effekts, der im Kern dazuführt, dass Einsparungen, die aus technischen Fortschritten resultierenkönnten, sofort in vermehrte Aktivitäten umgesetzt werden.

Informations- und Kommunikationstechnologie (IT) ist für die beschriebe-nen Prozesse der Globalisierung ein ganz wesentlicher Faktor. Einerseitswirkt IT “empowernd”, erlaubt weltweit Menschen, sich effizient in denWirtschaftsprozess einzubringen, ist damit indirekt eine wichtige Ursachefür den Abfluss von Arbeit aus den Industriestaaten. Dieser Prozess er-fordert dringend globale Vereinbarungen. Zum einen werden die Schwel-lenländer ökonomisch stärker. Zum anderen erzeugen sie in der Folgeähnliche Umweltbelastungen wie wir, erzwingen damit Verhandlungen,wenn katastrophale globale Umweltverhältnisse vermieden werden sol-len. IT ist andererseits Teil der Lösung, denn Informations- undKommunikationstechnik ermöglicht besonders weitgehende Effekte derDematerialisierung durch Technik; zu denken ist hier an Telearbeit, Tele-shopping, Telekooperation, Telemedizin, Teleausbildung, Optimierungvon Verkehr durch Telematik. Bei Vermeidung von Rebound-Effekten durchgeeignete gesellschaftliche Rahmenbedingungen eröffnet Informations-und Kommunikationstechnik daher gute Chancen für langfristige, trag-fähige Lösungen. Noch nie war es so preiswert und umweltverträglichmöglich, Menschen überall auf der Welt in gleichberechtigter Weise indie weitere Entwicklung einzubeziehen. Internationale Teleausbildung isthier ein besonders vielversprechender Ansatz.

Allerdings zeigt die Historie der Entwicklung der Informations-Technolo-gie, dass trotz dramatischer Dematerialisierung etwa bei Rechnern vonGroßrechnern zu Personal-Computern oder bei der Ersetzung von Dienst-reisen durch Telekommunikation und Video-Konferenzen, insgesamt auchhier der Rebound-Effekt wirksam ist und dass wir heute durch die Ver-mehrung der Anzahl der von jedem einzelnen bearbeiteten Prozesse unddurchgeführten Aktivitäten wiederum zu einer Vermehrung der Gesamt-belastung der Umwelt kommen. Dies betrifft zum einen die dramatisch ge-wachsene Zahl der eingesetzten Rechner, zum anderen die Tatsache,dass wir heute insgesamt mehr reisen als früher (wenn auch weniger proEinzelaktivität), und dies zusätzlich zu einer breitflächigen Nutzung derTelekommunikation, die uns gerade auch auf Reisen eine enge Einbin-dung in entfernte Arbeitsprozesse und dadurch ein vermehrtes Reisenpraktisch ermöglicht.

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Aufgrund des Gesagten ist es nicht klar, wohin sich die Welt in der wei-teren Globalisierung entwickeln wird. Es ist aber absehbar, dass dieSchwierigkeiten unter allen absehbaren Szenarien massiv sein werden.

Eine friedliche Bewältigung der absehbaren Herausforderungen kannwohl nur im Rahmen weltweiter Lösungen erfolgen, also im Rahmen vonVereinbarungen zwischen Nord und Süd, Ost und West, die allen Men-schen auf diesem Globus eine positive Perspektive für die Zukunft ver-sprechen (neuer Gesellschaftsvertrag). Dies erfordert das graduelleSchließen der heute unerträglich großen Differenz zwischen Reich undArm, aber ebenso die weltweite Durchsetzung und Mitfinanzierung vonUmwelt- und Sozialstandards. Dies würde den Weg in eine nachhaltigeEntwicklung marktwirtschaftlich absichern, bestimmte “Dumping-Mecha-nismen” in ihrem Umfang limitieren und damit auch unsere Sozialsyste-me zu stabilisieren erlauben.

Zu erreichen wäre dies insbesondere über multilaterale Abkommen, diedie Welthandelsordnung GATT/WTO und die Weltfinanzmarktordnungum soziale und ökologische Standards erweitern. Europa ist besondersgefordert, in diese Richtung aktiv zu werden. Flankiert werden sollte einsolches Bemühen durch Selbstverpflichtungsabkommen im Bereich der in-ternational operierenden Wirtschaft und durch proaktive Initiativen im Be-reich der Zivilgesellschaft, vor allem der Nicht-Regierungsorganisation.Ein besonders attraktiver Ansatz ist hier die zur Zeit in der politischen Dis-kussion befindliche Nutzung von Möglichkeiten des Joint Implementationin der Erfüllung der Kyoto Verpflichtungen der Industrieländer. Der soge-nannte Clean Development Mechanism bietet hier im Rahmen einer in-ternationalen Entwicklungszusammenarbeit interessante Möglichkeiten,bei verringerter finanzieller Gesamtbelastung der Industrieländer im Ver-hältnis zu primär nationalen Maßnahmen deutlich mehr für die Über-windung der weltweiten Defizite im sozialen und ökologischen Bereichzu erreichen. Leider gibt es gegen derartige internationale Ansätze abernach wie vor große nationale Widerstände, auch bei uns. Geeignete glo-bale Maßnahmen und Rahmenbedingungen sind aber auch in diesemKontext eine wichtige Voraussetzung dafür, dass regionale Initiativenüberhaupt in zielführender, nicht kontraproduktiver Weise möglich wer-den, gemäß der Leitidee “Think globally, act locally”. Insgesamt liegenhier große Herausforderungen vor uns. Das Information Society Forum(ISF) der EU hat diese in seinem 3. Bericht “A European Way for the In-formation Society”, in der Logik dieses Textes, sehr eindrücklich darge-stellt.

I.4. Konsequenzen für die Zukunft der Arbeit und die Zukunftder Sozialsysteme in den entwickelten Industrienationen

Die beschriebene Analyse zeigt, dass wir mittelfristig unter den abseh-baren Szenarien vor dem Problem stehen werden, dass wir uns weltweitzum einen auf begrenzte Ressourcen und zunehmende Umweltanforde-rungen einstellen müssen und dass andererseits Milliarden weitere Men-schen auf diesem Globus adäquate Partizipation anstreben und diese auf-grund der ökonomischen Globalisierung auch erreichen werden. Dies istvöllig legitim und aus ethischen Gründen auch wünschenswert, aber inder Summe der Wirkungen dramatisch. Hier sind deshalb rasch vielfälti-ge Veränderungen von Wertschöpfungsstrukturen und Konsummustern zuinitiieren und zu bewältigen, die wesentlich von den Möglichkeiten destechnischen Fortschritts im Sinne einer Dematerialisierung bestimmt seinwerden, aber auch von einer möglichst weitgehenden Verhinderung von

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Rebound-Effekten durch entsprechend veränderte weltwirtschaftlicheRahmensysteme (Fortentwicklung von GATT/WTO als zentrale politischeHerausforderung), wie oben bereits dargestellt. Für den reichen Nordenheißt das insbesondere, das Aufholen des Südens in geordneten Über-gangsprozessen zu akzeptieren und dies sogar aktiv zu fördern. Wieoben beschrieben, bietet hier insbesondere die Nutzung der Möglich-keiten des Clean Development Mechanism im Rahmen des Kyoto Proto-kolls interessante Ansatzpunkte, die rasch genutzt werden sollten. Ande-renfalls werden wir sonst alle die Schwierigkeiten zu ertragen haben, dieaus gnadenlosen Wettläufen und Abwärtsspiralen um die Nutzung derNaturressourcen im globalen Maßstab resultieren können. Dies allesführt in keinem absehbaren Zukunftsszenario zu einer problemlosen odereinfachen Perspektive und lässt es in jedem Fall angeraten erscheinen,sich möglichst rasch auf signifikante Veränderungen einzustellen.

Eine vernünftige Politik der entwickelten Länder sollte in dieser Lage in ei-ner Doppelstrategie bestehen, in der man einerseits plausible, faire undvernünftige Angebote der weltweiten Zusammenarbeit auf den Tisch legtund deutlich macht, dass man bereit ist, sich in koordinierten und fairenProzessen der Beherrschung der Gesamtthematik einzubringen, ande-rerseits dann aber bei Vorliegen dieser Vorschläge intern politisch mitgroßer Mehrheit darauf verständigt, in den Übergangszeiten, solange ent-sprechende internationale Regelungen nicht in Kraft sind, das Notwen-dige zu tun, um sich in der internationalen Auseinandersetzung zu be-haupten. Das kann auch einen Abschied von lieb gewordenen - und gutbegründeten - Vorstellungen beinhalten, bis hin zu gewissen temporärenStandardminderungen im sozialen Bereich und auch im Umweltbereich.Die aktuelle Green-Card-Debatte in Deutschland ist in diesen Kontext ein-zuordnen. Es handelt sich um Weltmarktzwänge, die letztlich durch dieentsprechende US-Politik bei uns induziert werden.

II. Was ist jetzt in Deutschland zu tun?

II.1. Doppelstrategie / Bündnis für Arbeit

Die nachfolgenden Hinweise sind vor dem Hintergrund der in AbschnittI.4. beschriebenen Doppelstrategie zu sehen. Sie betreffen schwierigeÜbergangszeiten, in denen entsprechende, zukunftsfähigere internatio-nale Regelungen für die Weltwirtschaft (noch) nicht in Kraft sind.

Wir müssen in Deutschland/Europa in dieser Situation bei uns das Not-wendige tun, um uns in der internationalen Auseinandersetzung auf denWeltmärkten zu behaupten, denn mit einem wirtschaftlichen Niedergangin Deutschland/Europa wäre u. a. der Verlust unseres Einflusses auf dieEntwicklung zukunftsfähiger weltweiter Rahmenbedingungen verbunden,von den materiellen Problemen für unsere Bevölkerung einmal ganz ab-gesehen. Hierzu müssen wir in Europa und im besonderen in Deutschlandmit teilweise schmerzhaften Anpassungen an die heutigen Weltmarktbe-dingungen reagieren. Die anstehende Steuerreform und ein Bündnis fürArbeit sind in diesem Kontext wichtige Beiträge. Deutschland wird da-durch im Weltmaßstab an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen.

Voraussetzung für ein solches Bündnis für Arbeit ist allerdings aus derSicht dieses Textes die Akzeptanz des folgendes Tatbestandes: die heuti-ge Globalisierung ist in ihren Auswirkungen in vielen Aspekten (aus derBinnensicht der entwickelten Länder) ungerecht und erzeugt bei allem

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Wachstum dennoch sehr viele „Verlierer“. Aber dieses ist zunächst - undvor allem national - nicht zu ändern. Nationale Politik kann allenfalls dieFolgen dieser Prozesse zu mindern versuchen. Hierzu ist die wichtigste„Schatztruhe“ besser einzusetzen, über die die Regierung noch verfügt,nämlich ein Teil der Mittel, die heute im öffentlichen Sektor verbraucht wer-den. Dies ist allerdings politisch ein hartes Stück Arbeit. Ohne diesenSchritt ist aber ein wirkungsvolles Bündnis für Arbeit kaum denkbar, wieunten noch deutlicher werden wird.

Natürlich beinhalten solche Ansätze große innenpolitische Probleme.Denn gerade eine solche Zeit des Übergangs in eine andere Richtung ver-langt von den Bürgern die Bereitschaft zum Zurückstecken, also auch zumAbschied von manchen liebgewordenen staatlich organisierten Vergün-stigungen. Dazu ist die Bereitschaft bis heute teilweise nicht vorhanden,ebenso wie sich viele nach wie vor gegen eine faire Berücksichtigung derInteressen der Menschen in den sich entwickelnden Staaten sträuben. AusSicht der in diesem Text eingenommenen Perspektive sind solche Positio-nen auf Dauer weder durchhaltbar noch zukunftsfähig. Wir sind deshalbgut beraten, uns auf substantielle Veränderungen einzustellen. Unter an-derem erscheinen folgende Punkte als wesentlich:

II.2. Ein Pakt für Innovationen

Innovationen zu fördern und Veränderungen zuzulassen ist nicht einfachund teilweise sehr schmerzhaft und geht hin bis zur Enteignung von Wis-sen und Lebenserfahrungen. Dennoch ist es unter heutigen Weltmarktbe-dingungen für uns in Deutschland eine Überlebensfrage, sehr viel stärkerals bisher - und nicht nur als Lippenbekenntnis - Innovationen zu fördernund Neues zuzulassen. Dies ist ein Schlüsselthema, vielleicht die wich-tigste Herausforderung überhaupt. Innovationen müssen für die nächstenJahrzehnte - bei aller Problematik - akzeptiert, ja forciert werden. DasNeue muss gegen das Alte gestärkt, der rechtliche Schutz des Status Quogesenkt werden. Dies kann Änderungen bis in den Verfassungsbereichhinein erforderlich machen. Politisch, vor allem aber ökonomisch, solltedabei allerdings von den wirtschaftlichen Gewinnern ein Ausgleich andie geleistet werden, die als Folge innovativer Entwicklungen Nachteilein Kauf nehmen müssen. Dass dieser Aspekt des Umgangs mit Verlierernvon Innovationen nicht ehrlich thematisiert wird, ist einer der Gründe füreinen verdeckten Widerstand gegen Innovationen in unserem Land. Hierliegt zur Zeit ein wichtiges Hindernis für Veränderungen, und damit auchfür mehr Erfolg am Markt.

II.3. Mehr Leistung, weniger Geld

Im Bereich der Arbeit ist mehr Flexibilität und Leistungsbereitschaft nötig.Als generelle Perspektive ist - relativ zu den Anforderungen des Welt-marktes - mehr zu leisten für weniger Konsummöglichkeiten. Entgegenmanchen Missverständnissen schafft das mehr Arbeit, da so national undinternational mehr Arbeit organisiert werden kann. Arbeit ist - außer viel-leicht im öffentlichen Sektor und bei relativ einfachen Arbeiten - nicht ein-fach zu verteilen, sondern zu akquirieren - und die Fähigkeit zur erfolg-reichen Akquisition hat viel mit den Konditionen zu tun, unter denen Ar-beit geleistet wird.

II.4. Nicht jeder Arbeitsplatz ist teilbar

In der absehbaren, sich verschärfenden internationalen Konkurrenz-

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situation, verändern Arbeitsplätze ihren Charakter und entwickeln sichsehr unterschiedlich. Auf der einen Seite wird diese Entwicklung denTrend hin zu “Kernarbeitsplätzen” stärken. Personal mit besonderem Lei-stungsvermögen, mit Fähigkeiten und mit “Know-how”, das angesichtsder weltweiten Konkurrenz auf dem Markt knapp ist, wird mit einem - imExtremfall - mehr als zehn- bzw. zwölfstündigen regulären Arbeitstag rech-nen müssen. Hier geht es vor allem um Wissensakkumulation durch dieständige Involvierung in entscheidende Wertschöpfungsprozesse. Dane-ben wird es viele Arbeitnehmer geben, deren Qualifikationen weltweit ingroßem Umfang zur Verfügung stehen. Solche Arbeitnehmer werden ei-nem harten internationalen Verdrängungs- und Dumpingdruck ausgesetztsein. Diese Entwicklung der Arbeitsverhältnisse ist unter den gegebenenBedingungen kaum vermeidbar, auch wenn dies konträr zu unseren Vor-stellungen von sozialer Gerechtigkeit ist und auch manchen politischenZielvorstellungen von einer (fast beliebigen) Teilbarkeit von Arbeitsplät-zen entgegensteht. Gerade sehr attraktive Arbeitsplätze sind häufig nichtteilbar. Ausnahmen hiervon gibt es allenfalls in bestimmten Segmentendes öffentlichen Sektors.

II.5. Veränderungen im öffentlichen Sektor

Ein Schlüsselthema zur Bewältigung der vor uns liegenden Herausforde-rungen sind Veränderungen im öffentlichen Sektor. Wie oben ausgeführtist dies auch der zentrale Ansatzpunkt für jedes erfolgversprechendeBündnis für Arbeit. Substantielle Kosteneinsparungen im öffentlichen Sek-tor sind dabei in mindestens 3 Bereichen möglich und sinnvoll: (1) Einesubstantielle Zurückführung des Regelungsumfangs (im Kontext mit 1.).Dies reduziert die Gesamtkosten zur Umsetzung unserer Regulierungssy-steme sowohl auf der öffentlichen Seite wie in der Wirtschaft (interne Büro-kratieaufwendungen zur Ermöglichung von Kontrolle) und erhöht zu-gleich die Schnelligkeit und Effizienz in der Umsetzung von Innovationen,allerdings zu Lasten bestimmter Sicherheits-, Qualitäts- und Gerechtig-keitsaspekte. (2) Eine preiswertere Ausgestaltung bestimmter Aufgaben-bereiche, vor allem im sozialen und kulturellen Sektor in Verbindung mitPunkt 5. Dies geht allerdings zu Lasten bestimmter heutiger Arbeitsplatz-kategorien und Berufsqualifikationen. (3) Herbeiführung derselben Effi-zienz der Leistungserbringung im öffentlichen Sektor wie in der übrigenWirtschaft auch. Dies erfordert neue Formen der Organisation, eine op-timale Nutzung der Informationstechnik in der Leistungserbringung undin diesem Kontext auch neue Qualifikationsanforderungen an die Mitar-beiter.

Viele werden nun argumentieren, dass dies das genaue Gegenteil einesBündnis für Arbeit ist und viele Arbeitsplätze kosten wird. So wahr diezweite Aussage für den öffentlichen Sektor ist, so falsch ist in einer Ge-samtbetrachtung der erste Teil. Es ist nämlich eine Illusion, durch Erhaltder bisherigen, in vieler Hinsicht unter heutigen Weltmarktbedingungenproblematischen Verhältnisse in diesem Segment der Gesellschaft Ar-beitsplätze erhalten zu wollen. Ganz im Gegenteil entsteht durch diesenSektor und seine hohen Kosten ein enormer Zusatzdruck auf die Arbeits-plätze außerhalb dieses geschützten Sektors. Im Sinne einer Todesspira-le wird es nämlich immer schwieriger für die in den Märkten operieren-den Unternehmen, die entsprechenden Steuermittel und andere Kostenzum Erhalt des - relativ zu vielen anderen Staaten - überteuerten öffentli-chen Sektors aufzubringen. Arbeitsplatzsicherung dieser Art im öffentli-chen Sektor erfolgt unter den bestehenden Randbedingungen insofern inüberproportionaler Weise zu Lasten der Arbeitsplätze insgesamt. Dies gilt

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umsomehr, als die Fähigkeit international operierender Unternehmen, sichdem deutschen Steuerdruck zu entziehen, mittlerweile dazu führt, dassdie Belastung der hier vor Ort verbleibenden mittelständischen Betriebedauernd noch weiter und teils in völlig inakzeptabler Weise erhöht wird.

Zu dieser in sich schon ausreichenden Begründung für anstehende Ver-änderungen im öffentlichen Bereich kommt die Notwendigkeit des Schaf-fens weltweit wettbewerbsfähiger Strukturen, z.B. im Ausbildungsbereich,hinzu. Auch im Ausbildungsbereich gilt es, rasch mit einem vom Umfangher eher verringertem Einsatz öffentlicher Mittel die Ausbildungsqualitätund -leistung insgesamt zu erhöhen, dabei zugleich ein lebenslanges Ler-nen zu fördern und des weiteren die Voraussetzungen für einen weltwei-ten Export entsprechender Ausbildungsangebote herbeizuführen. Dassetzt auch in diesem Bereich, wie in der übrigen Wirtschaft auch, denadäquaten Einsatz moderner Technologien, z. B. Ausbildung über Net-ze und Nutzung von Multimedia, voraus. An den deutschen Hochschu-len sind glücklicherweise erste Schritte erkennbar, sich in diese Richtungzu orientieren.

II.6. Neue Arbeitsmodelle

Ein Gegensteuern zu den Trends auf dem Arbeitsmarkt sollte darauf ab-zielen, wieder mehr Produktions- und Dienstleistungsstufen zu schaffen.Dazu gehört die Aufwertung des Dienstleistungsbereichs in Breite. Kun-dendienst und Service sollten stärker ausgeprägt werden. Auch häuslicheArbeit und Versorgungsarbeit müssen in ihrer gesellschaftlichen Bedeu-tung wieder mehr gewürdigt werden und eine angemessenere ökonomi-sche Anerkennung erfahren. Das erfordert allerdings deutliche Verände-rungen des gesamten Sozialsystems. Zu denken ist insbesondere an einBürgergeld und damit verbunden die Initiierung vielfältiger neuer Ansät-ze für Arbeit in einem gemeinwohlorientierten Bereich, der heute unter-versorgt ist. Auf diese Weise werden neue Formen von Arbeit in gesell-schaftlich wünschenswerten Bereichen realisierbar und finanzierbar -wenn auch nur auf einem vergleichsweise bescheidenem Niveau. Bei rich-tiger Ausgestaltung dieses Ansatzes könnten insbesondere gemeinnützi-ge Organisationen in großem Umfang zu Arbeitgebern werden, da indiesem Umfeld nur Zuzahlungen zu einem Bürgergeld zu leisten wären.

II.7. Subventionen und Schutzzäune

Gesetzliche Schutzzäune um bestimmte Kategorien von Arbeit werdennach und nach abgebaut werden müssen. Strukturveränderungen stehenu. U. im Wohnungsbau, im Bergbau, im Handwerk, der Landwirtschaftund vielen anderen, vor allem territorial organisierten Wirtschaftszwei-gen an. Immer ist dabei auf eine faire Umsetzung des Weltmarktdrucksüber alle Segmente unserer Gesellschaft zu achten.

II.8. Anpassungen im Gesundheitssektor

Auch für den Gesundheitssektor, der in Teil III noch gesondert betrachtetwird, gilt das Prinzip, dass zumindest der öffentlich bzw. über obligato-rische Versicherungsleistungen finanzierte Anteil dieses Sektors am Brut-tosozialprodukt nicht mehr gesteigert werden kann. Die höheren Anfor-derungen an das Gesundheitssystem - aufgrund einer im Mittel immer äl-ter werdenden Gesellschaft und eines raschen technischen Fortschritts inder Medizintechnik - sind durch Effizienzrevolutionen im Rahmen der Sy-steme zu leisten, so wie in anderen Segmenten der Wirtschaft auch. Hier-

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zu brauchen wir mehr Transparenz, mehr Qualitätssicherung, mehrMarkt, mehr Selbstbeteiligung, um insgesamt aus den hohen Mitteln, dieunsere Gesellschaft für den Gesundheitssektor aufbringt, zukünftig mehrGesundheit und eine höhere Lebensqualität herauszuholen, als das bis-her gelang.

Genau diese Probleme verbergen sich auch hinter der politischen Debatteum die Gesundheitsreform. Immer mehr und immer teurere medizinischeBehandlungen für immer mehr und teilweise immer ältere Patienten las-sen sich mit dem bisherigen Finanzierungssystem kaum finanzieren:Wenn wir also nicht zu einem detaillierten medizinischen Auswahlver-fahren bei der medizinischen Behandlung kommen wollen, dann müssenzum einen durch Strukturveränderungen Effizienzsteigerungen erreichtwerden, zum anderen müssen durch mehr Eigenbeteiligung, aber auchdurch mehr individuell auszuwählende und zu finanzierende (Zusatz-)Lei-stungen, teilweise höhere Kosten verkraftet werden. Dabei ist auch immedizinischen Sektor zu akzeptieren, dass es unmöglich ist, jederzeit undfür jeden Bürger jede Form der Behandlung - unabhängig von den tatsäch-lichen Kosten - zu ermöglichen.

II.9. Anpassung des Rentensystems

Auch für die Renten gilt: Die staatlichen Rentensysteme müssen an die Ent-wicklung angepasst werden. Das klassische Prinzip des „Generationen-vertrags“ funktioniert nicht mehr gemäß der bisherigen Formel. Da es im-mer mehr ältere, also rentenberechtigte Menschen gibt, müssen die jün-geren anteilig immer mehr aufwenden, um im Rahmen der Generatio-nenvorsorge die Renten zu bezahlen. Das kann dazu führen, dass sichdie Notwendigkeit einer Kürzung von Rentenleistungen ergibt. Um dieseNotwendigkeit gleichermaßen sozialverträglich zu gestalten, müssen dieAnreize für eine private Zusatzversorgung erhöht werden. Dabei ist alsmöglicherweise hilfreicher Effekt zu bedenken, dass die Rückgänge in derrelativen Höhe der Rentenversorgung in ihrer materiellen Wirkung durchden technischen Fortschritt gemildert werden können: Er könnte weitereswirtschaftliches Pro-Kopf-Wachstum und damit gleichzeitig auch die zu-sätzliche Vorsorge für das Alter ermöglichen, wenn wir politisch klug mitden sich bietenden Möglichkeiten umgehen.

III. Hinweise für den Medizinsektor

Im folgenden werden in Form von 10 Punkten einige Hinweise gegeben,die aus Sicht des Autors geeignet sind, die weiteren Entwicklungen im Be-reich des Gesundheitssystems zu orientieren. Es geht um ein wichtigesThema deutscher Politik in einer doppelt schwierigen Situation die (1)durch langfristig nicht tragfähige globale Rahmenbedingungen gekenn-zeichnet ist, die in vielem das sozial bzw. ökologisch Falsche belohnenund (2) durch nationale Rahmenbedingungen bestimmt ist, die auf diesenicht adäquaten globalen Bedingungen ihrerseits nicht adäquat reagie-ren.

Die einschlägigen Akteure sind in dieser Situation schon von den gesell-schaftlichen Gesamtorientierungen her mit einer doppelten Problematikkonfrontiert, die nicht einfach zu vermitteln ist. Die belastet die Kommu-nikation nach außen und nach innen. Es ist wichtig, sich in diesem Um-feld richtig zu positionieren, richtig zu kommunizieren, die Ebenen aus-einanderzuhalten und dann, wenn dieses alles gelungen ist, unter den be-stehenden Bedingungen das Richtige zu tun. Für die hier verantwortlich

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handelnde Akteure sind die nachfolgenden 10 Hinweise, auch in derWechselwirkung mit der Politik, den Bürgern und den Mitarbeitern, viel-leicht von Nutzen.

III.1. Der Gesundheitssektor hat für das Thema der Nachhaltig-keit eine enorme Bedeutung

Der Gesundheitssektor ist nicht irgendein Bereich, es ist dies vielmehr einThema, das in erheblicher Weise die Lebensumstände der Menschen be-trifft, mit großen Rückwirkungen im sozialen Bereich und in der Familie,aber durchaus auch für die kulturelle Entwicklung und für die Ökologie.Für die Realisierung einer europäischen Sicht von Gerechtigkeit und„Equity“ ist die Versorgung im Gesundheitsbereich ein absolut zentralesThema und die Vermeidung einer Zweiklassenmedizin ein politisch zen-trales Ziel. Gleichzeitig ist dies ein Sektor sehr hoher ökonomischer Be-deutung, vor allem werden hier auch gewaltige Wachstumspotentiale inder Zukunft erwartet. Was hier passiert, ist deshalb für die ganze Nati-on und letzten Endes weltweit wichtig, vor allen Dingen dann, wenn manüberlegt, dass sich 10 Milliarden Menschen auf den Weg machen wer-den, um einmal so zu leben wie wir. Von der ökologischen Seite her gehtes schließlich um die gewaltigen zusätzlichen Umweltbelastungen, die vorallem mit Hochleistungsmedizin, aber noch mehr mit der dauernden Ver-längerung der mittleren Lebenserwartung zusammenhängen.

III.2. Die Globalisierung geht am Gesundheitssektor nicht vor-bei

Die in Teil I des Textes beschriebenen Prozesse der Globalisierung grei-fen direkt in den Gesundheitssektor ein. Das betrifft die zurückgehendenSteuereinnahmen und die damit einhergehenden, reduzierten Eingriffs-möglichkeiten des Staates, die veränderte Logik in den politischen Um-setzungsprozessen aber durchaus auch neue Regulierungsbedingungen,die von Europa oder der WTO her auf uns ausstrahlen. Import und Ex-port von Medizinleistungen bzw. von Zulieferkomponenten bzw. Materi-al und Leistungen sind ein großes Thema. Veränderte Lebensbedingun-gen und neue Technologien in Zeiten der Globalisierung führen zugleichzu veränderten Anforderungen an das Gesundheitswesen. Insgesamtsteht deshalb gerade auch der Medizinsektor vor erheblichen Verände-rungen in allen seine Existenz betreffenden Fragen und deshalb ist gera-de auch hier ein gewaltiger “Management of Change Prozess” zu leisten.Der Medizinsektor ist nicht abgeschirmt von den Folgen des Globalisie-rungsdruckes.

III.3. Eine geschickte Doppelstrategie ist von Nöten

Wie oben als Generallinie für die deutsche und europäische Politik be-schrieben, ist auch im Medizinsektor eine intelligente Doppelstrategie un-bedingt von Nöten. Es geht darum, unvermeidbare Anpassungen an denWeltmarktdruck zu verkraften und zu gestalten, so lange wir weltweit kei-ne bessere Ordnung haben. Zugleich ist in diesem Prozess so viel wie nurmöglich an vernünftiger europäischer Lösung zu verteidigen. Dies kannsicher nur dann gelingen, wenn man nicht in naiver Weise versucht, je-den “Hügel des Status Quo” zu verteidigen. Die größten Gefahren für dieZukunft der europäischen Sozialstrukturen im Ausbildungsbereich, in derMedizin aber genauso im Wohnungsbausektor liegen heute in einem oftreflexhaften Versuch der Betroffenen, immer noch jede “Oase” des Sta-tus Quo zu verteidigen, egal wie aussichtslos dies ist. Dabei werden dann

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die Kräfte verbraucht, die eine gut durchdachte, konsistente Position auchüber längere Zeiträume zu halten erlauben würden. Klar muss insbeson-dere sein, dass wir heute in der deutschen Politik parteiübergreifende Kon-sense brauchen, um bis in den Verfassungsbereich hinein handlungsfähigzu sein; auch das geht nicht bei Verteidigung jeder Spezialregelung. Eskommt auf die große Linie an. Mehr ist temporär ohnehin nicht haltbar.

III.4. Die Umsetzungsmethodologie öffentlicher Anliegen wirdsich ändern

Wir beobachten heute im Medizinsektor nach wie vor sehr viele punktu-elle Eingriffe der Politik. Dies führt teilweise zu erheblichen Marktverzer-rungen und zu Bedingungen, die gerade auch unter sozialen Aspektenals ungerecht anzusehen sind. Gerade der aus dem Weltmarktdruck re-sultierende Anpassungszwang erfordert, dass man die vorhandenen, inder Summe eher schrumpfenden öffentlichen Mittel besser, d.h. intelli-genter einsetzt als bisher. Der adäquate Ansatz hierzu besteht in der Si-cherstellung und Co-Finanzierung von Rahmenbedingungen, in denenentsprechende Gerechtigkeitsanliegen und dazu korrespondierende fi-nanzielle Volumina verankert sind. Stimmen die Rahmenbedingungen,dann überlässt man vernünftigerweise den Marktkräften die konkrete Mi-kroallokation der Mittel. Die Märkte sind in dieser Hinsicht der beste be-kannte Optimierungsmechanismus. Dieses Instrument muss man nutzen,allerdings, wie gesagt, immer unter geeigneten Rahmenbedingungen.Diese Rahmenbedingungen sind dann der eigentliche Ort der Politik undder Durchsetzung gesellschaftlicher Anliegen. Auf mögliche Lösungsrich-tungen wird unten eingegangen.

III.5. Die neuen Bedingungen im Bereich der Informationstechnik

Wir beobachten heute in fast allen Segmenten der Ökonomie, dass dieErschließung von Kundennutzen und Anwendungsqualitäten unter Nut-zung der modernen Informationstechnik anders erfolgt als bisher. Das ver-wundert auch nicht bei einer Technologie, die alle 20 Jahre eine Steige-rung des Preis-Leistungsverhältnisses um einen Faktor 1000 hervorbringt.Für den Medizinsektor, wie für die übrige Gesellschaft auch, muss es des-halb darum gehen, durch IT-Einsatz die eigene Effizienz dramatisch zusteigern, Dinge zu vereinfachen, Doppelarbeit zu vermeiden etc.

III.6. Die globale Dimension des Themas

In Zeiten der Globalisierung lassen sich auch Fragen des Gesundheits-systems nicht mehr rein national sehen. Bisher übergangene Nöte und Be-dürfnisse finden Wege, um sich bemerkbar zu machen. Mir liegt viel dar-an, diesen globalen Aspekt zu betonen, auch weil es sich vielleicht ir-gendwann noch rächen wird, dass wir die gesamte moderne Entwicklungin der Medizin und den Einsatz finanzieller Mittel in der medizinischenForschung bisher fast ausschließlich von den Bedürfnissen der Menschenin den reichen Industrieländern her steuern, obwohl diese nur ein Fünftelder Menschheit bilden. Die größten Beiträge, die heute weltweit für dieGesundheit geleistet werden könnten, betreffen die Sicherstellung derErnährung und die Bereitstellung von sauberem Wasser für alle Menschenweltweit. Mit sauberem Wasser könnte die Lebensqualität von hundertenvon Millionen von Menschen extrem verbessert werden, während wir rie-sige Summen darin investieren, durch neue pharmakologische Wirkstof-fe die Lebensqualität für vergleichsweise wenige, ohnehin schon gut ver-sorgte Menschen in begrenztem Umfang noch weiter zu verbessern. Die-

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se Rechnung wird uns angesichts der mittlerweile erfolgenden Verschie-bung der wirtschaftlichen - und zukünftig politischen - Machtverhältnisseirgendwann noch aufgemacht werden. Wir tun deshalb gut daran, un-sere künftige Ausrichtung der Mittel für Medizin stärker auf die globalenProbleme zu konzentrieren, weil man dort mit vergleichsweise wenig Auf-wand sehr viel an Verbesserung für viele Menschen erreichen kann. Zu-gleich können wir dort für uns internationale Märkte erschließen undgleichzeitig neue Partner gewinnen, statt in einer unkoordinierten inter-nationalen Konkurrenz eine sozial und ökologisch untragbare Abwärts-spirale immer noch schneller voranzutreiben. Noch deutlicher: Das wirt-schaftliche Wachstum in Zeiten einer Boom-Ökonomie darf nicht primärin Schönheitsoperationen und Wellenessprogrammen priviligierter Men-schen der OECD Fragen fließen, sondern muss die globalen Entwick-lungsnöte mit adressieren.

III.7. Man kann nicht mehr alles für alle haben

Wesentlich für die Einordnung unseres heutigen Themas sind dann dieethischen Fragen, die mit der modernen Entwicklung im Medizinbereichzusammenhängen und die in den letzten 20 Jahren immer deutlicher wur-den. Die momentane Kostensituation bringt die bisher optisch verdecktenethischen Probleme und daraus resultierende Entscheidungsnotwendig-keiten an die Oberfläche. Weil nicht mehr genug Finanzierungsreservenverfügbar sind, um alles Wünschenswerte gleichzeitig zu tun und es da-her nicht mehr möglich ist, einfach immer obendrauf zu satteln, müssenwir in immer mehr Fällen eine Entscheidung darüber herbeiführen, ob wirdas eine tun oder das andere, d. h. wer Prioritäten setzt, muss auch Po-sterioritäten akzeptieren. Das eine hängt unauflösbar mit dem anderenzusammen, und wer sich weigert, diesen Zusammenhang anzuerkennen,ist eigentlich kein Partner mehr für einen rationalen Diskurs. Wir als einemoderne Gesellschaft müssen uns mit dem Problem des Abwägens vonMaßnahmen auseinandersetzen und können diese Notwendigkeit nichtlänger verdrängen. Und gerade im medizinischen Bereich beobachtenwir zahllose Wechselwirkungen, die deutlich machen, dass wir einen ge-sellschaftlichen Bereich in der Regel nur zu Lasten eines anderen aus-bauen können. Einige der typischen Antagonismen sind in Abschnitt III.8.aufgeführt.

III.8. Die entscheidungstheoretische Dimension

Aufgrund der nicht länger zu leugnenden Knappheit der finanziellen Mit-tel werden die zu treffenden Abwägungsentscheidungen im Bereich derMedizin deutlicher erkennbar. Hier ist die Entscheidungstheorie gefordert.Ähnliche komplexe Entscheidungslage hatten wir vor etwa 20 Jahren beiEntscheidungen über Energiesysteme und über den Schutz seltener Bio-tope. Man kommt in solchen Situationen der beschriebenen Art dann letzt-lich nicht darum herum, gelegentlich auch Leben gegen Kosten abzuwä-gen.

Fragen, die sich stellen, sind von folgenderer Art:

● Soll man alle Patienten gleich behandeln - und was bedeutet das?

Man könnte z. B. alternativ argumentieren, dass jemand, der älter ist, al-so nur noch eine begrenzte mittlere Lebenserwartung hat, weniger auf-wendig betreut werden sollte als ein jüngerer Mensch, der fast noch seinganzes Leben vor sich hat. Man würde bei dieser Sicht also bei Abwä-

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gungsentscheidungen mehr Aufwand für einen 20jährigen als für einen70jährigen vorsehen. Die meisten Mediziner lehnen derartige Festle-gungen ab, formulieren dann aber in einem anderen Kontext, dass manalle Patienten gleich behandeln soll. Offenbar haben diese Personen dasGefühl, dass sie dann, wenn sie alle gleich behandeln, nicht über relati-ve Aufwandsquoten entschieden haben. Aber dies ist natürlich ein Miss-verständnis. Denn eine Entscheidung über identische Quoten ist auch ei-ne Entscheidung über Quoten. Diese besagt, dass man in der Abwä-gungsentscheidung für jeden gleich viel investieren würde. Viele habendas Gefühl, dass dann, wenn sie alle gleich behandeln, gar keine Ent-scheidung getroffen wurde. Viele meinen auch, dass dann, wenn sie nichtentscheiden, etwas zu ändern, sie nichts entschieden hätten. Auch das istebenfalls ein Missverständnis, denn die Entscheidung, nichts zu ändernist genauso wirkungsvoll wie die, etwas zu verändern, weil man dannnämlich zugunsten des Status quo entschieden hat. Also: Keine Entschei-dung ist auch eine Entscheidung. Und hier als Hinweis: Es gibt einen en-gen Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und mittlerer Lebenser-wartung. Das heißt, die ökonomische Situation hat heute einen enormenEinfluss auf den Gesundheitszustand. Im Extremfall führt dies alles zu derFrage der Bewertung eines menschlichen Lebens, welchen Geldwert mandagegenzusetzen bereit ist und wie dies innerhalb von Gesellschaftenund weltweit differenziert ist. All dies bestimmt die heutige Lage, auchwenn viele sich das nicht eingestehen wollen.

III.9. Wie ist der technische Fortschritt zu sehen?

Die weitere Frage betrifft das Thema, wie künftige technische Innovatio-nen zu bewerten sind. Erfreulich ist, dass viele technische Innovationensogenannte “Win-Win-Situationen” erzeugen. Dies bedeutet, dass alle et-was davon haben, wenn z. B. eine Ablösung einer bisherigen Behand-lungsmethode durch eine neue Form der Leistungserbringung mehr Qua-lität bei geringeren Kosten bewirkt. Das ist es, was der technische Fort-schritt sehr oft leistet, und zwar vor allem dann, wenn man ihn nicht ad-ditiv nutzt. Die Tele-Medizin zeigt ein Beispiel, das in diese richtigeRichtung weist. Richtig organisiert können wir damit preiswerter zu bes-seren Diagnosen kommen. Auch dies kann natürlich im Einzelfall wenigerfreuliche Rückwirkungen für einzelne Betroffene haben, z. B. in unse-rem Beispiel für Taxiunternehmen, die weniger Patientenfahrten habenwerden. Das gilt in einer kurzfristigen, lokalen Betrachtung auch für Ärz-te, die bisher bei einem Patienten ein Mehrfach-Screening und teilweisesogar mehrfach dieselbe Untersuchung vornehmen konnten und dieskünftig vielleicht nicht mehr werden tun können, etwa nach Einführung ei-ner Telematikkarte mit allen Patientendaten.

Solche Lösungen hat man bis heute politisch meist nicht durchsetzen kön-nen. Man konnte also bisher oftmals mögliche Effizienzgewinne nicht ineine höhere Qualität überführen, weil man dazu Personen, die ein öko-nomisches Interesse an der bisherigen Konstellation haben, in ihren Tätig-keiten hätte eingrenzen müssen. Es gab aber bis vor einiger Zeit keinenäußeren Rahmen, der ein Argument dafür geliefert hätte, diese Konfron-tation einzugehen. Diese Situation ist dann nur aufgrund der Kosten-senkungsgesetze - die natürlich im einzelnen auch viele nicht wün-schenswerte Nebeneffekte erzeugen - entstanden, und in dieser Situationsind deshalb auch an bestimmten Stellen höhere Qualität trotz nicht mehrsteigender Kosten erreicht worden, und zwar aufgrund des technischenFortschritts, der dann auch voll finanzierbar bleibt. Dabei ist es allerdingsentscheidend darauf zu achten, Qualität durch Setzen von Standards zu

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definieren und zu halten, und zwar mit einem internationalen Bezug, umlokale berufsständische Eigeninteressen zu überwinden. Hier ist einegroße Herausforderung für die nächsten Jahre absehbar. Auf diese Wei-se behalten wir dann aber auch künftig die Chance, Technologiesprün-ge zu finanzieren. Aber das hat seine Grenzen und führt über zu den fol-genden Überlegungen.

Wenn man unter den aktuellen weltweiten Bedingungen einen Blick in dieZukunft wirft, tut man gut daran, gewisse Grenzen zu akzeptieren, ein-zusehen, dass Grenzen dem Leben inhärent sind und dass wir diese Gren-zen letztlich so oder so nicht werden beseitigen können. Es wird danndeutlich, dass eine gewisse Demut und Bescheidenheit eher hilfreichsind, also unsere Situation oftmals nicht erschweren, sondern erleichtern.Die Fähigkeit, etwas hinzunehmen ist insofern manchmal für den einzel-nen wie für die Allgemeinheit die bessere Antwort gegenüber dem Ver-such, wie ein Karussellpferd hinter dem anderen immer hinter einem oh-nehin nicht erreichbaren Ziel herzulaufen und dabei dann rechts und linksdas Schöne des Lebens zu verpassen. Weniger ist manchmal mehr undalles ist nicht zu haben.

III.10. Differenzierungen zulassen, Bestand halten, Übergängegleitend machen: ein europäisch inspiriertes Programmfür die Zukunft des Gesundheitssystems

Ein realistischer Vorschlag für die Zukunft des europäischen Gesund-heitssystems, welcher eine Zweiklassenmedizin vermeidet, den techni-schen Fortschritt weiter zu finanzieren erlaubt und zugleich unsere inter-nationale Wettbewerbsfähigkeit erhält, ist nicht einfach zu formulieren.Diese Aufgabe gleicht vielmehr fast einer Quadratur des Kreises. Dennoch wird im folgenden versucht, zumindest einen Denkrahmen füreine positive Zukunft unseres Gesundheitssystems zu skizzieren. Zu si-chern ist dabei ein hohes Niveau der Allgemeinversorgung für alle, letzt-lich ausgedrückt über einen bestimmten Anteil des Bruttosozialproduktes,der für die allgemein-medizinische Versorgung des Großteils der Bevöl-kerung aufgebraucht wird. Dies ist zu organisieren über eine allgemeineGesundheitsversicherung, die Definition vernünftiger Standards, Markt-mechanismen zur Effizienzsteigerung, Elemente der Selbstbeteiligung,etc. Auf diese Weise wird letztlich eine Basis-Versorgung für alle Bürgerauf Dauer gesichert. Das heißt nicht, dass jeder jederzeit alles medizi-nisch mögliche auch erhält. Ganz im Gegenteil, diese Fiktion ist explizitzu entlarven als das, was sie schon immer war - eine Fiktion. Was abermöglich ist und bleibt, ist ein vernünftiges und hohes Niveau der Allge-meinversorgung, wie wir es heute kennen. Hier ist über Umlageelemen-te die Mitfinanzierung der Versorgung des schwächeren Teils der Bevöl-kerung durch Beiträge des aktiveren, dynamischeren und wirtschaftlicherfolgreicheren Teil der Bevölkerung sicherzustellen.

Zugleich ist diese Basis dann zukünftig für eine Vielzahl von individuel-len Möglichkeiten der Zusatzfinanzierung weiterer Leistungen zu öffnen.Über die heute schon bestehenden Möglichkeiten der Privatversicherung(ganz oder für Krankenhausaufenthalte) hinaus geht es hier um individu-elle, zusätzlich zu vereinbarende Leistungen, in einem nach wie vor ge-sellschaftlich abgestimmten Rahmen bestimmter Budgets und Größen-ordnungen.

In diesem Bereich wird man je nach individueller wirtschaftlicher Situati-on, gesundheitlicher Betroffenheit, aber auch persönlicher Präferenzen,

Ergänzende LiteraturASIS: Mehr Informationen zu ASIS findenSie auf der Homepage: http://asis.jrc.es

Affemann, N., B.F. Pelz und F.J. Rader-macher: Globale Herausforderungenund Bevölkerungsentwicklung: DieMenschheit ist bedroht. Beitrag für denBeirat der Deutschen Stiftung Weltbevöl-kerung e. V., Landesstelle Baden-Würt-temberg, 1997

Dahlmanns, G., Eckart, S., Hormann, J.,Radermacher, F.J., Schmidt-Bleek, F.: EX-PO 2000 - Thematic Orientation: OneWorld - one Future! Sustainability is nolonger divisible. Revised version, result ofthe thematic process, February 1996

Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (Hg.):

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sich mehr oder weniger stark mit eigenem Geld für mehr Medizin ent-scheiden oder nicht. Dies beinhaltet klar akzeptiert die Möglichkeit, dassbestimmte Menschen signifikant mehr Mittel für diesen Bereich aufbrin-gen als andere und insofern auch in der Tendenz besser versorgt werden.Es handelt sich hierbei um Versorgungen, die über die Basisversorgunghinausgehen, die für alle Versicherten bereitgestellt werden kann. Daskann durchaus die Lebensqualität, auch das Überleben der Betreffenden,verbessern. Hier ist zu akzeptieren, dass Menschen, die über entspre-chend mehr Mittel verfügen bzw. Menschen, die von ihren Mitteln mehrin diesem Bereich einzusetzen bereit sind bzw. auch einfach Menschen,die gesünder sind als andere, in vielen Situationen einfach besser dransind als andere und Vorteile haben.

Im Sinne eines Gesellschaftsvertrages ist dies zu akzeptieren. Was abergleichzeitig aus Gerechtigkeitsgründen geboten werden sollte ist ein ho-hes Niveau an Basisversorgung für alle. In dieser Betrachtung tragendann die Besserversorgten insbesondere auch dadurch, dass sie mehrGeld in das Gesundheitssystem einbringen, mit dazu bei, dass dieses Ba-sisniveau überhaupt erst ermöglicht und eine wettbewerbsfähige, inno-vative Medizin bei uns erhalten werden kann. Zugleich werden so für un-sere Ökonomie auch die hohen Wachstumspotentiale erschlossen, die imMedizinsektor angelegt sind und die wir gesamtgesellschaftlich brau-chen. Wir haben dann durchaus in Europa die Chance, ein Spitzenni-veau der medizinischen Versorgung bei entsprechenden privaten Zu-satzaufwendungen wie in den USA zu realisieren, bei uns aber verbun-den mit einer breiten Grundversorgung, wie sie typisch für Europa ist, undwie wir sie in den USA nicht haben.

In diesem Kontext scheint zur Stabilisierung der europäischen Logik derSolidarität eine methodische Überlegung als sehr wichtig, nämlich dieRealisierung gleitender Übergänge zwischen den verschiedenen Syste-men, also zwischen der Basisversorgung und zusätzlich finanzierten Lei-stungen. Es ist eine wichtige Position, dass auch die Zusatzleistungen ineinem vertraglichen Rahmen mit Kassenbegleitung angelegt sind, weildas die Möglichkeit eröffnet, die Durchlässigkeit der Systeme zu verbes-sern, was ja auch bereits in der Möglichkeit von Zusatzversicherungenerhöhter Niveaus angelegt ist. Durchlässigkeit und Integration in einedurchgängige Abrechnungslogik verhindern Systembrüche. Der (tem-poräre) Wechsel in stärker eigen-finanzierte Elemente wird nicht zum Fi-nanzrisiko und auch nicht zu einem „Fass ohne Boden“ bzw. zu einem„Ausgeliefertsein“, was diesen Bereich vielen Menschen auf Dauer, schondeshalb verschließen würde, weil die Angst vor den finanziellen Risikenalle Aktionen lähmen würde.

Bei genügender Flexibilität ist es dann auch denkbar, dass im Rahmender Grundversorgung bestimmte Top-Leistungen im Leben ein- oder zwei-mal zur Verfügung stehen. Denkbar wäre auch, dass bestimmte Leistun-gen immer wieder zur Verfügung stehen, aber mit permanent wachsen-der Höhe der Selbstbeteiligung. Ein solch flexibler Rahmen lässt es dannauch wieder zu, dass sich Stiftungen bilden, die beispielsweise für be-stimmte Patientengruppen in bestimmten Situationen Anteile der über dieBasisversorgung nicht gedeckten Kosten übernehmen. Auch können sichÄrzte finden, die im Jahr eine bestimmte Anzahl Patienten eines be-stimmten Typus zu einem vergünstigten Betrag zu behandeln bereit sindetc.

Das heißt insgesamt, dass in der Ausgestaltung gleitender Übergänge

Weil es uns angeht. Das Wachstum derWeltbevölkerung und die Deutschen. Ba-lance Verlag, Hannover, 1995

van Dijk, A.J.M, R. Pestel, F.J. Raderma-cher, European Way into the Global In-formation Society”,The IPTS Report, No. 32, 10-16, 1999(http://www.jrc.es/iptsreport)

Forum Info 2000: Nachhaltige Entwick-lung und Informationsgesellschaft. Be-richt der Arbeitsgruppe 3 des Forum Info2000, Bonn, 1998; siehe auchhttp://www.faw.uni-ulm.de

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Information Society Forum und Forum In-fo 2000: Herausforderungen 2025 - Aufdem Weg in eine nachhaltige Informati-onsgesellschaft / Challenges 2025 - Onthe way to a sustainable Information So-ciety. FAW Ulm, 1998 (2 Hefte); sieheauch http://www.faw.uni-ulm.de

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Morath, K. (ed.): Welt im Wandel - We-ge zu dauerhaft-umweltgerechtem Wirt-schaften. Frankfurter Institut - StiftungMarktwirtschaft und Politik, 1996

Neirynck, Jacques: Der göttliche Ingeni-eur. expert-Verlag, Renningen, 1994

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Radermacher, F. J.: Die globale Heraus-forderung und ihre Auswirkungen aufdas Sozialsystem. Praxis aktuell, Ausga-be 1, 6-11, März 1997

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große Chancen für Abstimmung, Anpassung und Abwägung bestehen,die es vielleicht im politischen Prozess erlauben werden, den notwendi-gen gesellschaftlichen Kosens herbeizuführen, der es uns auch unter Glo-balisierungsdruck noch lange erlauben wird, eine volle Privatisierung al-ler Lebensrisiken zu verhindern und trotz Weltmarktzwängen ein hohes -europäisches - Maß der Grundfinanzversorgung im Medizinbereich zurealisieren, aber trotzdem in der Spitze beliebige Zusatzdimensionen zuermöglichen und damit Wettbewerbsfähigkeit auch in diesem Wirt-schaftsbereich zu erhalten.

IV. Verantwortungsfragen

Zum Abschluss dieses Textes soll auch das Thema Verantwortung ange-sprochen werden. Dies betrifft die Frage, welche Verantwortung ein ein-zelner in dieser schwierigen Lage hat, wie diese Verantwortung positio-niert ist und was man als einzelner angesichts der großen vor uns lie-genden Herausforderungen tun kann. Die Standardantwort darauf ist inunserer Gesellschaft stereotypisch und wenig greifbar, läuft aber meistensauf einen Appell an die Verantwortung des einzelnen hinaus. Eine diffe-renziertere Sicht ist demgegenüber die, dass die Verantwortung geteiltist. Sie ist geteilt zwischen den einzelnen Personen und den gesellschaft-lichen Strukturen, in denen sie leben, also den größeren Organismen, denSuperorganismen, in die der einzelne eingebettet ist. Systematische Feh-ler in der Organisation eines Staates oder eines Sozialsystems oder derWeltwirtschaft kann man nicht auf der Ebene des einzelnen durch dau-erndes Einfordern der Verantwortung des einzelnen kompensieren. Umes an einem Beispiel noch deutlicher zu machen: Für die heutigen Pro-bleme in unserem Gesundheitswesen sind z. B. weder primär die Ärzte,noch die Apotheker, die Krankenhäuser, die Pharmahersteller oder diePatienten verantwortlich. Sie alle agieren dort vielmehr unter schwierigenRahmenbedingungen, die ihnen im Einzelfall ein Verhalten aufzwingen,das sie selber so gar nicht exerzieren wollen, aber vornehmen müssen,um wirtschaftlich zu überleben. Die Verantwortung liegt hier insofernprimär bei den nicht adäquaten Rahmenbedingungen unseres Gesund-heitssystems. Für den einzelnen besteht deshalb in besonderem Maße dieVerantwortung, gemeinsam mit anderen und im Rahmen der eigenen Ein-flussmöglichkeiten daran zu arbeiten, dass die Rahmenbedingungen stim-men, und dies sowohl international, als auch national und vor Ort. Dasheißt auch, dass wir unsere Rolle im System und außerhalb des Systemspermanent geeignet ausdifferenzieren und aufeinander abstimmen müs-sen. Das ist die eigentliche ethische Herausforderung, und das gilt ent-sprechend auch für das Bemühen um eine Veränderung der Rahmenbe-dingungen in Richtung auf eine bessere Leistungsfähigkeit unserer Arbeits-und Sozialsysteme. Tatsächlich ist das heute eine entscheidende ethischeHerausforderung und nur dann, wenn wir hier alle unseren Beitrag lei-sten, haben wir eine realistische Chance, die vor uns liegenden Heraus-forderungen zu bewältigen.

Radermacher, F.J.: Zukunftsfragen derMenschheit: technische, gesellschaftlicheund ethische Aspekte. Gekürzte Fassungunter dem Titel “Think globally, act local-ly” in Forschung & Lehre 12, 619-622,1997

Radermacher, F.J.: Bewältigung desWandels, Ebner Verlag, Ulm, 1998 (Ein-zelpreis 19,50 DM)

Radermacher, F.J.: Globalisierung und In-formationstechnologie. In: Weltinnenpoli-tik. Internationale Tagung anlässlich des85. Geburtstages von Carl-Friedrich vonWeizsäcker (U. Bartosch und J. Wagner,eds.), S. 105-117, LIT Verlag, Münster,1998

Radermacher, F.J.: Intelligenz - Kognition- Bewusstsein: Systemtheoretische Überle-gungen, technische Möglichkeiten, philo-sophische Fragen. In: InterdisziplinäreBeiträge zur Kommunikation und zumMensch-Technik-Verhältnis (C. Stadelho-fer, ed.), Band 6, S. 146-193, KleineVerlag GmbH, Bielefeld, 1998

Radermacher, F.J.: Komplexe Systemeund lernende Unternehmen. In: Komple-xe Systeme und Nichtlineare Dynamik inNatur und Gesellschaft (K. Mainzer,ed.), S. 423-445, Springer-Verlag, Ber-lin, Heidelberg, New York, 1999

Radermacher, F. J.: Globalisierung, Infor-mationsgesellschaft und nachhaltige Ent-wicklung - Hinweise zu einem Politikpro-gramm aus europäischer Sicht. Ulmensi-en, Band 13 “Globalisierung und Sozia-le Marktwirtschaft“, S. 31-53,Universitätsverlag Ulm, 1999

Radermacher, F.J.: New Economy. Bör-senrausch und Greencard: Spielt dieWelt verrückt oder hat alles seine Logik?Manuskript, 2000

Rotary Deutschland (Hg.): Weltbevölke-rung - Weltproblem. Der Rotarier, Heft 4,Hamburg, 1996

United Nations: Revision of the WorldPopulation Estimates and Projections“,Population Division of the Department ofEconomic and Social Affairs, United Na-tions, 1998

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Grundlagenforschungtrifft auf die Zahnmedizin

vonT. F. Flemmig

Münster

Bedeutende Fortschritte in der Zahnmedizin, wie die Assoziation vonPlaque mit verschiedenen Mundkrankheiten oder der protektiven Wirkungvon Fluoriden gegen Karies, sind auf die klinische oder epidemiologischeForschung zurück zu führen. Früher wurden solche klinische Beobach-tungen mit den Methoden der Grundlagenforschung weiter untersucht, umdie zu Grunde liegenden Mechanismen zu klären. Diese Vorgehenswei-se wird in der Zahnmedizinischen Wissenschaft immer häufiger dadurchersetzt, dass Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in die klinische An-wendung übertragen werden. Jetzt schon werden molekularbiologischeMethoden klinisch genutzt, um Krankheitserreger für die Wahl einer spe-zifischen antimikrobiellen Therapie zu identifizieren. Auch das genetischeRisiko für die Erkrankung an einer Parodontitis wird mit Hilfe von mole-kularbiologischen Methoden ermittelt. Weitere Einsatzgebiete der Grund-lagenforschung befinden sich noch in der vorklinischen Entwicklungs-phase; dazu gehören die rekombinante Herstellung spezifischer Antige-ne zur Immunisierung gegen orale Infektionen und die Herstellung vonWachstumsfaktoren für die Regeneration zerstörter oraler Gewebe.

Die Grundlagenforschung entwickelt sich immer schneller auf molekula-rer Ebene. Zu den aufregendsten, in naher Zukunft erreichbaren Per-spektiven gehört die Sequenzierung des menschlichen Genoms und desGenoms der meisten Krankheitserreger des Menschen. Dadurch werdenumfangreiche Untersuchungen von Krankheitsmechanismen ermöglichtund zu komplementären Erkenntnissen aus den verschiedenen Gebietender Biomedizin führen, die für unterschiedlichste Erkrankungen, einschl.der in der Mundhöhle auftretenden, von Relevanz sein können. Wenn dieZahnärzteschaft in Zukunft zu den Fortschritten der biomedizinischen For-schung beitragen und davon profitieren will, muss sie sich aktiv an derGrundlagenforschung beteiligen. Jedoch fehlt es häufig an dem entspre-chenden Fachwissen. Die Grundlagenforschung schreitet mit einem solchrasanten Tempo voran, dass Kliniken häufig von dem Niveau der Spe-zialisierung in den einzelnen Gebieten der biomedizinischen Forschungüberwältigt sind. Eine umfassende Aus- und Weiterbildung, die zwischenden Grundlagenwissenschaften und der klinischen Zahnmedizin eineBrücke schlägt, ist notwendig, um das Interesse der Zahnärzte an dempotentiellen klinischen Nutzen der Grundlagenforschung zu wecken.

Bei den meisten Lehrplänen in der Zahnmedizin wird jedoch die Vermitt-lung der Methodik der Grundlagenforschung nicht berücksichtigt. Dahermüssen sich Zahnmediziner, die sich mit der Grundlagenforschung be-fassen wollen, das entsprechende Wissen sowie entsprechende Fertig-keiten durch eine zusätzliche Ausbildung aneignen. Das kann durch dieAbsolvierung eines formellen Aufbaustudiums auf einem Forschungsge-biet, z.B. der Oralbiologie, oder durch die nicht formelle Mitarbeit in ei-nem Forschungslabor erreicht werden. Für eine solche Ausbildung undauch die sich anschließende Forschung wird sehr viel Zeit benötigt, dienur durch Reduktion der klinischen Tätigkeit aufgebracht werden kann.Die Zeiten sind vorbei, als ein wissenschaftlicher Durchbruch noch ausForschungsarbeit, die in den Abendstunden nach Beendigung der Pati-entenversorgung, hervorging. Darin liegt das Dilemma für viele zahn-medizinische Wissenschaftler, die in der Regel ihre Karriere als Klinikerbegannen und weiterhin von dem Einkommen aus der Behandlung vonPatienten abhängig sind. Darüber hinaus erfordert der chirurgische Cha-rakter der Zahnmedizin die Erhaltung und Weiterentwicklung klinischerFertigkeiten durch ständige Praxis.

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als seien Grundlagenforschung

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und Zahnmedizin unvereinbar. Mehrere internationale zahnmedizinischeFakultäten haben jedoch gezeigt, dass die Grundlagenforschung erfolg-reich in die klinischen Aspekte der Zahnmedizin integriert werden kann.Häufig wird die erfolgreiche Integration durch die Einrichtung von For-schungsabteilungen erzielt, die von Zahnmedizinern mit guten Kenntnis-sen der Grundlagenforschung oder von reinen Grundlagenforschern ge-leitet werden.

Um Zahnmediziner zur Grundlagenforschung zu bringen oder umgekehrtGrundlagenforscher zur Zahnmedizin, müssen Perspektiven für eine wis-senschaftliche Laufbahn, ähnlich wie auf anderen Gebieten der Biome-dizin, geschaffen werden. Des weiteren bedarf es einer stimulierendenakademischen Umgebung mit einem aktiven interdisziplinären Austausch.Es müssen adäquat ausgerüstete Laboratorien unter Wahrung der nötigenSicherheitsvorschriften eingerichtet werden, die vorzugsweise innerhalbder Zahnkliniken angesiedelt sind, damit die Kommunikation und Kolla-boration mit den Klinikern sicher gestellt ist. Wenn die Zahnärzteschaftjedoch den potentiellen Nutzen der Grundlagenforschung für die Zahn-medizin nicht schätzen lernt, werden Naturwissenschaftler auch kaum In-teresse an der Zahnmedizin finden. Die Herausforderung liegt darin, bio-medizinische Aspekte in die traditionellen Konzepte der Zahnmedizin zuintegrieren, um das Potential der Zahnmedizin im Bereich der Medizinund Patientenversorgung zu erweitern.

Durch moderne Techniken der Molekular- und Zellbiologie sind in den letz-ten 15 Jahren wesentliche Einblicke in die genauen Abläufe der Wund-und Knochenheilung gewonnen worden. Das „Tissue engineering1“ nutztdieses Wissen zur Optimierung der biologischen Vorgänge bei der Kno-chenregeneration in der Parodontologie und Implantologie. Die Anwen-dung autologen plättchenreichen Plasmas (PRP) als Quelle mehrerer Kno-chenwachstumsfaktoren ist ein erster praxisgerechter Schritt in diesem Be-reich der rekonstruktiven Biologie.

Grundlagen:

Knochen zeigt die außergewöhnliche Fähigkeit, dass er von der Naturaus zur Regeneration fähig ist. Während die meisten anderen Gewebewie Muskulatur, Haut und Knorpel narbig ausheilen, kann sich Knochenvollständig regenerieren. Die Wiederherstellung der skelettalen Integritätnach einer Knochenfraktur stellte in der Evolution der Säugetiere einenwesentlichen Überlebensvorteil dar2,3.Der grundsätzliche Ablauf einer Knochenregeneration hat sich über Jahr-tausende entwickelt. Prinzipiell verläuft diese gleichartig, egal ob nacheiner Fraktur oder im Rahmen einer Implantation, um verlorengegange-nen Knochen wiederaufzubauen.

Der Ablauf der Knochenregeneration besteht aus folgenden Schritten4:

1. Trauma mit Blutung aus verletzten Gefäßen 2. Bildung eines Blutkoagulums3. Organisation des Blutkoagulums (durch neutrophile Granulozyten

und Makrophagen)

„Tissue engeneering“in der Implantologie:Der Einsatz Plättchen-reichen Plasmas (PRP) in der Knochenregenera-tion

vonUlrich Konter

Hamburg

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4. Proliferationsphase: Bildung des Granulationsgewebes (durchEndothelzellen, Fibroblasten, Osteoblasten), anschließend Syn-these des Osteoids

5. Mineralisation des Osteoids zum Phase-1-Knochen (Geflechtkno-chen)

6. Resorption und Umbau zum Phase-2-Knochen (Lamellenknochen)

Vom zeitlichen Ablauf her dauert die Organisation des Blutkoagulumsvom 1.-3.Tag, ab dem 3. Tag setzt die Bildung des Granulationsgewebesmit Einsprossen der Gefäßkapillaren ein, in den weiteren 4 Wochen er-folgt die Bildung des Phase-1-Knochens. Die Remodellierung und Bildungdes Lamellenknochens dauert 2-6 Monate.

Das Tissue engineering1 kombiniert die folgenden biologischen Kno-chenregenerationsvorgänge:

● Osteogenese: Bildung neuen Knochens durch osteokom-petente Zellen.

● Osteokonduktion: Bildung neuen Knochens entlang einerMatrix, wobei die knochenbildenden Zel-len aus dem Lagerknochen stammen.

● Osteoinduktion: Bildung neuen Knochens durch Stimulationund Differenzierung mesenchymalerStammzellen und Osteoprogenitorzel-len mit Hilfe von Knochenwachstumspro-teinen.

Durch das gezielte Zusammenbringen von osteokompetenten Zellen, ei-ner geeigneten extrazellulären Matrix und Knochenwachstumsproteinenwird eine Optimierung der Knochenregeneration ermöglicht.

Die Inkorporation des Augmentates5 ist eine Funktion der Vitalität des auf-nehmenden Knochenlagers im Knochendefekt . Das Schicksal des ein-gebrachten Augmentates wird von dessen Anschluß an das Gefäßsystemdes aufnehmenden Lagergewebes bestimmt6. Je stoffwechselaktiver undbesser vaskularisiert das Knochenlager ist, desto besser ist die Integrati-on des Regenerates. Weiteren Einfluß auf die Integration haben die De-fektgröße und das Alter des Patienten.

Eine enge Verzahnung von Augmentat und Knochenlager im Interface istvon großer Wichtigkeit für das Überleben der transplantierten osteo-kompetenten Zellen. Auch das schnelle Einwachsen von Blutgefäßen zurRevaskularisierung des Regenerates wird durch eine gute Adaptation desAugmentates an das Knochenlager begünstigt.

Die mechanische Ruhe während der Knochenregeneration ist eine unbe-dingte Voraussetzung, weil sowohl die Gefäßneubildung (Angiogenese)als auch die Knochenneubildung (Osteogenese) sehr empfindlich auf Mi-krobewegungen sind. Bei zuviel Unruhe kommt es stattdessen zur binde-gewebigen Einscheidung. Insbesondere in der ersten Phase der Wund-heilung kann es durch mechanische Irritation zu einer vorzeitigen Lyse desFibrinnetzes und damit zu einer Wundheilungsstörung kommen.

Die biomechanischen Eigenschaften des Augmentates bestimmen dieStabilität im Interface-Bereich und des gesamten Regenerates.

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Tissue Engineering bedeutet die Kombination von:

1. Osteokompetenten Zellen 2. Extrazellulärer Matrix 3. Signalfaktoren.

1. Osteokompetente Zellen:

Entscheidend für die Osteogenese sind die sog. osteokompetenten Zellen8:

● mitosefähige endosteale Osteoblasten ● Osteoprogenitorzellen ● mesenchymale Stammzellen.

Die direkt im Interface oberflächlich gelegenen osteokompetenten Zellenüberleben die ersten 3-5 Tage durch Diffusion von Sauerstoff und Nähr-stoffen aus dem aufnehmenden Lagergewebe. Nach diesem Zeitraum istdurch Gefäßneubildung (Angioneogenese) die Sauerstoff- und Nähr-stoffversorgung der transplantierten Zellen im Augmentat gewährleistet.Je höher der Anteil dieser Zellen im Transplantat ist, desto schneller undbesser erfolgt der Einbau des Regenerates.

Spongiosa enthält wesentlich mehr osteokompetente Zellen als Kortikalis undwird aufgrund der großen Oberfläche und dem interkonnektierenden Po-rensystem deutlich schneller und vorhersagbarer revaskularisiert undknöchern eingebaut. Daher stellt autologe Spongiosa den goldenen Stan-dard an osteogenetischer, osteokonduktiver und osteoinduktiver Potenz dar.

Als Spenderareal im Kieferbereich eignet sich die Unterkiefer-Retromo-larregion und die Kinnsymphyse für kleinere und mittlere Knochendefekte.Bei ausgedehnten Augmentationen stellt das posteriore oder anteriore Ili-um die klassische extraorale Spenderregion dar.

Das Tissue engineering versucht durch Isolierung und Züchtung von me-senchymalen Stammzellen und frühen Osteoprogenitorzellen in Zellkul-turen eine Vermehrung dieser wesentlichen osteokompetenten Zellen zuerzielen9. Die tierexperimentellen und vorklinischen Ergebnisse verspre-chen gute Erfolge.

2. Extrazelluläre Matrix:

Für die Knochenregeneration ist eine osteokonduktive Matrix erforderlich,die eine ähnliche Mikrostruktur und chemische Zusammensetzung wieSpongiosa aufweist und die für die Wundheilung, Vaskularisation,Osteoidbildung und Mineralisation geeignet ist10.

Organische Matrix: Voraussetzung für eine primäre Wund- und gute Knochenheilung ist einoptimal konfiguriertes und stabilisiertes Fibrinnetz mit vielen aggregier-ten Thrombozyten. Die in das Regenerat einwachsenden Osteo-Progeni-torzellen, Endothelzellen und Fibroblasten nutzen das Fibringerüst als Leit-bahn für deren Proliferation und Migration.

Anorganische Matrix:Knochen benötigt ein mechanisch ausreichend stabiles Trabekelwerk mitinterkonnektierendem Porensystem, das ein Einwandern der Gefäß- undKnochenzellen optimal gewährleistet. Eine fehlende mechanische Stabi-

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lisierung führt dazu, dass sich zu wenig Kapillaren bilden und damit keinKnochen sondern Knorpel oder Bindegewebe bildet. Die optimale Ma-trix sollte gleichzeitig den Knochendefekt von einwachsenden Weichge-webszellen abschirmen (Barrierewirkung) und die zellulären rezeptor-vermittelten Anhaftungs- und Ablösungsprozesse unterstützen.

Als xenogenes, natürliches Knochenmineral zeigt das spongiöse Bio-Osseine der autologen Spongiosa vergleichbare innere Oberfläche von ca.100 m2/g und ein ausgedehntes interkonnektierendes Porensystem. Diesynthetischen Materialien wie Tricalciumphosphat (TCP) und Biogläser er-reichen bis heute nicht diese osteokonduktiven Eigenschaften.

3. Signalfaktoren:

Hierzu zählen die Wachstums- und Differenzierungsfaktoren, die die Dif-ferenzierung, Chemotaxis, Mitose, Proliferation und Migration der osteo-kompetenten Zellen (Osteoprogenitorzellen und mesenchymale Stamm-zellen) induzieren11.

Zu den natürlichen Wundheilungs- und Wachstumsfaktoren zählen derTransforming Growth factor ß (ß-TGF), der Platelet-derived growth factor(PDGF), endothelial cell growth factor (ECGF) und epidermal growth fac-tor (EGF)12. Diese vier Wachstumsfaktoren werden physiologisch vonThrombozyten durch Aktivierung im Rahmen der Aggregation aus Spei-chergranula freigesetzt (sog. Degranulation). Diese Faktoren locken undstimulieren die zur Organisation des Fibrinnetzes notwendigen Zellen undleiten damit die Wundheilung ein. Durch Erhöhung der Thrombozytenzahlim plättchenreichen Plasma (PRP) lässt sich die Konzentration der throm-bozytären Wachstumsproteine deutlich steigern.

ß-TGF und PDGF wirken aktivierend auf Prä- und Osteoblasten, könnenjedoch nicht die Differenzierung von mesenchymalen Stammzellen zuOsteoprogenitorzellen bewirken.

Diese osteoinduktive Wirkung zeigen die mittlerweile gentechnologischherstellbaren morphogenetischen Knochenwachstumshormone (BMP). Siesind für die Morphogenese der Organsysteme in der Embryonalentwick-lung und im allgemeinen Knochenstoffwechsel wesentlich beteiligt. In derweiteren Entwicklung des Tissue engineering werden die BMP´s wesent-lich beteiligt sein. Die tierexperimentellen und ersten kontrollierten vorkli-nischen Untersuchungen sind vielversprechend. Bis zur Zulassung derBMP´s für die klinische Anwendung werden jedoch noch einige wenigeJahre vergehen.

Plättchen-reiches Plasma (PRP)

Während sich die Anwendung von BMP´s und Knochenstammzellkultu-ren noch im Entwicklungsstadium befinden, ist der Einsatz von plättchen-reichem Plasma (PRP) eine praxisreife und praxisgerechte Technik zur Ver-besserung der Wundheilung und Knochenregeneration.

Prinzip:

PRP unterstützt die Wund- und Knochenheilung durch zwei wesentlicheFaktoren:

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1. Generierung eines optimal konfigurierten und stabilisierten Fib-rinnetzes als provisorische Matrix für die für Wundheilung ver-antwortlichen Zellen.

2. Einsatz autologer Wachstumsfaktoren (ß-TGF, PDGF, EGF undECGF), die bei der Degranulation der Thrombozyten im Rahmender Aggregation freigesetzt werden. Diese Faktoren stimulierenunmittelbar die Mitose und Proliferation der Endothelzellen undOsteoblasten im Knochenlager und angrenzenden Augmentat.

PRP verbessert und beschleunigt die natürlichen Mechanismen der Wund-und Knochenheilung durch Optimierung der provisorischen Matrix unddurch Steigerung der Konzentration an Wachstumsfaktoren.

Herstellung:

Plättchenreiches Plasma wird durch Zentrifugation von venösem Blut her-gestellt, dem Natriumcitrat als Antikoagulans beigemischt wurde. Durchdie Zentrifugalkräfte werden in einem ersten Zentrifugationsschritt dieErythrozyten von den Leukozyten und vom Plasma getrennt, und in einemzweiten Schritt wird das plättchenreiche vom plättchenarmen Plasma ge-trennt. Prinzipiell ist die Herstellung des PRP in der Blutbank oder in derPraxis möglich. Seit kurzem ist ein von Prof. Marx entwickeltes geschlos-senes System zur PRP-Herstellung in der Praxis erhältlich (sog. PCCS-Sy-stem). Bei diesem Verfahren werden in ca. 20 Minuten aus 60 ml Eigen-blut 5-7 ml PRP gewonnen. Die Konzentration der Thrombozyten beträgt700-900.000/ml, d.h. es erfolgt eine Konzentrierung um das 4-5 fache.Die normale Thrombozytenkonzentration beträgt 150-250.000/ml.Anwendung:

Die Aktivierung der Thrombozyten erfolgt mit einer Calcium-Thrombin-Lö-sung, die aus einer 10% CaCl2 –Lösung und Zusatz von 1000 i.E. Throm-bin/ml hergestellt wurde. In der Praxis hat es sich bewährt, das PRP mitdem Knochen-Augmentat zu mischen. Kurz vor dem Einbringen des Aug-mentates wird dieses mit der Calcium-Thrombin-Lösung aktiviert und inden Knochendefekt eingebracht. Die Aktivierung wird portionsweise vor-genommen, um das kontrollierte Einsetzen der Thrombozyten-Degranu-lation und Fibringerinnung zu gewährleisten.

Wirkungsmechanismus:

Die Bildung des Fibringerinnsels ist zum einen die letzte Phase der Blut-gerinnung (Hämostase) und zum anderen die erste Phase der Wundhei-lung. Nur ein stabiles und gut konfiguriertes Fibrinnetz bewirkt eine kon-trollierte Organisation der Wunde und damit eine primäre Wundheilung.Für die Abdichtung der Gefäßwandläsion haben der Thrombozyt und dieGerinnungskaskade die wesentlichen Funktionen (thrombozytäre undplasmatische Gerinnung).

Die Bildung des Fibringerinnsels verläuft prinzipiell in folgenden Phasen13:

1. Gefäßwandverletzung mit Freilegung subendothelialer Strukturen2. Thrombozytenadhäsion3. Thrombozytenaktivierung 4. Thrombozytenaggregation (primäre Hämostase = plättchenrei-

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cher Thrombus)5. Degranulation der Thrombozyten mit Freisetzung der in den Spei-

chergranula enthaltenen Wachstumsfaktoren ß-TGF, PDGF, EGFund ECGF

6. Aktivierung der Gerinnungskaskade (extrinsischer und intrinsi-scher Weg)

7. Thrombinbildung und Spaltung von Fibrinogen zu Fibrin (sekun-däre Hämostase = fibrinreicher Thrombus)

8. Retraktion des Fibringerinnsels durch Quervernetzung des Fibrinsund Aktin-Myosin-Filamente in den Thrombozyten (tertiäre Hä-mostase)

9. Einwanderung von PMN und Makrophagen (Organisation des Fi-bringerinnsels durch lokale Fibrinolyse)

10. Einwanderung von Endothelzellen für die Angiogenese, Osteob-lasten für die Osteogenese und Fibroblasten für die Bildung dessubendothelialen Bindegewebes.

Die Adhäsion des ruhenden Thrombozyten an subendotheliale Strukturenerfolgt rezeptorvermittelt über den Von-Willebrand-Rezeptor, Kollagen-rezeptor, Fibronektinrezeptor und Lamininrezeptor. Durch die Anheftungwird eine Aktivierung des Thrombozyten ausgelöst, die eine Formverän-dung (shape change) zur Folge hat. Es findet eine Abplattung statt (da-her der Name “Blutplättchen”) und eine Ausbildung von Pseudopodien,welche eine effektive Abdichtung der Gefäßwandläsion gewährleisten.Nach der Phase der Aktivierung kommt es über Fibrinogenbrücken zurAggregation der Blutplättchen, die zunächst reversibel ist. Anschließenderfolgt die Sekretion der in den dichten Granula, den α-Granula und denLysosomen enthaltenen Inhaltsstoffe. Nach der Degranulation hat sich einlabiles, irreversibles Thrombozytenaggregat, der sog. plättchenreicheThrombus, gebildet.Über das intrinsische System (Gerinnungsfaktoren XII,XI,IX und VIII) unddas extrinsische System (Gerinnungsfaktor VII und den tissue factor)kommt es zur Aktivierung des Faktors X, der die Thrombinbildung veran-lasst. Der letzte Schritt ist dann die Spaltung des Fibrinogens zu Fibrin undBildung des fibrinreichen Thrombus (sekundäre Hämostase). Die Verfe-stigung des Thrombozyten-Fibrinnetzes kommt durch Quervernetzungdes Thrombins sowie Aktin-Myosin-Filamente im Thrombozyten zustande(tertiäre Hämostase)13.

Durch das Mischen des plättchenreichen Plasmas mit dem Spongiosa-transplantat wird eine unmittelbare Verklebung und Vernetzung des Aug-mentates mit dem aktivierten Knochenlager über das Fibrin-Thrombozyten-Gerinnsel erreicht. Gleichzeitig werden die Endothelzellen und Osteob-lasten im Augmentat und im aktivierten Knochenlager durch die hohe Kon-zentration der aus den Blutplättchen freigesetzten Wachstumsfaktoren zurProliferation angeregt. Diese PRP-angereicherte Fibrin-Thrombozyten-Spongiosa-Matrix bietet optimale Voraussetzungen für die primäre Wund-heilung.

Die freigesetzten Wachstumsfaktoren ß-TGF, PDGF, EGF und ECGF ha-ben folgende positive Einflüsse auf die Wund- und Knochenheilung:

1. Förderung der Osteogenese: Anregung der Mitose und Proli-feration von Osteoblasten, Prä-Osteoblasten und Osteoprogeni-torzellen.

2. Förderung der Angiogenese: Anregung der Mitose und Proli-feration von Endothelzellen zur Kapillarbildung.

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Literatur 1. Lynch SE, Genco RJ, Marx RE: Tissueengineering. Applications in maxillo-facial surgery and periodontics. Quintes-sence Publishing 1999.2. Hollinger JO, Wong MEK: The inte-grated processes of hard tissue regene-ration with special emphasis on fracturehealing. Oral Surg Oral Med Oral Pathol1996; 82: 594.3. Buckwalter JA, Glimcher MJ, CooperRR, Recker R : Bone biology. Part I. Struc-ture, blood supply, cells, matrix andmineralization. J Bone Joint Surg Am19954: 77A: 1256-1275.4. Schenk RK : Bone regeneration : bio-logic basis. pp. 49-100. In: Guided boneregeneration in implant dentistry by BuserD, Dahlin C, Schenk RT, QuintessencePublishing 1994.5. Burchardt H: Biology of bone trans-plantation. Orthop Clin N Am 1987; 18:187-196.6. Trueta J: The role of blood vessels inosteogenesis. J Bone Joint Surg Br 1963;45B: 402.7. Marx RE: Clinical applications of bonebiology to mandibular and maxillaryreconstruction. Clin Plast Surg 1994: 21:377-392.8. Gray JC, Elves MW: Donor cells con-tribution to osteogenesis in experimentalcancellous bone grafts. Clin Orthop1982; 163: 261-271.9. Bruder SP, Fink DJ, Caplan AI: Mesen-chymal stem cells in bone development,bone repair, and skeletal regenerationtherapy. J Cell Biochem 1994; 56: 283-294.10. Burchardt H: The biology of bonegraft repair. Clin Orthop Rel Res 1983;1174: 28-42.

3. Förderung der Organisation des Blutgerinnsels: Anlockungvon Makrophagen zur Phagozytose des Koagulums und Freiset-zung der 2. Phase-Wachstumsfaktoren für die Angio- und Osteo-genese.

Die Wirkungsdauer der thrombozytären Wachstumsfaktoren beträgt 3-5Tage, anschließend übernehmen die Makrophagen die Bildung der 2.Phase-Wachstumsfaktoren. Auch die Osteoblasten ihrerseits bildenBMP´s, ß-TGF und IGF zur Förderung der Angio- und Osteogenese.

Ergebnisse:

In den letzten 2 Jahren wurde plättchenreiches Plasma (PRP) in ca. 100Fällen im Rahmen von Knochenaufbauten in Kombination oder vor Im-plantationen (überwiegend Sinuslift-OP´s) angewendet. Zunächst wurdedas PRP von der hiesigen Blutbank einen Tag präoperativ hergestellt.Nachdem die PRP-Technik vermehrt zur Anwendung kam, gingen wir da-zu über, dieses in der Praxis in einer Laborzentrifuge herzustellen. Seit Ju-ni 2000 stellen wir das PRP in der Praxis im geschlossenen Beutelsystemdes PCCS-Systems von Prof. Marx her. Dieses Verfahren hat sich in kur-zer Zeit sehr bewährt. Die Qualitätskontrolle des hergestellten plättchen-reichen Plasmas ergab über 95% vitale, ruhende Thrombozyten in einerKonzentration von 700-900.000/ml.

Die klinischen und humanhistologischen Ergebnisse lassen sich wie folgtzusammenfassen:

1. Begünstigung der Wundheilung, insbesondere des Weichgewebes2. Geringere Hämatombildung und Weichgewebsschwellung bei re-

duziertem Wundschmerz. 3. Größerer Anteil von vitalen Osteoblasten und höherer Reifegrad

des regenerierten Knochens (vemehrt Sekundärosteone).

Diskussion:

Die Bedeutung eines optimal konfigurierten und stabilisierten Fibrinnetzesfür die Wund- und Knochenheilung sowie die Einheilung von Knochen-transplantaten ist schon lange bekannt.

Seit Anfang der 80er Jahre hat die Anwendung allogenen Fibrinklebersin Europa in fast allen Bereichen der chirurgischen Disziplinen eine wei-te Verbreitung gefunden14. Während zunächst der blutstillende Effekt imVordergrund stand, zeigte sich schnell der positive Effekt in der Knochen-und Hauttransplantation. In den USA haben diese Produkte keine FDA-Zulassung erhalten.Seit Anfang der 90er Jahre wird dort über die Verwendung autologen Fi-brins aus plättchenreichen Plasma berichtet. Die positiven Wirkungen ent-sprechen denen des Fibrinklebers.1997 berichtet Whitman erstmals über die Anwendung autologen Fibrinsin der Kieferchirurgie.Erst durch die Arbeit von R.E. Marx ist die Anwendung von PRP bei derKnochenrekonstruktion im Kieferbereich allgemein bekannt geworden. Inseinen Untersuchungen konnte er zeigen, dass ein statistisch signifikan-ter Anstieg der Knochentrabekelareale von 55% bei normalen Spongio-satransplantaten auf 74% bei PRP-Spongiosatransplantaten nachzuwei-sen war.

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11. Marx RE, Carlson ER et al.: Platelet-rich plasma : growth factor enhancementfor bone grafts. Oral Surg Oral Med OralPathol 1998; 85: 638-646.12. Greenlagh DG. The role of growthfactors in wound healing. J Trauma1996; 41: 159-16713. Müller-Berghaus G, Pötzsch B.Hämostaseologie. Springer, 1998.14. Matras H. The use of fibrin glue inoral and maxillofacial surgery. J OralMaxillofac Surg 1982, 40: 61715. Whitman DH, Berry RL, Green DM:Platelet Gel: An autologous alternative tofibrin glue with applications in oral andmaxillofacial surgery. J Oral MaxillofacSurg 1997; 55: 1294-1299, 1997.16. Sinuslift Konferenz Hamburg9/2000: Vorträge von Watzek (Wien)und Terheyden (Kiel).

Minimalinvasive Wurzeloberflächen-bearbeitung mit Schallund Ultraschallscalern

vonG. PetersilkaT. F. Flemmig

Subgingivale Wurzeloberflächenbearbeitung als zentraler Bestandteil derParodontitistherapie hat die Entfernung des bakteriellen Biofilms sowie vonKonkrementen zum Ziel. Technische Weiterentwicklungen im Bereich derhierfür verwendbaren Schall- und Ultraschallscalerspitzen ermöglichenheute auch den Einsatz von oszillierenden Scalern als vollwertige Alter-native zu Handinstrumenten (Abb.1). Allerdings setzt die sichere und effi-ziente Anwendung dieser sich in wesentlichen Punkten von der manuellenInstrumentierung unterscheidenden Scalingtechnik jedoch genaue Kennt-nisse über Wirkungsweise und Anwendungstechnik maschineller Instru-mentierung voraus.

Instrumenteneffizienz und die Phasen der Parodontitistherapie

Zur Wurzeloberflächenbearbeitung verwendete Instrumente kommen inden verschiedenen Phasen der Parodontitistherapie mit differenzierterZielsetzung zur Anwendung. In der initialen Parodontitistherapie müssenunter hohem zeitlichen Aufwand fest mit der Zahn- oder Wurzelober-fläche verbundene Konkremente entfernt werden, weshalb hierfür idea-lerweise einmalig ein Instrument mit möglichst hoher Effizienz verwendetwerden sollte. In der sich an die Initialtherapie anschließenden, oder chir-urgischen Eingriffen folgenden unterstützenden Parodontitistherapie (UPT)steht jedoch in regelmäßigen Intervallen von etwa drei Monaten die Ent-fernung der zum Biofilm aggregierten Plaque im Vordergrund. In dieserTherapiephase sollten keine Konkremete mehr auf der Wurzeloberflächevorhanden sein, hier sollte die Wurzeloberfläche möglichst schonend be-arbeitet werden. Während die Steuerung der Effizienz bei der Handin-strumentierung vor allem durch adäquate Anpassung der Anpresskraft derKürette zur Oberfläche erreicht wird, werden Sicherheit und Effizienz ma-schinell getriebener Instrumente durch eine wesentlich größere Anzahlvon durch den Anwender beeinflußbaren Faktoren bestimmt.

Oszillierende Scalersysteme

Magnetostriktive Ultraschallscaler

Die Entwicklung oszillierender Instrumente zur Zahnbearbeitung fand

Autorenanschrift und Literatur:

Dr. G. PetersilkaPoliklinik für ParodontologieWaldeyerstrasse 3048149 Münster

Tel: 0251 - 83 47 060Fax: 0251 - 83 47 134email:peterslk@uni-münster.de

Tierexperimentelle Untersuchungen von Terheyden (Kiel) und Watzek(Wien) belegen, dass die alleinige Kombination von PRP und osseokon-duktivem Knochenersatzmaterial (Bio-Oss) zu keiner Verbesserung derKnochenneubildung führt. Erst durch die Beimengung eines autologenSpongiosatransplantates wird eine Verbesserung der Knochenregenera-tion beobachtet.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass PRP kein Wundermittel zurKnochenregeneration ist. Jedoch bewirkt es in Kombination mit einem au-tologen Spongiosatransplantat eine Verbesserung der Wundheilung, derInkorporation und knöchernen Durchbauung des Augmentates. Die An-wendung der PRP-Technik in der Regeneration von Knochendefekten inder Implantologie ist als Einstieg in das Tissue engineering zu sehen. We-sentliche Verbesserungen sind durch den Einsatz von Knochenstammzel-len in Kombination mit BMP´s zu erwarten.

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ihren Ursprung in den fünfziger Jahren, als versuchtwurde, effiziente Alternativen zu rotierenden Präpa-rationsinstrumenten zu finden. Ursprünglich zurPräparation von Kavitäten (engl.: cavity) entwickelt,kam 1954 das erste sog. magnetostriktive Ultra-schallgerät vom Typ “Cavitron” auf den Markt. DieUltraschallschwingung mit einer Frequenz von ca. 20000 bis 45 000 Hz wird bei diesem Instrumententyp(z. B. Odontosson, PerioSelect, Cavitron) durch elek-tromagnetische Einwirkung auf ein innerhalb des In-strumentenhandstückes befindliches ferromagneti-sches Material erzeugt. Das Instrumentenende ma-gnetostriktiver Ultraschallscaler schwingt meist auf ei-ner kreisähnlichen bis ellipsenförmigen Bahn miteinem Radius von maximal ca. 100 µm. Dies be-deutet, dass die Arbeitsspitze je nach Anlagerungs-

winkel entweder stärker klopfend oder reibend/schabend auf der Ober-fläche wirkt (Abb. 2 links).

Piezoelektrische Ultraschallscaler

In den siebziger Jahren wurden die ersten sog. piezoelektrischen Ultra-schallscaler entwickelt. Bei dieser Antriebsart wird ein im Instrumenten-handstück befindlicher Quarz durch Einwirkung einer Wechselspannungin Vibrationen im Frequenzbereich 18 000 bis 35 000 Hz versetzt unddie Schwingung auf die Arbeitsspitze übertragen. Die Schwingungsrich-tung der Instrumentenspitzen piezoelektrischer Ultraschallscaler (z. B.EMS Piezon Master, Amdent 830, Satellec) ist bei einer Amplitude vonca. 100 µm meist auf eine Ebene begrenzt, d.h. linear. Je nach Anlage-rungsrichtung der Instrumentenspitze wird daher ein rein schabendesoder klopfendes Abtragsmuster erreicht (Abb. 2 Mitte).

Eine Sonderform der piezoelektrischen Ultraschallscaler stellt das Gerät“Vector” (Dürr Dental) dar. Im Unterschied zu den herkömmlichen piezo-elektrischen Ultraschallgeräten bewegt sich hier die Arbeitsspitze entlangihrer Längsachse mit einer Amplitude von ca. 30 µm. Der Substanzab-trag soll bei dem “Vector” Ultraschallsystem durch indirekte Übertragungder Ultraschallenergie auf das verwendete Kühlmedium zustandekom-men. Anders als bei konventionellen Scalersystemen wird zusätzlich zurKühlflüssigkeit eine abrasive Suspension bestehend aus Hydroxylapatitoder Siliziumkarbid verwendet, deren Kristalle im Flüssigkeitsstrom ent-lang des oszillierenden Instrumentes beschleunigt werden und so sub-stanzabtragend wirksam sein sollen.

Abb. 1: Schmale, grazile Instrumentenspitzen erlauben die effiziente und schonende Be-arbeitung subgingivaler Wurzeloberflächen. Oben: 3 A Sonde, Mitte: SchallscalerspitzeSonic Recall Nr. 15 (Firma KaVo), Unten: Nabers-Furkationssonde.

Abb. 2: Schwingungsmuster oszillierender Sca-ler. Links: Magnetostriktiver Ultraschallscaler. Mit-te: Piezoelektrischer Ultraschallscaler, Rechts:Schallscaler.

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Schallscaler

Als Weiterentwicklung druckluftbetriebener Dentalwerk-zeuge ist im Laufe der sechziger Jahre der Schallscalerentstanden. Dieser unterscheidet sich von Ultraschalls-calern dadurch, dass die Schwingung durch im Druck-luftstrom rotierende Bauteile erzeugt wird. Schallscalerschwingen mit einer Frequenz von ca. 6 000 bis 8 000Hz, wobei die Amplitude der ungedämpften Schwin-gung abhängig von der Instrumentenspitze ca. 1 mm be-tragen kann. Die Schwingungsform der Instrumenten-spitze ist rund, bei Anlagerung an die zu bearbeitendeOberfläche resultiert ein klopfendes Abtragsmuster (Bsp:Titan S Scaler, KaVo Sonicflex, W & H Corsair) (Abb. 2rechts und Abb. 3).

Effizienz und Sicherheit in der Anwendung

Das Abtragsverhalten aller Schall- und Ultraschallscalersysteme ist we-sentlich komplexer als das der Handinstrumente. Der nach Anwendungoszillierender Scaler auftretende Substanzabtrag ist in unterschiedlichemAusmaß von den Arbeitsparametern Zeit, Anpresskraft, Anstellwinkelund Geräteeinstellung abhängig. In vitro Studien haben gezeigt, dass beimagnetostriktiven Ultraschallscalern Effizienz und Sicherheit in gleichemMaße über Veränderungen von Anpresskraft und Winkel der Instrumen-tenspitze zur Zahnoberfläche bestimmt werden. Eine Erhöhung der Lei-stungseinstellung an der Geräteeinheit hingegen bewirkt keine ausge-prägten Zunahmen der Defekttiefe. Bei piezoelektrischen Ultraschallsca-lern hingegen wird der Abtrag nachhaltig vom Anstellwinkel beeinflußt,die Auswirkungen von Veränderung der Anpresskraft oder Leistungsein-stellung sind eher gering. Die Effizienz des Schallscalers wiederum wirdin gleichem Maß von Anpresskraft und Anstellwinkel bestimmt. Um eine schonende Wurzeloberflächenbearbeitung zu gewährleisten,sollte ein Maximalwert von 50 µm Substanzabtrag pro Fläche innerhalbder üblichen Bearbeitungszeit einer Zahnfläche in UPT pro Jahr (entspre-chend ca. 40s), nicht überschritten werden. Dieser kritische Grenzwertkann bei allen Gerätetypen nur eingehalten werden, wenn die Instru-mentenspitze parallel, d.h. mit 0° Winkel zur Wurzeloberfläche geführtwird und die Anpresskräfte keinesfalls 1 N ( 1 N entspricht der Massevon ca. 100g) überschreiten. Die Kombination von steileren Anstellwin-keln mit hohen Anpresskräften kann innerhalb kurzer Zeit zu klinisch re-levanten Defekten auf der zu bearbeitenden Wurzeloberfläche führen.Hierbei können im Extremfall bei Bearbeiten der gleichen Wurzelstelle in-nerhalb von 40s Bearbeitungszeit Defekttiefen von über 800µm erreichtwerden, was in einigen Fällen zur Perforation des Wurzelkanalsystemsgeführt hat.Das Ultraschallsystem “Vector” ist bisher weder auf potentielle Schädi-gungen der bearbeiteten Wurzeloberflächen noch auf klinische Effizienzausreichend untersucht. Es scheint vorstellbar, mit dem Instrument in aus-reichendem Maß den subgingivalen Biofilm aus der parodontalen Tascheentfernen zu können. Ob das System jedoch genügend Effizienz zum Ab-trag subgingivalen Zahnsteins besitzt, und den herkömmlichen Systemenvergleichbare klinische Ergebnisse ermöglicht, muss erst durch entspre-chende Studien belegt werden.Unter den gut untersuchten oszillierenden Scalern bietet der Schallscaleraufgrund der kreisähnlichen Schwingungsform bei allen möglichen An-

Abb. 3: Stark vergrößerte Aufsicht auf eineSchallscalerspitze. Links: Spitze in Ruhe, einepunktförmige Lichtquelle wird am Spitzenendereflektiert. Rechts: Spitze in schwingendem Zu-stand, die jetzt kreisförmige Reflektion be-schreibt das Schwingungsverhalten der Arbeit-spitze (Mit freundlicher Genehmigung von Dr.B. Ehmke).

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stellwinkeln ein homogenes und vorhersehbares, “klopfendes” Abtrags-muster. Bei Verwendung entsprechender Instrumentenspitzen kann so beiminimaler Gefahr der Schädigung, beispielsweise durch Verkanten beiAufsetzen des Arbeitsendes, mit ausreichender Effizienz bei derInitialtherapie gearbeitet werden.

Schall- und Ultraschallscaler in der klinischen Anwendung

Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass sich die klinischen Therapieer-gebnisse nach Anwendung von Schall- und Ultraschallscalern nicht vondenen nach Handinstrumentierung unterscheiden. Die Wirksamkeit dermaschinellen Scalersysteme beruht hierbei im wesentlichen wie bei Küret-ten auch auf der mechanischen Entfernung von Plaque und Konkremen-ten. Eine bakterizide Wirkung der zur Kühlung der Arbeitsspitze ver-wendeten Spüllösungen ist fraglich, bisher konnte die oft diskutierte Wir-kung auf Bakterienzellmembranen von Mikroströmungen und Kavitati-onserscheinungen entlang schwingender Arbeitsspitzen für alle Schall-und Ultraschallsysteme in vivo nicht belegt werden. Eine Verwendung vonantimikrobiellen Spüllösungen (z. B. Chlorhexidin oder Polyvidonjodid)als Kühlmittel kann zwar die Bakterienzahl im bei der Behandlung resul-tierenden Aerosol reduzieren, führt aber nicht zu klinisch relevant besse-ren Therapieergebnissen. Auch das potentielle Infektionsrisiko für den An-wender durch im Spraynebel befindliche pathogene Viren und Bakterienkann dadurch nicht komplett verhindert werden. Daher ist auch bei derAnwendung von Schall- und Ultraschallscalern auf adäquate Infektions-prophylaxe zu achten. Über die Qualität der Wurzeloberfläche nach verschiedenen Behand-lungstechniken herrschen kontroverse Meinungen. Eine Vielzahl von Un-tersuchungen hat sich mit diesem Thema befasst, deren Ergebnisse sindjedoch je nach Studiendesign sehr unterschiedlich. So wurden für Ultra-schallscaler, Schallscaler und Handinstrumente sowohl stark verschiede-ne als auch gleichartige Oberflächenmorpohologien von Zahnwurzelnnach Bearbeitung gefunden. Da jedoch die Rauhigkeit der subgingiva-len Areale für die parodontale Heilung keinen hohen Stellenwert besitzt,ist die Oberflächenmorphologie der subgingivalen Areale auch nur vonuntergeordneter Relevanz für das zu erzielende Therapieergebnis. Gegenüber Handinstrumenten besitzen Schall- und Ultraschallscaler ne-ben der für Anwender und Patienten angenehmeren Behandlungsart Vor-teile im Bereich der Instrumentierung schwer zugänglicher Wurzelberei-che. Aufgrund der grazilen Instrumentenformen lassen sich beispielswei-se Furkationen oder schmale, tiefe Taschen mit oszillierenden Instrumen-ten wesentlich besser bearbeiten. Auch wenn man die zur vollständigenReinigung eine Wurzeloberfläche benötigte Zeit betrachtet, so scheintsich ein geringer Zeitvorteil für die maschinelle Wurzeloberflächenbear-beitung zu ergeben. Allerdings kann die spülende Wirkung der Kühlflüs-sigkeit im supragingivalen Bereich schnell eine Reinigung auch der sub-gingivalen Bereiche vortäuschen und zu oberflächlichem Arbeiten ver-leiten. Deshalb ist gerade bei der Anwendung von Schall- und Ultra-schallscalern eine konsequente und gründliche Behandlungstechnikunbedingte Voraussetzung für dauerhaften Therapieerfolg.

Scalingtechnik mit Schall- und Ultraschallscalern

Der wesentliche Unterschied in der Anwendung von Schall- und Ultra-schallscalern zur Handinstrumentierung besteht in der Arbeitsweise derInstrumentenenden. Während bei Küretten der Substanzabtrag durch dieziehende Bewegung der Schneidekante auf der Oberfläche erfolgt, wird

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bei Schall- und Ultraschallscalern der Substanzabtrag durch kleinflächighämmernde oder schabende Aktionen der Instrumentenspitze bewirkt.Die relativ kleine aktiv am Abtrag beteiligte Oberfläche der Arbeitsspit-zen oszillierender Scaler verlangt das “Erlernen” einer exakten Systema-tik, um eine ausreichende Bearbeitung aller nichtsichtbaren Wurzelarealezu ermöglichen. Es empfiehlt sich daher, die Wurzeloberfläche unter stän-dig überlappenden Bewegungen von koronal nach apikal zu bearbeiten.Endpunkt der Wurzeloberflächenbearbeitung ist auch bei oszillierendenScalern eine fühl- bzw. sichtbar saubere Oberfläche, was durch Kontrol-le mittels Sonde und Luftbläser sicher gestellt werden sollte. Die Arbeitsspitzen zur subgingivalen Instrumentierung werden meist inzwei kontrawinkelig gebogenen Varianten angeboten, die eine suffizi-ente Bearbeitung verschiedener Areale einer Bezahnung erlauben. Beideren Anwendung ist darauf zu achten, dass stets mit dem konkaven En-de des Ansatzes an der Wurzeloberfläche gearbeitet wird, um ein Bear-beiten der Wurzeloberflächen mit dem Spitzenende des Instrumentes zuvermeiden. Für die gründliche, lückenlose Bearbeitung einer gesamten Be-zahnung sollte eine immer gleichbleibende Systematik angewendet wer-den: Beginnt die Behandlung der Zahnoberflächen mit der korrekt ge-wählten Arbeitspitze im ersten Quadranten, so können die Zähne vomletzten Molaren bis zum Eckzahn von buccal bearbeitet werden, am Zahn13 sollte die Arbeitsspitze dann bis zum letzen Molaren im zweitenQuadranten von palatinal eingesetzt werden. Die Reinigung der Appro-ximalflächen wird optimiert, wenn diese Spitze dann im Molaren- und Prä-molarenbereich des ersten Quadranten von palatinal und ab dem Zahn13 dann von buccal eingesetzt wird. Mit der gegenläufig gebogenen Spit-ze können dann die bisher nicht bearbeiteten Stellen von paltinal, buc-cal und approximal gereinigt werden (Abb. 4). Im Unterkiefer erfolgt dieAnwendung entsprechend spiegelverkehrt. Bei konsequenter Anwendungdieser Schritte erübrigt sich eine zusätzliche oder nachträgliche Anwen-dung von Handinstrumenten. Erreichbare Zahnoberflächen können beiVorliegen von Rauhigkeiten mit Gummikelch und Paste, Schmelzober-flächen auch mit Pulverstrahlgeräten poliert werden.Voraussetzung für den langfristigen klinischen Erfolg der Parodontisthe-rapie ohne Schädigung der Zahnhartsubstanz ist aber in jedem Fall diesorgfältige Handhabung unter Zuhilfenahme entsprechenden theoreti-schen Wissens und genügender klinischer Erfahrung bei hohem Ausbil-dungsstand des Anwenders.

Abb. 4a: Systematik zur Reinigung des Oberkiefers. Die mit durchge-henden Linien bezeichneten Bereiche (buccal von Zahn 18 bis 14, pa-latinal von 13 bis 28) können mit der jeweils passenden Arbeitsspitze be-arbeitet werden. Die Pfeile kennzeichnen die Approximalräume, die mitder selben Spitze bei Zugang von palatinal bzw. buccal gereinigt wer-den können. Im Unterkiefer kommt die selbe Systematik entsprechend zumEinsatz.

Abb. 4b: Mit der kontrawinkelig zur Reinigung der Bereiche in Abb. 4a verwen-deten Spitze können die hier grau unterlegten Bereiche gereinigt werden. Im Un-terkiefer kommt die selbe Systematik entsprechend zum Einsatz.

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Okklusion im Rahmencraniomandibulärer Dysfunktion

vonS. KoppW. G. Sebald

JenaMünchen

Literatur:Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität JenaZentrum für Zahn-, Mund-und KieferheilkundeBachstrasse 1807740 Jena

Tel: 03641 - 63 32 54Fax: 03641 - 63 32 48

email:[email protected]

ZusammenfassungDie Rolle der Okklusion bei der Ätiologie craniomandibulärer Dysfunkti-on (CMD) wird in der Weltliteratur kontrovers diskutiert. Es wird der Ver-such einer kritisch wertenden Übersicht der ätiologischen Bedeutung derOkklusion im Rahmen craniomandibulärer Dysfunktion unternommen. ImRahmen einer prospektiven Studie an Kindern und Jugendlichen bei sys-tematischem Einsatz der manuellen Funktionsanalyse und artikulator-montierten Modellen, können Zusammenhänge zwischen Okklusion undFunktion des craniomandibulären Systems (CMS) - statistisch gesichert -aufgezeigt werden.

Einleitung

Häufigkeit des VorkommensDie statistischen Auswertungen systematischer Untersuchungen des cra-niomandibulären Systems (CMS), die in den 70er Jahren in den skandi-navischen Ländern durchgeführt wurden (Agerberg und Österberg,1974; Hansson und Öberg, 1971; Ingervall und Hedegard, 1974; Mo-lin et al., 1976) ergaben, dass zwischen 10% und 79% (!) des unter-suchten Kollektivs Symptome einer craniomandibulären Dysfunktion(CMD) aufweisen. Auch frühere (Rantanen, 1954; Ziets, 1968) und spä-tere Untersuchungen (Alstergren et al., 1999; Baker, 1999; Brunzel,2000; Carlsson, 1999; Hirsch, 2000; Schenkel, 2000) bestätigten die-se Befunde als Minimalwerte - je nach untersuchter Population.Für die Praxis bedeutet das, dass mindestens - statistisch gesehen - jederzehnte ”neue Patient” Symptome einer CMD aufweist. Symptome dürfenselbstverständlich nicht mit dem ”Vollbild” einer CMD gleichgesetzt wer-den, aber sie sollten auch diagnostisch nicht übersehen werden. Das wä-re folgenreich, denn nur im Anfangsstadium - schon bei Kindern im Altervon 5 bis 9 Jahren - lassen sich Symptome einer CMD mit großer Si-cherheit erfolgreich behandeln.

Warum ”Craniomandibuläres System (CMS)” und nicht ”Kieferge-lenk (TMJ)”?Mit dem Ausdruck ”System” soll zum Ausdruck gebracht werden, dass essich nicht nur um eine Störung im ”Kauapparat” handelt, es meint viel-mehr ein Eingebundensein in ein komplexes Zusammenwirken vieler ver-schiedener Funktionsabläufe.Interdependenz, gegenseitiges Abhängigsein, gegenseitiges Zusam-menarbeiten und gegenseitige Beeinflussung kennzeichnen die System-beziehungen. Eingriffe in ein System bzw. Störungen an einem Glied desBeziehungsgefüges verändern alle Komponenten des Systems. Die Wir-kung eines Eingriffes, einer Störung, bleibt nicht lokal und singulär.Diese gegenseitige Beeinflussung hat einerseits einen negativen Aspekt,denn störende Eingriffe bleiben nicht an den Ort des Geschehens - z.B.auf die Kaufläche eines Zahnes - beschränkt, sondern beeinflussen das”Gesamtsystem”. Andererseits kann die gegenseitige Beeinflussung the-rapeutisch genutzt werden, um Teile des Systems, wie z.B. das Kieferge-lenk, die Kopfgelenke oder die Halswirbelsäule - die einen direkten Zu-griff nicht gestatten, über andere Systemanteile zu beeinflussen.

Craniomandibuläre DysfunktionDa die Symptomatik einer CMD sehr facettenreich ist, kann sie auch leichtdurch das ”diagnostische Sieb” fallen, da ein klares Leitsymptom fehlt !Es gibt keine Laborparameter und auch keine apparativen Hilfen, seiensie noch so aufwendig und kompliziert, die den sicheren Beweis liefern,dass eine Funktionsstörung (FS) vorliegt.

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Wenn man den Fokus stark verengt, bleiben die Kardinalsymptome (1)Schmerz, (2) Funktionseinschränkung bzw. Störung der Funktion, (3)Empfingungsstörungen bzw. Missempfindungen und (4) Geräusche.

Das CMS oder der ”Sechsbeinige Tisch”Die Zusammenhänge im okkluso-artikulären Bereich sind schwer zu er-kennen. Ein stark vereinfachendes Denkmodell ist der ”sechsbeinigeTisch” (Abb. 1). An ihm kann gezeigt werden, welchen Einfluss die ein-zelnen Faktoren auf den Komplex der funktionellen Störungen des sto-matognathen Systems haben.

Das Beinpaar I steht repräsentativ für die Okklusions-beziehungen der Oberkiefer- und Unterkieferfrontzäh-ne (= Eck- und Schneidezähne) (Eckzahnsicherung,Schneidezahn-/Eckzahnführung) (s. Abb. I/I).

Das Beinpaar II steht repräsentativ für die Okklusions-beziehungen der Seitenzähne (ABC-Kontakte, seitli-che Abstützung und Vertikaldimension) (s. Abb. I/II).

Das Beinpaar III steht repräsentativ für das Arthron (s.Abb. I/III). Unter dem Begriff ”Arthron” versteht manin der Orthopädie alle funktionell zusammenhängen-den Teile eines Gelenkes. In unserer Betrachtung dasKiefergelenk (1) mit seinen knöchernen Anteilen undderen knorpeligen Überzug, (2) mit seinem Diskus,Band- und Kapselapparat, der Synovialis und der bilaminären Zone,(3) den Muskeln, Sehnen und Fascien und (4) den neuronalen Rezep-toren und Steuerungssystemen. Dieses 3. Beinpaar ist aber nicht sicht-bar (wie die Zähne), sondern vielmehr ist es hinter einem Vorhang ver-borgen (wie die Muskeln und das Kiefergelenk).

Darüber hinaus sind die Beine 5 und 6 nicht gleich lang wie die Beine 1bis 4. Erst wenn die Tischbeine 5 und 6 auf kleinen Scheiben (Disci) ste-hen, ist ihre Länge gleich der Länge der Beine 1 bis 4; d.h. es besteht ei-ne gleichmäßige symmetrische okkluso-artikuläre Abstützung.

OkklusionskonzeptSeit PAYNE am Anfang der 60er-Jahre sein ”Zahn-zu-zwei-Zähnen”-Kon-zept vorgestellt hat und etwas später P.K. THOMAS sein ”Zahn-zu-Zahn”-Konzept lehrte, hat es viele Versuche gegeben, die ”Okklusionsbezie-hungen” zu idealisieren. Die Schönheit des ”Okklusalbarocks” galt fürlange Zeit als das Gütesiegel dafür, wie funktionsgerecht in der betref-fenden zahnärztlichen Praxis gearbeitet wurde. Man war überzeugt:”Eine schöne Morphologie der Kauflächen muss einen günstigen Einflussauf die Funktion haben.”Aus der Sicht der Funktionstherapeuten lautet aber die Forderung, dassdie Okklusion gelenkprotektiv gestaltet sein muss.Dies bedeutet, dass sowohl in statischer Okklusion als auch in dynami-scher Okklusion keine auf das Kiefergelenk retrusiv wirkenden Kräfte ge-leitet werden dürfen. Der Kondylus hat nur nach anterior einen großen,nach lateral einen geringen, nach medial und dorsal aber praktisch kei-nen ”Kompensationsraum”. Wegen der ihn umgebenden knöchernenStrukturen besteht keine Möglichkeit, bei Überbelastung nach medial oderdorsal ”auszuweichen”. Okklusale Kräfte, die retrusiv auf das Kieferge-lenk einwirken, stören als Erstes die Versorgung (Energie- und Sauerstoff-zufuhr) des Kiefergelenkes - die über die bilaminäre Zone erfolgt. Bei wei-

Abb. I/IAbb. I/IIAbb. I/III

Abb. 1

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terem Fortschreiten wird die menisco-temporale und der menisco-kondy-läre Bandapparat zerstört, und es kommt zur irreversiblen Verlagerungdes Diskus und des Kondylus.Retrusiv wirkende Kräfte schädigen auch die Muskeln, die versuchen, die-sen Kräften entgegenzuwirken. Der M. pterygoideus lateralis leistet da-bei die Hauptarbeit, in der zweiten Abwehrlinie - gegen retrusive Kräfte- stehen M. masseter pars superior und M. pterygoideus medialis.

Dento-okklusogene FunktionsstörungUnser Denkmodell funktioniert wie folgt: Der Tisch steht fest und waag-recht, wenn alle Beine gleich lang sind (5. und 6. Bein mit den ”Unterla-gen” - Disci articulares). In diesem Fall hätten wir symptomfreie Gelenkeund eine optimale Okklusion (IKP = RKP) vor uns.Alle Veränderungen an den Tischbeinen 1 bis 4 sind leicht feststellbar, daentweder der ganze Tisch wackelt oder aber ein oder mehrere Beine nichtden Boden berühren. (Diese Beschreibung gibt - beispielhaft - die Situa-tion wieder, die bei einem Patienten mit einer primär dento-okklusogenenCMD vorliegt. Die gleiche Situation findet sich auch bei vielen dysgna-then Patienten mit Zahnfehlstellungen unterschiedlicher Art). Diese Fest-stellung ist aber nur dann richtig, wenn die Beine 5 und 6 auf ihren ”Un-terlagen” stehen.Unter dieser Annahme (Prämisse) führen wir auch die instrumentelle Funk-tionsanalyse durch. Wir setzen voraus: Das Kiefergelenk ist nicht oder nurgering gestört. Um den Tisch wieder stabil stehen zu lassen, kürzen wiran den zu langen Beinen 1 bis 4 (subtraktive Okklusionskorrektur, Intru-sion von Zähnen) oder unterlegen die zu kurzen Beine (additive Okklusi-onskorrektur, Extrusion von Zähnen).

Literaturübersicht: Die Okklusion im Rahmen einer CMD Die Funktionalität des orofazialen Systems kann durch Karies, Parodon-talerkrankungen, Zahnfehlstellungen und skelettal bedingte Dysgnathienwesentlich beeinträchtigt sein. ”Hinsichtlich aller Aspekte dieses Schmerz-syndroms (CMD, Anmerkung der Verfasser) überwiegen Kontroversen;dies gilt für die diagnostischen Kriterien, die Schmerzmechanismen unddie Behandlung. Übereinstimmung besteht lediglich darin, dass Muskel-

spasmen und Ermüdung der Kaumuskulatur die Schmerzenverursachen.” Mit diesen Worten wird die 1934 von demHals-Nasen-Ohrenarzt Costen beschriebene Funktions-störung der Kiefergelenke in einem führenden Textbuchüber Kopfschmerz charakterisiert (Raskin, 1988).Die Rolle der Okklusion als möglicher ätiologischer Faktorfür Zeichen und Symptome im CMS sind auch aktuell im-mer noch umstritten (Greene et al., 1999; Kahn et al.,1999; McNamara et al., 1995; Sessle, 2000). Die in die-sem Zusammenhang immer wieder gebrauchten Begriffe”Gelenkposition” und ”Kondylenpositionsindikator” sindnicht nur für viele Kieferorthopäden neu (Crawford, 1999;Greene et al., 1999; Righellis, 1999). Schon LAURITZENsah für die Entstehung einer craniomandibulären Dysfunk-tion so komlexe Ursachen wie Okklusion, Zeit, Psyche undDisposition (Abb. 2).

McNamara et al. (1995) finden in einer Literaturübersicht eine relativ ge-ringe Beziehung zwischen okklusalen Faktoren und Anzeichen bzw. Sym-ptomen für eine CMD. Sie beurteilen die verwendeten Studien kritisch undkommen zu dem Schluss, dass meist keine Definition der untersuchten Fak-toren in den Arbeiten zu finden war und ohne instrumentelle Hilfsmittelgearbeitet wurde.

Abb. 2

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Ungeachtet der Kontroversen in der wissenschaftlichen Bearbeitung desThemas ”CMD” belegt die stetig steigende Anzahl der Patienten mit funk-tionellen Störungen im cranio-mandibulären System die Notwendigkeit,weitere klinisch orientierte wissenschaftliche Studien durchzuführen. Da-bei genügt es nicht, nur einzelne Strukturen des CMS zu betrachten; viel-mehr sollte die Grundlage dieser Untersuchungen die Gesamtbetrachtungdes ”orofazialen” oder ”stomathognathen Systems” sein (Friedman,1983). Nach Jarabak (1956) verschwinden Spasmen des M. temporalis, wennOkklusionsstörungen durch Tragen einer Aufbißschiene ausgeschaltetwerden. Für Ramfjord (1961) führen okklusale Interferenzen oft zu einergesteigerten Hyperaktivität der Unterkiefermuskulatur und zu Schmerzenaufgrund von Kiefergelenkbeschwerden. Nach seiner Auffassung kann ei-ne Diskrepanz zwischen zentrischer Relation und zentrischer OkklusionMuskelspasmen, Bruxismus und Kiefergelenkerkrankungen verursachen.Agerberg (1987) und Agerberg und Inkapööl (1990) folgern aus den Er-gebnissen ihrer Studien auf eine ”Tagesform”, der die maximalen Mund-bewegungen unterliegen. Jämsä et al. (1988) stellen eine Studie über dieBeziehung fehlerhafter Okklusion und klinischer Anzeichen von CMD anfinnischen Kindern im Alter von 5, 10 und 15 Jahren vor. Demzufolge wei-sen bei den 5-Jährigen 44,9 % und bei den 15-Jährigen 77,6 % eine Mal-okklusion auf, während bei den 5-Jährigen 12,6 %, bei den 10-Jährigen41,3 % und bei den 15-Jährigen 42,2 % an CMD leiden.Für Koo und Hansson (1989) können Okklusionsstörungen eine dysfunk-tionelle Muskelaktivität im orofazialen System auslösen, die wiederum derGrund für Parafunktionen des Kausystems sein können. Vallon et al.(1998) belegen im Rahmen einer Langzeitstudie, dass Veränderungen derokklusalen Morphologie myogen bedingte Beschwerden dauerhaft ”ver-schwinden lassen”. Einen Zusammenhang zwischen gestörten funktio-nellen Beziehungen von Zahnokklusion und Kiefergelenken stellten auchGausch et al. (1975) fest. Für Dawson (1989) können okklusale Fakto-ren eine CMD verursachen, während McNamara et al. (1995) und Mc-Neill (1993) eine derartige Möglichkeit völlig verneinen. Auch Hellsing(1990) berichtet von Patienten, die trotz erheblichen vertikalen Überbis-ses im Schneidezahngebiet keine Anzeichen oder Symptome einer FS imcranio-mandibulären System ausweisen. Kirverskari et al. (1992) stellenbei einer über 6 Jahre laufenden Langzeituntersuchung von anfangs 5-und 10-Jährigen fest, dass keine signifikante Beziehung zwischen der An-zahl von okklusalen Störungen und klinischen Anzeichen einer CMD be-steht, während sie an Patientengut mit älteren Personen 1995 eine Reihevon Zusammenhängen zwischen Okklusion und cranio-mandibulärer Dys-funktion feststellen - eine Aussage, die von Yatani et al. (1998) auf brei-ter Basis gestützt wird. Andere Untersuchungen belegen, dass okklusaleFaktoren Cofaktoren bei der Identifizierung von Patienten mit cranio-man-dibulärer Dysfunktion sein können (Clark et al., 1999; Pullinger und Se-ligman, 2000; Rodrigues-Garcia et al., 1998; Seligman und Pullinger,2000).

Differentialdiagnose ”primär dento-/okklusogene Dysfunktion”Man geht davon aus, dass bei einer optimalen Okklusion, ein symptom-freies und gesundes Gelenk vorliegt. Der ”Zusammenbiss der Zähne”kann in die (1) statische Okklusion und die (2) dynamische Okklusion auf-gegliedert werden.Sehr vereinfachend bedeutet eine optimale statische Okklusion, dassbeim Zusammenbiss der Zähne die retrale Kontaktposition (RKP) mit dermaximalen Interkuspidation (IKP) zusammenfällt. Merkmale dieses Teilsder okklusalen Betrachtung sind kleine punktförmige (A, B, C) Kontakte

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im Seitenzahnbereich in der zentrischen Relation (ZR). Im Bereich derFrontzähne bestehen im Eckzahngebiet Kontakte zwischen den mesio-palatinalen Flächen der Canini im Oberkiefer (OK) mit den distobukka-len Flächen der Canini im Unterkiefer (UK) - die Eckzahnsicherung (SE-BALD und KOPP, 1995). Zwischen den UK-Schneidezähnen und den Pa-latinalflächen der OK-Schneidezähne bestehen nur sehr diskrete Kontak-te.Eine optimale dynamische Okklusion beinhaltet eine laterotrusive Führungüber die (1) Eckzähne - Eckzahnführung - , selten simultan über (2)Schneidezähne und Eckzähne - Front-Eckzahn-Führung -, während im Sei-tenzahnbereich alle Zähne diskludieren, also weder Führungskontaktenoch Balancekontakte zu finden sind.

OkklusionsdiagnostikJeder funktionsorientiert tätige Zahnarzt/Kieferorthopäde weiß, dass dieDiagnostik dieser ”einfachen” - aber doch elementar wichtigen - Okklu-sionsparameter im Munde nicht möglich ist. Deshalb muss zwingend ge-fordert werden: Die Analyse dento-/okklusogener Zusammenhänge ist imArtikulator durchzuführen. Jeder Artikulator, der sicher und reproduzier-bar die zentrische Relation widergibt, ist für diesen diagnostischen Schrittgeeignet. Am Anfang einer Modellmontage in den Artikulator steht zu-erst immer das Registrat der zentrischen Relation (ZR) und dann erst dieÜbertragung der Scharnierachsen/Rotationsachsen - Oberkieferrelation.

Eigene UntersuchungenAls Material dienen 311 subjektiv beschwerdefreie Probanden, Kinderund Jugendliche im Alter zwischen 6 und 19 Jahren, die in zahnärztli-chen Praxen prophylaktisch bzw. zahnärztlich konservierend betreut wer-den, nicht kieferorthopädischer behandelt wurden oder behandelt wer-den.

Angle-Klassifikation und CMDZunächst wurde - wie in der Zahnheilkunde allgemein angewandt - dasAugenmerk auf die Beschreibung der sagittalen Okklusionsbeziehungendurch ANGLE (1907) gelegt. Obwohl sich die Okklusionsbeziehung we-sentlich von IKP nach RKP ändert, kann jedoch kein Zusammenhang zurCMD gesichert werden. Gleiche Ergebnisse finden sich auch für die Be-wertung der Okklusion im Eckzahngebiet. Damit ist statistisch in dem vor-gestellten Untersuchungsgut nachgewiesen, dass sich die Angle-Klassifi-kation zwar zur Beschreibung der Okklusion im Eckzahn- und Seiten-zahngebiet zu Verständigungszwecken eignet, aber für wissenschaftlicheBelange aus Sicht der Okklusions- und Funktionsdiagnostik nicht heran-gezogen werden sollte.

EckzahnsicherungDie Eckzahnsicherung hat eine große funktionelle Bedeutung für die sta-tische Okklusion. Fehlt die Eckzahnsicherung, kann bei den entspre-chenden Probanden der Untersuchungsgruppe statistisch signifikantgehäuft mit Geräuschen im Kiefergelenk und höchst signifikant mit ver-änderter Mobilität gerechnet werden.

Vorkontakte in zentrischer RelationKönnen Vorkontakte mit instrumentellen Hilfsmitteln im Rahmen des Ok-klusogramms diagnostiziert werden, finden sich bei diesen Probandenstatistisch signifikant häufiger Geräusche im Kiefergelenk (p = 0,04) undhöchst signifikant häufiger eine Veränderung der Beweglichkeit des Un-terkiefers (p = 0,001).

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Befunde der dynamischen Okklusion bei LaterotrusionFür die Prüfung dento-okklusaler Komponenten bei Laterotrusion nach linksund rechts wird jeweils nach Schlüssel-Schloss-Interferenzen, dem Vor-handensein einer Eckzahnführung, einer Gruppenführung oder posterio-ren Führung unterschieden und Balancekontakte bewertet. Bei der Beur-teilung der Protrusion und der intermediären Bewegung wird zusätzlichnach Schneidezähnen, die mitführen oder die die Bewegung stören, ge-forscht. Im Falle der Laterotrusion nach links konnte mit Ausnahme der posterio-ren Führung kein funktionsorientierter Befund statistisch gesichert werden.Bei Probanden, die eine posteriore Führung aufweisen, findet sich statis-tisch signifikant gehäuft eine Störung der Mobilität des Unterkiefers.Im Falle der Bewertung laterotrusiver Befunde belegt das Datenmaterialmit p = 0,005 das gehäufte Vorkommen von Schlüssel-Schlosszähnen mitGeräuschen im Kiefergelenk. Darüber hinaus ist eine Gruppenführung sta-tistisch signifikant häufiger mit veränderter Mobilität des Unterkiefers beiden untersuchten Kindern und Jugendlichen vorzufinden (p = 0,03).

Befunde der dynamischen Okklusion bei ProtrusionTreten bei Protrusion Schlüssel-/Schlossphänomene auf, ist statistisch mitp = 0,04 gehäuft mit einer Mobilitätsstörung bei diesen Probanden zurechnen. Wenn an artikulatormontierten Modellen störende Schneide-zahnkontakte festgestellt werden, findet sich statistisch mit p = 0,03 einepositive Relation zum Kopfschmerz. Für den Fall, dass Schneidezähnenicht an protrusiven Führungsaufgaben beteiligt sind, zeigen die unter-suchten Kinder und Jugendlichen gehäuft eine Mobilitätsstörung (p =0,03). Können im Artikulator Balancekontakte nachgewiesen werden, sokann statistisch mit p = 0,003 das gehäufte Auftreten gestörter Unterkie-ferbeweglichkeit abgesichert werden.

Befunde der dynamischen Okklusion bei intermediärer BewegungSchlüssel- und Schlossphänomene bei intermediärer Bewegung sind sta-tistisch auf höchstem Signifikanzniveau (p = 0,0001) mit Mobilitäts-störungen in Zusammenhang zu bringen. Darüber hinaus treten Schmer-zen im CMS häufiger als erwartet auf (p = 0,04). Stören Schneidezähnedie intermediären Bewegungen, so kann von gesteigertem Auftreten vonKopfschmerz im Untersuchungsgut ausgegangen werden (p = 0,004).Auch für den Fall, dass Schneidezähne sich an den Führungsaufgabenintermediärer Bewegung beteiligen, sind FS nicht ausgeschlossen. So läßtsich aus dem Datenmaterial eine statistisch signifikante Beziehung zu ver-mehrtem Auftreten von Schmerz im CMS nachweisen (p = 0,05). Tretenbei intermediärer Bewegung Balancekontakte auf, kann in vielen Fällenmit einer FS gerechnet werden. Balancekontakte bei intermediärer Be-wegung finden sich gehäuft im Zusammenhang mit Geräuschen im Kie-fergelenk (p = 0,03), Mobilitätsstörungen (p = 0,0001) und Schmerz imcraniomandibulären System (p = 0,02).

Diskussion:

Okklusion in Statik - die Angle-KlassenAlexander, Moore und Du Bois (1993) fanden bei ihren Untersuchungen anPatienten mit Angle-Klasse I, im Alter zwischen 22 und 35 Jahren in 13 %der Fälle anteriore Frühkontakte und posteriore Kondylenpositionen. Solnitund Curnutte (1988) stellen fest, dass die Klasse-I-Beziehung zwar eine ”idea-le” Okklusion darstellt, allerdings sehr selten anzutreffen ist. Sie finden in 90% dieser Patienten eine okklusale Dysharmonie und fordern auch eine ”ein-gehende” okklusale Untersuchung der Patienten mit Angel-Klasse I.

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Im Falle einer Angle-Klasse II sehen Krogh-Poulsen (1980), McCollum undStuart (1955), Stuart (1960) Zusammenhänge zu muskulären und Glick-man (1971), McCollum und Stuart (1955), Schaerer et al. (1967), Ste-phens (1973) und Yuodelis und Mann (1965) Verbindungen zu arthro-genen FS im CMS. ”Abnorm große Okklusalkräfte können bei Patientenmit Angle-Klasse III eine parodontale Dysfunktion der Seitenzähne sowieeine Dysfunktion des Kiefergelenkes bewirken (Geering, 1974).Im Rahmen der vorgelegten Studie wurde die Verteilung der Okklusionauch unter funktionellen Gesichtspunkten bewertet. Es war festzustellen,dass sich die Okklusionsbeziehung von IKP nach RKP wesentlich ändert,allerdings keine statistisch signifikanten Zusammenhänge zwischen derBeschreibung der seitlichen Okklusion nach Angle (1907) und funktio-nellen Determinanten des Kausystems nachgewiesen werden konnten.

Okklusion in Statik - okklusale InterferenzenJede - okklusal - erzwungene Bewegungen kurz vor Erreichen des durchdas neuromuskuläre System angestrebten Vielpunktkontaktes bedingt ei-ne Störung der Funktionaliät der Muskulatur. Diese muss - anders als neu-rophysiologisch geplant - Kraft aufwenden und sich verkürzen, um dieletzten Zehntel eines Millimeters Bewegung zum Kaureihenschluss zu rea-lisieren es kommt gleichzeitig zur Verlagerung des Kondylus in der Fos-sa. Die vorgelegten Ergebnisse belegen - statistisch gesichert - das gehäuf-te Auftreten statischer Interferenzen mit Befunden einer CMD, wie auchvon Glickman (1971), Krogh-Poulsen (1980), McCollum und Stuart(1955), Schaerer et al. (1967), Solnit und Curnutte (1989), Stephens(1973) und Yuodelis und Mann (1965) beschrieben.

Okklusion in Dynamik - okklusale InterferenzenInterferenzen bei Dynamik wurden - wie vor vielen Jahren von Solnit undCurnutte (1989) und Stuart (1957) empfohlen - im Rahmen der Okklusi-onsanalyse besonders beachtet. Die dargestellten Ergebnisse beweisenstatistisch signifikant den besprochenen Zusammenhang und belegen dieVermutungen, die ”Okklusionswissenschaftler” aus ihrer klinischen Er-fahrung mehrfach niedergelegt haben (Glickman, 1971; Krogh-Poulsen,1980; McCollum und Stuart, 1955; Posselt, 1968; Schaerer et al.,1967; Solnit und Curnutte, 1989; Stallard und Stuart, 1963; Stephens,1973; Stuart, 1957, 1960; Yuodelis und Mann, 1965).

Zusammenfassung und SchlussfolgerungAus den kritischen Auseinandersetzungen mit klinischer und instrumen-teller Funktionsdiagnostik im Rahmen der vorgelegten Untersuchungenkönnen folgende Thesen, Forderungen und Vorschläge formuliert werden:

1. Die Okklusion und funktionelle Determinanten des cranio-mandi-bulären Systems sind - statistisch signifikant - miteinander verbun-den und müssen als untrennbare Einheit diagnostisch und thera-peutisch betrachtet werden.

2. Die Diagnostik darf sich nicht nur auf statische Befunde stützen,sondern muß das ganze Spektrum der Dynamik erfassen. Dazurechnen wir die klinische Funktionsanalyse des CMS.

3. Die Modellanalyse muss ebenfalls dynamisiert werden und anden Kiefergelenken orientiert erfolgen. Die hierzu nötige instru-mentelle Funktionsanalyse muss zur Grundlage jeglicher Aussa-ge über die Okklusion werden: Die Betrachtung der statischen Ok-klusion muss durch die Erkenntnisse der Überprüfung der dyna-mischen Okklusion - im Artikulator - ergänzt werden.

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4. Die kiefergelenksgerechte Orientierung der Modelle im Artikula-tor macht transversale Probleme beurteilbar. Es können sinnvolle,zur Steigerung der therapeutischen Effizienz verwertbare Aussa-gen gemacht werden.

5. Die Orientierung an den Kiefergelenken beinhaltet zwangsläufigdie systematische der Kondylenpositionsanalyse.

Die Vermeidung vonKammdefekten durchmembrangeschützte Heilung von Extraktions-wunden (MHE)

vonRaphael Borchard

Münster

Trotz stetig rückläufiger Zahlen wurden im Jahre 1997 in Deutschlandüber 2 Millionen Zähne extrahiert ohne Einbeziehung von operativen Ent-fernungen. Nach der 3. Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS III)(1999) fehlten durchschnittlich 4,2 Zähne je Proband in der Erwachse-nen-Stichprobe der 35-44jährigen ohne Einbeziehung der Weisheits-zähne.

Die Mehrheit dieser Extraktionen wird durchgeführt, ohne Maßnahmenzur Kammprophylaxe zu ergreifen. Als Folge sind Knochenresorptionenbzw. Kammdefekte entsprechend häufig zu beobachten. Diese bereitendem Kliniker Schwierigkeiten bei Brückenersatz, bei Implantationen undmöglicherweise auch bei kieferorthopädischen Behandlungen, da die Be-wegung von Zähnen durch Kammdefekte hindurch schwer und zeitauf-wendig ist.

Als Ursachen für Kammdefekte nach Extraktion sind folgende Befunde zunennen:

● Normale, nicht membrangeschützte Wundheilung

● Befunde prä extractionem- profunde marginale Parodontitis- ausgedehnte apikale Parodontitis- Wurzelfrakturen- Fenestrationen, Dehiszenzen

● Befunde während und nach der Extraktion- traumatische Extraktion- Osteotomie- Wundheilungsstörungen (z. B. trockene Alveole)

● Systemische Erkrankungen- Osteoporose- unkontrollierter Diabetes- Xerostomie- Hormonelle Störungen (z.B. Menopause)

Ein Kammdefekt nach Extraktion kann - mit Ausnahme der systemischenErkrankungen – durch Anwendung des Prinzips der gesteuerten Gewe-beregeneration verhindert werden. Bei Übertragung dieses Prinzips aufKnochendefekte spricht man von der Guided Bone Regeneration (GBR).Schenk (1994) hat die GBR definiert als “Förderung der knöchernen Hei-lung durch Schutz gegen das Eindringen schnell proliferierenden nichtosteogenen Gewebes”.

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Der Schutz der Alveolen geschieht durch Membranen unterschiedlicherZusammensetzung. Entsprechend kann dieses Verfahren in Abgrenzungzu GBR-Maßnahmen beispielsweise bei Implantationen auch als “mem-brangeschützte Heilung vom Extraktionswunden” (MHE) bezeichnet wer-den.

In einer kontrollierten Tierstudie konnten Dahlin et al. (1988) undKostopoulos & Karring (1994) zeigen, dass experimentelle Knochen-defekte bei Ratten im Schutz von Membranen nahezu ganz knöchern ver-heilten, während die Kontrolldefekte ohne Membranschutz nur einenminimale Knochenauffüllung zeigten.Lekovic et al. (1997, 1998) haben in kontrollierten Humanstudien zeigenkönnen, dass membrangeschützte Alveolen signifikant besser knöchernverheilen als vergleichbare nicht membrangeschützte Alveolen. Ebenfallswar der Verlust an Kammbreite in der Testgruppe (membrangeschützt)signifikant geringer als in der Kontrollgruppe.

Einen signifikant geringeren Verlust an Kammbreite, Kammhöhe undkeratinisierter Gingiva nach Extraktion fanden Strietzel u. Shakibaie(1998) in einer randomisierten prospektiven Studie an 39 Patienten. Sieverwendeten anstelle einer gestreckten eine verdichtete Polytetra-fluorethylen-Membran (TefGen-FD-Membran).

Das Ziel der membrangeschützten Heilung von Extraktionswunden ist dieknöcherne Auffüllung von Alveolen oder Knochendefekten mit:

● Vertikalem Kammerhalt● Horizontalem Kammerhalt● Erhaltung der keratinisierten Gingiva

Die Indikationen betreffen vier Bereiche:

● Brückenersatz● Implantatbehandlung● Deckung von Mund-Antrum-Verbindungen● Orthodontische Zahnbewegungen

Brückenglieder können hinsichtlich Hygienefähigkeit und Ästhetik bessergestaltet werden, wenn ein in Höhe und Breite erhaltener Kieferkamm mitkeratinisierter Gingiva zur Verfügung steht. Auch Implantationen werdenbei diesen Voraussetzungen erheblich erleichtert, da zusätzliche Kno-chenaugmentationen reduziert oder gar vermieden werden können.

Die konventionelle Deckung einer Mund-Antrum-Verbindung (MAV) mit ei-nem Wangenlappen nach Rehrmann führt immer zur Einengung des Ve-stibulums und zum Verlust der keratinisierten Gingiva im späterenBrückengliedbereich. Dies kann durch die MHE-Technik vollständig ver-mieden werden (Deckwer et al. 1997), ohne dadurch den Verschluss derMAV zu gefährden.

Schließlich ist die kieferorthopädische Bewegung von Zähnen durch ei-nen Kammdefekt schwierig und mit einer längeren Behandlungsdauer ver-bunden.

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Literatur

Adriaens,P.A., Van der Stede,N.: Alveo-lar bone protection of extraction sites witha resorbable biolayer GBR membrane. JDent Res 77, 777 (1998).

Dahlin, C., Linde, A., Gottlow, J., Nym-an, S.: Healing of bone defects by gui-ded tissue regeneration. Plast ReconstrSurg 81, 672 (1988).

Deckwer, I., Engelke, W., Jacobs, H.G.:Deckung von Mund-Antrum-Verbindun-gen mit Membrantechnik. Z Zahnärztl.Im-plantologie 13, 39 (1997).

Institut der Deutschen Zahnärzte: DritteDeutsche Mundgesundheitsstudie (DMSIII) Deutscher Ärzte-Verlag Köln 1999, S.300-301.

Kostopoulos, L., Karring, T.: Guided bo-ne regeneration in mandibular defects inrats using a bioresorbable polymer. ClinOral Impl Res 5; 66 (1994).

Lekovic, V., Kenney E.B., Weinlaender,M., Han, T., Klokkevold, P., Nedic, M.,Orsini, M.: A bone regenerative ap-proach to alveolar ridge maintenance fol-lowing tooth extraction. Report of 10 Ca-ses. J Periodontol 68; 563 (1997).

Lekovic, V., Camargo, P.M., Klokkevold,P.R., Weinlaender, M., Kenney, E.B., Di-mitrijevic, B., Nedic, M.: Preservation ofalveolar bone in extraction sockets usingbioabsorbable membranes. J Periodontol69; 1044 (1998).

O’Brien, T.P., Hinrichs, J.E., Schaffer,E.M.: The preservation of localized ridgedeformities using guided tissue regene-ration. J Periodontol 65; 17 (1994).

Schenk R.K.: Bone regeneration: Biologicbasis. In: Buser, D., Dahlin, C.,Schenk,R.K. (Hrsg.): Guided bone regenerationin Implant Dentistry. Quintessence Chica-go, Berlin 1994.Strietzel, F.P., Shakibaie, B.: Der Einsatzder TefGen-FD-Membran zum Erhalt desAlveolarkamms nach Zahnextraktionen.Dtsch Zahnärztl Z 53; 883 (1998).

Methodik

Für die membrangeschützte Heilung von Extraktionswunden stehen vierVarianten zur Verfügung:

● geschlossenes versus offenes Verfahren● Verwendung von Füllern versus Verzicht auf Füller

Bei dem von uns favorisierten offenen Verfahren wird nach Lappenbil-dung, ggf. mit vertikalen Entlastungsinzisionen, zunächst der zu extra-hierende Zahn so atraumatisch wie möglich (z.B. Wurzeltrennung) ent-fernt. Falls die Alveolenwände erhalten sind, wird die Extraktionswundemit einer verdichteten PTFE-Membran (TefGen-FD, Fa. Lifecore oder Cyto-plast, Fa. Oraltronics) abgedeckt. Bei weitreichendem Verlust einer odermehrerer Alveolenwände wird ausschließlich eine titanverstärkte GoreTexMembran verwendet. Nach Fixierung der Membran mit Titan Pins (z.B.Friatec) vestibulär und oral erfolgt der Wundverschluss der Lappen in Aus-gangsposition. 6 Wochen später erfolgt die Membranentfernung ohneDeckung des Regenerationsgewebes.

Beim geschlossenen Verfahren wird die Membran durch einen bukkalen,mobilisierten Lappen vollständig gedeckt. Dies hat den Vorteil, dass eineKontamination der Membran vermieden wird.Lekovic et al.(1997) weisen auf die Bedeutung der vollständigen Mem-brandeckung hin. Bei Freilegung der Membran, die in einzelnen Fällenwährend des postoperativen Verlaufes auftrat, registrierten sie eine Ver-schlechterung der Ergebnisse. Dem stehen Beobachtungen von O’Brienet al. (1994) und Strietzel & Shakibaie (1998) entgegen, die bei primäroffenem Verfahren zu sehr guten Ergebnissen bezüglich des Kammer-haltes kamen. Ein Nachteil des geschlossenen Verfahrens ist, dass diekeratinisierte Gingiva weitestgehend verloren geht.

Entsprechend besteht der Vorteil des offenen Verfahrens, bei dem die Lap-pen in ihrer ursprünglichen Position reponiert werden, im Erhalt der ke-ratinisierten Gingiva. Eine Kontamination der nicht gedeckten Membranist dabei nicht zu vermeiden. Dieser Nachteil kann durch die Verwendungeiner verdichteten Polytetrafluorethylen-Membran (z.B.TefGen-FD) unddurch lokale Anwendungen eines Chlorhexidindiglukonatgels (z.B. Cor-sodyl Gel) gemildert werden (Strietzel & Shakibaie 1998). In günstigenFällen kommt es trotz primär nicht gedeckter Membran im Laufe derWundheilung zu einem Verschluss der Schleimhautdecke über der Mem-bran. Adriaens & Van der Stede (1998) beobachteten dies regelmäßigbei Verwendung einer Kollagenmembran (Bio-Gide) 2 - 5 Wochen post-operativ.

Die Notwendigkeit eines Füllers in der Alveole unterhalb der Membranwird in der Literatur kontrovers bewertet. Zur Verfügung stehen autogenerund allogener Knochen sowie Knochenersatzmaterialien.

Die Aufgabe dieser Füller besteht in der Gerüstbildung für das osteogeneGewebe (Osseokonduktion) und in der Membranstützung. Die Entschei-dungskriterien für den Einsatz von Füllern richten sich nach der Folgebe-handlung. Bei geplanter Implantation wird auf Füller entweder verzichtetoder ausschließlich autogener Knochen verwendet. Bei nachfolgenderkonventioneller Brückenversorgung kann - im Falle von sehr großen De-fekten – auch Knochenersatzmaterial (z.B- Bio-Oss) als Füller eingesetztwerden.

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Am 14./15.4.00 fand, wie immer bestens organisiert von Pit Beyer, dasFrühjahrseminar in Lembach statt. Wir waren im familiären Hotel “AuHeimbach” untergebracht. Im gegenüberliegenden Restaurant “ChevalBlanc” wurden wir kulinarisch verwöhnt.

Damit waren beste Bedingungen für ein Seminar gegeben, das sich un-ter dem Titel “Neue Wege gehen – aber richtig” mit der Entwicklung vonPraxiskonzepten beschäftigte, die unter sich wandelnden Bedingungenunseres Gesundheitswesens eine Praxis konkurrenzfähig machen, bzw.erhalten können.

Die Referentin Frau Dr. Cornelia Stalker ist die Diplom-Psychologin mit denSchwerpunkten Kommunikation und Personalwesen und arbeitet als Un-ternehmensberaterin spezialisiert auf Betriebsanalysen in Zahnarzt-praxen. Frau Stalker hatte die nicht immer einfache Aufgabe, unsere klei-ne Gruppe durch ihr Seminar zu führen. Es wurde sehr schnell klar, dassein Praxiskonzept individuell erarbeitet werden muss. Dieses setzt dieKenntnis des eigenen Unternehmertypus voraus. Eigene Stärken undSchwächen müssen bewusst sein und bei der Zielsetzung beachten wer-den. Nur so entsteht ein unverwechselbares Praxisprofil. Ziele sollten de-finiert werden und in Maximal- und Minimalziele unterschieden werden.Planungszeiträume von maximal 5 Jahren sollten durch Formulierung er-reichbarer und überprüfbarer Teilziele strukturiert werden.

Von den fünf Säulen der Praxis: Organisation und Planung / Personal-führung / Erwartung des Patienten / Finanzen / und zahnärztlichesFachwissen wurden insbesondere die ersten drei Säulen zunächst in klei-nen Gruppen erarbeitet und die Ergebnisse dann referiert und diskutiert.

Patienten erwarten heute ausführliche Beratung und Aufklärung über The-rapiemöglichkeiten und Alternativen, in Zeiten vermehrter Zuzahlung undEigenleistung auch in finanzieller Hinsicht. Dies führt zu einem erhöhtenZeitbedarf für Aufklärungsgespräche, die nur mit Kenntnis der Wünscheund Vorstellungen des Patienten sinnvoll geführt werden können. EinenSchwerpunkt des Seminars bildeten daher die Übungen zum Patienten-gespräch. Wir erarbeiteten Gesprächsstrategien für das anamnestischesowie für das Verkaufsgespräch und übten beides mit Hilfe von Video-aufzeichnungen.

Das Seminar forderte in hohem Maße persönliches Engagement aller Teil-nehmer, so dass wir dankbar beim abendlichen Zusammensein dieGenüsse aus Küche und Keller des “Cheval Blanc” genossen.

Neue Wege gehen - aberrichtig

vonBrigitte Simon

Stuttgart

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Auch in diesem Jahr war die NEUE GRUPPE zu Gast beim Gerald Bowersstudy club in Baltimore. Diesmal nahm vor allem der wissbegierige und jung-dynamische Nachwuchs (Mitglieder und Freunde) der NEUE GRUPPE teil.Mit an Bord waren Oliver Hartmann, Torben Hennies, Thomas Haberkorn,Sven Herzog, Britta Wengel, Dina Chatzipetros, Johannes Smaczny, RalphRohwedder und Detlef Schulz.

Nachdem die ersten Unklarheiten über geänderte Teilnehmer und An-kunftzeiten am Flughafen in Washington geklärt waren, ging es mit einereinstündigen Shuttlebusfahrt nach Baltimore zum Harbor Court Hotel imInner Habour. Im friedlichen Herzen der Stadt untergebracht konnten wirden ersten Tag noch ganz urlaubsähnlichen Genüssen hingeben - Ge-schäfte, Restaurants und Bars erkunden – dies sollte sich im Laufe der Wo-che drastisch ändern.

Vom Jetlag geplagt trudelten wir alle zu sehr früher Stunde am folgendenMorgen im Schwimm- und Fitnesscenter des Hotels ein.Am Nachmittag wurden wir zum Cocktail- und Dinnerempfang von Ar-nold und Barbara Sindler nach Hause eingeladen. Hier lernten wir inlockerer und sehr familiärer Atmosphäre unsere Lektoren für diese Wo-che, allesamt Mitglieder des Gerald Bowers study club, wie auch derenFrauen kennen. Mit Guitarrenklängen und Vogelgezwitscher im großzü-gig angelegten Garten der Familie Sindler war es ein gelungener Auf-takt für die folgenden Tage.

Am Montag referierten Gerald Bower und Karl Zeren über parodontaleKnochenregeneration. Sie erläuterten uns in einem sehr verständlichenEnglisch, wie sie ihre Diagnostik und Therapie durchführen. Genauer ein-gegangen wurde dabei auf minimale Schnittführungen, schonender Um-gang mit dem Gewebe, maximaler Erhalt der Blutversorgung, Regene-rationsmaterialien, sowie spannungsfreie Nahttechniken.

In Baltimore erfolgt die übliche Präparation des Lappens mit einer exten-dierten marginalen Schnittführung ohne vertikale Entlastungsschnitte mitvollständigem Erhalt der Papillen, um eine Deckung des Defektes auchnach Augmentation zu gewährleisten.

Gerald Bower erklärte uns, dass man mit einer um so besseren Kno-chenregeneration und Wundheilung rechnen kann, wenn die Blutversor-gung im umliegenden Gewebe extrem hoch sei, was in einem chronischentzündeten Gewebe der Fall ist. Aus diesem Grunde rät er von einempräoperativen subgingivalen Scaling in diesen Regionen ab.

Es wurde betont, dass Beckenkamm-Transplantate eine sehr hohe Rege-nerationsfähigkeit besitzen, die osteoinduktive und gleichzeitig osteolyti-sche Eigenschaft von Beckenkamm jedoch zu Wurzelresorbtionen führenkann. Dies ist einer der Gründe, warum genetisch hergestellte Materiali-en wie auch gefriergetrockneter Knochen bevorzugt werden, um par-odontale Defekte aufzufüllen.

Wenn der Wundverschluß nicht vollständig erfolgen kann, weil der Lap-pen zu kurz geraten ist, kann man sich mit Colla Cote / Colla Tape, ei-nem resorbierbaren Material aus Rindercollagen, aushelfen. Es hat nichtdie gleiche Funktion wie eine Membran, sondern dient der reinen Wund-abdeckung und kann auch beim Sinuslift zur Abdeckung von Perforatio-nen der Sinusbodenschleimhaut eingesetzt werden.

Gerald Bowers StudyClub Baltimore13.-20. Mai 2000

vonBritta Wengel

Bergisch - Gladbach

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Um eine spannungsfreie Naht zu gewährleisten sollte zusätzlich zu derüblichen Periost- und Bindegewebsschlitzung eine von vestibulär nachoral verlaufende horizontale unterhalb der Muko-Gingivalgrenze verlau-fende Naht angelegt werden und danach erst die Papillen interdental ver-näht werden. Die Entfernung der Nähte erfolgt erst, wenn sie keine Hal-tefunktion mehr erfüllen und sich lösen, frühestens nach 2 Wochen. In die-ser Zeit spülen die Patienten 2 x täglich mit Chlorhexidin und 2 x tgl. mitBetaisodona, um einer Infektion und Plaqueanlagerung vorzubeugen.

Als PA-Verband wird neben Coepac das Material Stomadhesive der Fir-ma Conva Tec empfohlen. Es besteht aus einer Gelatinebasis, klebt sehrgut am Gewebe und löst sich nach 2 Tagen auf.

Karl Zeren betonte ausdrücklich, wie wichtig es sei, dass die Blutversor-gung des Transplantates immer aus dem Gewebe kommt, welches auf-gebaut werden soll. Bei bonegrafts muß eine osteoblastenreiche Blutver-sorgung also vom Knochen her kommen, was nur erreicht werden kann,wenn eine Membran verwendet wird, die auch an den Rändern so fal-tenfrei und dicht anliegt, dass keine Fibroblasten aus dem Bindegewebeeinwachsen können.

In den darauf folgenden drei Tagen besuchten wir in Dreier-Gruppen auf-geteilt Barbara Lesco, Karl Zeren und Arnold Sindler in ihren Praxen undhospitierten ihnen bei zahlreichen Operationen.

Barbara Lesco zeigte uns das systematische Vorgehen bei Bindegewebs-transplantaten und den Gebrauch von demineralisierten gefriergetrock-neten Knochen sowie der resorbierbaren Membran Atrisorb.Das Poly-Pyrolidion Atrisorb der Firma Atrix Laboraties wurde als Mem-bran verwendet. Es wurde direkt im flüssig-galertartigen Zustand auf dengefüllten parodontalen Defekt aufgetragen und durch das Aufträufeln vonphysiologischer Kochsalzlösung zum Aushärten gebracht. So konnte dasMaterial auch in engen Interdentalräumen genau und einfach plaziertwerden. Durch diese Methode entfällt das komplizierte Plazieren und Fi-xieren der extraoral gefertigten Membran.An einem weiteren Tag zeigte Barbara uns ein BG-Transplantat zurDeckung zweier benachbarter Zähne mit Hilfe eines palatinal entnom-menen BG-Transplantates, wobei nur eine Inzision zu sehr atraumatischenpalatinalen Wunde und einem spannungsfreien Verschluss führte.

Karl Zeren demonstrierte uns sehr eindrucksvoll den schonenden Umgangmit dem Gewebe, indem er die Papillen nach der Schnittführung vor-sichtig mit dem Ultraschallgerät Slimline abpräparierte und des weiterenzur Mobilisierung des vollen Lappens eine Kompresse und ein speziellesRaspatorium nutzte, was zu einer sehr atraumatischen Mobilisation mitgeringer Blutung führte. (...Kompressen zwischen Knochen und Periostpresste, um diese voneinander zu lösen.) Auch zum Abhalten des Muko-periostlappens wurden Kompressen eingelegt, welche gleichzeitig für ei-ne Blutarmut im Operationsgebiet sorgten. Es wurden weder Haken nochsonstige möglicherweise traumatisierende Abhalteinstrumente verwendet.Zur Reinigung und Glättung der Wurzeloberfläche und Modellation desKnochens verwendete Dr. Zeren ausschließlich einen rotierenden Hart-metallfinierer. Handinsrumente wurden nur im Ausnahmefall eingesetzt.

Arnold Sinder (noch etwas angeschlagen vom gemeinsamen Vorabend)erklärte uns, wie man am einfachsten einen gesplitteten Lappen für eineRezessionsdeckung präpariert, spannungsfreie Nähte anbringt und Wur-

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zeloberflächen vor dem Einbringen von Ersatzmaterialien akribisch mitrotierenden wie auch mit Handinstrumenten reinigt und glättet.Weiterhin präsentierte auch er die Atrisorb-Membran, wobei er dies ex-traoral in einem Dappenglas vorpolimerisierte und mit einer Schere vor-formte.

Insgesamt waren die Praxistage begleitet von einem regen Informations-austausch und der Freigabe von vielen kleinen Geheimnissen aus derTrickkiste.

Am Freitag war das Offizielle Jahresmeeting des Gerald Bowers StudyClubs, zu dem wir eingeladen wurden. Es referierten zahlreiche Jüngerund noch nicht Jünger von Gerald Bowers über die neuesten Ergebnisseaus Wissenschaft und Praxis.

Mark Reynolds berichtete über die Unterschiede von demineralisiertemund nicht demineralisiertem gefriergetrockneten Knochen (DFDBA/ MFD-BA).Nicht demineralisierter Knochen (MFDBA) enthält eigenes Calcium undist daher primär stabiler als demineralisierter Knochen (DFDBA). Dawährend des Einheilprozesses das noch enthaltene Calcium erst abge-baut werden muss bevor sich neuer Knochen bilden kann muss bei MFD-BA mit einer länger dauernden Wundheilung und Knochenbildung ge-rechnet werden.DFDBA ist nicht sehr stabil und kann leicht zusammengedrückt werden,so dass man bei größeren Aufbauten immer mit titanverstärkten Folien ar-beiten sollte. Für einen Sinuslift ist DFDBA alleine nicht zu empfehlen, dadie Gefahr der vorzeitigen Resorption besteht. Der Trend geht momentandahin DFDBA mit Wachstumsfaktoren (Proteinangereichertes Plasma oderEmdogain) zu vermischen und dadurch eine erheblich schnellere Kno-chenbildung zu erzielen.

R. Yukna stellte PEP-Gen P-15 vor, ein mit synthetischen Peptiden be-schichteter Rinderknochen. Der bovide Knochen dient als Matrix für dasPeptid P-15, welches aus Wachstumsfaktoren besteht. Durch die Peptid-Komponente kommt es zu einer vermehrten Anhaftung von Fibroblastenund Osteoblasten, was eine beschleunigte Knochenbildung zur Folge hat.Es werden keine Abwehrkörper gegen das Material gebildet. PEP-Gen P-15 wird in 1 gr - Fläschchen geliefert und ist 2-3x sterilisierbar, so dasses für mehrere Patienten verwendet werden kann.

J. Melloning referierte über Emdogain. Es besteht zu 10% aus Proteinenund zu 90% aus Amelogenin einem Schmelzprotein, welches für die Bil-dung des Parodontalen-Halteapparates, insbesondere der Zementbil-dung nötig ist.Emdogain hat die Eigenschaft, Epithelzellen am Wachstum zu hindern.Vor dem Einbringen des Materials sollte die Wurzeloberfläche mit Hilfevon z.B. Tetracyclin angeraut werden, damit sich Zellen besser anhaftenkönnen.Für den Einsatz im Zusammenhang mit Implantaten ist Emdogain nichtgeeignet.

R. Del Castillo hielt einen Vortrag über das systematische Vorgehen beiparodontalen Operationen. Die Grundvoraussetzungen für einen Erfolgsind eine gute Übersicht, eine stabile Membran, ein gut erhaltenes, sta-biles und geschütztes Koagulum, sowie spannungsfreie Nähte.

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Die Abende verbrachten wir oft mit den amerika-nischen Kollegen. An einem Abend wurden wirvon den Kollegen zu Mortons eingeladen, einemSteakhouse mit überdimensionalen Portionen.Hier wurden auch bei bester Stimmung in hoch-offizieller Form die Zertifikate überreicht.

An einem weiteren Abend lud die NEUE GRUPPE

allesamt zum traditionellen steamed Crab Dinnerein, bei dem wir uns in typischer Marylandmaniermit Holzhämmern und bloßen Fingern über die zudutzenden auf den Tisch geworfenen Crabs her-machten.

Am letzten Abend wurden wir vom Gerald Bowers Studyclub zum Dinnereingeladen, bevor Karl Zeren und seine Frau uns (mit der Rekordleistungzu 8 Personen in einem Volvo) in die Szeneclubs von Baltimore entführ-ten.

Es war eine wunderschöne Woche und wir sind mit vielen Eindrücken undvor allem neu motiviert abgereist. Aber keine Sorge: We`ll be back nextyear !!Wir bedanken uns noch einmal ganz herzlich bei den Gastgebern, derNEUE GRUPPE und vor allem bei Hans-Henning Ohlrogge, der leider nichtan dem Kurs teilnehmen konnte für seine hervorragende Planung und Or-ganisation. Vielen Dank!

Der Andrang bei dem von Dieter Bolten organisierten Kurs am 26./27.05.00 war gross, so dass sich der Vortragsraum des Labor Kesslerschnell mit Kollegen und Zahntechnikern füllte, die gespannt auf die Vor-träge der Brüder Magne zum Thema “Natürliche orale Ästhetik” warte-ten. Dr. Pasquale Magne zeigte die Behandlungsmöglichkeiten auszahnärztlicher und wissenschaftlicher Sicht, Michael Magne als Zahn-techniker die Arbeitsschritte im Labor. Sie konnten eindrucksvoll zeigen,wie wichtig die Zusammenarbeit von Zahnarzt, Zahntechniker undPatient, gerade bei ästhetisch anspruchsvollen Arbeiten, ist.

Im Kurs wurden alle Maßnahmen der ästhetischen Zahnheilkunde be-ginnend mit dem Bleichen vitaler und pulpentoter Zähne über die direk-ten Komposit-Restaurationen, bis zu Veneers, Einzelkronen und Front-zahnbrücken angesprochen. Der Zahnarzt sollte je nach Indikation diegeeignete, möglichst minimalinvasive Therapiemethode wählen.

Schwerpunkte des Kurses bildeten aber die indirekten Versorgungen mitVeneers und/oder Kronen und Brücken. In wunderschönen Diaserien wur-de Step by Step die zahnärztlichen und die zahntechnischen Arbeits-schritte ausführlich dargestellt.

Die Farbauswahl erfolgt vor Beginn der Behandlung im Labor, wobeiauch die Wünsche und Erwartungen des Patienten erfragt werden soll-ten. Die provisorische Versorgung ist der wichtigste Schritt der Behandlung.Mit den Provisorien wird die Gingiva geformt und die Arbeit in Form und

Magne et MagneNatürliche orale Ästhetik

vonBrigitte Simon

Stuttgart

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Klinische Endodontie für Youngsters mit Benita Eisenmann und Rolf Herr-mann in Günzburg, 3.6.2000

Im Rahmen der Frühjahrstagung der NEUE GRUPPE Anfang Juni trafensich die Youngsters zum zweiten, klinischen Teil des Endokurses unter Ob-hut von Benita und Rolf in der Praxis Herrmann in Günzburg. Vor einemJahr hatte Benita ja bereits bei Sven in Aachen einen eher theoretischenKurs veranstaltet, in dem sie uns die modernen Grundlagen der Endo-Diagnostik, die Darstellung, maschinelle Aufbereitung und das Verpackender Wurzelkanäle gezeigt hatte. Dort konnten wir diese Techniken an ex-trahierten Zähnen selber durchexerzieren. Dieses Mal standen Demon-strationen der praktischen Durchführung im klinischen Patientenfall im Vor-dergrund. Bei subtropischen Temperaturen schauten die meisten von unszum ersten Mal in ihrem Leben übers Operationsmikroskop in einen tre-panierten Zahn. Dank multimedialer Vernetzung hatten wir darüber hin-aus über Rolfs Videobildschirme die gesamte Zeit alles bestens im Blick.So bekamen wir die Behandlung einer Paro-Endo-Läsion mit partiell ne-krotischer Pulpa zu sehen, die Entfernung von Dentikeln und korrodierterSilberstifte und die Anwendung von Rolfs neuem Wundersealer. Insbe-sondere bei Rolfs Demonstrationen war der Geist Phil Molloys allgegen-wärtig — kein Wunder, wer beide kennt.Vielleicht am stärksten beeindruckten uns die Viel-zahl von Tricks und Tips, die beide Behandler zü-gig und zielgerichtet genau das tun liessen, wasgefordert war; sei es das Abdichten oder Zu-rechtschleifen von Kofferdam und Klammern, dieHandhabung der Instrumente unter dem Mikro-skop, das richtige Temperieren der Spül-Lösun-gen, die strikte Einhaltung steriler Kautelen odereinfach die Darstellung der Zugangskavitäten undder Kanäle über das Mikroskop. Natürlich warenwir auch sehr gespannt auf die Anwendung derNiTi-Technik und die Obturation mittels warmerGutapercha. Hier hatten wir einen direkten Ver-gleich zwischen moderner und traditioneller

Clean, Shape and Phil

vonStephan Lachmann

Tübingen

Farbe festgelegt. Die Herstellung der definitiven Veneers, Kronen oderBrücken ist dann ein exaktes Umsetzen in das Keramikmaterial. Idealer-weise sollte nicht nachpräpariert werden. Die Arbeiten werden definitivzementiert. Ein “Probetragen” ist nicht erforderlich, da alle ästhetischenund funktionellen Parameter im Provisorium bereits erprobt wurden.

Pasquale Magne zeigte Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeiten zuden unter Belastung auftretenden Druck- und Zugspannungen an Front-zähnen. Er konnte zeigen, dass mit gebondeten Keramik-Veneers identi-sche Kräfte wie beim gesunden Zahn auftreten. Die Bonding-Schicht derVeneers scheint die Funktion der Schmelz-Dentin-Grenze zu übernehmen.Komposit-Veneers sind zu flexibel, um die Versteifungsfunktion der late-ralen Randleisten der Zähne zu erfüllen.

Ein exzellentes italienisches Abendessen rundete die gelungene Veran-staltung ab, für deren reibungslosen Ablauf wir Dieter Bolten und seinemTeam danken wollen.

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Endodontie, zumal Benitas Vorgehen eher die Frontline aktueller Trendseinschloss, während man bei Rolf das Gefühl hatte, der gute alte Phil stün-de hinter ihm. Jedenfalls unterschieden sich beide Philosophien deutlichvon dem, was wir an der Uni lernen mussten und was uns nur zu oft fru-striert und genervt hat. Wir konnten eine Menge an wertvollen Kniffen mit nach Hause nehmen,die sich in der Behandlungsroutine sofort umsetzen lassen, selbst wennunsere Chefs die Quantec-Feilen und die Endometriegeräte erst im näch-sten Quartal bestellen sollten.

Bei der NEUE GRUPPE und besonders bei Benita, Rolf und seinem Teambedanken sich ganz herzlich

Clean, Shape Pack II

vonBertold Meister

Hamburg

Am 5. Oktober 2000 um 7.00 Uhr morgens trafen sich im Frühstücksraumdes Double Tree Hotels in Santa Barbara zehn Mitglieder, Kandidatenund Freunde der NEUE GRUPPE zum Frühstück mit Cliff Ruddle, um einenendodontischen Fortbildungskurs zu beginnen.

Die meisten Teilnehmer hatten über viele Jahre mit der Methode der late-ralen Kondensation zufriedenstellende Ergebnisse erreicht, waren aberwohl durch Vorträge Cliff Ruddles oder Herb Schilders zu dem Schlussgekommen, dass sich mit dem „Downpacking und Backpacking“ dieseErgebnisse noch optimieren lassen.

Cliff Ruddle betreibt in seiner sehr geschmackvoll eingerichteten (Mar-morfußböden, Tischplatten aus schwarzem Granit und einer nach eige-nen Entwürfen bemalten Decke des Behandlungsraumes) und mit allenmodernen technischen Hilfsmitteln ausgestatteten Praxis in einem Medi-cal Center in der Nachbarschaft von etwa dreißig anderen Zahnärztenein endodontisches Fortbildungsinstitut, das inzwischen von etwa 2500Zahnärzten besucht wurde.

Alle zehn Arbeitsplätze sind mit Mikroskopen, Optura GP-Guns, Touch´nHeat oder System B und allen anderen für praktische Arbeitskurse not-wendigen Dingen ausgestattet.Gemeinsam fuhren wir nach dem Frühstück zur etwa 15 Minuten entferntliegenden Praxis. Rolf Herrmann hatte diesen Kurs arrangiert und in per-fekter Weise mit Cliff geplant.

In komprimierter Form sollten an zwei zehnstündigen Arbeitstagen dieKurse Clean and Shape I und II, die normalerweise vier Tage in Anspruchnehmen, absolviert werden. Nachdem Cliff sich kurz und sehr effektivüber die Vorkenntnisse, Schwierigkeiten und Probleme der Kursteilnehmermit der Endodontie informiert hatte, half er uns in didaktisch hervorra-gender Weise mit kurzen Dia - Referaten und praktischen Demonstratio-nen, die über das Behandlungsmikroskop auf den Bildschirm übertragenwurden, seine perfektionierte Technik des Clean and Shape am ersten Tagzu verstehen.Einige wichtige Punkte seiner Aufbereitungstechnik, nicht alle,

1. Breite initiale Öffnung des Cavums mit FG Rosenbohrern 2 und 4mit chirurgischenn Schäften und Glätten der Wände mit Diaman-ten.

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2. Sondierung der Kanaleingänge mit Stainless Steel K-Feilen 10 oh-ne den Apex erreichen zu wollen.

3. Trichterförmige Öffnung der Kanaleingänge mit Gates Gliddennach dem Motto „Stay away from the Curve“ und dem Ziel, die Fei-len parallel aus den Kanälen herausragen zu lassen.

4. Aufbereiten der coronalen 2/3 der Wurzel (durchschnittlich ca. 10mm ab Wurzel-Kronen-Grenze) mit Gates Glidden. Mit GG 1 ent-sprechend ISO 50 die vollen 2/3 und mit den nächstgrößeren je-weils etwa drei bis vier Millimeter weniger tief. Ziel ist eine koni-sche Aufbereitung der Kanäle mit ca. 10°, die eine gute Reinigungmit Natriumhypochlorid und das Erreichen eines hohen hydrauli-schen Druckens beim Füllen mit Sealer und GP erreichen lassen.

5. Sondieren des apicalen Drittels und konische Aufbereitung mit Ver-größerung um eine Isogröße per 0,5 mm coronalwärts, z.B. mit GT-Feilen gelb und rot. Auf der Strecke bleiben folgende historischenBehandlungsmerkmale:

- Aufbereitung bis kurz vor den Apex- Apicale Präparation zuerst- Aufbereitung mit großen Feilen über die volle Arbeitslänge

Das Verständnis dieses Zieles „Clean and Shape“ beendete den erstenArbeitstag.Am Abend war die ganze Gruppe beim Ehepaar Ruddle zu Hause zuDinner und Wine und einem wunderschönen Blick über Santa Barbaraauf das Meer eingeladen.Der Schwiegersohn hatte ein hervorragendes Essen zubereitet. Zu mei-ner großen Freude gab es reichlich Shafer Merlot und nur die Gewissheit,einen anstrengenden Arbeitstag vor sich zu haben, verhinderte eine lan-ge Nacht. Diesen ungewöhnlich schönen Abend im Kreise der ganzenFamilie Ruddle einschließlich dreier Enkelkinder werden alle Teilnehmersicher nicht vergessen.

Der zweite Tag begann wieder um 7.00 Uhr mit dem Frühstück im Hotel.In der Praxis wurde sofort mit der Arbeit im Kurslabor begonnen und al-le Kursteilnehmer waren mit großem Elan beschäftigt, an Phantom- und

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Am 30. Oktober 2000 wird Dr. Axel Bauer kaum glaubhafte 65 Jahrealt. Mit einem weinenden Auge müssen seine Patienten und seine vielenZahnarztfreunde in Deutschland und in der ganzen Welt zur Kenntnis neh-men, dass er sich in diesem Jahr aus der aktiven Zahnheilkunde zurück-gezogen hat. Sein Geist und sein Körper können es nach wie vor mit ei-nem 40 Jährigen aufnehmen und er kommt der Zielvorstellung des Fit-nessbestsellers „For ever young“ durch seine intensiven sportlichen Am-bitionen erstaunlich nahe. Der Grund für seinen beruflichen Rückzug liegtvielmehr in der Erfüllung von Wünschen und Träumen, die wir alle in unstragen: sich nur noch den außerberuflichen Hobbys zu widmen, neue Le-bensinhalte zu gewinnen, sich neuen Herausforderungen zu stellen, neueAufgaben zu bewältigen. Dass ihm dies gelingt, steht für mich außer Fra-ge.Sein Geburtstag ist gleichwohl Anlass zurückzublicken auf sein beweg-tes und bewegendes Leben als Zahnarzt. 1968 habe ich Axel Bauer beieiner NEUE GRUPPE Tagung in Würzburg kennengelernt. Wir wurden en-ge Freunde und haben uns gegenseitig beruflich angespornt. Inspiriertund trainiert von unseren großen Lehrern Arne Lauritzen, Peter K. Thomasund Charly Stuart haben wir versucht, unser Wissen, das auch ganz nach-haltig durch unsere Zugehörigkeit zur NEUE GRUPPE beinflusst war, in vie-len gemeinsamen Kursen an interessierte Kollegen und Zahntechniker wei-terzugeben. Schließlich haben wir gemeinsam unser Buch „Gnathologie-Einführung in Theorie und Praxis“ geschrieben. Axel Bauer war ein viel-gefragter, geschätzter Referent, der seine Kursteilnehmer durch sein retho-risches und manuelles Talent zu begeistern und zu motivieren vermochte.Er war Beirat der NEUE GRUPPE und zahlreicher zahnärztlicher Zeit-schriften. Als langjähriger Generalsekretär der European Academy ofGnathology hat er diese internationationale Vereinigung von Zahnärztennicht zuletzt durch seine polyglotten Fähigkeiten mit geprägt. In erster Li-nie aber war er ein großartiger, kompetenter und passionierter Zahnarzt,der seine Patienten in seiner kleinen und feinen Düsseldorfer Praxis ein-fühlsam und durchaus erfolgreich behandelt hat.Im Namen seiner Freunde aus der NEUE GRUPPE wünsche ich Axel Bau-er zum Geburtstag Glück, Zufriedenheit und vor allem Gesundheit. Vergiss uns nicht, wenn du jetzt zu neuen Ufern aufbrichst.

Axel Bauerzum 65. Geburtstag

vonAlexander Gutowski

Schwäbisch Gmünd

extrahierten Zähnen Kanäle nach Cliffs Methode aufzubereiten und zufüllen. Die digitalen Röntgenkontrollen aus mehreren Richtungen und Pa-pierausdrucke zeigten überwiegend verblüffend gute Ergebnisse. In derabschließenden Diskussion war bei allen Teilnehmern die letzte Skepsisbeseitigt und es sah so aus, als ob sich nach hause zurückgekehrt alleKursteilnehmer auf diese Behandlungstechnik mit den damit verbundenenVorteilen stürzen würden.Ich bin sehr dankbar, dieses Konzept, das weitgehend auf langjährigerErfahrung, aber auch auf klinischen Untersuchungen und besonders auf„Common Sense“ beruht, zum Wohle meiner Patienten sofort in der Pra-xis anwenden zu können.Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei Rolf Herrmann, der sehrviel Mühe, Zeit und Arbeit auf sich genommen hat, um uns diese erst-klassige Weiterbildung zu ermöglichen, und bei Phil Molloy, der diesenKontakt hergestellt hat.

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Der Tod ist groß.Wir sind die Seinen lachenden Munds.Wenn wir uns mitten im Leben meinen,wagt er zu weinen, mitten in uns

Rainer Maria Rilke

Am 29. Mai 2000 verstarb plötzlich und völlig unerwartet Paul Schöningim Alter von 57 Jahren. Er war erst vor kurzer Zeit als Mitglied in die NEUEGRUPPE aufgenommen worden. Herausragend waren seine jahrzehnte-langen berufspolitischen Aktivitäten. Er war seit 1978 Mitglied des Vor-standes der Zahnärztekammer Nordrhein, von 1982 an als Fortbil-dungsreferent und von Januar 1998 an als Kammerpräsident tätig. PaulSchöning hat also mehr als 22 Jahre lang einen nicht unwesentlichen Teilseiner Schaffenskraft dem Dienst an der Kollegenschaft gewidmet. Dabeiblieb jedoch seine – vorbildliche – Praxis stets Mittelpunkt und wirt-schaftliche Basis all seines beruflichen Tuns. Diese Tatsache verdient her-vorgehoben zu werden, denn das war und ist – leider – längst nicht im-mer selbstverständlich bei Berufpolitikern.

Bevor Paul Schöning 1982 das Fortbildungsreferat der Kammer allein-verantwortlich übernahm, hatte er sich bereits in anderen, aber ver-wandten Funktionen verdient gemacht. So war er als Berufschullehrer inder Helferinnenausbildung tätig, und er bekleidete einige Zeit das Amtdes Fortbildungsreferenten der Bezirksstelle Düsseldorf. Auch hatte er vor-her reichlich Gelegenheit, sich in das zentrale Fortbildungsreferat einzu-arbeiten, das seit 1978 mit dem Karl-Häupl-Institut eine erhebliche Aus-weitung seines Aufgabengebiets erfahren hatte.

Er führte das Referat und insbesondere das Institut nicht nur im ursprüng-lichen Sinn als Einrichtung mit internationalem Charakter und dem ent-sprechenden Anspruch weiter, nein, er verstärkte solche Aktivitäten noch.Fast jedes Jahr besuchte er das Chicago-Midwinter-Meeting, ein Kongressmit bis zu 20.000 Teilnehmern und einer Fülle parallel laufender Veran-staltungen. So war er an der Quelle des fachlichen Fortschritts und konn-te eine Reihe neuer Kursleiter und Referenten verpflichten, die später teil-weise auch in den festen Lehrkörper des KHI aufgenommen wurden.

Als absolutes Novum gründete Schöning eine Reihe von Studiengruppen,die als ständige Einrichtung ihr Domizil im Karl-Häupl-Institut fanden. Beieiner dieser Studiengruppen – der von US-Zahnarzt Dr. Richard Tuckerbetreuten und auf gegossene Zahnrestaurationen und Goldhämmerfül-lungen spezialisierten Gruppe – engagierte er sich ganz persönlich. Erscheute sich dabei nicht, mit den ausnahmslos wesentlich jüngeren Teil-nehmern in Konkurrenz zu treten und sich auch bei der Patientenbe-handlung konstruktiver fachlicher Kritik auszusetzen.

Paul Schöning war allgemein sehr beliebt und hatte viele Freunde. Vonkleinlichen Streitereien hielt er sich fern, vielmehr ging es ihm stets um diegroße Linie. Dabei war er absolut zuverlässig. Wenn er sich einmal füreine Sache entschieden hatte, dann konnte man sicher sein, dass er die-se auch mit Beharrlichkeit vertreten und wenn nötig aktiv weiterverfolgenwürde.

Seiner Initiative ist es auch zu verdanken, dass die ursprünglichen Insti-tutstage – Tage der offenen Tür – zum Karl-Häupl-Kongress, veranstaltet

Nachruf für Paul Schöning

vonJoachim Schulz-Bongert

Düsseldorf

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in der Düsseldorfer Messe, ausgeweitet wurden. Das Interesse war immergroß, der Raum aber zu eng geworden.

Es ist schier unmöglich, die vielseitigen Aspekte, die mit einer so zentra-len Aufgabe wie die Wahrnehmung des Fortbildungsreferates einergroßen Kammer verbunden sind, auch nur annähernd erschöpfend zu be-leuchten. Paul Schöning erledigte das alles mit einer Hingabe, die nur ausechter Begeisterung für die Sache an sich erwachsen kann.Als Kammerpräsident von Anfang 1998 an führte er den “Initiativkreisumfassende Zahnerhaltung” fort, den er auch vorher schon als Beirats-mitglied mit aus der Taufe zu heben geholfen hatte. Im Vorstand der Bun-deszahnärztekammer – die Präsidenten der Länderkammern gehören au-tomatisch diesem Vorstand an – engagierte er sich in mehreren Aus-schüssen, insbesondere auf dem neuen Aufgabengebiet der institutiona-lisierten Qualitätssicherung.

Nur etwas mehr als zwei Jahre war Paul Schöning vergönnt, als Präsi-dent der Zahnärztekammer Nordrhein zu wirken, in einem solchen Amteine viel zu kurze Zeit, um erkennbar viel zu bewegen. Und er hatte sichauch hier eine ganze Menge vorgenommen. Die nordrheinische Zahnärz-teschaft und darüber hinaus viele weitere Kolleginnen und Kollegenschulden Paul Schöning Dank. Alle werden ihn in guter Erinnerung be-halten.

Dr. Hans-Henning OhlroggeEr scheint vor mir zu stehen: die linke Augenbraue ein wenig hochgezo-gen, mit Konzentration vortragend oder intensiv zuhörend. Dabei warHans-Henning stets zu einem offenen Lächeln bereit. Hans-Henning Ohlrogge wurde am 17.03.1939 in Berlin geboren. In sei-ne alte Vaterstadt Berlin zog es ihn auch zum Studium der Zahnheilkun-de an der Freien Universität Berlin. Das Studium schloss er 1967 ab undpromovierte 1970 mit einer Arbeit über ”Salmonellenphagen und ande-re Indikatorbakterien zum Nachweis von Salmonellen”. 1968 heiratete er seine quirlige Kollegin Helga. Die Ohlrogges ließensich dann in Aachen, wo die Familie von Helga Ohlrogge lebte, in ei-gener Praxis nieder. Dort wurde 1969 Sohn Mathias geboren. Julika kam1971 zur Welt. Mit ganzer Energie stürzte sich Hans-Henning in den Pra-xisaufbau. Zahnheilkunde faszinierte ihn, er war stets Arzt mit ”Leib undSeele”, für seine Patienten Vertrauensperson, immer ansprechbar. Über einen ungebremsten Wissensdurst in seinem Fachgebiet kam er zurNEUE GRUPPE, deren Mitglied er 1980 wurde. In dieser Vereinigungfand er Kollegen, die, wie er, sich nicht mit Erreichtem zufrieden gaben,sondern die offen waren für Neues und sich aktiv auch auf internationa-ler Ebene um die Informationen bemühten, die ihrem Ziel nach einer be-ruflichen Perfektion dienten. Es war zweifelohne eine glückliche Fügung,dass seine Frau ihm nicht nur den Rücken für seine vielfältigen beruflichenAktivitäten frei hielt, sondern als Kollegin in gleichem Sinne dachte.Durch die offene Art, mit der Hans-Henning Ohlrogge auf Menschen zu-ging, und seine Verläßlichkeit gewann er schnell Freunde. Wenn ein Na-me beispielhaft besonders herausgestellt werden soll, so ist es der vonWilly Krogh- Poulsen, mit dem ihn eine tiefe, fast väterliche Freundschaftverband. Hans-Henning Ohlrogge war Mitglied in einer Reihe angese-hener wissenschaftlicher Fachgesellschaften und er verweigerte sich nicht,

Nachruf für Hans-Henning Ohlrogge

vonPeter Engelhardt

Düsseldorf

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wenn sein Engagement gefragt wurde. So war er von 1982 – 1988 Vor-standsmitglied der DGP, 1990 – 1991 Präsident der NEUE GRUPPE, seit1996 Mitglied des Research Commitee der EACD, seit 1996 Stellvertre-tender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Funktionslehre in derDGZMK, AGF, seit 1998 Mitglied des Direktoriums der Akademie Praxisund Wissenschaft der DGZMK, APW, zu deren Lehrkörper er seit 1990gehörte. Mitarbeit nahm Hans-Henning Ohlrogge wörtlich. Er brachtenicht nur Ideen ein, sondern wirkte an ihrer Umsetzung. Als Gutachter fürdie Zahnärztekammer Nordrhein war er stets um Fairness bemüht. Er warunbestechlich, ohne verletzend zu sein und konsequent, wenn es ihm umWahrheit ging. Die Maßstäbe, die er an seine eigene Arbeit, an sein ei-genes Handeln legte, waren bestimmend. Die Organisation von Kon-gressen und Tagungen machten Hans-Henning Ohlrogge besondere Freu-de. Seine guten, freundschaftlichen Kontakten zu international renom-mierten Referenten setzte er auch für andere Kollegen ein. So organisierteer auch klinische Arbeitskurse in seiner Praxis oder anderswo. Schon ei-ne gewisse Tradition haben die ”Klinischen Wochen” mit Gerald Bowersund der Bowers-Study-Group in Baltimore, USA. Neben solchen Akti-vitäten fand er für 11 wissenschaftliche Publikationen Zeit. Zusammen mitHeinz Mack veröffentlichte er eine Arbeit über ”Verzeichnungen und Ver-zerrungen bei sagittalen Aufzeichnungen in der instrumentellen Funkti-onsdiagnostik”. Sie wurde 1985 mit dem Jahresbestpreis der DGZMKausgezeichnet. Er hielt viele Vorträge auf nationalen und internationalenVeranstaltungen und führte etliche Kurse, insbesondere im Rahmen desKursprogramms der APW durch. Seine Neigung zum Erfinden und Ent-wickeln führte zu zwei Höhepunkten: Ein optoelektronisches Registrier-system für die Registrierung der Kiefergelenkdynamik wurde von ihm biszur Marktreife entwickelt. Eine weitere Premiere fand im Rahmen der Früh-jahrstagung der NEUE GRUPPE im Mai dieses Jahres in Günzburg statt,wo Hans-Henning Ohlrogge seinen Behandlungsstuhl unter dem Motto”Swatch oder der innovative Kick” präsentierte. Es verwundert nicht, dassHans-Henning Ohlrogge noch mehr Facetten aufwies. Er feierte gern under reiste gern, auch ein Zeichen seiner Neugier auf Neues, Andersarti-ges. Und, er sammelte leidenschaftlich und nicht nur Radios in den ver-schiedensten Gehäusen. Wie sagte er einmal? ”Die Freude an einem Ge-genstand muss nicht proportional zu dessen Nützlichkeit stehen”. Schonernster waren seine selbst kreierten und hergestellten Schmuckstücke zunehmen. Sie wurden Freunden, oder - wie er betonte - Freundinnen ver-ehrt. Das seine Frau an erster Stelle bedacht wurde, mochte ein wenigdafür entschädigen, dass bei so vielen Interessen und Aktivitäten die Fa-milie manchmal ein wenig zu kurz kam. Und doch war die Familie derruhende, verläßliche Pohl in seinem Leben. Wie bedeutsam, wie stabil,zeigte sich, als Helga ihren Mann aufopfernd liebevoll betreute und ihmeinen großen Wunsch erfüllte und ihn zwei Tage vor seinem Tod aus demKrankenhaus nach Hause holte.

Hans-Henning Ohlrogge hat uns am 22. September für immer verlassen.Wir haben ihn auf seinem letzten Weg auf dem Aachener Waldfriedhofbegleitet. Unser aufrichtiges Mitgefühl gilt seiner Frau und seinen Kindern.Hans-Henning Ohlrogge hinterläßt eine schmerzliche Lücke.

Der Freund Hans-Henning wird uns unvergessen sein.

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Am 18. Mai 2000 ist Gerald M. Kramer nach schwerer mit großer Ge-duld ertragenen Krankheit im Alter von 77 Jahren gestorben.Er war in Gloucester geboren und ging dort zur Schule. Das Studium derZahnheilkunde hat er an der Tufts University School of Dental Medicineabsolviert.Er war Assistent in Parodontologie im Beth Israel Hospital in Boston. Erdiente im Dental-Corps der Navy während des zweiten Weltkrieges undim Korea-Krieg.Dr. Kramer hielt zahlreiche Vorträge und gab Kurse an Universitäten, beizahnärztlichen Gesellschaften und Studiengruppen in den VereinigtenStaaten und im Ausland.Er war der Gründer und Co-Direktor des Institute for Advanced Dental Stu-dies, Co-Editor des International Journal of Periodontics and RestorativeDentistry, Chairman des American-Board of Periodontology sowie Pro-fessor und Chairman der Abteilung für Parodontologie der Boston Uni-versity.Er wurde mit dem Master Clinicians Award sowie den Gold MedalAward der American Academy of Periodontology ausgezeichnet.

1982 lernte ich Gerald Kramer zum ersten Mal kennen in der großen Ge-meinschaftspraxis in Swampscott/Massachusetts.Durch Vermittlung von Ron Nevins konnte die NEUE GRUPPE 1986 erst-mals an einem einwöchigen Intensivkurs in der Praxis mit Vorträgen undLive-Demonstrationen teilnehmen. Von allen Kollegen der Gemein-schaftspraxis haben wir sehr viel gelernt, so dass wir bis 1998 insgesamt15 einwöchige Kurse in Swampscott abhalten konnten.Gary Kramer beeindruckte uns durch seine Persönlichkeit, seine Mensch-lichkeit, seine hohe fachlich theoretische und praktische Qualifikation. Erhatte die große Gabe komplizierte Zusammenhänge klar und system-atisch darzustellen. Er operierte souverän und elegant. Seine praktischenDemonstrationen waren ein ästhetischer Genuss.Er verstand es durch persönliches Engagement und Ausstrahlung seineSchüler für die Parodontologie zu begeistern.Die Kurse in Swampscott stellten nicht nur fachliche Höhepunkte dar, son-dern sie vertieften auch die Freundschaft zwischen den Freunden derNEUE GRUPPE und dem Team, um Gary Kramer und Ron Nevins. Ich erinnere mich noch gut, wie Gary seinen 65. Geburtstag zunächstmitten im Kurs beging um sich anschließend zum Feiern im engstenFamilienkreise zurückzuziehen. Die Freunde der NEUE GRUPPE werden Gerald Kramer ein ehrendes An-denken bewahren.

In MemoriamGerald M. Kramer

vonRalf E. Mutschelknauss

Stuttgart

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Impressum

Copyright 2000 NEUE GRUPPE Nachrichten. Herausgeber:NEUE GRUPPE, wissenschaftliche Vereinigung von Zahnärzten.Redaktionelle Leitung: Dr. Jürgen Bretthauer, Dr. Ulrich Gaa.Die NEUE GRUPPE Nachrichten umfasst 2 Ausgaben pro Jahr.Die Zeitung und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheber-rechtlich geschützt.

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