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(Aus der Universit/its-Nervenklinik Gie$en. Direktor: Geheimrat Prof. R. Sommer.) Paralysis agitans und Trauma. Von Dr. reed. Ernst Henssge, Nervenarzt in Dresden. (Eingegangen am 26. Juli 1927.) Seitdem bekannt ist, dab bei Paralysis agitans eine Erkrankung des Zentralnervensystems besteht, welche pathologiseh-anatomisch den senilen Ver/inderungen/~hnelt, dr/~ngt sich immer wieder die Frage auf, warum die Paralysis agitans h/iufig schon im 40.--50. Lebensjahr auL tritt und warum die krankhaften Substanz/inderungen sich haupts~ch- lieh in den basalen Ganglien abspielen. Wenn es richtig ist, dal~ degene- rative Ver/~nderungen des Schilddriisen- und Nebensehilddriisenapparates zu vorzeitigen senilen Ver/~nderungen des Zent~alnervensystems fiihren kSnnen, so bleibt immer noch die Frage der besonderen Lokalisation bei der Paralysis agitans often. Zweifellos schafft die Gef/~13versorgung der basalen Ganglien insofern einen Locus minoris resistentiae, als sie durch Endarterien gew/ihrleistet wird, welche wenig Anastomosen haben. Inwieweit Traumen in Beziehung stehen zur Paralysis agitans, ist unklar. Der Beginn traumatisch bedingter F/ille yon Paralysis agitans ist h/iufig so, da~ psyehogene Krankheitserscheinungen im Vordergrund stehen und die richtige Diagnose nicht gestellt und auch nicht einmal vermutet wird. Dieses Nebenherlaufen psychogener Erseheinungen bei beginnen- den Erkrankungen des Zentralnervensystems ist nicht selten, wie zuerst rein psyehogen erscheinende Erkrankungen, die sich sp~ter als Him- tumor oder multiple Sklerose, bzw. als postencephalitische Erkrankung entpuppen, zeigen. Die graphisehe Aufzeichnung yon Zitterkurven mittels des Sommer- sehen dreidimensionalen Apparates, welcher gleichzeitig 3 Kurven auf Druek, Stofi und seitliche Zitterbewegung aufzeichnet, setzt den Arzt oft in die Lage, eine Schiittell/~hmung zu diagnostizieren, w/~hrend die iibrige neurologische Untersuehung noch keine Anhaltspunkte dafiir gibt. Gerade fiir die Unfallbegutachtung ist daher die Aufzeiehnung yon Zitter- kurven au0erordentlich wichtig.

Paralysis agitans und Trauma

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(Aus der Universi t / i ts-Nervenklinik Gie$en. Direktor: Geheimrat Prof. R. Sommer.)

Paralysis agitans und Trauma. Von

Dr. reed. Ernst Henssge, Nervenarzt in Dresden.

(Eingegangen am 26. Juli 1927.)

Seitdem bekannt ist, dab bei Paralysis agitans eine Erkrankung des Zentralnervensystems besteht, welche pathologiseh-anatomisch den senilen Ver/inderungen/~hnelt, dr/~ngt sich immer wieder die Frage auf, warum die Paralysis agitans h/iufig schon im 40.--50. Lebensjahr auL tritt und warum die krankhaften Substanz/inderungen sich haupts~ch- lieh in den basalen Ganglien abspielen. Wenn es richtig ist, dal~ degene- rative Ver/~nderungen des Schilddriisen- und Nebensehilddriisenapparates zu vorzeitigen senilen Ver/~nderungen des Zent~alnervensystems fiihren kSnnen, so bleibt immer noch die Frage der besonderen Lokalisation bei der Paralysis agitans often. Zweifellos schafft die Gef/~13versorgung der basalen Ganglien insofern einen Locus minoris resistentiae, als sie durch Endarterien gew/ihrleistet wird, welche wenig Anastomosen haben. Inwieweit Traumen in Beziehung stehen zur Paralysis agitans, ist unklar. Der Beginn traumatisch bedingter F/ille yon Paralysis agitans ist h/iufig so, da~ psyehogene Krankheitserscheinungen im Vordergrund stehen und die richtige Diagnose nicht gestellt und auch nicht einmal vermutet wird. Dieses Nebenherlaufen psychogener Erseheinungen bei beginnen- den Erkrankungen des Zentralnervensystems ist nicht selten, wie zuerst rein psyehogen erscheinende Erkrankungen, die sich sp~ter als Him- tumor oder multiple Sklerose, bzw. als postencephalitische Erkrankung entpuppen, zeigen.

Die graphisehe Aufzeichnung yon Zitterkurven mittels des Sommer- sehen dreidimensionalen Apparates, welcher gleichzeitig 3 Kurven auf Druek, Stofi und seitliche Zitterbewegung aufzeichnet, setzt den Arzt oft in die Lage, eine Schiittell/~hmung zu diagnostizieren, w/~hrend die iibrige neurologische Untersuehung noch keine Anhaltspunkte dafiir gibt. Gerade fiir die Unfallbegutachtung ist daher die Aufzeiehnung yon Zitter- kurven au0erordentlich wichtig.

E. Henssge: Paralysis agitans und Trauma. 797

Fall 1. Georg Sch., geb. 1879, zog sich gemM3 zuverlassiger Aktenunter- lagen am 19. VIII. 1918 durch Sturz auf die linke Schulter eine schwere Kon- tusion des Schultergtirtels mit Gelenkergul3 zu. Seit diesem Unfall verspiirte er eine Schw/iehe im linken Arm; seit Herbst 1920 bestand gem~l~/~rztlicher Fest- stellung eir~ leichter Tremor der linken Hand sowie Kraftlosigkeit der linken Hand, so dal3 er seine Berufsarbeit nur mit Miihe und Not verriehten konnte. Im Juni 1921 wurde Seh. mehrere Male eingehend yon Herrn Geheimrat Sommer unter- sueht, welcher yon vornherein die Erkrankung fiir eine am linken Arm beginnende Paralysis agitans hielt, da das Zittern als eine nicht simulierende Zitterkrankheit mittels des Sommerschen dreidimensionalen Apparates nachgewiesen wurde. Es ergab sich ferner aus den Akten und aus den /trztlichen Feststellungen in einwandfreier Weise, dab eine zusammenhangende Kette yon Krankheits- crscheinungen seit dem Unfall bis zum Ausbruch der Schtittell/~hmung fiihrte. 1922 kam zu dem zuni~chst nur links auftretenden Zittern rechtsseitiges Zittern hinzu; 1924 bestand eine ausgesprochene Paralysis agitans mit ausgepr/~gtem Zittern und Schlagen von rhythmischem Charakter in beiden H/~nden und Armen bei vermehrter Muskelspannung, gesteigerten Sehnenreflexen mit Amimie, steifer gebtickter Haltung usw. Beim Gehen schltirfte Sch. mit beiden FiiBen auf dem Boden; das Zittern war in den Beinen geringer als in den Armen, zeigte aber ebenfalls rhythmischen und periodischen Charakter.

~ber die Vorgeschichte des Seh. ist folgendes bekannt: Vater litt an Paralysis agitans; Schwester hatte epileptische Anfiille und

konnte mit 35 Jahren wegen L/thmungserscheinungen nicht laufen.

Trotz der erblichen Belastung mul3 mit Riicksicht auf die Anreihung der ersten Symptome der Paralysis agitans an die Ket te yon Unfall- folgen und bei dem Beginn der Schtittell/~hmung an dem vom Unfall betroffenen linken Arm angenommen werden, da/~ die zuerst am linken Arm beginnende Erk rankung an Paralysis agitans eine allm/ihlich ein- setzende Yolge der Verletzung der linken Schulter und der mit dem Unfall verbundenen Erscht i t terung und Schreckwirkung gewesen ist.

Der Fall ist insofern besonders wertvoll, well er von Anfang an unter /irztlicher Kontrolle stand. Das Vorhandensein von Br i ickensymptomen vom Unfall an bis zum Ausbruch der Paralysis agitans ist dadurch sicher- gestellt; auch haben nachweisbar vor dem Unfall keine krankhaf ten Erscheinungen bestanden.

Paul Busch hat 66 F/~lle yon post t raumatischer Paralysis agitans. Erk rankung zusammengestell t , bei denen sehr betr/~chtliche Gewalt- einwirkungen s ta t tgefunden hatten.

Es kamen vor : l l real F rak tu ren ; 15real Kontus ionen ; 3mal Luxat ionen und Torsionen; 25real Stol3, Schlag, Fall. P. Busch weist darauf hin, daI~ die groSe H/iufigkeit der mechanischen

t raumat ischen Einfl/isse bei Paralysis agitans bei der relativ geringen H/tufigkeit dieser E rk rankung fiir einen /ttiologischen Zusammenhang zwischen Paralysis agitans und Trauma spricht.

798 E. Henssge:

Bevor weiter auf diesen Zusammenhang eingegangen wird, soll eine weitere post t raumatisehe Paralysis agi tans-Erkrankung in ihrem Verlauf mitgeteflt werden.

Fall 2. Frau Katharina St., geb. 27. III . 1873; Erblichkeit o. B: Kindheit normal. Schulerfolg gut; hie ernstlieh krank gewesen; 1899 geheiratet. Aus der Ehe 3 gesunde Kinder; keine Fehlgeburten. Periode, die friiher immer regelm~Big war, ist seit 1923 vollkommen weggeblieben; die Kranke hatte vor dem Unfall keine Beschwerden.

September 1924 Unfall: Die Kranke fiel yon einer Leiter 2 m hoch herunter, als sie ein Biindel Heu im Arm hatte. Nach dem Unfall war sie nieht bewuBtlos, sondern ftihlte sofort Schmerzen in der linken Seite, besonders in der linken Sehulter und im linken Bein; die Schmerzen blieben etwa 5 Woehen bestehen, w~hrend sie in ihrer Bewegungsf~higkeit in keiner Weise behindert war; all- mi~hlich stellte sich aber Zittern im linken Arm und im linken Bein ein. Am 19. III . 1925 wurde die Frau zur Begutachtung in die Nervenklinik Gie~en ein- gewiesen.

Es bestand ein langsamer rhythmischer Tremor in der linken Hand und im linken Arm; ebenfalls zittert, obwohl nicht so stark, das linke Bein; dasselbe sehleift beim Gehen. Mit dem Daumen und Zeigefinger macht die Kranke fast ohne Unterbrechung die Bewegung des Pillendrehens. Die Metacarpophalangeal- gelenke der linken Hand sind gebeugt, die Endphalangen und Mittelphalangen gestreckt, die Fingerbeeren yon Daumen und Zeigefinger beriihren sieh.

Kopf und Rumpf sind vorniiber gebeugt; es besteht ein maskenartiger Ge- siehtsausdruek, da die mimisehen Ausdrucksbewegungen fast vollkommen fehlen. Der Gang ist trippelnd; Treppensteigen geht bcsser als das Gehen auf ebener Erde; im linken Arm und Bein besteht deutlicher Rigor; rechts ist der Rigor in den Extremiti~ten auch vorhanden, aber nicht so stark. Alle Bewegungen sind gehemmt; vorzugsweise die Bewegungen des linken Armes und des linken Beines; die Sehnenreflexe sind links mehr gesteigert als recbts; ebenso erstrecken sich die Zittererscheinungen vorzugsweise auf die linke Seite; das Zittern erfolgt rhythmisch und periodisch; persistiert hie vollkommen, schwi~cht sich bei aktiven Bewegungen etwas ab. Dal~ es sich um eine Sehiitt'elli~hmung handelt, steht aufler Zweifel.

Auff~llig ist die rasche Entwicklung der Erkrankung im Ansehlul~ an den Unfall. Von Bedeutung ist, daI~ sich die F rau ein Jah r vor dem Unfall in den Wechseljahren befand.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Fall, den Westphal mit- teil t : Es handelte sich um eine Kranke, die im Anschlui~ an eine Gebur t an Basedow erkrankte und nach frfihzeitigem Eint r i t t der Menopause eine Paralysis agitans bekam. Westphal sieht in dem Versagen der Sehild- drtisenfunktion die Ursaehe fiir das Eintre ten der Genitalinsuffizienz; die frtihe Seniliti~t fiihrte zur St r ia tumerkrankung, worin Westphal eine Best~tigung der Ansicht von C. und O. Vogt sieht, dal~ das stri/~re System zu pri~senilen Erk rankungen besonders tendiert. Christiansen betraehte t als endogenes Moment ftir die Paralysis agitans eine Art von Abiotrophie, das ist ein frtihzeitiges Zugrundegehen gewisser nerv6ser Elemente. Besonders beaehtenswert erseheint die Ansieht yon Lewy, dab der Strei- fenhiigel infolge schlechter Gefi~gversorgung durch Endarter ien ohne

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Anastomosen Schadigungen besonders leicht ausgesetzt sei. Gef~gver- ~nderungen nach Trauma sind yon Friedmann beschrieben worden; er fand insbesondere nach Hirnerschfitterung hyaline Degeneration der Hirngef~Be und Ver~nderungen in den Lymphscheiden und der Wand der feinen Hirngefi~lte. J~hnliche Feststellungen machten Joshikawa, KSppen und Dinkler. L. W. Weber weist darauf hin, (lab GeffiBsklerosen nach Trauma m6glicherweise schon vor dem Unfall bestanden haben, wenn auch klinisch latent; andererseits hat er festgestellt, (tab (lurch Auffaserung hyalin sklerosierter Geffi~e miliare Hirnblutungen ent- stehen k6nnen, w~hrend die Umgebung der erkrankten Geffi~e das Bild der perivasculitren Gliose bietet. L.W. Weber nimmt einen Zusammen- hang zwischen den beschriebenen Geffillverfinderungen und Trauma als m6glich an.

Sehr bemerkenswert ist, dab sich (tie SchiittellShmung in der Regel auf derjenigen Seite zuerst entwickelt, auf welcher das Trauma einge- wirkt hat. In diesem Zusammenhang sind Feststellungen von Blocq und Jo//roy bemerkenswert, welehe bei Paralysis agitans in der vom Sehfitteln betroffenen Muskulatur eine Vermehrung der Bindegewebs- kerne und Proliferation der Sarkolemmkerne festgestellt haben.

Wenn wir uns vorstellen, dab der motorische Muskel auBer seiner motorischen Funktion auch noch andere Aufgaben hat, z. B. die Aufgabe, fiber seinen jeweiligen Spannungszustand zentripetal zu berichten, so liegt die Schlul~folgerung ziemlich nahe, da[t schwere Muskelsch~digungen durch Trauma auch auf das zentrale Nervensystem EinfluB haben k6nnen.

Die yon A. Cornelius in seiner Nervenpunktlehre festgelegte beson- dere Berficksiehtigung aller peripheren nervSsen Erscheinungen, ist zweifellos beachtenswert auch in diesem Zusammenhang der posttrau- matischen Paralysis agitans-Erkrankungen. Bedenken wir einmal, welche Leistungen z. B. beim Fallen von einer Leiter ohne weiteres auto- matisch eintreten; nicht nur die Muskeln zur Erhaltung des Gleichge- wichts, sondern auch das gesamte stri~re System und das Kleinhirn mit seinen Bahnen wird au~ergew6hnlich stark in Anspruch genommen; eine auBergew6hnlich starke Muskelfunktion hat bestimmte Wirkungen auf das Zentralnervensystem und umgekehrt beeinflu~t und lenkt dieses wieder die Peripherie; diesen wechselseitigen Zusammenhang zeigen immer wieder die auf der Seite der Gewalteinwirkung entstehenden Schfittellahmungen.

Da[t bestimmte pramorbide Dispositionen, wie z. B. Basedow, Kli- makterium, erbliche Belastung usw. sozusagen den Boden ffir die post- traumatische Schfittell~hmung vorbereiten, kann nicht geleugnet werden; ganz auffallend ist aber die H~ufigkeit der Zusammenhange zwischen Trauma und Paralysis agitans, was auch wieder die beiden mitgeteilten F~lle beweisen.

800 E. Henssge: Paralysis agitans und Trauma.

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