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BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 41 JUNI 2009 www.perspektive21.de GÜNTER BAASKE: Ein Pakt für Brandenburg RAINER SPEER: Brandenburg und die Finanzkrise GUSTAV HORN: Schnell und nachhaltig HENRIK ENDERLEIN: Ein neues Verhältnis zwischen Staat und Markt OLAF CRAMME: Welche Zukunft wollen wir? HARALD CHRIST: Warnungen, Wechselbäder und Widersprüche GEREON SCHUCH: Die Krise ist schon lange hier EDGAR MOST: Gibt es einen dritten Weg? WELCHE LEHREN WIR AUS DER FINANZKRISE ZIEHEN KÖNNEN Eine neue Wirtschaftsordnung?

perspektive21 - Heft 41

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Eine neue Wirtschaftsordnung?

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Page 1: perspektive21 - Heft 41

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 41 JUNI 2009 www.perspektive21.de

GÜNTER BAASKE: Ein Pakt für Brandenburg

RAINER SPEER: Brandenburg und die Finanzkrise

GUSTAV HORN: Schnell und nachhaltig

HENRIK ENDERLEIN: Ein neues Verhältnis zwischen Staat und Markt

OLAF CRAMME: Welche Zukunft wollen wir?

HARALD CHRIST: Warnungen, Wechselbäder und Widersprüche

GEREON SCHUCH: Die Krise ist schon lange hier

EDGAR MOST: Gibt es einen dritten Weg?

WELCHE LEHREN WIR AUS DER FINANZKRISE ZIEHEN KÖNNEN

Eine neueWirtschaftsordnung?

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| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen

20 Jahre nachder friedlichenRevolution von 1989:

Wie viel Einheit haben wir erreicht? Welchen Aufbruch braucht Deutsch-land jetzt?

224 Seiten,gebunden

Eine persönliche Bestandsaufnahme

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Eine neueWirtschaftsordnung?D ie Landtagswahl wirft ihre Schatten voraus. „Viel geschafft, noch viel zu tun“

ist der Grundtenor des Wahlprogramms der Brandenburger SPD für diekommenden fünf Jahre. Die Schwerpunkte des Programms erläutert GünterBaaske in diesem Heft.

Lehman Brothers oder Hypo Real Estate waren Banken, die vor einem Jahr nurInsider kannten. Heute sind sie Synonyme für die weltweite Finanzkrise, die imSommer vergangenen Jahres begann – und sich zu einer globalen Wirtschaftskriseauswuchs. Deutschland ist besonders stark von ihr betroffen – um bisher nicht vor-stellbare 6 Prozent wird die Wirtschaft 2009 schrumpfen. Von den ehemals fünfgroßen Investmentbanken der Wall Street ist heute keine einzige mehr vorhanden.Das allein macht deutlich, dass diese Finanz- und Wirtschaftskrise kein Betriebs-unfall ist und es auch in Deutschland nicht einfach so weiter gehen kann wie bis-her. Wir haben deshalb verschiedene Autoren aus Wissenschaft, Politik und Fi-nanzwesen gebeten, die Gründe der Krise zu analysieren und Konsequenzen zudiskutieren. Heraus gekommen sind unterschiedliche Sichtweisen. Eins ist allenBeiträgen gemeinsam: Eine effiziente Regulierung der Finanzmärkte ist unabding-bar. Zur Frage, welche Aufgaben der Staat wahrnehmen kann oder sollte, gibt esspannende Argumente. Klar ist: Dies kann nur der Zwischenstand einer Debattesein. Die Frage, wie wir unsere Wirtschaft, unsere Demokratie und Gesellschaft ge-stalten wollen, welche Rolle der Mensch, welche Rolle der Staat und welche RolleUnternehmen spielen, wird uns noch lange beschäftigen.

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.

IHR KLAUS NESS

vorwort

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inhalt

5perspektive21

Eine neueWirtschaftsordnung?WELCHE LEHREN WIR AUS DER FINANZKRISE ZIEHEN KÖNNEN

MAGAZINGÜNTER BAASKE: Ein Pakt für Brandenburg ........................................................ 17Wie unser Land im neuen Jahrzehnt aussehen soll

THEMA

RAINER SPEER: Brandenburg und die Finanzkrise ................................................ 13

Warum Konsolidierungskurs und Konjunkturpolitik kein Widerspruch sind

GUSTAV HORN: Schnell und nachhaltig ................................................................ 25Woher die Krise kam und was jetzt getan werden muss

HENRIK ENDERLEIN: Ein neues Verhältnis zwischen Staat und Markt .................. 35Die Wirtschaftspolitik muss in gesellschaftliche Geschlossenheit investieren

OLAF CRAMME: Welche Zukunft wollen wir? ...................................................... 41Die entscheidenden Fragen einer neuen Wirtschaftspolitik sind noch nicht beantwortet

HARALD CHRIST: Warnungen, Wechselbäder und Widersprüche ........................ 47Was in der schwersten Krise der Nachkriegszeit zu tun ist

GEREON SCHUCH: Die Krise ist schon lange hier .................................................. 57Nicht die Finanz- sondern eine politische Vertrauenskrise ist schuld an Ungarns Problemen

EDGAR MOST: Gibt es einen dritten Weg? ............................................................ 65Nur mit Reformen lässt sich die Finanz- und Systemkrise überwinden

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6 dezember 2007 – heft 36

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Ein Pakt für BrandenburgWIE UNSER LAND IM NEUEN JAHRZEHNT AUSSEHEN SOLL

VON GÜNTER BAASKE

E s gibt wenige Erinnerungen, die einem auch nach 20 Jahren noch einenSchauer über den Rücken gehen lassen. Die Bilder vom Mauerfall am

9. November, von den Trabis auf der Bornholmer Brücke, von tanzendenMenschen vor der Gedächtniskirche und den vielen Freudentränen, die injener Nacht flossen, gehören zweifellos dazu. Das alles ist nun schon 20 Jahreher. 20 Jahre – voll mit Anstrengungen, Glück und sicher auch mancherEnttäuschung. Insgesamt können wir heute in Brandenburg eine positiveBilanz ziehen. Die Arbeitslosigkeit im Frühjahr 2009 ist auf den niedrigstenStand seit der Wende gesunken, viele wettbewerbsfähige Unternehmen habensich am Markt etabliert, die Infrastruktur ist nahezu durchweg modernisiert.Die Art, wie wir heute leben und arbeiten, hat sich komplett verändert. Diesegroßen Anpassungs- und Aufbauleistungen der Brandenburgerinnen und Bran-denburger in den vergangenen zwei Jahrzehnten können Anlass für Stolz undSelbstbewusstsein sein.

Landtagswahl in schwieriger Zeit

Gleichwohl ist das Jahr 2009 kein Jahr des Feierns und Gedenkens. Die Nachrich-ten, die uns fast täglich von den Wirtschaftsseiten der Zeitungen erreichen, sindbeunruhigend. Großbanken entdecken große Löcher in ihren Bilanzen, der Welt-handel geht zurück, Unternehmen melden Kurzarbeit an, Steuereinnahmen sinken.Aus der Banken- ist eine Finanz- und Wirtschaftskrise geworden – und zwar inner-halb weniger Monate und in fast allen Ländern der Welt. In der Krise steckt einunstillbarer „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) und es besteht die Gefahr,dass er die gute Idee der sozialen Marktwirtschaft in Mitleidenschaft zieht.

In dieser Situation wählt Brandenburg am 27. September einen neuen Land-tag und eine neue Landesregierung. Wir Sozialdemokraten wollen mit MatthiasPlatzeck erneut den Ministerpräsidenten stellen. Wir Sozialdemokraten wollenauch in den nächsten fünf Jahren Verantwortung für unsere Heimat überneh-men, die soziale Marktwirtschaft erneuern und einen immer stärker vorsorgendagierenden Sozialstaat aufbauen. Dabei geht es um vier zentrale Punkte.

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ERSTENS: ARBEITSPLÄTZE SICHERN. Brandenburg ist nicht das gallische Dorf,um das die Wirtschaftskrise einen Bogen machen würde. Zwar ist die Arbeitslo-sigkeit stark gesunken und auch der Anteil der Kurzarbeiter in unserem Land ver-gleichsweise gering. Das deutet darauf hin, dass Brandenburg heute auf sichererenFüßen steht als noch vor ein paar Jahren. Die Unternehmen im Land sind stärkergeworden – und das zahlt sich jetzt aus. In der ablaufenden Wahlperiode habenwir die Wirtschaftsförderung umgestellt, so dass Fördermittel jetzt konzentriertwerden und besser wirken können. Diesen Weg werden wir fortsetzen, denn erist erfolgversprechend.

2008 gab es zum ersten Mal mehr Plätze für Auszubildende als Bewerber. EinTrend, der in den kommenden Jahren anhalten wird, da die Zahl der jungenMenschen aufgrund des Geburtenrückgangs der neunziger Jahre sinkt. Die Zahlder Angestellten, die in Rente gehen, wird steigen. Durch diese beiden Entwick-lungen wird der Fachkräftebedarf die größte Zukunftsherausforderung unsererUnternehmen. Wirtschaftspolitik ist deshalb vor allem auch eine vorsorgendeArbeitspolitik. Deshalb setzen wir auf eine intensivere Zusammenarbeit zwischenUnternehmern, Lehrern und Schülern. Praxislernen soll in der Schule Pflichtwerden, damit jede und jeder genau weiß, was es für interessante Berufsfelder inder Umgebung gibt. Denn heute können wir versprechen, dass jede Schülerinund jeder Schüler mit guten Abschlüssen in Brandenburg beste Chancen aufeinen Ausbildungs- und später auf einen Arbeitsplatz hat.

Gute Arbeit steht im Mittelpunkt

Dabei geht es nicht um „irgendeinen“ Job, sondern um „gute Arbeit“. „GuteArbeit“ soll das Qualitätsmerkmal Brandenburger Wirtschaft werden. Dasheißt: gute Arbeitsbedingungen, systematische Fort- und Weiterbildung, aberauch ordentliche Bezahlung – all dies gehört zu einer vorsorgenden Arbeits-politik. Daneben werden wir Sozialdemokraten auch ein Brandenburger Min-destlohngesetz auf den Weg bringen. Es soll regeln, dass öffentliche Aufträgenur an solche Unternehmen vergeben werden, die sich an Tarifverträge halten,mindestens aber einen Mindestlohn zahlen.

In der Krise gehört es zur Ehrlichkeit zu sagen, was geht – aber auch, wasnicht geht. Selbstverständlich ist, dass wir alles tun, was wir können, um Unter-nehmen in schwierigen Zeiten zu helfen. Wir werden um jeden Arbeitsplatzkämpfen. Die beiden Konjunkturprogramme von Bund und Ländern sorgenfür zusätzliche Aufträge. Fast eine halbe Milliarde Euro werden in den nächsten

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beiden Jahren in den Ausbau von Brandenburger Schulen, Kitas, Hochschulen,Krankenhäusern und Straßen gesteckt. Das schafft Arbeitsplätze vor Ort. Bran-denburg allein ist jedoch zu klein, um jedem einzelnen Betrieb unter die Armegreifen zu können. Der Staat kann nicht der Schiedsrichter für die Unternehmensein, er kann aber Coach und Berater sein, der Instrumente bereit stellt, mitdenen Betriebe aus schwierigen Situationen finden können. Deshalb werdenzum Beispiel Lotsendienste verstärkt und Kreditprogramme ausgebaut.

Mehr Gerechtigkeit in der Bildung

Um zwei Projekte werden wir uns in den kommenden Jahren besonders küm-mern, denn sie sind für die Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeu-tung. Das erste ist der neue Flughafen BBI im Süden Berlins. Er wird 2011 er-öffnet und zum Tor Brandenburgs nach Europa und in die Welt. Der Flughafenund sein gesamtes Umfeld können zu einer echten Job-Maschine werden – undzwar nicht nur im Bereich der Luftfahrt, sondern auch bei Logistik, Dienstleis-tungen und anderen Branchen. 40.000 Arbeitsplätze werden hier entstehen, vondenen am Ende das ganze Land profitiert. Das zweite Projekt vereint Branden-burgs Traditionen mit der Zukunft. Unser Land ist nicht nur im sprichwörtli-chen Sinne ein Land voller Energie. Seit dem 19. Jahrhundert wird in der LausitzKohle abgebaut. Energie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen wird eine derprägenden Wirtschaftszweige des 21. Jahrhunderts werden – und Brandenburgkann dabei ganz vorne mit dabei sein. Brandenburg ist schon heute Spitze beiden erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne. In der Lausitz steht das ersteKohlekraftwerk, bei dem das klimaschädliche CO2 abgespalten und gespeichertwird. Mit dem ersten sogenannten Hybridkraftwerk gelingt es in der Ucker-mark, Windenergie zu speichern. Ein Drittel aller in Deutschland hergestelltenSolarzellen kommen aus unserem Bundesland. Das alles sind moderne und zu-kunftsfähige Technologien „Made in Brandenburg“. Bereits heute hängen vieletausende Jobs an der Erforschung, Entwicklung und Produktion von Energie.Brandenburg hat deshalb die besten Voraussetzungen, auch in Zukunft einLand voller Energie zu sein.

ZWEITENS: BILDUNG VERBESSERN. In der Krise dürfen wir das Wesentlichenicht aus den Augen verlieren. Dies ist und bleibt die Bildung. Denn gute Lebens-chancen für alle lassen sich nur mit bester Bildung von Anfang an realisieren. Dazubrauchen wir gute Kitas, gute Schulen, gute Berufs- und Hochschulen, motivierteLehrkräfte, Kinder und Jugendliche sowie engagierte Eltern.

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günter baaske – ein pakt für brandenburg

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Wir wollen in den kommenden fünf Jahren zusätzliche 250 Millionen Euro in das Bildungssystem investieren. Damit wollen wir die Qualität der Kitas weiterverbessern, indem unter anderem die Gruppengrößen bei den Kleinsten sinken.Wir wollen 1.250 neue Lehrerinnen und Lehrer einstellen, Unterrichtsausfallreduzieren und die Lehrerausbildung verstärken. Besonders wichtig ist mir, dasswir die Durchlässigkeit unseres Schulsystems verbessern. Bildung darf nicht vomGeldbeutel der Eltern abhängen. Deshalb wollen wir ein Schüler-Bafög einfüh-ren, damit es Kindern aus einkommensschwachen Haushalten einfacher haben,Abitur zu machen und zu studieren. Vor allem aber garantieren wir, dass es mitder SPD keine Studiengebühren in Brandenburg geben wird. All dies wird zumehr Gerechtigkeit in der Bildung beitragen – und damit letztendlich auch zubesseren Leistungen und mehr Chancen für alle. Damit stellen wir neue Leiternauf, die zu mehr sozialen Aufstieg führen sollen.

Warum wir auf Solidarität angewiesen sind

DRITTENS: FAMILIEN UNTERSTÜTZEN. Familien sind die Keimzelle unserer Gesell-schaft. Wer den Zusammenhalt unseres Landes stärken will, muss deshalb auchFamilien stärken. Dafür müssen viele zusammenarbeiten: Eltern, Großeltern,Hebammen, Ärzte, Kitas, Schulen, Kommunen, Verwaltungen, Unternehmen –und natürlich auch Nachbarn. Für unsere Kinder brauchen wir eine Kultur desHinschauens – deshalb sollen die erfolgreichen „Netzwerke Gesunde Kinder“ imganzen Land entstehen. „Lokale Bündnisse für Familie“ können für ein familien-freundliches Klima in der Kommune sorgen, können dazu beitragen, dass derNahverkehr besser organisiert oder Öffnungszeiten für Kitas verlängert werden.Unser Ziel ist, dass Brandenburg eines der familien- und kinderfreundlichstenLänder in Deutschland wird. Viel haben wir dafür bereits erreicht. So ist unserKinderbetreuungssystem eines der besten in Deutschland und erleichtert dieVereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber es soll weiter gehen: Wir wollen einKindergesundheits- und Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen, wir wollen dieEltern-Kind-Zentren ausbauen. Der Lärm spielender Kinder soll kein Grundmehr sein, um Kitas oder Spielplätze schließen zu können.

Es geht aber nicht nur um Kinder, denn zur Familie gehören auch unsereSenioren. Wir werden alle älter – und das ist auch gut so. Ältere Menschen lebenund lieben vielleicht anders, ausgegrenzt oder abgeschoben werden dürfen sienicht. Politik für Senioren ist deshalb auch nicht Aufgabe eines Ministeriums,sondern muss Richtschnur für die ganze Regierung sein. Es geht darum, die

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Erfahrungen älterer Menschen zu nutzen – sei es im Betrieb, in der Kommuneoder in Schulen. Wir müssen Lebensräume so gestalten, dass ältere Menschen solange wie möglich in ihrem vertrauten Umfeld wohnen können.

UND VIERTENS: SOLIDARITÄT STÄRKEN. In der Krise suchen Menschen nachAnkern – das kann die Familie sein oder die individuelle Heimat. Auf etwas müs-sen alle jedoch vertrauen können: auf Solidarität und Miteinander. Gerade inschwierigen Zeiten ist es wichtig, sich nicht auseinander dividieren zu lassen.Deshalb legen wir Sozialdemokraten besonderen Wert auf den Zusammenhaltunseres Landes. Wir haben bereits für mehr Gerechtigkeit gesorgt, unter anderemmit dem Schulsozialfonds, dem Mobilitätsticket für Geringverdiener und Arbeits-lose sowie dem Seniorenticket. Ganz wesentlich ist ein kommunaler Finanzaus-gleich, der garantiert, dass die Erfolge wirtschaftlicher Entwicklung überall imLand spürbar sind. Es muss das Grundprinzip gelten: Starke Schultern könnenmehr tragen als schwache. Wir wissen, dass wir unserem Ziel gleichwertigerLebensverhältnisse in allen Regionen nicht mit einheitlichen Konzepten näherkommen. Zu unterschiedlich sind die verschiedenen Regionen, zu verschiedenensind die wirtschaftlichen Entwicklungen, zu mannigfaltig die demografischenVeränderungen. Deshalb brauchen wir vor Ort viele gute Ideen und die Tatkraftaller – auf manches Experiment sollten wir uns dabei einlassen, denn nicht alleskann zentral gesteuert werden.

Der neuen Generation soll es besser gehen

Aus diesen vier Punkten wollen wir einen „Zukunftspakt für Brandenburg“ schmie-den. Mit einem solchen Pakt wollen wir mehr soziale Gerechtigkeit erreichen unddie arbeitende Mitte unserer Gesellschaft absichern, wollen wir die soziale Markt-wirtschaft erneuern und unsere Unternehmen für den gesellschaftlichen Wohlstandin Brandenburg in die Verantwortung nehmen.

Für einen solchen „Brandenburg-Pakt“ brauchen wir Partner. Dies sind zumeinen all diejenigen, die morgens aufstehen, sich um ihre Familien kümmern,arbeiten und an die Regeln halten. Es sind die ehrenamtlich Engagierten, die imSport, in der Kultur oder bei der Unterstützung von Familien so viel Wertvollesfür den Zusammenhalt unseres Landes leisten. Es sind die Gewerkschaften, diewir brauchen, weil nur starke Gewerkschaften gute Löhne und vernünftige Wei-terbildung garantieren können. Und es sind die Unternehmerinnen und Unter-nehmer, die ihre soziale Verantwortung gerade in schwierigen Zeiten kennen, diesich aktiv um die Qualifizierung ihrer Mitarbeiter kümmern, die sich vor Ort in

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günter baaske – ein pakt für brandenburg

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den Schulen engagieren und die mit „guter Arbeit“ für Fairness und Qualität vonArbeitsbedingungen stehen. Sie alle werden wir zusammenbringen, damit es ineinem kraftvollen Brandenburg auch im neuen Jahrzehnt solidarisch und gerechtzugeht. Unser zentrales Ziel ist es, soziale Ungleichheit in Brandenburg einzu-dämmen. 2007 ist erstmals in Ostdeutschland das Armutsrisiko gesunken unddie Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter aufgegangen. Das ist ein Anfang.Wir wollen, dass sich dieser Trend fortsetzt. Wir wissen, dass ist ein ehrgeizigesZiel, aber es lohnt sich, dafür zu kämpfen.

Am 27. September wählen zum ersten Mal junge Brandenburger ihren Land-tag, die nach der Friedlichen Revolution von 1989 geboren wurden. Eine neueGeneration tritt an, die Dinge in unserem Land mitzugestalten. Wir wollen, dasses diesen jungen Menschen und ihren Kindern besser geht als ihrer Elterngene-ration. Dass sie sich auf eine erneuerte soziale Marktwirtschaft stützen können,die den Rahmen für gute Arbeits- und Lebensbedingungen schafft. Und dass sieauf einen vorsorgenden Sozialstaat bauen können, der Arbeitsplätze sichert, derfür gute Bildung und Ausbildung sorgt, Familien unterstützt und sich um ihreGesundheit kümmert. Hier bei uns in Brandenburg. �

G Ü N T E R B A A S K E

ist Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg. Im Auftrag des Landesvorstandes hat er das Wahlprogramm

der SPD für die Landtagswahl 2009 erarbeitet.

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Innerhalb nur eines Jahres haben sichdie gesamtwirtschaftlichen und fi-

nanzpolitischen Rahmenbedingungengrundlegend geändert. Ein so abrupterUmschwung ist bislang historisch ohneBeispiel – allenfalls die Weltwirt-schaftskrise nach dem Bankenkrachvon 1929 wird oftmals als tauglicherVergleich herangezogen. Zwar hat diegegenwärtige Krise in den USA ihrenUrsprung, was auf dramatische Weisedurch den Kollaps der InvestmentbankLehman Brothers im vergangenen Sep-tember versinnbildlicht wurde. Dochzeigte sich sehr schnell, dass alle Hoff-nungen, die Auswirkungen der Kriseließen sich entweder regional oderbranchenspezifisch – auf den Finanz-sektor – begrenzen, auf einem Trug-schluss beruhten. In den stark vernetz-ten Wirtschafts- und Finanzkreisläufender globalisierten Wirtschaft breitetensich die Folgen des Wall Street-Crashswie Schockwellen aus.

Mittlerweile steht fest, dass sich dieAuswirkungen der Finanzmarktkrisenur bedingt regional und sektoral ein-

grenzen lassen und dass sie auch involler Breite die Realwirtschaft er-reicht haben. Allenfalls das Ausmaßder Betroffenheit ist von Land zuLand unterschiedlich. Und sehrunterschiedlich sind ebenso die Mög-lichkeiten der einzelnen Staaten, aufdie Krise zu reagieren. ZusätzlicheBrisanz erhält die Entwicklung da-durch, dass sich in ihr finanzwirt-schaftliche, konjunkturelle und struk-turelle Krisenfaktoren vermengen undteilweise gegenseitig verstärken. So istdie Finanzkrise auch zum Katalysatorfür Krisenprozesse geworden, dereneigentliche Ursachen eher in einer verfehlten Geschäfts- und Modellpo-litik und damit in falschen Unterneh-mensentscheidungen zu suchen sind.Dass benzinhungrige Auto-Dino-saurier nahezu unverkäuflich gewor-den sind, hat eben nicht ursächlichmit dem Zusammenbruch der Fi-nanzmärkte zu tun, sondern deutetesich angesichts eines gewandeltenVerbraucherverhaltens und steigenderÖlpreise schon seit Jahren an. So

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

Brandenburg und die FinanzkriseWARUM KONSOLIDIERUNGSKURS UND KONJUNKTURPOLITIK

KEIN WIDERSPRUCH SIND

VON RAINER SPEER

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wird die Finanzkrise nun unvermeid-lich eine Restrukturierung und An-passung wichtiger Industriezweige mitsich bringen, die auch ohne diese Kri-se längst überfällig gewesen wäre.

Erklärungsnotstand beim DIW

So plötzlich und dramatisch – wennauch, wie wir heute wissen, nicht ganzunerwartet – die Krise kam, so unge-wiss ist der Ausblick auf die Zukunft.Ich neige dazu, alle Prognosen derzeitmit größter Skepsis zu betrachten.Immerhin hat sich selbst das DeutscheInstitut für Wirtschaftsforschung(DIW) entschieden, für 2010 über-haupt keine Konjunkturprognosemehr vorzulegen. Die Makroöko-nomie befinde sich in einem „Er-klärungsnotstand“, sagte DIW-Prä-sident Klaus F. Zimmermann zurBegründung. Alle Vorhersagen liefenderzeit der tatsächlichen Entwicklung„drastisch hinterher“. Insofern sei einePrognose „nicht sinnvoll“.

Ein Rückblick auf verschiedeneEinschätzungen der erwarteten wirt-schaftlichen Entwicklung zeigt, dassdiese neue Zurückhaltung der For-scherzunft gute Gründe für sich rekla-mieren kann. Noch vor einem Jahr,also im Frühjahr 2008, kam dasGemeinschaftsgutachten der „Wirt-schaftsweisen“ für die Bundesregie-rung zu positiven Vorhersagen. Da-nach sollte die deutsche Wirtschaft im

Jahr 2009 um 1,4 Prozent und im Jahr2010 um 1,6 Prozent wachsen. DieAuswirkungen der sich in den USAbereits deutlich abzeichnenden Fi-nanzmarktkrise hielten Experten da-mals allgemein für eher überschaubarund nicht wirklich gravierend. Diesänderte sich erst, als das alte Wall-Street-Regime im September 2008 im Gefolge der Lehman-Pleite fastvollständig kollabierte. Seitdem wur-den die Prognosen beständig nachunten korrigiert. So kam die Bundes-regierung in ihrem Jahreswirtschafts-bericht im Januar 2009 zu einer deutlich verschlechterten Wachstums-annahme für 2009 von minus 2,25Prozent. Als jedoch die DeutscheBank nur einen Monat später für2009 einen erheblichen Abschwungvon minus 5 Prozent prognostizierte,sah sie sich dem Vorwurf der dras-tischen Schwarzmalerei ausgesetzt.Doch auch darüber ist die Zeit mitt-lerweise hinweggegangen. Nur kurzdanach kamen die ein Jahr zuvorzuversichtlichen Wirtschaftsweisen inihrem jüngsten Gemeinschaftsgut-achten zu dem Ergebnis, das Wirt-schaftswachstum werde im aktuellenJahr sogar minus 6 Prozent betragen.

Diese Zahl hat sich auch die Bun-desregierung zu Eigen gemacht, sieliegt auch den Annahmen der Mai-Steuerschätzung 2009 zugrunde. Träfediese Annahme zu, dann handelte essich um den mit Abstand tiefsten wirt-

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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schaftlichen Einbruch in der Ge-schichte der Bundesrepublik. Jedochsollte man auch diese Zahl eher alsgegriffene Arbeitshypothese betrach-ten. Sie spiegelt wider, dass fast allewirtschaftlichen Indikatoren seit demletzten Herbst deutlich ins Negativegedreht haben. Ob die Wirtschaft je-doch in diesem Jahr wirklich um 6Prozent oder nur um vier oder mög-licherweise sogar noch stärker alsangenommen schrumpft, kann derzeitniemand mit Gewissheit sagen. Nochnie war die Unsicherheit so groß wieheute. Daher betrachte ich auch diejüngsten Schätzungen lediglich alsMomentaufnahme. Im Moment glau-be ich gar keinen Prognosen mehr.Die Wirtschaftswissenschaftler tappenderzeit fast so blind durch die wirt-schaftliche Umgebung wie der nor-male Bürger, der sich plötzlich be-sorgt fragt, was seine Geldanlage beieiner deutschen Bank eigentlich mitirgendwelchen Subprime-Krediten anHausbesitzer in Indianapolis zu tunhat, von denen er zuvor noch nieetwas gehört hatte.

Kein „Ostvorteil“ in der Krise

Doch kommt es auf die Präzision wirt-schaftlicher Prognosen derzeit auch garnicht an. Es ist offensichtlich, dass dieKrise auch in Deutschland sowohl dieFinanz- als auch die Realwirtschaft involler Breite erreicht hat. Politik und

Wirtschaft sehen sich einer ganz unge-wöhnlichen Situation gegenüber, auf diemit ebenso ungewöhnlichen und nochvor einiger Zeit fast undenkbaren Mit-teln reagiert wird. Im verarbeitendenGewerbe betragen die Auftragseingängein Deutschland seit dem letzten Herbstzwischen 20 und 40 Prozent des jeweili-gen Vorjahresmonats. Der bisherigeTiefpunkt war um die Jahreswende er-reicht, im laufenden Jahr verläuft derRückgang der Auftragseingänge bishergedämpft. Dem korrespondiert dieEinschätzung der aktuellen Geschäfts-lage durch die Wirtschaft selbst, die imIfo-Geschäftsklimaindex ermittelt wird.Auch hier wurde der Tiefstand im letz-ten Dezember erreicht, seit April steigendie Geschäftserwartungen wieder leicht.Es liegt auf der Hand, dass diese Ent-wicklung trotz aller arbeitsmarktpoliti-schen Maßnahmen wie zum Beispiel derdeutlichen Verlängerung der Kurzarbeitnicht am Arbeitsmarkt vorbeigehenkann. Die Erwartung, dass die Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt der Kon-junktur mit einiger Verzögerung folgenwerde, hat sich bestätigt. Im September2008 betrug die deutsche Arbeitslosen-quote 7,4 Prozent, im April 2009 bereits8,6 Prozent. Die aktuell vorliegendenPrognosen geben keine Entwarnung.

Es wäre unrealistisch anzunehmen,dass Brandenburg sich von diesen Ent-wicklungen abkoppeln könnte. Dazuist kein Land in der Lange. Branden-burg ist keine Insel. Zwar gab es eine

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rainer speer – brandenburg und die finanzkrise

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Debatte darüber, ob die ostdeutschenLänder besser in der Lage sein würden,die Folgen der Wirtschaftskrise abzufe-dern, weil ihre Exportabhängigkeitdeutlich geringer ist als die der wirt-schaftsstarken Länder in Westdeutsch-land. Doch erscheint es äußerst frag-lich, ob dies wirklich ein Grund zurBeruhigung sein kann. Denn in dergeringeren Exportabhängigkeit spiegeltsich auch eine fortdauernde Schwächeder ostdeutschen Wirtschaft wider.Ostdeutschland hat seine wirtschaftli-che Basis in den letzten Jahren zwarstärken können, sie ist aber wegenihrer mangelnden Breite und Stabilitätnach wie vor verletzlicher und anfälli-ger gegen Kriseneinflüsse als die Wirt-schaftsstrukturen im Westen. Zudemist der Exportanteil der ostdeutschenWirtschaft in den letzten Jahren eben-falls deutlich gestiegen, in Brandenburgwird mittlerweile jeder vierte Euro imverarbeitenden Gewerbe im Export-geschäft verdient. Die Integration inden Weltmarkt ist also im Osten deut-lich gestiegen. Umgekehrt gilt auch:Wenn sich die Weltwirtschaft erholt,werden es zuerst die besonders starkexportorientierten Sektoren der Wirt-schaft sein, die davon dann profitierenwerden – diese befinden sich überwie-gend im Westen. Durchaus möglich istalso, dass entsprechende wirtschaftlicheErholungstendenzen auch erst mit Ver-zögerung im Osten ankommen. In dergegenwärtigen Krise spricht aus meiner

Sicht jedenfalls nicht viel für einen spe-zifischen „Ostvorteil“, der von man-chen gesehen wird.

Auf Sicht fahren

Deshalb ist es auch keine Überra-schung, dass die wirtschaftliche Ent-wicklung in Brandenburg im Wesent-lichen den allgemeinen Trends folgt.Noch im letzten Herbst war die Um-satzentwicklung klar nach oben gerich-tet. Im September stieg der Umsatz imverarbeitenden Gewerbe kräftig um 8,5Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aberschon zum Jahresanfang 2009 warendie Spuren der Krise auch in Branden-burg deutlich zu erkennen: Im Fe-bruar war ein erheblicher Umsatz-rückgang um 19,7 Prozent gegenüberdem Vorjahr im verarbeitenden Ge-werbe zu verzeichnen. Die Arbeitslosig-keit stieg von 12,1 Prozent im letztenSeptember auf 13,2 Prozent im April2009. Dabei muss in Rechnung gestelltwerden, dass die Folgen der Krise nochnicht mit voller Wucht auf den Arbeits-markt durchschlagen, und insbesonde-re die staatlich geförderte Kurzarbeitzur Stabilisierung auf dem Arbeitsmarktbeiträgt. So besteht insgesamt keinZweifel, dass die Folgen der weltweitenFinanz- und Wirtschaftskrise die er-folgreiche Entwicklung von Wirtschaftund Arbeitsmarkt in Brandenburg inden letzten Jahren zumindest vorüber-gehend gestoppt und die wirtschaftli-

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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che Aufholjagd gegenüber dem Westenzum Erliegen gebracht haben.

Eine Wiederaufnahme der günstigenEntwicklung der letzten Jahre liegtdaher auch nicht in der Hand desLandes Brandenburgs allein, sondernist abhängig von einer grundlegendenBesserung der gesamtwirtschaftlichenRahmenbedingungen. Die Konjunk-turprognose der Bundesregierung gehtim nächsten Jahr noch von einemRückgang des Wirtschaftswachstums in Deutschland um 0,5 Prozent aus. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sichdie globale Wirtschaftskrise weiter ver-schärft – denn nach wie vor ist erst inTeilen klar, welcher „Giftmüll“ sich inden Katakomben des Weltfinanzsys-tems angesammelt hat. Weitere böseÜberraschungen sind deshalb nichtausgeschlossen und hinter der Immo-bilienmarktkrise und dem Subprime-Desaster in den USA lauert bereits dieKreditkarten-Blase. Statt also in jederetwas günstigeren Umsatzentwicklungoder Geschäftserwartung bereits denrettenden Silberstreif am Horizont zuerkennen, scheint es mir angesichts derbeispiellosen Tiefe und Wucht dergegenwärtigen Krise ratsam zu sein,finanzpolitisch „auf Sicht zu fahren“.

Weil die tatsächlichen Zusammen-hänge schwer zu durchschauen sind, ist neuerdings wieder die ökonomischeLaienweisheit zu Ehren gekommen,wonach „50 Prozent der WirtschaftPsychologie“ sei. Nun spielen Stim-

mungen und Erwartungen zwar tat-sächlich eine wichtige Rolle im Wirt-schaftsleben – neben ihrer materiellenWirkung sollen die beschlossenen Kon-junkturpakete nicht zuletzt in diesemBereich gezielte Anreize setzen. Aberden Leuten ernsthaft einreden zu wol-len, die Ursachen und Folgen der Kriseließen sich allein mit guter Laune undZweckoptimismus beseitigen und be-wältigen, ist Unfug. Wohl eher ist es ander Zeit für klare Worte und bittereWahrheiten – denn Risiken schöngere-det und das Blaue vom Himmel ver-sprochen wurde vor Ausbruch der Krisevon den Organisatoren des weltweitenFinanzkasinos mehr als genug.

Sein und Bewusstsein

Viele, die noch vor kurzem vor Kraftkaum laufen konnten, sind nun sehrkleinlaut geworden. Das ist verständlich:Denn während der Staat im vergange-nen Jahrzehnt von den Vertretern undFunktionären der Wirtschaft beständigmit scharfen Worten und strenger Mineermahnt wurde, ja seine Finger aus derWirtschaft zu lassen und statt dessenlieber seine eigenen Ausgaben deutlichzurückzuführen, können denselbenAkteuren staatliche Konjunkturpro-gramme, Bürgschaften, Beihilfen undGarantien heute gar nicht groß genugausfallen, um sie vor dem drohendenUntergang zu retten. Das gesellschaftli-che Sein bestimmt das Bewusstsein,

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rainer speer – brandenburg und die finanzkrise

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bemerkte dazu vor längerer Zeit einmalein deutscher Philosoph offenbar nichtganz zu Unrecht.

Insofern stellt sich in der Krise dieFrage nach der Handlungs- und Leis-tungsfähigkeit des Staates neu. Diesbetrifft auch unser Land. Auch einezurückhaltende Bewertung muss aner-kennen, dass sich die wirtschaftlicheEntwicklung Brandenburgs in den letz-ten Jahren durchaus günstig gestaltethat. Brandenburg war seit der Wendewirtschaftlich noch nie besser aufgestelltals heute. Das Land konnte mit An-siedlungserfolgen punkten, die die wirt-schaftliche Basis vor allem in zukunfts-trächtigen Branchen wie zum Beispielder Solarindustrie verbreiterten. Derneue Flughafen BBI als größtes Infra-strukturprojekt in Ostdeutschlandnimmt Gestalt an. Die Umsteuerung derWirtschaftsförderung nach dem Prinzip„Stärken stärken“ war zwar im Landumstritten, erwies sich aber in der Praxisals richtig. Das Land unterstützt denwirtschaftlichen Entwicklungsprozessmit einer klaren Schwerpunktsetzung inden Bereichen Wirtschaft und Innova-tion, Wissenschaft und Forschung sowieBildung.

Gute Jahre genutzt

Der Beitrag des Landes kommt u.a. ineiner anhaltend hohen Investitions-quote zum Ausdruck, die zwar leichtabsinkt, im Jahr 2008 aber immer

noch 16,3 Prozent und damit deutlichmehr als in den westdeutschen Län-dern betrug. Größere Rückschläge blie-ben in den vergangenen Jahren aus,Brandenburg konnte das ohnehinnicht gerechtfertigte Image als „Landder gescheiterten Großprojekte“ auchin der veröffentlichten Meinung erfolg-reich hinter sich lassen. Diese positivenTrends schlugen sich auch auf demArbeitsmarkt nieder: Die Arbeitslosen-quote sank von 18,7 Prozent im Jahr2004 auf 13 Prozent im Jahr 2008.Diese günstige Entwicklung dürfte diereale Basis für die durchaus optimisti-schen Einschätzungen in der branden-burgischen Bevölkerung sein, die eineInfratest-Umfrage Anfang 2009 ermit-telte: Danach sahen 67 Prozent derBrandenburger ihrer persönlichen Zu-kunft „eher optimistisch“ entgegen; 73Prozent waren der Meinung, es gibtzwar Probleme in Brandenburg, aber„wir schaffen das schon“. Wie immerman diese Zahlen im Einzelnen bewer-ten mag, vorhanden ist jedenfalls derverbreitete Eindruck, dass Branden-burg die letzten Jahre gut genutzt undsich insgesamt in die richtige Richtungentwickelt hat.

Dasselbe gilt für die Entwicklungdes Landeshaushalts. Er schwankt imVolumen jeweils um die 10 MilliardenEuro-Marke. Noch 2003 hatte dasLand knapp 1,2 Milliarden Euro neueSchulden aufgenommen. Die Rück-führung dieser hohen Neuverschul-

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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dung und die Begrenzung der Gesamt-verschuldung war damit eine der wich-tigsten Herausforderungen, der sich dieneue Landesregierung 2004 zu stellenhatte, um haushaltspolitische Stabilitätzu erreichen. Dabei spielt nicht nur dieoft angeführte Verlagerung der Lastenauf die kommenden Generationen eineRolle. Vielmehr engt die hohe Ver-schuldung die Möglichkeiten desLandes schon jetzt Jahr für Jahr ein.Zinszahlungen von gut 800 MillionenEuro im Jahr machen die Größenord-nung der Belastung angesichts desgenannten Haushaltsvolumens sehrdeutlich. Eine weitere Erhöhung kön-nen wir nicht verantworten. Das Zielzu Beginn der Legislaturperiode war,die Neuverschuldung in deutlichenSchritten zu reduzieren und im Jahr2010 erstmals einen ausgeglichenenLandeshaushalt zu erreichen. Auf die-ser Grundlage gingen wir 2004 davonaus, dass die GesamtverschuldungBrandenburgs am Ende der Wahlpe-riode die 20 Milliarden Euro-Grenzeüberschreiten würde.

Haushaltsziele vorfristig erreicht

Die Kombination von günstiger Kon-junktur, konsequentem Konsolidie-rungskurs und einer zurückhaltendenAusgabenpolitik haben es ermöglicht,diese Ziele schneller zu erreichen alsursprünglich angenommen. Die Kre-ditlinien wurden schon 2005 und

2006 jeweils deutlich unterschritten,im Jahr 2007 hatte Brandenburg erst-mals in seiner Geschichte einen ausge-glichenen Landeshaushalt und erwirt-schaftete sogar einen nennenswertenÜberschuss von 400 Millionen Euro.Auch 2008 gelang es, einen Überschuss– diesmal in Höhe von 147 MillionenEuro – zu erzielen. Dies ermöglichte es,die Gesamtverschuldung bei 18 Milliar-den Euro zu stabilisieren.

Natürlich ist es richtig, dass Branden-burg ebenso wie der Bund und die ande-ren Länder dabei von kräftigem kon-junkturellen Rückenwind profitierenkonnte. Ebenso richtig ist aber, dass dasLand der Versuchung widerstanden hat,die neu gewonnenen Spielräume durcheine expansive Ausgabenpolitik gleichwieder aufs Spiel zu setzen. Das Landhat die Chancen der guten Jahre ge-nutzt. Der Haushaltsüberschuss desJahres 2007 wird verwendet, um denVersorgungsfonds des Landes zu speisen.Er dient der Finanzierung der in dennächsten Jahren deutlich ansteigendenVersorgungsleistungen für Beamte undRichter. Dies ist ein Beitrag zur voraus-schauenden finanzpolitischen Vorsorge.Auch der Überschuss aus 2008 wurdezurückgelegt und nicht auf den Kopfgehauen. Er dient als „Konjunkturre-serve“, die wir angesichts der aktuellenkrisenhaften Entwicklung dringend be-nötigen werden.

Gleichzeitig wurde in den vergange-nen Jahren die Konsolidierung des

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rainer speer – brandenburg und die finanzkrise

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Haushalts strukturell fortgesetzt. DieseNotwendigkeit besteht konjunkturun-abhängig. Die mittelfristigen Entwick-lungstrends begründen den Zwang zurHaushaltskonsolidierung. So gehen wirdavon aus, dass das Haushaltsvolumendes Landes bis 2020 von heute rund10 Milliarden Euro auf dann nochrund 7,8 Milliarden Euro (in heutigenPreisen) absinken wird. Die wesentli-chen Gründe dafür sind: Die Einnah-men aus dem Solidarpakt II, die imletzten Jahr noch knapp 1,5 MilliardenEuro betrugen, werden bis dahinSchritt für Schritt abgeschmolzen unddann ganz entfallen. Auch ist es un-wahrscheinlich, dass Brandenburg imJahr 2020 noch nennenswerte Zah-lungen von der EU erhalten wird. Dasist durchaus kein Grund zur Klage,spiegelt sich darin doch die wachsendewirtschaftliche Stärke des Landeswider. Haushaltspolitisch muss mansich darauf jedoch rechtzeitig einstel-len. Im selben Zeitraum wird die bran-denburgische Bevölkerung abnehmen,was einerseits direkte Auswirkungenauf den Länderfinanzausgleich hat,andererseits insbesondere zu einemdeutlichen Rückgang der Bevölkerungim erwerbsfähigen Alter (16 bis 65bzw. 67 Jahre) führen wird.

Trotz des geringeren Haushaltsvolu-mens werden bestimmte Ausgabeposi-tionen des Haushalts ansteigen. EinBeispiel sind die bereits erwähntenVersorgungsleistungen. Im Jahr 2005

hatte Brandenburg rund 1.000 pensio-nierte Beamte zu versorgen. 2010 wer-den es etwa 7.000 sein und im Jahr2020 bereits 20.000. Diese Entwick-lung ergibt sich aus der Zahl der ge-genwärtig aktiven Beamten. Das Landmuss einerseits dafür Vorsorge treffen,dass diese Versorgungslasten getragenwerden können. Andererseits muss derPersonalbestand – Lehrer, Polizisten,Richter, Finanzbeamte usw. – so ange-passt werden, dass die notwendigenöffentlichen Aufgaben erledigt, diePersonalkosten aber auch dauerhaftgezahlt werden können. Es geht hiernicht allein um Personalabbau.

Umbau ist weiter nötig

Notwendig ist vielmehr die Fortsetzungdes Umbaus und der Modernisierungder Landesverwaltung insgesamt. Dennes ist nach wie vor so, dass Brandenburgim Vergleich zu anderen Ländern nichtüber zu wenig, sondern über zu vielPersonal verfügt – dies trifft im Verhält-nis zur Bevölkerung bzw. zu den Kin-dern im schulfähigem Alter auch für Po-lizisten und Lehrer zu. Das Problem istmitunter, dass das an sich vorhandenePersonal nicht dort verfügbar ist, wo esauch benötigt wird. Mit einem beson-deren Tarifvertrag zum Verwaltungs-umbau setzt das Land seit 2008 gezielteund attraktive Anreize zur Förderungvon Flexibilität und Mobilität im Lan-desdienst in ganz Brandenburg.

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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Rund ein Viertel des Haushalts ent-fallen heute auf Personalausgaben. ImJahr 2003 verfügte Brandenburg über61.000 Stellen im Landesdienst. 2008waren es noch 53.900 Stellen. Nachder beschlossenen Personalbedarfs-planung der Landesregierung soll derPersonalbestand bis Ende 2012 auf47.800 Stellen weiter zurückgeführtwerden. Das Land hat in den letztenJahren den Abbau von Personalüber-hängen konsequent betrieben. Dabeierfolgte der Abbau durchweg sozialver-träglich. Auf betriebsbedingte Kündi-gungen wurde verzichtet – ein nichtunwichtiger Unterschied zur verbreite-ten Praxis in der privaten Wirtschaft.Dies soll auch in Zukunft so bleiben.Mittelfristig, etwa bis zum Jahr 2020,halte ich einen Personalbestand von40.000 Stellen für notwendig und aus-reichend. Damit wäre eine Pro-Kopf-Personalausstattung erreicht, wie sietypische Vergleichsländer wie etwaSchleswig-Holstein schon heute haben.Von dort sind bislang noch keineInformationen bekannt geworden,wonach mit einer derartigen Personal-ausstattung die Erledigung der öffentli-chen Aufgaben zusammengebrochenwäre. Stattdessen gehen auch dort dieKinder in die Schule, wird in denGerichten täglich Recht gesprochenund werden von der Polizei Straftatenaufgeklärt. Die Wirklichkeit demen-tiert also täglich jene, die jeden weite-ren Schritt auf dem Weg zu einer dau-

erhaft tragfähigen PersonalausstattungBrandenburgs mit immer neuen Zu-sammenbruchsszenarien für den öffent-lichen Dienst begleiten.

Gut gerüstet, aber nicht krisenfest

Brandenburg geht finanzpolitisch ver-gleichsweise gut gerüstet in die derzeitigeFinanz- und Wirtschaftskrise. Wirhaben zwei Mal hintereinander einenausgeglichenen Haushalt erreicht, wirhaben die Gesamtverschuldung begrenztund die Ausgaben wirksam gedämpft.Bemerkenswert ist, dass der Anteil derSteuereinnahmen an den Gesamteinnah-men des Landes im letzten Jahr auf fast54 Prozent und damit einen bisherigenHöchststand gestiegen ist. Das heißt, dieAbhängigkeit des Landes von ZahlungenDritter (Bund, EU, Länderfinanzaus-gleich) nimmt ab, bleibt aber gleichwohlerheblich. Ich halte die Einschätzung fürvertretbar, dass sich der LandeshaushaltBrandenburgs noch nie in einer so stabi-len und soliden Verfassung befundenhat wie heute. Das ist ein Erfolg. Fi-nanzpolitische Stabilität ist auch einStandortfaktor. Einen auch dauerhaftund strukturell ausgeglichen Haushalt zuerreichen, steht aber weiterhin aus. Kei-nesfalls kann davon gesprochen werden,dass die erfolgreiche Konsolidierungspo-litik der vergangenen Jahre dazu geführthat, dass der Landeshaushalt „krisenfest“oder „krisenresistent“ geworden wäre.Die Auswirkungen der Krise drohen

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vielmehr das Erreichte zu gefährden.Auch für Brandenburg steht viel aufdem Spiel. Finanzpolitisch kann sich dasLand der wirtschaftlichen Rezession undder damit einhergehenden Erosion derEinnahmen des Staates nicht entziehen.

Das landesseitige Risikopotenzial istdabei geringer als in anderen Ländern.Brandenburg hat keine Landesbankgegründet und ist auch an keiner betei-ligt. Die Begründung war damals schonso schlicht und zutreffend wie heute:Brandenburg braucht keine Landesbank.Insofern geht der Kelch der milliarden-schweren Rettungsoperationen für eineaus dem Ruder gelaufene Landesbank anBrandenburg erfreulicherweise vorüber.Die ILB als reine Förderbank ist stabilaufgestellt: Sie konnte auch 2008 einpositives Jahresergebnis erzielen und istin der Lage, die brandenburgische Wirt-schaft inmitten der Krise in diesem Jahrnoch stärker zu unterstützen. Die ILBerreichte eines ihrer bislang besten Jah-resergebnisse. Das Land Brandenburgund seine Kommunen sind auch nichtin zweifelhafte Cross-Border-Leasing-Geschäfte involviert.

Krise schlägt auf Haushalt durch

Auf der anderen Seite wird das Landdie Krisenfolgen direkt und indirekt zuspüren bekommen – und zwar direktdurch die Auswirkungen auf die regio-nale Wirtschaft und das eigene Steuer-aufkommen. Und indirekt über die

gesamtwirtschaftliche Entwicklung inDeutschland. Hier sitzen letztlichdurch die Bund-Länder-Finanzbe-ziehungen und den Länderfinanzaus-gleich alle in einem Boot. Dies relati-viert auch die Bedeutung der zuvorangesprochenen Debatte darüber, obder Osten stärker oder schwächer vonder Rezession betroffen sein wird.Nach der Mai-Steuerschätzung musssich Brandenburg auf erhebliche Steuer-ausfälle in den kommenden Jahren ein-stellen. Diese könnten im laufenden Jahrdeutlich über 400 Millionen Euro ge-genüber den Ansätzen des Haushaltsbetragen, für 2010 sind sogar über 600Millionen Euro niedrigere Einnahmenals erwartet vorausgesagt. Auch wenn essich hierbei noch um Prognosen han-delt, deren Eintreffen abzuwarten bleibt,ist der Einbruch der Steuereinnahmendurch die Wirtschaftskrise schon jetztnachweisbar: So lagen die Steuerein-nahmen des Landes Ende Mai 2009 be-reits rund 7,4 Prozent unter denen desVorjahreszeitraums. Die Krise wird tiefeSpuren in den öffentlichen Haushaltenhinterlassen. Dies steht bei aller Unge-wissheit der zukünftigen Entwicklungbereits jetzt fest. Deshalb passt es auchnicht zur jetzigen Situation, durch dasVersprechen weiterer Steuersenkungendie materielle Grundlage der staatlichenHandlungsfähigkeit künftig weiter zuschwächen.

Kein Landeshaushalt ist in seinerStruktur so elastisch, dass er derartige

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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Einbrüche der Einnahmen einfach„wegstecken“ könnte. Ein Großteil derAusgaben ist gesetzlich oder vertraglichfestgeschrieben, der „flexible“ Teil istvergleichsweise gering. Insofern gehenForderungen, die zurückgehenden Ein-nahmen durch eine entschlossene Ver-schärfung des Konsolidierungskurses„einzusparen“ an den Realitäten vorbei.Die oft angesprochenen konsumtivenAusgaben sind zum größten Teil Per-sonalausgaben, die zur Erfüllung derLandesaufgaben (Bildung, Polizei,Justiz, Strafvollzug, Steuerverwaltung)erforderlich sind. Ein anderer Teil derkonsumtiven Ausgaben ist jener Be-trag, den die Verwaltung für sich selbstverbraucht, die so genannten sächli-chen Verwaltungsausgaben. DieserAnteil beträgt lediglich 4,6 Prozent amGesamthaushalt und bewegt sich damitbereits am unteren Ende im Länderver-gleich. Dort ist aus meiner Sicht nichtviel zu holen. Die Verwaltung in Bran-denburg arbeitet sehr sparsam.

Kein Hineinsparen in die Krise

Es ist konjunkturpolitisch nicht rat-sam, sich durch Kürzungen weiter indie Krise hineinzusparen. Dies giltbesonders für die Investitionen. Des-halb hat Brandenburg den Konjunk-turpaketen I und II zugestimmt, vondenen ein wichtiger Impuls für diewirtschaftliche Entwicklung erwartetwird, die aber zugleich weitere Ein-

nahmeausfälle und zusätzliche Aus-gaben für Bund und Länder mit sichbringen. Knapp 460 Millionen Eurostehen dem Land bis Ende 2010 alleinaus dem Konjunkturpaket II insgesamtzur Verfügung, also einschließlich desLandes- und Kommunalanteils.

Brandenburg wird den Haushalt2009 deshalb „auf Sicht fahren“. Wirverfügen über unausgeschöpfte Kre-ditlinien des Doppelhaushalts 2008/2009 und können die Konjunktur-rücklage aus dem letzten Jahr in dieWaagschale werfen. Diese Instrumentewerden wir nach derzeitiger Einschät-zung in voller Höhe in Anspruch neh-men müssen. Dies hat einen Nach-tragshaushalt bislang haushaltsrechtlichnicht erforderlich werden lassen. Obdies so bleibt, ist abhängig von derweiteren wirtschaftlichen Entwicklungin diesem Jahr.

Absehbar aber ist, dass die gutenHaushaltsjahre bis auf weiteres hinteruns liegen. Für die Finanzpolitik folgtdaraus zweierlei: Zum einen wird auchBrandenburg durch konjunkturelleMaßnahmen und gute Investitionenseinen Beitrag dazu leisten, dass dieFolgen der Krise schnellstmöglichüberwunden werden können. Dies istjetzt unvermeidlich mit Belastungenfür den Landeshaushalt verbunden.Andererseits muss Brandenburg deneingeschlagenen Konsolidierungskursfortsetzen, weil es dazu angesichts dermittelfristigen demografischen, finanz-

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politischen und wirtschaftlichen Ent-wicklungstrends keine vernünftigeAlternative gibt.

Aufsicht stärken

Gleichzeitig unterstützen wir die Be-strebungen, die internationalen Finanz-märkte neu zu ordnen, damit sich eineähnliche Schieflage mit allen negativenKonsequenzen für die nationalen Öko-nomien nicht wiederholen kann. Not-wendig sind die stärkere Regulierung derFinanzmärkte und die Stärkung derFinanz- und Bankenaufsicht. Kritisch zuprüfen ist die Rolle der Ratingagenturen,deren Bewertungen sich in der Vergan-genheit oft als verhängnisvoll erwiesenhaben. Vergütungs- und Anreizsystememüssen sich am langfristigen Unterneh-menserfolg orientieren; Gehaltsexzessenmuss ein Riegel vorgeschoben werden.Schließlich geht es darum, Steueroasenauszutrocknen und Steuerbetrug

wirksam zu bekämpfen. Der Londo-ner G 20-Gipfel hat zur Regulierungdes Finanzsektors wichtige Beschlüssegefasst. Ich halte darüber hinaus weiter-gehende Vereinbarungen für nötig, diesich etwa auf das Verbot besonders ris-kanter Finanzprodukte oder die Ver-schärfung der internationalen Standardsfür die Kreditvergabe beziehen. DerVerlauf der Krise zeigt, dass dabei inter-national, wenigstens aber europaweit,vorgegangen werden muss.

Wenn die Aufräumarbeiten in denTrümmern des Finanzcrashs abge-schlossen sind und die Nothilfe für dieWirtschaft gewirkt hat, muss sichBrandenburg genau wie bisher wiedermit aller Kraft darauf konzentrieren,beim Auslaufen des Solidarpakts II ab2020 auf eigenen Beinen stehen zukönnen. Fortschritt muss immer wie-der neu erkämpft werden. Das giltauch für eine nachhaltige Finanz-politik, die diesen Namen verdient. �

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

R A I N E R S P E E R

ist Finanzminister des Landes Brandenburg.

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W ie konnte das geschehen? Nochimmer stehen viele fassungslos

vor dem Scherbenhaufen eines Auf-schwungs, der sich ab Ende 2004 nachlangsamem Beginn so vielversprechendzu entwickeln schien und bis zumHerbst vergangenen Jahres ein beträcht-liches Wachstum und eine deutlicheBeschäftigungszunahme mit sichbrachte. Vom Tiefpunkt der TalsohleEnde 2004 bis zu seinem Höhepunkthatte das Bruttoinlandsprodukt um gut9 Prozent zugenommen und auch dieZahl der Beschäftigten war im Auf-schwung um knapp 4 Prozent gestie-gen. All dies brach im September ver-gangenen Jahres abrupt ab. Seithersind von den Wachstumserträgen desAufschwungs nur noch gut 1,5 Prozentübrig geblieben, was dem Stand vonEnde 2005 entspricht. Bei der Beschäf-tigung sieht es dank der erweitertenKurzarbeitzerregelung noch deutlichbesser aus. Hier ist erst ein halber Pro-zentpunkt an Einbußen zu verzeich-nen. Was ist geschehen?

Ohne Zweifel zeichnete sich schonvor dem Einbruch eine konjunkturelleAbwärtsbewegung ab, die im übrigenwirtschaftspolitisch gewollt war.

Sowohl die amerikanische Zentralbankals auch insbesondere die EZB hattenmit zahlreichen Zinserhöhungen ver-sucht, die wirtschaftliche Aktivität zudämpfen. Noch im Sommer 2008 er-höhte die EZB ihren Leitzins, weil sieeine Inflationstendenz fürchtete, diedurch den seinerzeit massiven Anstiegder Rohstoffpreise hätte ausgelöst wer-den können. Die Befürchtungen warenschon damals unbegründet, weil dieLohnzuwächse im Euroraum insgesamtund besonders in Deutschland trotzAufschwung und starkem Anstieg derVerbraucherpreise maßvoll waren. Diesalles hätte aber lediglich ausgereicht,um einen normalen konjunkturellenAbschwung milderer Art auszulösen,keinesfalls aber eine Weltwirtschafts-krise. Dazu bedurfte es erheblich mehr.

Ein explosives Gemisch

Tatsächlich hatten sich seit einigenJahren Tendenzen herausgebildet, diedas Weltwirtschaftsystem immer nocherheblich gefährden. Während derMainstream der Wirtschaftswissen-schaften in Deutschland die wesentli-chen wirtschaftlichen Probleme unseres

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Schnell und nachhaltigWOHER DIE KRISE KAM UND WAS JETZT GETAN WERDEN MUSS

VON GUSTAV HORN

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Landes immer noch auf dem angeblichzu rigiden Arbeitsmarkt vermutete unddas Heil in entsprechenden Arbeits-marktreformen sah, die die Arbeitslo-sen immer stärker unter Druck setzten,braute sich vor ihren Augen ein Ge-misch zusammen, dessen Explosion das weltwirtschaftliche Gefüge, aufdem die deutsche Wirtschaftspolitikihre Wachstumsstrategie gründete, fundamental erschüttern würde.

I. Die Wurzeln der Krise

Die Krise speist sich aus mehreren Ur-sachen. Die erste ist die teilweise dra-matische Zunahme der ökonomischenUngleichheit in größeren Industrie-staaten. Sowohl die funktionale Ver-teilung zwischen Arbeits- und Gewinn-einkommen als auch die personelleVerteilung zwischen hohen und niedri-gen Einkommen änderte sich stark zuGunsten der Gewinn- und hohen Ein-kommen, während die mittleren undniedrigen Einkommen erodierten.Diese Tendenz ist auch Ausdruck einergesunkenen Verhandlungsmacht vonGewerkschaften. Diese resultierte unteranderem aus einer wachsenden Indivi-dualisierung, insbesondere im Dienst-leistungsbereich. Sie ist aber auch dasResultat einer Wirtschaftspolitik, die inGewerkschaften ein zu bekämpfendesWachstumshemmnis sah, weil sieangeblich zu hohe Lohnabschlüssedurchsetzen, die die Wettbewerbs-

fähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaftund damit die Angebotsbedingungenschädigten. Dies hatte schon in denspäten siebziger und den achtziger Jah-ren zu massiven Auseinandersetzungenin Großbritannien und den USA ge-führt. In Deutschland geschah dieswesentlich langsamer und auch mode-rater. Nichts desto trotz gingen zahlrei-che Arbeitsmarktreformen während derrot-grünen Regierung mit breiter Unter-stützung aus der Opposition in die glei-che Richtung. Sie wirkten sich insbe-sondere zu Lasten der Bezieher geringerEinkommen aus und verstärkten damitdie Ungleichheit in Deutschland seitdem Jahr 2000 massiv.

Ungleichheit schadet

Diese Umverteilung berührt nicht nurdie Frage nach ökonomischer Gerech-tigkeit, sondern auch nach der Funk-tionalität der Marktwirtschaft. SchonKeynes hat etwa im letzten Kapitel der„Allgemeinen Theorie“ (1936) imRahmen seiner „Schlussbetrachtungenüber die Sozialphilosophie“ darauf hin-gewiesen, dass eine große Einkom-mensungleichheit makroökonomischnicht funktional ist. Wie Keynes er-kannte, ist balanciertes Wachstum mitstarker Binnennachfrage und ohneÜberschuldungsgefahren auf Dauernicht ohne einen entsprechenden An-stieg der realen Masseneinkommenmöglich. Keynes sah durchaus eine

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soziale und ökonomische Rechtferti-gung für Einkommensunterschiedezwischen Individuen. Unbeschadetdessen sei aber eine relativ gleichmäßi-ge Einkommensverteilung notwendig,um eine kräftige und nachhaltige pri-vate Konsumnachfrage zu gewährleis-ten. Diese Grundregel wurde sowohlim Vorfeld der Großen Depression alsauch in der jüngeren Vergangenheitmissachtet.

Hohes Tempo, hohe Importe

In den USA ist die Verteilung der Ein-kommen nach einer beinahe 30-jähri-gen Phase der Umverteilung heute wie-der ungefähr so ungleich wie in den1920er Jahren. Die kräftige Auswei-tung des privaten Konsums war bis zurKrise angesichts der schwachen Ent-wicklung der realen Masseneinkom-men nur auf Grundlage der Inan-spruchnahme der Kreditmärkte, alsohöherer Verschuldung insbesondere derunteren Einkommensschichten, zuerreichen. Nach dem Platzen derjüngsten Immobilienblase in den USAwaren Zahlungsschwierigkeiten in denunteren Einkommensgruppen gleich-sam programmiert. In Deutschlandhingegen haben viele Privathaushalteauf die seit langem stagnierendenReallöhne und sozialpolitischen Ein-schnitte mit Konsumverzicht reagiertanstatt sich deutlich zu verschulden.Da die oberen Einkommensgruppen,

die vom Anstieg der Gewinne undVermögen sowie von Steuerentlastun-gen profitierten, eine sehr hohe Spar-quote aufweisen, war eine anhaltendeSchwäche der Binnennachfrage dieFolge. Im Ergebnis entstand in Deutsch-land wie auch in Japan wegen derschwachen Realeinkommenszuwächseeine lang andauernde Konsumschwäche,während die Einkommensschwäche inden USA und Großbritannien durcherleichterte Verschuldung kompensiertwurde.

Dies führt unmittelbar zur zweitenUrsache. Die verschiedenen Wege, diein den einzelnen Ländern im Umgangmit der zunehmenden Einkommens-ungleichheit eingeschlagen wurden,hatten weltwirtschaftlich gravierendeKonsequenzen. In den Defizitländernwurde durch eine Kombination auseiner adäquaten antizyklischen Stabili-sierungspolitik und übermäßig deregu-lierten Finanzmärkten, die den Zugangvon niedrigen Einkommensbeziehernzu den Kreditmärkten erheblich er-leichterten, versucht, das Wachstums-tempo hoch zu halten. Das gelangauch über einen längeren Zeitraum,erforderte aber hohe Importe. In denUSA und Großbritannien entstandendaher erhebliche außenwirtschaftlicheDefizite. Da der in den Defizitländernboomende Finanzsektor, der sich nichtzuletzt aus der finanziellen Bewältigungdes Nachfragesogs nährte, anscheinenddie weitaus höchsten Renditen abwarf,

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wurde dort im Finanzbereich kräftiginvestiert. Währenddessen entwickel-ten sich die Investitionen in anderenBereichen eher schwach und wurdenvor allem durch die hohen und bereitsauf kurze Sicht zu realisierenden Ren-diteerwartungen der immer einflussrei-cher werdenden Finanzinvestorengedrückt. Die Folge war eine nachlas-sende internationale Wettbewerbsfä-higkeit, die auch erklärt, warum dieExportdynamik sehr verhalten war.

Schwacher Konsum, hohe Exporte

Anders verlief die Entwicklung in Über-schussländern wie Deutschland undJapan, in denen die Binnennachfrageaufgrund des lahmenden Konsumsschwach war. Dem wirkte eine auf-grund der moderaten Lohnzuwächseverstärkte internationale Wettbewerbs-fähigkeit entgegen, die das Wachstumder Exporte beflügelte. Wegen derdurch die gleiche Lohnzurückhaltungausgelösten Schwäche der Binnennach-frage gelang es allerdings deutlichschlechter, eine hohe Wachstumsdy-namik zu erreichen. Jedoch entstandenerhebliche Überschüsse im Außen-handel. Einen ähnlichen Weg schlugauch China ein, das hier dem asiati-schen Modell einer außenwirtschaftlichdeterminierten Entwicklung folgte,ohne seine Güter- und Finanzmärktein gleicher Weise zu öffnen. In Deutsch-land und Japan, die in vollem Umfang

in die Weltwirtschaft und damit in dieglobalen Finanzmärkte integriert sind,war die realwirtschaftliche Investitions-tätigkeit wegen der verhaltenen Bin-nennachfrage und des Drucks der Fi-nanzinvestoren in Richtung einerhohen kurzfristigen Rendite wie in denUSA eher schwach. Daher ließ sich dieSteigerung der Wettbewerbsfähigkeitprimär nur durch einen hohen Druckauf die Löhne erreichen. So ist es dannauch gekommen: Im internationalenVergleich sind die Lohnstückkosten z. B. in Deutschland extrem schwachgestiegen. Vor diesem Hintergrundwurden in China, Japan und Deutsch-land hohe Leistungsbilanzüberschüsseerwirtschaftet. Damit gingen hohe Ka-pitalexporte einher.

Immer mehr Kredite

Diese Tendenzen erwiesen sich alsselbst verstärkend. Denn der Finanz-sektor profitierte auch von den globalenUngleichgewichten. Das in den Über-schussländern durch Außenhandelakkumulierte Kapital floss in die Defi-zitländer mit ihrer hohen Nachfragenach Kapital. Damit war nicht nur dieFortdauer sowohl der außenwirtschaft-lichen Defizit- als auch der Überschuss-politik ermöglicht. Eine anhaltendeWachstumsdynamik in den USA setztevoraus, dass die Konsumenten immermehr Kredite bekamen. Das vom Ex-port getriebene Wachstum in Deutsch-

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land erforderte hingegen immer weitereSteigerungen der Wettbewerbsfähigkeitdurch weitere Lohnzurückhaltung. Esentstand ein Zirkel wechselseitiger Ab-hängigkeit von Überschuss- und Defi-zit-Volkswirtschaften, der zumindestauf mittlere Sicht stabil war und ange-sichts der vermeintlichen Stabilität derFinanzmärkte auch kaum in Frage ge-stellt wurde.

Blindheit auf den Märkten

Üblicherweise wäre dies eine Konstel-lation gewesen, in der es zu einer Wäh-rungskrise mit drastischen Kursbewe-gungen hätte kommen müssen. DerUS-Dollar hätte abgewertet und derYen, der Renmimbi und, weniger stark,der Euro hätten aufgewertet. Die weitge-hende Deregulierung der Finanzmärktemit der Fülle von Möglichkeiten, die aufdiese Weise Nicht-Banken (z.B. Hedge-und Private-Equity-Fonds) auf den Fi-nanzmärkten geboten wurden, verschärf-te jedoch das Krisenpotenzial der unver-meidlichen Anpassungsprozesse über dieWährungsrelationen hinaus drastisch.Bevor es nämlich hierzu kam, brachsich stattdessen die Finanz- und Wirt-schaftskrise Bahn. Dies zeigt, dass dasweltwirtschaftliche Wachstum auch ausanderen Gründen nicht nachhaltig ge-wesen sein kann. Hierbei spielt die De-regulierung der Finanzmärkte eine ent-scheidende Rolle. Dies ist die dritteUrsache der Krise.

Die neuen Finanzmarktprodukte,deren Funktion eigentlich war, Risikenzu streuen und damit Sicherheit zuerzeugen, erwiesen sich in der Realitätals Zeitbomben für die Stabilität desFinanzsystems. Dass die breite Streu-ung von Risiken, die eigentlich Risikenverringern sollte, tatsächlich genau da-durch ein systemisches Risiko, nämlichden generellen Vertrauensverlust in dasFinanzsystem, kreierte, kann aus Sichtder Finanzmarktstrategen tragisch ge-nannt werden. Diese Fehleinschätzungzeugt von ihrer Blindheit und jener derpolitischen Regulierer gegenüber derfundamentalen Unsicherheit der Märk-te. Beispielhaft in dieser Hinsicht istder gesamte Handel mit Derivaten, derzumeist eben nicht der sinnvollen Ab-sicherung von Geschäften diente, son-dern als Investitionsstrategie sowohlvon Seiten der Anbieter als auch derNachfrager verfolgt wurde. Tatsächlichsind Derivate dann aber nichts anderesals marktwirtschaftlich funktionsloseWetten auf unsichere Zukunftsereig-nisse, bei denen es zwangsläufig Ver-lierer gibt, ohne dass die Gewinnereinen Beitrag zur Wertschöpfung ge-liefert hätten. Insofern hätte das zurWette eingesetzte Kapital im Nachhi-nein aus gesamtwirtschaftlicher Sichtnahezu überall renditeträchtiger ver-wendet werden können. Diese Er-kenntnis begann sich im unmittelbarenVorfeld der Krise auch an den Märktendurchzusetzen, der Kapitalszustrom

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versiegte, und der Verkauf der entspre-chenden „Wertpapiere“ begann. Mitder dann zwangsläufigen Enttäuschungder Renditeerwartungen war ein Groß-teil des eingesetzten Kapitals zur Ver-nichtung freigegeben, was dann ja auchgeschah. Die Krise nahm ihren Lauf.

II. Der Verlauf der Krise

Die in der Krise einsetzenden Ab-wärtsspiralen kann man als vierDeflationsspiralen beschreiben, diedie Haltlosigkeit der Märkte in einerKrise aufzeigen. Als erstes ist dasSparparadox nennen. Wenn einzelneUnternehmen oder ein einzelnerHaushalt verstärkt sparen wollen, sowird ihnen dies zweifellos gelingen,indem sie bei unveränderten Ein-kommen ihre Ausgaben reduzieren.In der Gesamtwirtschaft wird dieskeine Spuren hinterlassen, insbeson-dere bleiben die gesamtwirtschaftlicheProduktion und damit die Einkom-men durch das Sparen Einzelnerunverändert. In einer Krise wollenaber alle sparen, um sich vor derennegativen Folgen zu schützen. Dashingegen muss misslingen. Denn indiesem Fall führt der allgemeineRückgang der Ausgaben auch zueinem Rückgang der gesamtwirt-schaftlichen Produktion und folglichder gesamtwirtschaftlichen Einkom-men. In der Summe wird mit den ge-ringeren Einkommen sogar weniger

gespart als zuvor. Die anfänglichenSparbemühungen werden konterka-riert und also setzen Haushalte undUnternehmen ihre Bemühungen fortund senken ihre Ausgaben erneut.Aber: So lange alle sparen und keinermehr ausgeben will, ist keine höheregesamtwirtschaftliche Ersparnis mög-lich. Und die Wirtschaft geht im Zu-ge der immer geringeren Ausgabenauf immer tiefere Talfahrt.

Ähnliches geschieht mit den Vermö-gen. In einer Finanzkrise versucht je-der, wegen steigender Kreditkosten undversiegender Einkommen, Schuldenabzubauen. Die sogenannte FisherscheSchuldendeflation setzt ein. Um Liqui-dität zur Schuldentilgung zu erhalten,verkaufen alle ihre Wertpapiere zur glei-chen Zeit, deren Kurse folglich ins Bo-denlose fallen. Das Vermögen reduziertsich und die Notwendigkeit weitererVerkäufe erhöht sich, solange sich allegleichzeitig entschulden wollen und sichniemand verschulden will.

Abwärtsspirale bei den Banken

Ein dritter Deflationsprozess findet imBankensektor statt. In Zeiten einer Fi-nanzmarktkrise wollen alle Banken ihreunsicheren Kredite reduzieren bzw. ver-geben keine neuen Kredite, die nichtstark abgesichert sind. Dies betrifft zumeinen andere Banken, denen sie auf demInterbankenmarkt kein Geld mehr lei-hen (oder nur noch zu verschlechterten

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Konditionen). Zum zweiten trifft esUnternehmen bei der Finanzierung ihrerInvestitionen. Beides reduziert letztend-lich die Unsicherheit für die Bankennicht, sondern erhöht sie. Denn die ver-schlechterten Konditionen auf demInterbankenmarkt erschweren die Refi-nanzierung aller Banken, und die restrik-tivere Kreditvergabe an den Unterneh-menssektor löst eine Abwärtsspirale aus,die am Ende die Bonität aller Kredit-nehmer verschlechtert. So lange also alledie Kredite reduzieren wollen und nie-mand Kredite zu günstigen Konditionenvergeben will, befindet sich auch derBankensektor in einer Abwärtsspirale.

Der Staat muss stützen

Der vierte Deflationsprozess, die Kos-tendeflation, findet primär in derRealwirtschaft statt. Die Unterneh-men versuchen in Zeiten wirtschaftli-cher Schwäche, ihre Kosten durchLohnzugeständnisse ihrer Beschäftig-ten und durch Entlassungen zu redu-zieren. Was bei einem einzelnenUnternehmen funktionieren würde,scheitert auch in diesem Fall, wennalle das Gleiche tun. Indem die Ein-kommen der Beschäftigten als Folgeder niedrigen Löhne oder der Arbeits-losigkeit fallen, verschärft sich dieAbsatzkrise für die Unternehmen, undalle Bemühungen um eine Senkungder Kosten waren vergeblich – mitdem Ergebnis, dass eine neue Runde

der Kostensenkung beginnt. Dies hältso lange an, wie alle ihre Kosten redu-zieren wollen und niemand bereit ist,die Einkommen zu stabilisieren.

Alle diese Prozesse zeigen, dass derprivate Sektor sich nicht von alleine auseiner globalen Krise lösen kann. Wedersind andere heimische Unternehmenoder Konsumenten, noch, wie im Fallder aktuellen globalen Krise, das „Aus-land“, abgesehen von einigen Staats-fonds, bereit oder fähig, gegen dieseAbwärtsspirale zu halten und so stabili-sierend zu wirken. Daher bleibt nur derStaat – präziser in der Weltwirtschafts-krise: die Staaten –, um zu stabilisieren.Sie müssen bereit sein, in der Weltwirt-schaftskrise mehr auszugeben, sichmehr zu verschulden, für günstigereKreditkonditionen zu sorgen und dieEinkommen zu stabilisieren, um demNachfrageausfall im privaten Sektorentgegenzuwirken. Insofern hat dieWirtschaftspolitik auch in Deutsch-land den prinzipiell richtigen Wegeingeschlagen.

III. Der Weg aus der Krise

Gefordert ist also eine antizyklischewirtschaftspolitische Krisenstrategie,deren Notwendigkeit vom Main-stream der deutschen Wirtschaftswis-senschaft jahrelang geleugnet wordenist und die auch von der Politik alsveraltete Ökonomie angesehen wurde.Die aktuelle Krise wird aber bei der

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gustav horn – schnell und nachhaltig

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Stabilität des Märktesystems eineZeitenwende herbeiführen. In Zu-kunft wird der Staat bzw. die Wirt-schaftspolitik wieder eine herausragendeStabilisierungsfunktion wahrzunehmenhaben, um das Marktsystem funktionalzu halten. Anders aber als in den drei-ßiger und auch in den siebziger Jah-ren geht es nicht mehr um eine pri-mär nationale Politik. Die engenglobalen Verflechtungen sowohl derGüter- als auch der Finanzmärkteerfordern eine deutlich verstärkte in-ternationale Koordination der Wirt-schaftspolitik. Auch die Arbeitsmärktewachsen zunehmend zusammen. DerG 20-Gipfel ist ein Schritt in dieseRichtung.

Aber er reicht nicht. Denn insgesamthaben die globalen und internationalenwirtschaftspolitischen Institutionen mitder Globalisierung der Märkte bei wei-tem nicht Schritt halten können. Dieshat dazu geführt, dass die Globalisie-rung sich von den Interessen breiterBevölkerungsschichten in der Weltgelöst hat. Dominierend wurden viel-mehr jene, die entscheidende Spieler imGeflecht der internationalen Märktesind: Multinationale Unternehmen undvor allem globale Finanzmarktinvestoreneinschließlich der persönlichen Interes-sen ihres Managements. Es ist kein Zu-fall, dass sich deren Gehälter weltweitvom Rest der Gesellschaften deutlichentfernt haben. Dies ist vielmehr auchAusdruck ihrer im Zuge der Globalisie-

rung vor allem der Kapitalmärkte ver-besserten Durchsetzungsmöglichkeitenim Vergleich zu anderen Teilen der Ge-sellschaft. Dem kann nur dadurch be-gegnet werden, dass über eine globalewirtschaftpolitische Kooperation Schran-ken gezogen werden für das, was auf dereinen Seite erlaubt ist, weil es zu nach-haltigem Wachstum von Produktionund Beschäftigung führt und auf deranderen Seite verboten ist, weil es alleinzu spekulativen Übertreibungen undUngleichgewichten führt, die aufDauer Wachstum und Beschäftigunggefährden.

Leitwährung am Ende

Dies impliziert nicht nur die mittler-weile zum Allgemeingut, auch desdeutschen ökonomischen Mainstreams,gewordene Regulierung der Finanz-märkte. Vielmehr ist auch die globaleWährungsarchitektur zu überdenken.Das System vollständig flexibler Wech-selkurse, das eigentlich das Entstehender globalen Handelsungleichgewich-te – eine der Wurzeln der Krise –hätte verhindern sollen, hat versagt.Es gilt nunmehr ein stabilitätsgerech-teres System zu finden. Hier lohntder Blick in die Geschichte. Das Sys-tem von Bretton Woods, das jahr-zehntelang Stabilität produzierte, warso schlecht nicht. Es sollte als Aus-gangspunkt für eine Reform dienen.Jedoch zeigt das Scheitern von

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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Bretton Woods, dass es mit einersimplen Wiedereinführung nicht ge-tan sein wird. Die Fixierung auf eineLeitwährung, den US-Dollar, magnach dem Zweiten Weltkrieg macht-politisch unvermeidbar gewesen sein.Sie war jedoch am Ende eine Schwä-che des Systems, die von den USAzur finanziellen Absicherung ihrerkostspieligen Vietnam-Politik ausge-nutzt wurde. Mehr noch, die Welthat sich seither auch machtpolitischgrundlegend verändert. Schon alleindeshalb ist ein multipolares Währungs-system vor allem unter EinschlussChinas, Indiens und Brasiliens unum-gänglich. Diese Richtung gilt es ein-zuschlagen, zumal die Erkenntnis derMultipolarität mittlerweile auch dieUSA erreicht hat.

Europäische Antworten

Über alledem sollte man aber das Na-heliegende nicht vergessen: Europa.Schließlich sind die EU und insbe-sondere die Europäische Währungs-union auch als Antwort der StaatenEuropas auf die Globalisierung ge-dacht gewesen. Der Euro ist alsgemeinsame Währung eingeführtworden, um einen großen Binnen-markt vor den Friktionen globalerWirtschafts- und Währungskrisen zuschützen. Vor dem Hintergrund die-ses epochalen Anspruchs, der voneiner früheren weitsichtigen Politi-

kergeneration auch wirklich getragenwurde, muss die aktuelle Reaktionder EU auf die gegenwärtige Krise alserbärmlich bezeichnet werden. Brüs-sel wird – wie im Wahlkampf um dasEuropa-Parlament schon auf Plakatendeutlich wurde – nur noch als Ortverstanden, an dem es nationale In-teressen durchzusetzen gelte. Wo aberbleibt das europäische Interesse?

Mehr Demokratie wagen

Was nötig gewesen wäre, ist eine ge-meinsame europäische Antwort aufdie Krise. Diese blieb auch dank an-fänglicher deutscher Blockade bisherweitgehend aus. Will man künftigenKrisen besser gewappnet begegnen,sind grundlegende Änderungen erfor-derlich. Zum ersten müssen der EZBdie Ziele Preisstabilität und konjunk-turelle Stabilität als gleichrangig vor-geschrieben werden. Das sollte ihreReaktionsschnelligkeit im Fall kon-junktureller Krisen deutlich beschleu-nigen. Zum zweiten bedarf es auchder Möglichkeit einer europäischenFinanzpolitik, die selbstverständlichvom EU-Parlament kontrolliert wer-den muss. Dies wäre eine adäquateAntwort auf den globalen Schockgewesen und hätte zudem die natio-nalen Regierungen entlastet. Um dieszu gewährleisten, sind aber weitrei-chende institutionelle Änderungender Rolle der EU-Kommission erfor-

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gustav horn – schnell und nachhaltig

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derlich. Mehr Demokratie in Europasollte dabei das Leitmotiv sein.

All dies zeigt: Selbst wenn die Krisemöglichst bald überwunden werdensollte, der Bedarf an politischen Auf-räumarbeiten ist erheblich. Dass sie

schwierig sind, braucht nicht betont zuwerden. So waren derartige Herausfor-derungen zu allen Zeiten. Wichtig istdennoch, dass die Probleme mit einerVision für eine stabilere Welt von mor-gen bald angegangen werden. �

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

PROF. DR. GUSTAV A. HORN

ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie undKonjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.

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D ie Wirtschafts- und Finanzmarkt-krise hat Deutschland zu einem

denkbar ungünstigen Zeitpunkt getrof-fen: Im Frühjahr 2008 war die Zahl derArbeitslosen erstmals seit den frühen1990er Jahren wieder unter 3,5 Millio-nen gefallen. Vor einem Jahr regiertenoch die Hoffnung, das ModellDeutschland könne sich endlich unddauerhaft wieder beleben. Doch schonzwölf Monate später ist uns allen klar,dass nicht nur der Aufschwung wiedervorbei ist, sondern ein noch tieferesKonjunkturtal auf uns wartet. Statt einesneuen Booms und des dauerhaftenRückgangs der Arbeitslosigkeit, der gera-de für die neuen Bundesländer so wich-tig gewesen wäre, blicken wir nun aufden brutalsten Konjunktureinbruch inder Geschichte der Bundesrepublik.

Hatten wir einfach kein Glück? Hatuns die Krisenwelle, deren Ursprung wirja so gern in den USA erkennen, einfachzum falschen und für viele ungerechtenZeitpunkt erreicht? Nein – diese Sichtder Dinge wäre falsch. Deutschland istweder ein passiver Akteur in der Entste-

hung dieser Krise gewesen (siehe dasdeutsche Bankensystem und vor allemdie Investitionen von Landesbanken ingiftige Wertpapiere), noch konnten wirauf ein ausreichend solides Wirtschafts-modell setzen, das von der Krise zwargetroffen wird, aber ausreichend Eigen-dynamik besitzt, um ihr zu begegnen.

In diesem Jahr wird nach aktuellenPrognosen nur eine Volkswirtschaftunter den Industrienationen langsamerwachsen (oder korrekter formuliert:schneller schrumpfen) als Deutschland –und zwar Japan. Warum ist es geradeunsere Konjunktur, die auf diese Kriseso schlecht vorbereitet scheint? Und wel-che Auswirkungen wird die Krise auf dasModell Deutschland haben? WelcheHandlungsspielräume bleiben für dieWirtschafts- und Finanzpolitik im Kon-text einer in diesem Jahr um 6 Prozentschrumpfenden Wirtschaftsleistung?

Drei Zwickmühlen

Wir stehen vor drei wirtschaftspoliti-schen Zwickmühlen. Erstens wird mit

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Ein neues Verhältnis zwischen Staat und MarktDIE WIRTSCHAFTSPOLITIK MUSS IN GESELLSCHAFTLICHE

GESCHLOSSENHEIT INVESTIEREN

VON HENRIK ENDERLEIN

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der Krise der Anspruch an Solidaritätden Bedürftigsten dieser Gesellschaftgegenüber höher – aber gleichzeitigsinkt der Finanzierungsspielraum dieseSolidarität zu leisten. Zweitens habenwir schon in den vergangenen Jahrenzeitweilig über unsere Verhältnissegewirtschaftet und gehofft, der nächsteAufschwung würde uns wieder in dieBalance zurückführen – aber nun wei-chen wir fast automatisch immer stär-ker davon ab. Drittens haben wir langeauf einen tragfähigen Wirtschaftsauf-schwung gehofft, um das „ModellDeutschland“ neu auszurichten, zumodernisieren und zukunftsfähig zumachen – aber nun trifft uns die Kriseaufgrund dieser ausgebliebenen Mo-dernisierung viel härter als viele andereLänder.

Nur nicht verzagen

Verzagen sollte trotz dieser pessimisti-schen Bestandsaufnahme niemand.Schon gar nicht die Wirtschaftspolitik.Denn die drei genannten Zwickmüh-len bergen bei genauer Betrachtungauch eine Chance. Wer in der Krisedie richtigen Impulse setzt und Res-sourcen dort einsetzt, wo sie am sinn-vollsten eingesetzt sind, der kann diesesLand für einen langen Zeitraum prä-gen.

Dazu lohnt es auf zwei historischeReferenzpunkte zu schauen: FranklinD. Roosevelt übernahm die Präsident-

schaft der USA, als die Wirtschaftskriseihren Höhepunkt erreichte. Es gelangihm, durch zielgerichtete Wirtschafts-politik, die eine Kombination aus ge-sellschaftsweiter Solidarität und fokus-siertem Ressourceneinsatz predigte, dasLand gleichzeitig sozialer zu gestaltenund zu modernisieren. Am anderenEnde des wirtschaftspolitischen Spek-trums gelang Ronald Reagan eine ähn-lich durchschlagende Krisenpolitik:Auch er wurde während einer Kon-junkturkrise Präsident und nutzte denwirtschaftspolitischen Kontext, umeine Politik gestützt auf die Kombi-nation aus Steuersenkungen und das,was heute oft „Anreizstrukturen“ ge-nannt wird, durchzusetzen. SowohlRoosevelts New Deal als auch Reago-nomics prägen die US-Gesellschaft bisheute – zwar auf vollkommen gegen-sätzlichen Weisen, aber mit nachhal-tiger Wirkung. Auch aus der aktuel-len Krise wird ein ähnlich prägenderwirtschaftspolitischer Impuls hervor-gehen.

Jetzt werden die Weichen gestellt

Ich bin deshalb überzeugt, dass 2009,2010 und 2011 Schlüsseljahre in derdeutschen Wirtschaftspolitik der kom-menden Jahrzehnte sein werden. Werin dieser Krise die politische Gestal-tung übertragen bekommt, kann lang-fristig Weichen stellen. Nun werdenWeichen jedoch nicht mit dem Blick

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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nach hinten gestellt. Es geht darum,sich für eine Richtung zu entscheidenund mit Überzeugung den Weg nachvorn vorzugeben, der aus der Kriseführt.

Zurück zum „Modell Deutschland“?

Der Weg aus dieser Krise wird nichtzum alten „Modell Deutschland“ füh-ren, das zumindest die Bundesrepublikseit dem Zweiten Weltkrieg geprägthat. Dieses Modell, oder der Traumdavon, ist zwar immer noch der Refe-renzpunkt fast aller wirtschaftspoliti-schen Reden (ich halte den Begriff„soziale Marktwirtschaft“ aufgrund sei-ner falschen Verwendung bald für dasUnwort des Jahres), wird aber nichtzurückkehren. Das „Modell Deutsch-land“ war geprägt durch das besondereZusammenspiel von verantwortungs-vollen Unternehmern, langfristig den-kenden Banken und kooperierendenGewerkschaften im Kontext eines klarvorgegebenen makroökonomischenOrdnungsrahmens. Heute besteht die-ses Zusammenspiel nicht mehr. DieAkteure verhalten sich fundamentalanders.

Der allerwichtigste Stützpfeiler die-ses Erfolgsmodells war aber die schnellwachsende Wirtschaft. Es ist keinHexenwerk, eine Wirtschaft in engerKooperation aller Beteiligten zumErfolg zu führen, wenn der Kuchenständig größer wird und Verteilungs-

spielräume bestehen: Löhne könnensteigen, wenn Gewinne steigen; Sozial-leistungen können steigen, wenn im-mer weniger sie in Anspruch nehmen;Subventionen können fließen, wenngleichzeitig finanzieller Spielraum fürInnovationen besteht.

Die aktuelle Krise wird die Verfüg-barkeit öffentlicher Ressourcen drastischverringern. Damit wird es umso wich-tiger, die verfügbaren Ressourcen stra-tegisch richtig einzusetzen. Wer jetzt versucht, durch rückwärtsgewandte Ret-tungsaktionen das Modell Deutschlandwiederzubeleben, verspielt die gestalteri-sche Chance dieser Krise und überlässtdie Gestaltung anderen.

Genau das Gegenteil sollte die Ziel-setzung der aktuellen Wirtschaftspo-litik sein. Es geht darum, Ressourcendort einzusetzen, wo sie für die Gesell-schaft am gewinnbringendsten sind.Natürlich sind das in erster Linie In-vestitionen in Zukunftsfaktoren wieBildung und Innovation. Ich meinedamit aber keineswegs nur materielleInvestitionen: Es geht auch um Impulseund Kreativität, um Werte und Welt-offenheit, um verrückte Ideen und ihreversierte Umsetzung.

Eine der zentralsten Investitionender Wirtschaftspolitik sehe ich jedochim Bereich der gesellschaftlichen Ge-schlossenheit. Ich bin der festen Über-zeugung, dass eine in Krisenverliererund Krisengewinner gespaltene Gesell-schaft kein Erfolgsmodell sein kann.

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henrik enderlein – ein neues verhältnis zwischen staat und markt

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Wer sich die Krise zum Vorwandnimmt, um Trennlinien zu ziehen,wird nur kurzfristig Gewinne darausziehen. Mittel- bis langfristig zeigtsich, dass es Länder oder Regionensind, die aufgrund eines dicht und solide geflochtenen gesellschaftlichenNetzwerks Investitionen anziehen und Wachstum hervorbringen.

Mehr Steuern für mehr Integration

Hohe Steuern sind kein Problem,wenn diejenigen, die sie entrichten, sieaus Überzeugung entrichten. Umver-teilung ist dann möglich, wenn sieeiner gemeinschaftlichen Grundüber-zeugung entspringt. Sind solche SätzeUtopien? Ganz sicher nicht. Es gibtauch heute noch zahllose Unterneh-men und Einzelpersonen, die bereitwären, deutlich höhere Steuern zu ent-richten, wenn damit echte soziale Inte-gration erreicht würde, ein besseresBildungssystem für zukünftige Gene-rationen geschaffen werden könnteund Deutschland innovativer undzukunftsfähiger gemacht würde.

Leider scheint es uns in der aktuel-len wirtschaftspolitischen Diskussionnicht zu gelingen, diese Kombinationaus gegenwartsgewandter Solidaritätund zukunftsgewandter Perspektivezu vermitteln. Die Diskussion ver-harrt in Gegensätzen aus krassen Umverteilungsmaximen, die schlichtnicht zukunftsfähig sind. Auf der

anderen Seite werden ebenso krasseEffizienz- und Konkurrenzmaximendiskutiert, deren Beitrag zur gesell-schaftlichen Geschlossenheit ebensoindiskutabel sind. Diese Kluft zuüberwinden ist die Aufgabe der Wirt-schaftspolitik in der Krise. Eine sol-che Herausforderung ist allein schonkaum zu meistern. Aber sie wirdzudem erschwert durch das, was dieaktuelle Krise von vielen bisherigenKrisen abhebt.

Einzigartiger Problemdruck

Es handelt sich um die erste wirklichglobale Wirtschaftskrise, in der natio-nal isolierte Antworten keinen ausrei-chenden Nährboden mehr haben, umdie Krise im Alleingang zu meistern.Die aktuelle Finanzkrise hat uns nichtnur vor Augen geführt, welche Folgeneine Entkopplung von Realwirtschaftund Finanzwirtschaft nach sich ziehenkann: Wenn Volumina und Bedeutungvon Finanzanlagen in keinem Verhält-nis mehr stehen zu Volumina undBedeutung der zugrunde liegendenvolkswirtschaftlichen Transaktionen,dann sind eine finanzwirtschaftlicheÜberhitzung, Blasenbildungen undletztlich der Zusammenbruch sowohldes Finanzsystems als auch der zugrun-de liegenden Realwirtschaft kaum ver-meidbar. Die aktuelle Krise hat unsaber in fast noch stärkerer Form ge-zeigt, dass eine solche Entkopplung,

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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wenn sie sich in einem hoch komple-xen System globaler Transaktionenvollzieht, der nationalstaatlichen Wirt-schaftspolitik ihrer Steuerungsfähigkeitentzieht. Die transnationalen Verflech-tungen im globalen Finanzsystem unddie aus ihr resultierenden Kettenreak-tionen im Krisenfall haben einen öko-nomischen Problemdruck hervorge-bracht, der in dieser Form historischwohl einzigartig ist.

Dieser Problemdruck verlangte ei-gentlich nach einer Verbindung vonnationalstaatlichen Ansätzen in einemkohärenten System globaler Wirtschafts-politik. Doch leider ist eine solche Ver-bindung aktuell weder möglich, nochwünschenswert. Der Grund dafür istdas in dieser Krise noch ungeklärte Ver-hältnis von Staat und Markt.

Staat als letzte Instanz

Die aktuelle Finanzmarktkrise wird oftmit einer Renaissance des interventio-nistischen Nationalstaats in Verbin-dung gebracht. Diese Ansicht ist gleichdoppelt falsch. Denn einerseits ent-puppt sich diese Krise bei genauemHinsehen als das Ergebnis von Kol-lektivgutproblemen, die aus interes-sensmaximierenden Haltungen klassi-scher Nationalstaaten resultieren; undandererseits ist es nicht der interventio-nistische Nationalstaat, der wiederer-starkt, sondern ein Staat, der sich alsMarktteilnehmer letzter Instanz sieht.

Die Rettungspakete vieler Regierun-gen erscheinen vor allem wie die Fort-setzung des Marktes mit anderen Mit-teln. Der Staat agiert zu Beginn des 21.Jahrhunderts nicht gegen den Markt,sondern im Markt. Er tritt als Teilneh-mer an Transaktionen auf, die auchvon privaten Marktakteuren hättendurchgeführt werden können, abernicht durchgeführt werden, weil priva-te Marktteilnehmer einer anderen in-neren Motivation folgen. Der Staatfungiert als Garant dafür, dass Markt-abläufe auch dann noch möglich sind,wenn kein rationaler Marktteilnehmersie mehr für sinnvoll hält.

Ein neuer Konsens

Durch sein Verhalten weist der Staatdarauf hin, dass der Markt für alleseinen Preis kennt, nur für die Existenzdes Marktes nicht. Bricht der Marktzusammen, dann ist der Preis für deneinzelnen Marktteilnehmer höher, alswenn der Markt selbst mit potenziellverlustbringenden Investitionen amLeben erhalten wird. Im Namen desKollektivs trägt der Staat diese Bürdeund investiert das Geld der Bevölke-rung in die ökonomische Stabilität.

Nur eines darf nicht übersehen wer-den: Diese Strategie einer neuen Wirt-schaftspolitik würde kläglich scheitern,wenn sie sich auf die nationalstaatlichePerspektive beschränkte. Maßnahmenzur Stärkung des globalen öffentlichen

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henrik enderlein – ein neues verhältnis zwischen staat und markt

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Guts internationaler Finanz- und Wäh-rungsstabilität sind daher von fast nochessentiellerer Bedeutung als die Neu-orientierung der Wirtschaftspolitikselbst.

Die internationale Staatengemein-schaft muss zeigen, dass ihre gemeinsa-me Regierungs-, Regulierungs- undKooperationskapazität noch ausreicht,um den temporären Exzessen des vonihnen geschaffenen Phänomens freier

Kapitalflüsse noch einigermaßen Herrwerden zu können. Vielleicht kann dieaktuelle Finanzkrise bei allen zerstöreri-schen Effekten wenigstens dazu beitra-gen, einen neuen Konsens auszubilden.Einen Konsens darüber, dass die inter-nationalen Finanzbeziehungen weiter-hin im Zentrum der globalen Politikstehen und keine abstrakt gebildeteResultante zahlloser Marktkräfte seinkönnen. �

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

P R O F. D R. H E N R I K E N D E R L E I N

ist Professor für politische Ökonomie an der Hertie School of Governance in Berlin.

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Europas Sozialdemokraten undKonservative streiten mit- und un-

tereinander über das richtige Krisenma-nagement und eine neue Wirtschaftspo-litik nach der Finanzkrise. Ideologischebzw. politische Gewinner sind bishernicht auszumachen. Dies liegt vor allemdaran, dass wirklich entscheidende Fra-gen bisher außen vor gelassen werden.Die Bürger bleiben somit im Unklaren.Das kann sich rächen.

Die Tragweite der Finanz- undWirtschaftskrise ist bisher irgendwieschwer zu fassen. Dass sie einen Para-digmenwechsel eingeleitet hat, ist nurschwer zu leugnen. Banken werden ver-staatlicht und Bankgeheimnisse gelo-ckert. Konjunkturpakete von bishernicht vorstellbarer Größe werdengeschnürt. Zentralbanken in aller Weltgehen bis ans Äußerste, in dem sienicht nur historisch niedrige Zinsenauflegen, sondern sogar wieder Gelddrucken. Und die internationale Ge-meinschaft macht plötzlich ernst mitihren Drohungen gegen Staaten, diemit sonderbarer Gerichtsbarkeit

Steuerhinterziehung erst ermöglichen.Es scheint also, dass drei Jahrzehntenach dem Siegeszug des neoliberalenKonsenses eine neue Epoche ökono-mischen Denkens eingeleitet wordenist. Doch kohärente wirtschaftspoliti-sche Konzepte sind noch nicht in Sicht.

Ein verwirrendes Bild

Mehr als zehn Jahre ist es nun her, dassder ehemalige britische PremierministerTony Blair vor der französischen Assem-blée Nationale ausrief, es gäbe keine linkeoder rechte Wirtschaftspolitik, sondernnur eine gute oder schlechte. Ähnlicheswar auch von Gerhard Schröder zu ver-nehmen, zumindest in den Anfangsjah-ren seiner Kanzlerschaft. Sie und fast alleanderen mehr oder weniger erfolgrei-chen sozialdemokratischen Regierungs-chefs beugten sich letztendlich der vor-herrschenden Meinung führenderÖkonomen, die verschiedene Variantenneo-klassischer bzw. angebotsorientier-ter Wirtschaftslehre als Garant fürWachstum und Wohlstand predigten.

41perspektive21

Welche Zukunft wollen wir?DIE ENTSCHEIDENDEN FRAGEN EINER NEUEN

WIRTSCHAFTSPOLITIK SIND NOCH NICHT BEANTWORTET

VON OLAF CRAMME

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Diese intellektuelle Vorherschaft istnun gebrochen. Ökonomen überbietensich derzeit mit neuen Theorien undErklärungen im Hinblick auf die der-zeitige Finanz- und Wirtschaftskrise. Fürjeden ist etwas dabei: für diejenigen, diedem „Markt“ schon immer misstrauthaben und eine wohldosierte Rückkehrzur staatlichen Planwirtschaft verlangen.Für solche, die dem Korporatismus des20. Jahrhundert nachtrauern und in derTransformation des globalisierten Kapi-talismus die Wurzel aller Übel sehen.Oder auch für diejenigen, die in denExzessen des Bankwesens vor allem dieGrenzen und Fehlentwicklungen staat-lichen Handelns erkennen wollen.Kurzum: Das Feld für eine tiefgreifendewirtschaftspolitische Auseinandersetzunginklusive politischer Alternativen ist auf-bereitet. Schaut man aber auf die De-batten der letzten Monate zurück, ergibtsich ein eher verwirrendes Bild.

Da attackiert der konservative franzö-sische Präsident Nicolas Sarkozy denkonservativen luxemburgischen PremierJean-Claude Juncker für dessen angeb-lich zu laxe Einstellung zu Steueroasen.Auf der anderen Seite ereifert sich So-zialdemokrat Peer Steinbrück über denangeblich „krassen Keynesianismus“ derLabour-Regierung in Großbritannien –um gleichzeitig selbst vom linken No-belpreisträger und Ökonom PaulKrugman scharf für seine angeblich in-tellektuelle Unbeweglichkeit diffamiertzu werden. Ähnlich äußerte sich auch

der konservative japanische Premierüber Kanzlerin Merkel im Vorfeld desletzten G 20-Gipfeltreffens in London.Und so weiter.

Unterschiedliche Temperamente

Auf den ersten Blick könnte man den-ken, dass sich schon beim Krisenmana-gement gravierende Differenzen he-rausgebildet haben. Bei genaueremHinschauen wird aber deutlich, dassdie Auseinandersetzung eher auf unter-schiedliche Temperamente als aufdivergierende wirtschaftspolitische Ein-sichten zurückzuführen sind. Währendsich die einen fast ausschließlich aufdas Hier und Jetzt konzentrieren, sor-gen sich die anderen lieber schon heuteüber morgen.

BEISPIEL INFLATION: Auch Peer Stein-brück weiß, dass eine Inflationsgefahrerst dann im Verzug ist, wenn die ge-samtwirtschaftliche Nachfage wesentlichschneller wächst als das Angebot. DieGeldmenge allein gibt dafür noch keinIndiz, zumal die Zentralbanken bis zueiner möglichen Auslastung der Kapa-zitäten bzw. Überhitzung der Wirtschaftgenügend Zeit hätten, dem Schulden-machen und einem Liquiditätsüberflussentscheidend entgegenzusteuern. SeineKritik gilt einem undurchdachten Aktio-nismus, der kein sicheres Entgelt ver-spricht. Hohes Risiko einzugehen isteben nicht jedermanns Sache.

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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BEISPIEL HEDGE-FONDS: KanzlerinMerkels und Präsident Sarkozys vehe-mentes Eintreten im Kreis der G 20für eine stärkere Regulierung von Pri-vate Equity-Firmen und Hedge-Fondslässt sich vor allem dadurch erklären,dass sie einerseits das „Fenster der Ge-legenheit“ auf dem Höhepunkt derKrise zu durchgreifenden Reformennutzen, andererseits die Dominanz derFinanzzentren New York und Londonbrechen wollen. Mit der Finanzkriseselbst oder etwa dem Krisenmanage-ment haben Beteiligungsgesellschaftenfreilich wenig zu tun.

Insgesamt lassen sich aus den Reaktio-nen der regierenden Politiker zur Krisenoch keine neuen Wirtschaftskonzepteund -philosophien ableiten. Eher hat unsgerade der hohe Grad an Übereinstim-mung bisher vor Schlimmerem bewahrt.Staaten in der ganzen Welt haben be-herzt in die Wirtschaft eingegriffen undeine finanzielle Expansionspolitik betrie-ben. Alte Dogmen wurden überworfenund Richtlinien für Frühwarnsystemeund zukünftige Regulierungsstrukturender Finanzwirtschaft vereinbart. In ande-ren Worten: Dem neoliberalen pre2008-Konsens ist ein makroökonomi-scher Konsens zur Krisenbewältigung ge-wichen. Steitereien um die exakte Höheder Stimulus-Pakete haben mehr mitUnkenntnis der jeweiligen nationalenSituation zu tun, als mit unterschiedli-cher Haltung zum keynesianischenInstrumentarium.

Innenpolitisch ist das Bild nochfrappierender. In den meisten europä-ischen Länderrn ist eine Situation ent-standen, in der Regierung und Oppo-sition, unabhängig der Rechts-Links-Konstellation, sich mehr abstrakt überWirtschaftskompetenz als über tief-gründige Konzepte streiten. Zugleichhat die Krise zu einer Rückbesinnungfast aller politischen Akteure zu denjeweiligen nationalen Bezugsrahmen inder Wirtschaftspolitik geführt: InDeutschland zum allgemeinen Hoch-leben der „sozialen Markwirtschaft“, inFrankreich zum Wiederauferstehen des„Dirigisme“, nachdem Nicolas Sarkozyschon fast auf das angelsächsischeBusiness-Modell aufgesprungen war.Und in Großbritannien zur Neude-finierung des „Entrepreneurialism“, derim Zuge der Fokussierung auf die Fi-nanzwelt einen schwerern Stand hatte– um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Offene Entscheidungen

Die meisten Bürger hingegen sindunbeeindruckt. Sie scheinen nichthonorieren zu wollen, dass es dochdie „Rechten“ und „Neoliberalen“sind, die uns durch ihren „Marktfun-damentalismus“ die Krise erst einge-brockt haben – so sehr die Linke dasauch noch als eigene Leistung verkau-fen mag. Zu Recht misstrauen siedem übergeordneten Krisen-Konsenseinerseits, und der aufgeblähten poli-

43perspektive21

olaf cramme – welche zukunft wollen wir?

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tischen Auseinandersetzung zu angeb-lich konträren Wirtschaftsideologienanderseits. Mehr noch: Sie ahnen,dass die wirklich wichtigen undschwierigen Entscheidungen nochnicht getroffen, ja noch nicht einmalrichtig andiskutiert sind. Zurück blei-ben Verwirrung und Orientierungs-losigkeit – in Berlin, Paris, Londonund anderswo.

Es geht um Vertrauen

Genau hier muss die Politik ansetzen,will sie wieder Vertrauen schaffen, dasGesellschaft und Wirtschaft so drin-gend brauchen. Es geht darum, dieWeichenstellungen klar zu benennenund realistische Optionen anzubieten;sowie darüber hinaus wirtschaftpoliti-sche Wege aufzuzeigen, die unter denBedingungen des 21. Jahrhunderts imallgemeinen, und der aktuellen Rezes-sion im speziellen, Wachstum undWohlstand und gerechte(re) Verteilungherbeiführen können.

Der Rahmen für das Wirtschaftenim kommenden Jahrzehnt ist gesetzt:Fast alle europäischen Länder werdenin den nächsten Jahren damit zu tunhaben, ihre neuen Haushaltsdefizitewieder in den Griff sowie die Staats-schulden unter Kontrolle zu bekom-men. Der globale Wettbewerb wirdnicht von heute auf morgen verschwin-den, sondern auch weiterhin Druck aufmanche Sektoren in unseren Ökono-

mien ausüben. Klimapolitik, sollte sieje ernst betrieben werden, könnte diewestlichen Industrieländer zu gravie-renden Transformationen zwingen.Und die globalen Ungleichgewichte wer-den außerdem verzerrend auf die Globa-lisierung wirken. Der politische Wett-streit um neue Wirtschaftskonzeptesollte also den Anspruch haben, das he-rauszuarbeiten, was die zukünftige sozio-ökonomische Entwicklung entscheidendprägen wird. Dazu zwei Beispiele:

SCHULDENABBAU VERSUS SCHULDEN-BEGRENZUNG. Auch die allermeistenVerfechter des Neo-Keynesianismuswissen, dass im globalen Zeitalter eingwisser Grad an finanzpolitischer Be-rechenbarkeit erforderlich ist. Das be-deutet natürlich nicht, dass Schulden-machen per se negative Auswirkungenauf die wirtschaftliche Stabilität undGlaubwürdigkeit eines Landes habenmuss. Entscheidend ist, wie, in welchemUmfang und in welcher Zeitspanne dieMehrausgaben im Aufschwung wiederausgeglichen werden können. Und vorallem, ob die zusätzlichen Investitionenauf langfristige Erträge angelegt sindoder in der Verteilungsmaschine desStaates unterzugehen drohen. Anderewiederum zweifeln daran, dass diePolitik sich überhaupt verpflichtenkann, Schulden effektiv abzubauen,oder zumindest so, dass es soziale Ver-werfungen ausschließt. Sie fordern des-halb gleich eine Begrenzung.

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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Kern der Debatte sollte deswegensein, inwieweit wir zu einem aktivieren-den Marktmodell kommen, das mitöffentlichen Investitionen massiv in dieModernisierung unserer Gesellschafteingreift, sei es in Bezug auf Bildung,Betreuung oder die Erwerbsbeteiligung.Wenn Teile der Investitionen überNeuschulden finanziert werden, brauchtes eben auch einen politischen Plan zumspäteren Schuldenabbau, der wiederumeine Reihe von komplizierten Gerech-tigkeitsfragen mit sich bringt.

Sowohl Ausgabenkürzungen als auchder Versuch, höhere Einnahmen (jen-seits der symbolischen Reichensteuer) zuerwirtschaften, verlangen unausweich-lich eine Priorisierung. Sie erlaubensomit der Politik, klare wirtschaftspoli-tische Positionen zu beziehen sowie Al-ternativen anzubieten, die für dieBürger auch ersichtlich sind. Wohl-gemerkt: die aktuelle Krise hat genaudiese Situation schon jetzt herbeigeführt– trotz aller Bestrebungen, Konservativeals Steuer- und Abgabensenkungsparteidarzustellen sowie Sozialdemokraten alsalleinige Beschützer des öffentlichenSektors. Überzeugend werden dann nurdiejenigen sein, die einen gerecht ver-teilten Schuldenabbau in ein wirt-schaftspolitisches Gesamtkonzept einzu-binden vermögen.

WACHSTUMSMODELL. Der Zusammen-bruch der Finanzwirtschaft ist von vielenBeobachtern mit dem Absturz der angel-

sächsischen Form des Kapitalismusgleichgesetzt worden. Die Wahrheit istnatürlich komplizierter. In vielenOECD-Staaten sind Wachstumsmodellegescheitert, die noch kurz zuvor kräftigeRenditen abgeworfen haben: Sie reichenvon Deutschlands Fixierung auf die ex-portfähige Kernindustrie, die das Landnicht nur übermäßig von der globalenWirtschaft abhängig gemacht, sondernauch noch die nachteilige Spaltung desArbeitsmarktes verstärkt hat, bis zu Spa-niens einseitiger nachfrageorientierterWirtschaftspolitik, die ein unhaltbaresAuseinanderdriften von Produktivitätund Lohnentwicklung bei gleichzeitigerÜberhitzung des Immobilienmarktes ge-radezu forciert hat.

Alte Weisheiten helfen nicht

Will Europa im globalen Zeitalter auchweiterhin den Wohlstand genießen,der nach dem Zweiten Weltkrieg auf-gebaut wurde, bedarf es dringendneuer Wachstumsmodelle. Derzeit kur-sierende Vorstellungen, wir könntenwirtschaftliche Stagnation oder etwaMinuswachstum so organisieren, dassjeder daran seinen fairen Anteil trägt,sind abwegig. Gleichzeitig müssen wireine realistische Einschätzung vorneh-men, in wie weit ein Green New Dealund eine vor allem auf Umweltschutzausgerichtete Wirtschaft zu Vermö-gensbildung und Beschäftigungsausbaubeitragen können. So wichtig eine

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olaf cramme – welche zukunft wollen wir?

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Politik des Klimaschutzes ist, nachhal-tiges Wirtschaften muss auch im Sinnevon konstanter Wachstumsprogressionbei gerechter Verteilung der Erträgeverstanden werden.

In den europäischen Hochlohnlän-dern ist dies hauptsächich über Pro-duktivitätssteigerung und Innovationenzu erreichen – im verarbeitenden Ge-werbe und vor allem in Dienstleis-tungssektoren, in denen der größteZuwachs prognostiziert wird. Abersowohl klassische angebotsorientierteals auch nachfrageorientierte Wirt-schaftspolitik mit ihrem jeweiligenVerständnis von Kapitalakkumulationals Wachstumsmotor scheinen weithinter dem zurückzubleiben, was not-wendig ist, um systematisch und nach-haltig Innovationskraft zu beflügeln.

Ein neues Zusammenspiel von staatli-chen Investitionen und Marktdynamikbraucht deswegen auch eine neue Ge-samtkonzeption ökonomischen Han-delns, jenseits von nutzlosen Gegen-überstellungen und trade offs wie Staatversus Market oder Effizienz versusGleichheit.

Die aktuelle Krise scheint für solcheDebatten noch keinen Platz gemachtzu haben. Parteien aller Couleur flüch-ten sich in alte Weisheiten. Paradoxer-weise sind es Sozialdemokraten, die sogut wie kaum davon profitieren, sei esin Großbritannien, Frankreich oderDeutschland. Die Bevölkerung ahntalso, dass eine auf die Vergangenheitbezogene Argumentation noch keinegute Politik für die Zukunft ist. Wirmüssen es besser können. �

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

D R. O L A F C R A M M E

ist Direktor des Londoner Think Tanks Policy Network.

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D ie gegenwärtige Finanz- und Wirt-schaftskrise ist nicht nur beispiel-

los in der elementaren Wucht, mit dersie selbst lange für unbezwingbar gel-tende Hochburgen des angelsächsischenKapitalismus in Trümmer gelegt hat.Das gilt genauso für das rasante Tem-po, mit dem sie sich ausgebreitet hat,wie für ihre Unberechenbarkeit. Dasalles ist dramatisch genug. Wir habenes aber darüber hinaus mit einemPhänomen zu tun, das uns neue Er-kenntnisse und auch Konsequenzenaufnötigt: Hier geht es nicht nur umeine Krise, sondern längst auch um einweltweites Medienereignis, dessen Ei-gendynamik mittlerweile nicht seltendie eigentlichen Anlässe in den Schat-ten stellt. Zu besichtigen ist die zyni-sche Medienregel „Only bad news aregood news“, allerdings mit einer wichti-gen (und erfreulichen) Erweiterung undErgänzung. Mittlerweile zählen auch„good news“, denn die wirtschaftlichenHorrornachrichten haben einen düste-ren Horizont entstehen lassen, der in-zwischen auch jeden Silberstreif zumAnlass für eine Eilmeldung werden

lässt. Es zeigt sich, und selten so deut-lich wie jetzt: Wirtschaft ist eben zurHälfte Psychologie. Dazu kommt derMechanismus der selffulfilling prophecy,der zum Glück nicht nur in negativer,sondern genauso in positiver Hinsichtwirkt. All das muss man sich bei derBewertung des ökonomischen Lage-bildes vor Augen halten, das uns Tagfür Tag in den Zeitungen und denelektronischen Medien präsentiert wird.

Schwarz und Weiß

Das Bild ist so widersprüchlich wie dieBefunde und Ratschläge der Wirt-schaftsexperten, mit denen sich die inder Verantwortung stehenden Politikerauseinandersetzen müssen. Hier einekleine Blütenlese von Meldungen, dieim April in einem Zeitraum von nur 48Stunden von den Nachrichtenagentu-ren veröffentlicht wurden: Das Zen-trum für europäische Wirtschaftsfor-schung (ZEW) in Mannheim berichtetüber eine überraschend deutliche Ver-besserung der mittelfristigen Konjunk-turerwartungen von Finanzanalysten

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Warnungen, Wechsel-bäder und WidersprücheWAS IN DER SCHWERSTEN KRISE DER NACHKRIEGSZEIT ZU TUN IST

VON HARALD CHRIST

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und institutionellen Investoren. Auchder bisher besonders gebeutelte deut-sche Maschinenbau, das Paradepferdder deutschen Exportwirtschaft, sehe abJahresmitte ein Ende der bisherigenTalfahrt, und zwar „in der gesamtenBreite des Maschinenbaus“, so derBranchenverband VDMA. Anlass zurHoffnung bekunden auch die ebenfallshart getroffenen deutschen Autobauer,jedenfalls auf dem riesigen Zukunfts-markt China. VW, BMW, Daimler,Audi, Porsche – alle peilen dort Ab-satzrekorde an. Eher düstere Nach-richten kommen dagegen aus Berlin:Die führenden Wirtschaftsforschungs-institute diagnostizieren die schwersteRezession seit dem Ende des ZweitenWeltkriegs und gehen von einemRückgang des Bruttoinlandsproduktsum sechs Prozent aus, wie inzwischenauch die Bundesregierung. Nochschlimmer ist das, was die deutscheElektroindustrie erwartet. Deren Zen-tralverband ZVEI rechnet für 2009 miteinem Umsatzrückgang um zehn Pro-zent. Die Bundesbank sieht in ihremMonatsbericht für April genausoschwarz: „Im ersten Quartal 2009 hatsich die rezessive Grundtendenz in derdeutschen Wirtschaft weiter verschärft“.Pessimistisch ist auch der Chef desBundesverbandes der deutschenIndustrie (BDI), Hans-Peter Keitel:„Nichts spricht gegenwärtig für einerasche Erholung – weder in Deutsch-land noch anderswo“. Und der Vor-

standschef des BASF-Konzerns, JürgenHambrecht, gibt zur Wirtschaftskrisezu Protokoll: „Ich gehe davon aus, dassdie schlimmsten Zeiten noch vor unsliegen.“ Das Münchner Ifo-Instituthingegen teilt mit, die Stimmung inder deutschen Wirtschaft habe sich imApril verbessert, denn der monatlichunter rund 7.000 Unternehmen erho-bene Geschäftsklimaindex, der als daswichtigste Stimmungsbarometer derdeutschen Wirtschaft gilt, habe sichdeutlich erhöht. Aus den USA hinge-gen kommen „durchwachsene“ Nach-richten: Die zu den größten US-Fi-nanzhäusern zählende Bank of Americaverbuchte zum Jahresanfang einenüberraschend hohen Milliardengewinn.Der vom Staat gestützte Finanzkonzernsetzt damit als fünfte Großbank inFolge die Reihe guter Nachrichten ausder amerikanischen Bankenlandschaftfort. Allerdings warnt KonzernchefKenneth Lewis vor „extrem schwerenHerausforderungen“ durch faule Kre-dite als Folge der Krise.

3 Billionen Euro

Niemand kann heute verlässlich sagen,welche Gefahren der Weltwirtschaftnoch aus der amerikanischen Finanz-industrie drohen, zum Beispiel alsFolge der „Kreditkartenblase“, von derWallstreet-Insider meinen, sie sei nichtweniger gefährlich als die „Immobi-lienblase“. Über vier Billionen Dollar,

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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das sind über 3 Billionen Euro, hat dieKrise nach Berechnungen des Interna-tionalen Währungsfonds (IWF) bislangan weltweiten Verlusten durch Ramsch-papiere und faule Kredite verursacht.

Im Ausnahmezustand

Wende oder Wunschdenken – die Fak-ten geben keine klare Antwort auf diedrängenden Fragen, die diese Krisestellt, so wenig wie die Ratschläge ausder Zunft der „Wirtschaftsweisen“. Sowidersprüchlich wie deren Prognosensind auch ihre Rezepte. Unbestrittenist, dass wir es derzeit mit einer „poli-tischen Ökonomie des Ausnahmezu-stands“ zu tun haben – so der Öko-nom Michael Wohlgemut vomWalter-Eucken-Institut in Freiburg. Zur Bekämpfung der Krise werdennach seiner Ansicht Instrumente einge-setzt, die „im Normalzustand aus gutenGründen als nicht markt- oder system-konform, als wenig verfassungs- oderverhältnismäßig oder auch als schlichtökonomisch schädlich abgelehnt wor-den wären“ – wer wollte das bestreiten?Ob dieses Instrumentarium überhauptgeeignet ist, eine solche Jahrhundert-krise zu meistern, könne nur Gegen-stand von Spekulationen, aber nichtvon Gewissheiten sein. Auch müsseüber die langfristigen Folgen der Krise,etwa verschärfte Inflation, Verschul-dung oder Investitionshemmung, nach-gedacht werden.

Stefan Homburg von der Universi-tät Hannover hingegen möchte in derFinanzkrise „nicht verstaatlichen, son-dern entflechten.“ Die eigentlicheUrsache der scharfen Rezession liegenicht „in der geplatzten Immobilien-blase in den USA und der allgemeinenKreditklemme“. Tatsächlich habe derAbschwung denselben Grund wie frü-here Rezessionen: „Eine Niedrigzins-politik, gefolgt von einer scharfenmonetären Restriktion, die vorüberge-hend zu einer inversen Zinsstrukturführte“. Deshalb solle man die Lagenicht dramatisieren: „Inverse Zins-strukturen lösten in der Vergangenheitregelmäßig Rezessionen aus und wur-den meist von Finanzmarktturbulenzenbegleitet – das ist überhaupt nichtsNeues“. Problemfälle wie Hypo RealEstate, Commerzbank, Schaeffler undOpel dienen Homburg zum Beweis fürseine These, geordnete Insolvenzenseien staatlichen Beteiligungen deutlichvorzuziehen. Bankeninsolvenzen undFinanzmarktturbulenzen seien ebenBestandteil der Marktwirtschaft wieAngebot und Nachfrage.

Was ist ein öffentliches Gut?

Nach Ansicht des Ökonomen MichaelHüther vom Institut der DeutschenWirtschaft in Köln, das den Arbeit-gebern nahesteht, muss die Wirtschafts-politik sich in der Krise vor allem aufdie Genesung des Finanzsektors kon-

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harald christ – warnungen, wechselbäder und widersprüche

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zentrieren, denn dort liege der Krisen-herd. Deshalb sei eine gezielte, zeitlichbefristete Enteignung wie im Fall HypoReal Estate durchaus denkbar: „Damittrüge man dem Verantwortungsgebotdes Staates Rechnung, die Stabilität desWirtschaftssystems als öffentlichesGut zu gewährleisten.“ Im Fall Opelmüsse allerdings eine strengere Gren-ze gezogen werden, denn Industrie-unternehmen seien im Gegensatz zuInstitutionen des Finanzsektors nichtsystemrelevant: „Jeder Eingriff in Un-ternehmenspolitik macht den Staatzum einseitigen Mitspieler, verändertdie Wettbewerbsverhältnisse und he-belt die Haftung aus“.

Ein aktiver Staat?

Und schließlich, last but not least, dieÖkonomin Astrid Ziegler von dergewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, die nachdrücklich für staatli-che Krisenintervention plädiert: Ohneeine „aktive Rolle des Staates bei derKrisenbewältigung sowohl im Ban-kensektor als auch in den industriellenSchlüsselbranchen“ werde über kurzoder lang „ein Dominoeffekt vonBanken- und Unternehmenspleitensowie Massenentlassungen ausge-löst…mit kaum abschätzbaren gesell-schaftlichen Folgekosten“. Daher seiein zügiges Einschreiten des Staates „inallen unternehmensfördernden Facet-ten“ geboten. Ohne diese staatliche

Intervention würden ganze, internatio-nal wettbewerbsfähige Branchen wieder Automobil- oder der Maschinen-bausektor zusammenbrechen.

Ein Ende nicht in Sicht

Ich habe diese vier Expertenmeinungenhier zitiert, weil sie paradigmatisch sindfür das ganze Spektrum der Ratschlägeund Forderungen, mit denen die Poli-tik derzeit konfrontiert wird. Es ist einWirrwarr der Signale und Konzepte,und das Schlimme daran ist: Ein Endeist nicht in Sicht. Sollten sich die Hor-rorprognosen bestätigen, muss eher mitnoch mehr Konfusion gerechnet wer-den. Für die Politik, gleich ob Regie-rung oder Opposition, liegen daringleich mehrere Herausforderungen, wiesie nur selten in der Nachkriegszeit zubestehen waren. Denn es geht nichtnur darum, die derzeitige Krise zu be-wältigen und eine Wiederholung zuverhindern, sondern auch um die Be-herrschung der Folgen, insbesondereder Inflationsgefahr als Konsequenz ausder gigantischen Liquidität, die jetztmit den Konjunkturprogrammen indie Weltwirtschaft gepumpt wird.

Was also soll, was kann die Politiktun? Und was die SPD? Ganz konkret:Soll der Staat Opel oder Schaeffler ret-ten, um nur zwei Sanierungsfälle zu neh-men? Welche Unternehmen, welcheBanken sind „systemrelevant“, und wel-che nicht? Wer entscheidet darüber, und

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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nach welchen Kriterien? Für Sozialde-mokraten gilt: Im Zweifel für dieArbeitsplätze. Also erwarten wir von derBundesregierung, dass sie alles in ihrerMacht Stehende tut, um zum Beispielden Opelanern (mein Vater gehörteauch dazu) die Sorge um die Arbeits-plätze zu nehmen. Zugleich müssen wiruns jedoch vor Augen halten, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, beidem parteiinterne Gremienbeschlüsseund Parteitagsresolutionen leider keinesonderliche Rolle spielen.

Es gibt keinen Königsweg

Das Gefechtsfeld, auf dem die Politiksich hier mit Banken- und Konzern-chefs auseinandersetzen muss, hat seineeigenen Regeln, und die sind durchausnicht immer öffentlich vermittelbar.Öffentliche politische Vorfestlegungenwie die Forderung, die Arbeitsplätzeunter allen Umständen und koste es,was es wolle, zu erhalten, sind in derRegel gut gemeint, erschweren aberhäufig die Verhandlungen und treibenauch noch die Preise hoch. Die SPDmuss dabei auf ihre Minister vertrauenund ihre Arbeit kritisch begleiten.Misstrauen wäre gänzlich unange-bracht. Die dramatischen Verhand-lungen des „Opel-Gipfels“ im BerlinerKanzleramt kurz vor Pfingsten habendiesen Befund mit einer Härte bestä-tigt, die so wohl niemand erwartet hat.Zu sagen, auf diesem Terrain würde

mit harten Bandagen gekämpft, wärewirklich eine Untertreibung. Und wasPeer Steinbrück betrifft: Sein Streit mitder Schweiz hat ihm gallige Kritik ein-getragen, wohl wahr. Aber in SachenOpel war seine Standhaftigkeit für diedeutsche Verhandlungsposition ganzunverzichtbar.

Jede ehrliche Bestandsaufnahmeführt zur Feststellung: Es gibt keinenKönigsweg, kein Patentrezept, unddeshalb auch keinen parteipolitischbegründbaren Anspruch darauf. Wasdie Parteien in ihren programmati-schen Aussagen zur Krisenbewältigungbeitragen, zum Beispiel die SPD im„Hamburger Programm“, beschränktsich im Wesentlichen auf Problem-beschreibungen und vermeidet dieHandlungsebene. Das kann angesichtsder Unberechenbarkeit dieser Krisekaum anders sein, denn heute gültigeThesen und Therapien können mor-gen komplett überholt sein.

Ich möchte der Bundesregierung derGroßen Koalition ausdrücklich attes-tieren, dass sie mit den Konjunktur-programmen und den flankierendenMaßnahmen sachgerecht gehandeltund die richtigen Antworten zum rich-tigen Zeitpunkt gegeben hat. DerZeitdruck dabei war enorm, und esverdient festgehalten zu werden, mitwelchem Tempo Bundesregierung,Bundestag und Bundesrat das Erfor-derliche auf den Weg gebracht haben.Das war eine eindrucksvolle Wider-

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legung der so häufig zu hörendenKlagen über den Immobilismus derPolitik und die Schwerfälligkeit ihrerEntscheidungsprozesse.

Bürokratie abbauen

Und dennoch gibt es dringenden Hand-lungsbedarf, und zwar nicht nur auf derEbene des Bundes. Die Länder undKommunen sind genau so gefordert.Das beste Konjunkturprogramm hilftnichts, wenn die damit bereitgestelltenFinanzmittel nicht, zu spät oder unzurei-chend am Markt wirksam werden, umdie Binnennachfrage zu stützen. Denndarin liegt angesichts der scharfen Rück-gänge im deutschen Export, die aufnationaler Ebene kaum zu beeinflussensind, derzeit unser Hauptproblem. DieUmsetzung der Konjunkturprogrammeleidet unter der Überregulierung derWirtschaft und der öffentlichen Ver-waltung, die ein beklagenswertes Ergeb-nis deutscher Regelungswut ist. Wenndie derzeitige Krise zur Entbürokrati-sierung auf breiter Front führen würde –es wäre schon viel gewonnen. Leistenkönnen wir uns das bürokratischeDickicht schon lange nicht mehr.

Ebenso unerlässlich und dringendist: Der Interbanken-Geldverkehr musswieder in Gang gebracht werden. So-lange das nicht gelungen ist, wird dieBankenkrise, der eigentliche Herd derRezession, nicht bewältigt sein. Ichmöchte jedoch entschieden davor war-

nen, dass wir uns dabei am Beispiel derVereinigten Staaten orientieren. DieAdministration des neuen PräsidentenBarack Obama setzt auf ein Hilfspro-gramm, das eine Kombination von pri-vatwirtschaftlichem und staatlichemEngagement darstellt. Der renom-mierte Ökonom und NobelpreisträgerJoseph Stiglitz hat dieses Konzept kürz-lich untersucht und kam zu dem Er-gebnis: Es ist so, wie man es an derWall Street schon immer gern hatte –gerissen, kompliziert und kaum nochdurchschaubar. Nur die Verteilung derRisiken steht fest: Gewinne werdenprivatisiert, Verluste werden soziali-siert. Keine Partei in Deutschland,schon gar nicht die SPD, könnte sichauf einen solchen Kurs einlassen.Ohnehin wird die Politik insgesamtstärker als bislang darauf achten müs-sen, dass bei allen Maßnahmen zurKrisenbewältigung die soziale Symme-trie gewahrt bleibt. Ich glaube nicht,dass dies bislang immer gelungen ist.

Zwei Wahrheiten

Unabhängig davon bleiben jedoch zweivielfach bewiesene Wahrheiten beste-hen: Es ist ein Irrtum zu glauben, dieZukunftsvorsorge lasse sich unter allenUmständen sicher gestalten, wenn undsolange sie mit Staatsgarantien unter-legt ist. Von dieser Illusion muss diePolitik sich verabschieden, auch undgerade die SPD. Die andere Gewiss-

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heit, die wir zur Kenntnis nehmenmüssen, lautet schlicht: Der Staat taugtnicht viel als Unternehmer, auch nichtals Banker, wie das Desaster der Lan-desbanken beweist. Aber der Staat hateine umfassende Verantwortung für dieWirtschaft und die Arbeitsplätze, unddie wird ihm von den Wählern auchzugewiesen. Konkret bedeutet das: DerStaat kann auf eine aktive Wirtschafts-politik nicht verzichten, und derenInstrumentenkasten muss mehr enthal-ten als nur das Regelwerk für dieRahmenbedingungen. Aktiv bedeutetauch: Intervention bis zur befristetenVerstaatlichung. Den Kritikern, die dasfür eine ordnungspolitische Todsündean der Sozialen Marktwirtschaft halten,sage ich: Es geht nicht darum, dieMarktwirtschaft auszuhebeln, sondernsie wieder funktionsfähig zu machen.

Ein neues Gleichgewicht

Kein verantwortungsbewusster Politiker,welcher Partei er auch angehören mag,kann sich heute noch auf die ökonomi-schen Selbstreinigungskräfte des Marktesverlassen, die so eklatant versagt haben.Wir brauchen ein neues Gleichgewichtzwischen Staat und Markt. Ich glaube,die Europäische Union ist auf dem rich-tigen Wege, wenn sie eine lückenloseÜberwachung der Finanzmärkte errei-chen will – mit Sanktionsinstrumentenfür Steueroasen, mit Kontrollen fürHedgefonds, einem Frühwarnsystem für

Finanzkrisen und einer Beschränkungvon Bonuszahlungen für Manager. Wirbrauchen neue „Verkehrsregeln“ aufden internationalen Finanzmärkten.Eine Projektgruppe des SPD-Partei-vorstands hat dazu mit großer Sorgfaltgute Vorschläge erarbeitet. Wir müssendahin kommen, mögliche Krisenherdefrühzeitig zu identifizieren und ihreAuswirkungen besser in den Griff zubekommen.

Ich möchte mich hier auf die wich-tigsten Vorschläge der SPD-Projekt-gruppe beschränken. Die Finanzinsti-tute sollen danach zu einer höherenLiquiditäts- und Eigenkapitalvorsorgeverpflichtet und zugleich strengerenBilanzierungspflichten unterworfenwerden. Es geht vor allem darum, dassRisiken künftig eindeutig in den Bilan-zen der Finanzinstitute ausgewiesenund nicht mehr, wie bislang üblich, inZweckgesellschaften ausgelagert wer-den. Weiter schlägt die SPD-Projekt-gruppe vor, die Beratungstätigkeit derRating-Agenturen zu reduzieren undihre Tätigkeit zu kontrollieren. AuchHedge-Fonds und Private Equity-Fonds sollen effektiver kontrolliert undreguliert werden. Das betrifft insbeson-dere die Pflichten zur Offenlegung derVermögens- und Eigentümerstrukturund verstärkte Aufklärungspflichtenhinsichtlich der Risiken für Anleger.Vor allem aber, und das ist vielleichtder wichtigste Vorschlag der SPD-Projektgruppe, soll die nationale und

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supranationale Zusammenarbeit allerAufsichtsbehörden in der EU-Ban-kenrichtlinie verankert werden.

Banken müssen aufräumen

Voraussetzung für eine Überwindungder Krise ist, dass eine starke und vorallem einige Staatengemeinschaft die fürnotwendig erachteten Regeln auch tat-sächlich durchsetzt und global operieren-de Organisationen wie den Internatio-nalen Währungsfonds mit strengenKontrollen beauftragt. Für die Bundes-republik ergibt sich aus Wucht undAusmaß der Finanzkrise auch die Not-wendigkeit, ihr Bankensystem zu über-prüfen. Ich plädiere dafür, die dreiglied-rige, ausgeprägt dezentrale deutscheBankenstruktur aus Sparkassen, Genos-senschaftsbanken und Geschäftsbankenbeizubehalten, weil sie sich bewährt hat.Der Landesbankensektor sollte konso-lidiert und die Zahl der Institute redu-ziert werden – und zwar mit einem Ge-schäftsmodell, das dem Kernauftrag derLandesbanken entspricht. Das Geschäftals global player mit hochspekulativenFinanzprodukten gehört mit Sicherheitnicht dazu – das sollten wir aus derKrise gelernt haben. Eine Situation, wiesie gegenwärtig bei der HSH Nordbankzu besichtigen ist, in der deren „toxi-sche“ Papiere womöglich über das politi-sche Schicksal ganzer Landesregierungenentscheiden können, ist unerträglich undmuss beendet werden. Eines der Instru-

mente dafür ist die Auslagerung solcherPapiere in eine „Bad Bank“ um so denInterbanken-Geldverkehr wieder inGang zu bringen. Nach meiner Über-zeugung ist die Einrichtung solcher „BadBanks“ nicht zu vermeiden. Nur mussman sich darüber im Klaren sein, dass es sich dabei um finanzielle Giftmüll-deponien handelt, und genau so, als Gefahrenherd ersten Ranges, müssen sie behandelt und – konkret gesagt –kontrolliert werden. Die Krise ist vomFinanzsektor ausgegangen, und deshalbist es nicht mehr als recht und billig,wenn vor allem die Banken an denKosten für die Rettungs- und Aufräum-arbeiten beteiligt werden, und zwar zuLasten künftiger Dividenden und Ge-winne, und eben auch mit vorüberge-henden Konsequenzen für die Eigen-tümerstruktur.

Eine Schutzmacht für die Kleinen

Das große und gefährliche Problem die-ser Krise besteht nach wie vor in dermisstrauischen Ungewissheit darüber,wie sie sich entwickeln wird – eine Un-gewissheit, die kein Konjunkturforscher,kein Börsenguru, kein Top-Banker, undschon gar kein Finanz- oder Wirtschafts-minister beseitigen kann. Gleichwohlsteht die Politik unter Handlungsdruck,und das zu Recht. In einer solchen Situ-ation kann verantwortliche Politik sichkeinesfalls an jene Lebensregel halten,die besagt: Wenn man unschlüssig über

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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H A R A L D C H R I S T

ist Vorstandsvorsitzender der Christ Capital AG und ehemaliger Schatzmeister der SPD Hamburg.

das ist, was getan werden muss, tut manam Besten zunächst gar nichts und war-tet ab. Ein solcher Attentismus wäre fa-tal und auch nicht durchzuhalten. DasGegenteil, wilder Aktionismus, wäregenauso schädlich. Ich plädiere füreinen Mittelweg – nicht sogleich eindrittes Konjunkturprogramm aufzule-gen, sondern erst einmal dafür zu sor-gen, dass die bisherigen Maßnahmen„greifen“. Vor allem aber: Wir brauchenDeregulierungsschneisen durch unserRegelungsdickicht – und das nicht nurzur Bewältigung der jetzigen Krise, son-dern mindestens genau so, um für dennächsten Aufschwung gerüstet zu sein.

Deutschland hat unverändert enormeChancen im Wettbewerb der großenWirtschaftsnationen. Aber wenn wir sienutzen wollen, müssen wir entschlossenInfrastruktur, Bildungswesen und dengesamten Staatsapparat modernisieren.Die Aufgabe, vor der wir stehen, istzweifacher Natur: Wir müssen die Krisebewältigen, und zugleich die darin lie-genden Chancen nutzen, um die Zu-kunft zu gewinnen. Diese Herausforde-rung betrifft alle Parteien. Die SPD aberhat dabei eine besondere Verantwor-tung. Die Sozialdemokratie muss sich alsSchutzmacht der kleinen Leute bewäh-

ren. Die SPD muss dafür sorgen, dassdie Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer, die jetzt ihren Beitrag leisten,damit die Unternehmen durch die Krisekommen, nicht leer ausgehen, wenn dieZeiten sich wieder bessern. Ich halteüberhaupt nichts davon, das Gespenstsozialer Unruhen heraufzubeschwören.Das würde den Realitäten nicht gerechtund wäre überdies gänzlich kontrapro-duktiv, weil es Ängste weckt, die denpolitischen Gegnern der SPD in dieHände arbeiten.

In dieser schweren Zeit gibt es inunserem Land ein erstaunliches underfreuliches Maß an Gelassenheit undsolidarischer Entschlossenheit, die Krisegemeinsam durchzustehen. Das betrifftdie Belegschaften in den Unternehmen,ihre Betriebsräte, die Unternehmenslei-tungen und auch die Gewerkschaften,die keinesfalls Öl ins Feuer gießen. Dassind Leute, die etwas zustanden bringenwollen. Mein Rat an die SPD ist, sichin ihren Forderungen auf das zu kon-zentrieren, was realistisch und wirklichdurchsetzbar ist, und das mit allerEnergie in Angriff zu nehmen. Allesandere, Gespenster wie Luftschlösser,können wir Sozialdemokraten getrostanderen überlassen. �

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M arketingagenturen wären glück-lich. Klagten die neuen EU-Staa-

ten in Mitteleuropa in den letzten Jah-ren oftmals über eine mangelndeWahrnehmung durch das alte West-europa, ist Mittel- und Osteuropagegenwärtig – wenngleich reichlichundifferenziert – in aller Munde. Be-sonders Ungarn hat den Sprung in dieWirtschaftsressorts der internationalenPresse geschafft. Allerdings nicht so,wie sich das die Marketingstrategen gewünscht hätten. Niemand redetmehr vom Musterschüler der Trans-formation, sondern sorgenvoll blickenwir auf den wirtschaftlichen Nieder-gang an der Donau.

Nah am Bankrott

Ungarn ist zweifelsohne in einer Krise.Aber der erste Blick täuscht und die inden Schlagzeilen der internationalenPresse gezogenen Kausalitäten greifenzu kurz. Die weltweite Finanz- undWirtschaftskrise ist nicht ursächlichfür die katastrophale Lage in diesem

Land verantwortlich – sie lässt sie nurin einem so dramatischen Maße deut-lich werden.

Infolge der weltweiten Finanzkrisezogen viele Anlieger ihr Kapital vomungarischen Finanzmarkt ab. Die Kur-se an der Budapester Börse stürztenab. Zwar senkte die Ungarische Na-tionalbank den Leitzins, doch derHandel mit Staatsanleihen kam zumErliegen und der ungarische Forint fielgegenüber dem Euro auf ein Rekord-tief. Da die ungarischen Banken über-wiegend von westlichen, insbesondereösterreichischen Mutterhäusern abhän-gig sind, und auch diese ihr Kapitalabzogen, geriet Ungarn in erheblicheLiquiditätsengpässe. Viele Privathaus-halte, die in der Vergangenheit günsti-ge Fremdwährungskredite, zumeist inEuro oder Schweizer Franken, aufge-nommen hatten, standen vor einergigantischen Schuldenspirale. DasLand schien in den wirtschaftlichenZusammenbruch zu schlittern. Erstein Hilfspaket des InternationalenWährungsfonds, der Weltbank und

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Die Krise ist schon lange hierNICHT DIE FINANZ- SONDERN EINE POLITISCHE

VERTRAUENSKRISE IST SCHULD AN UNGARNS PROBLEMEN

VON GEREON SCHUCH

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der EU über 20 Milliarden Euro be-wahrte das Land Ende Oktober 2008vor dem Bankrott.

Der ungarische Staat hat internationalseine Kreditwürdigkeit verloren; infolge-dessen wurde seine Bonitätseinstufungauf BBB – herabgesetzt, mit weiterhinnegativem Ausblick. Was passiert da „imOsten“? Gerade in Deutschland, wo ein– kaum erklärbares – positives Bild vonUngarn verbreitet ist, war man über-rascht, wie heftig sich die Wirtschafts-krise dort auszuwirken schien. In einemGespräch versuchte ein hoher ungari-scher Beamter zu „beruhigen“: „Wiesoaktuelle Krise? – Die Krise ist schonlange hier, das Ausland hat es nur nochnicht gemerkt!“

Der Gegner ist ein Feind

Denn der genaue Blick auf Ungarnzeigt: Nicht toxische Papiere bedrohenden Budapester Finanzmarkt, sonderneine vergiftete gesellschaftliche Atmo-sphäre destabilisiert die parlamentari-sche Demokratie. Nicht Banken sind ander Donau zusammengebrochen, son-dern der gesellschaftliche Grundkonsensüber die Regeln der Demokratie scheintbrüchig. Die Bereitschaft zum politi-schen Kompromiss ist in den letztenJahren verloren gegangen – und das hatauch nachhaltig das Vertrauen in denFinanzmarkt Ungarn erschüttert.

Wie wohl kein anderes Land in Mit-teleuropa ist Ungarn politisch polarisiert

und gesellschaftlich gespalten. Dies ziehtsich durch alle Bereiche des öffentlichenLebens, das von der simplen Teilung in„rechts“ und „links“ geprägt ist. Es istder Kampf gegen angebliche Kommu-nisten oder gegen angebliche Nationa-listen – je nachdem, auf welcher Seitedes Grabens man steht. Der politischeGegner ist ein politischer Feind, daspolitische Bekenntnis wird zum Koor-dinatensystem zwischen „Gut“ und„Böse“. Ihre Verortung findet dieseSpaltung in den beiden großen Parteien,dem nationalkonservativen „Unga-rischen Bürgerbund“ (Fidesz) und der„Ungarischen Sozialistischen Partei“(MSZP). Folge dieser Dichotomie ist,dass es dazwischen keine relevanten poli-tischen Kräfte geben kann: Das konser-vative „Ungarische DemokratischeForum“ (MDF) versucht zwar nachJahren der Allianz mit Fidesz wiederseine Eigenständigkeit zu betonen, wirdaber weiterhin als Teil des „rechtenLagers“ verstanden, wogegen der „Bundder Freien Demokraten“ (SZDSZ) alslangjähriger Koalitionspartner der Sozia-listen dem „linken Lager“ zugerechnetwird. So einfach ist Politik in Ungarn.Parlamentarische Koalitionen über dieseDemarkationslinie hinweg sind undenk-bar. In den beiden Parteiführern fanddie politische Polarisierung und gesell-schaftliche Spaltung des Landes ihreInkarnation. Der MSZP-VorsitzendeFerenc Gyurcsány, ehemaliger KP-Funktionär und heute einer der reichs-

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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ten Männer des Landes, und Fidesz-Chef Viktor Orbán, ehemals liberalerRegimekritiker, verkörpern die unüber-brückbaren Gegensätze zwischen postso-zialistischer „linker“ Wirtschaftselite undpopulistischem „rechten“ Nationalkon-servativismus. Ähnlich sind sich beidenur darin, dass sie der Bevölkerung im-mer wieder suggeriert haben, der Wohl-stand werde – unter ihrer Führung –weiter steigen und Ungarn werde end-lich zum ersehnten wohlhabenden Wes-ten gehören.

Die Elite führte in den Ruin

In weiten Teilen der Öffentlichkeitherrscht heute kein Bewusstsein, dassUngarn in den vergangenen Jahren überseine Verhältnisse gelebt hat; der steigen-de Lebensstandard wurde oft durch Kre-dite finanziert. Hochgeschraubt wurdediese Spirale durch unverantwortlicheWahlversprechen beider politischer La-ger, die nach gewonnener Wahl von derjeweiligen Regierung auch bedenkenlosumgesetzt wurden. Die politische Eliteführte das Land damit in den Ruin.Hatte Lajos Bokros, Finanzminister dersozialistisch-liberalen Regierung vonGyula Horn, den Haushalt Mitte derneunziger Jahre – gegen erheblichegesellschaftliche Widerstände – durchradikale Sparmaßnahmen deutlichsaniert, wurde von den nachfolgendenRegierungen wenig Rücksicht auf dasHaushaltsdefizit genommen. Ihren vor-

läufigen Höhepunkt fand diese Entwick-lung 2006. Angesichts eines prognos-tizierten Haushaltsdefizits von über 10Prozent des Bruttoinlandsprodukts zogdie im April 2006 im Amt bestätigtesozial-liberale Koalition die Notbremse,ergriff radikale Sparmaßnahmen undstrich staatliche Förderungen. Infolge-dessen stiegen die Preise für Gas undStrom, die Krankenkassenbeiträge wur-den erhöht, Einkommens- und Mehr-wertsteuer angehoben. Die – dringendnotwendige – Reform des Gesundheits-und Bildungswesens wurde angegangen.Zwar gelang es der Regierung, das De-fizit für 2006 auf „nur“ 9,3 Prozent zubegrenzen. Doch bei der Bevölkerungstießen die Sparmaßnahmen auf hefti-gen Widerstand, es kam zu Protesten.

Kein Konsens mehr

Die konservative Opposition setzte sichan die Spitze dieser Bewegung, be-kämpfte das Sparprogramm und for-derte die Einhaltung der großzügigensozialliberalen Wahlversprechen – wohlwissend, dass der ungarische Haushaltmit dem Rücken zur Wand stand.Fidesz nutzte den einsetzenden Wahl-kampf der im Oktober 2006 stattfin-denden Kommunalwahlen, um sie zueinem Referendum über die Regierungzu stilisieren. Oppositionsführer ViktorOrbán begann, die Massen zu mobili-sieren und den gesellschaftlichenGrundkonsens der parlamentarischen

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gereon schuch – die krise ist schon lange hier

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Demokratie zu destabilisieren: EineNiederlage der Koalitionsparteien beiden Kommunalwahlen ziehe nach sich,dass die – im April (!) gewählte – Re-gierung „illegitim“ sei und zurücktre-ten müsse.

Der Aufstand

In Budapest herrschte explosive Stim-mung. „Das Land steht vor einem Auf-stand“, kommentierte damals eine unga-rische Politologin. Sie sollte Rechtbehalten und musste gar nicht langewarten: Am 17. September 2006 wur-den Auszüge einer nichtöffentlichenRede Gyurcsánys bekannt, die dieser am26. Mai des Jahres – nach der gewonne-nen Parlamentswahl – vor internenParteigremien gehalten hatte. Darin gaber zu, vor den Wahlen der Öffentlichkeitdie tatsächliche desolate Wirtschaftssi-tuation verschwiegen zu haben. DieBevölkerung, gegenüber der sich derMinisterpräsident nun als verantwor-tungsvoller Haushaltssanierer präsentier-te, fühlte sich zynisch verhöhnt undbetrogen. Bei vielen Menschen brach dasVertrauen in die Politik zusammen unddie Demokratie erlitt einen nachhaltigenSchaden. Noch am gleichen Abend fan-den sich erboste und enttäuschte Bürgerzu spontanen Demonstrationen zusam-men, die am folgenden Tag auf rund10.000 Personen anwuchsen und denRücktritt des Ministerpräsidenten for-derten. Es kam zu gewaltsamen Aus-

einandersetzungen, eine Gruppe ausHooligans und Rechtsradikalen stürmtedas Fernsehgebäude, das trotz Polizei-aufgebot angezündet und geplündertwurde. Das dem Fernsehgebäude gegen-über gelegene zentrale Denkmal für diegefallenen Sowjetsoldaten des ZweitenWeltkriegs wurde stark beschädigt. DieOpposition nutzte die Dynamik dieserEreignisse und ließ sich auf ein Spiel mitdem Feuer ein, das bis heute schweltund den gesellschaftlichen Grundkon-sens der parlamentarischen Demokratielangsam auszuräuchern droht: Fideszmobilisierte die Straße gegen das Parla-ment und verließ fortan den Plenarsaal,wenn der Ministerpräsident sprach.

Harte Konsolidierung

Nach der für die Regierungskoalitionverlustreichen Kommunalwahl am 1.Oktober stellte Orbán dem Minister-präsidenten ein 72-stündiges Rücktritts-ultimatum, andernfalls werde man dieAbsetzung der Regierung durch fortdau-ernde Demonstrationen erzwingen.Orbán versuchte, eine Massenbewegunggegen die Regierung zu erreichen. Esunterblieb eine klare und konsequenteAbgrenzung gegenüber gewaltbereitenRandalierern und Rechtsextremen, derenSymbole allgegenwärtig waren. Ge-schickt wurden dabei Ende Oktober dieFeierlichkeiten zum 50. Jahrestag desVolksaufstandes von 1956 instrumenta-lisiert: Noch immer seien, so Fidesz, die

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Kräfte an der Macht, die damals denAufstand niedergeschlagen hätten. 1989habe keine Wende stattgefunden – siemüsse endlich herbeigeführt werden.Die von Orbán betriebene Verlagerungder politischen Auseinandersetzung vomParlament auf die Straße führte interna-tional jedoch eher zu einer Stärkung derRegierung Gyurcsány, die sich als Ga-rant der öffentlichen Ordnung darstellenkonnte. Der Ministerpräsident dachtenicht daran, sein Amt aufzugeben undführte mit einer durch den Druck vonAußen eher disziplinierten Regierungs-koalition sein Sparprogramm weiter.

Es gelang der Regierung zwar in denfolgenden Monaten, das dramatischeHaushaltsdefizit des Vorjahres bisEnde 2007 auf rund 5 Prozent zureduzieren. Allerdings gingen auch dieReallöhne um fast fünf Prozent zurück.Die Preise stiegen 2007 im Vergleichzum Vorjahr um fast 8 Prozent, dieungarische Wirtschaft befand sich aufeiner Talfahrt: Das Wachstum fiel von4,1 im Jahre 2006 bis Ende 2007 aufknapp über ein Prozent. Dieser wirt-schaftliche Niedergang führte bei brei-ten Bevölkerungsschichten zu einerVermischung von verklärender Nostal-gie an den „Gulaschkommunismus“der Vorwendezeit mit diffusen Glo-balisierungsängsten. Und aus diesenÄngsten ließ sich politisches Kapitalschlagen. Der einzelne Bürger fühltesich als Opfer. Als Opfer der Banken,deren Fremdwährungskredite er nun

kaum noch decken konnte. Als Opferder ausländischen Konzerne, die nachder Wende die maroden Staatsbetriebeaufgekauft haben und nun massenhaftArbeitsplätze strichen. Als Opfer desKapitalismus, der nicht zu bietenscheint, was von ihm erhofft wurde.

Eine neue Regierung

Fidesz griff diese Stimmung auf und ver-knüpfte die moralische Verurteilung desMinisterpräsidenten mit dem politischenKampf gegen sein Haushaltskonsolidie-rungsprogramm. So initiierte Orbán imFrühjahr 2008 ein Referendum gegendie Reform des Gesundheits- und desBildungswesens – wohl wissend, dassbeide Bereiche dringend reformbedürftigwaren. Es ist wenig verwunderlich, daßdie Bevölkerung am 9. März 2008 beieiner Wahlbeteiligung von über 50Prozent mit über 80 Prozent für dieAbschaffung der Krankenhaustagege-bühren, der Praxisgebühren und derStudiengebühren stimmte. Zum 1. April2008 nahm die Regierung die Reformenzurück. Fidesz war es gelungen, das beibreiten Bevölkerungsschichten aus demKommunismus übernommene Verstän-dnis anzusprechen, soziale Gerechtigkeitdefiniere sich durch kostenfreien Zugangzu sozialen Leistungen.

Der wirtschaftliche und politischeDruck der globalen Krise, die Ungarnin einer politisch instabilen und wirt-schaftlich geschwächten Phase stark

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belastet, zermürbte schließlich auchMinisterpräsident Gyurcsány. Seit 2004regierte er, anfangs in Koalition mitden Liberalen. Nachdem die Liberalenim April 2008 infolge des verlorenenReferendums und der Rücknahme wei-ter Teile der Gesundheitsreform aus derRegierung ausgetreten waren, führteGyurcsány eine Minderheitsregierung.Am 23. März 2009 erklärte er überra-schend seine Bereitschaft zum Rücktrittund legte kurz danach auch den Partei-vorsitz nieder. Damit war Orbán nunder direkte Gegenspieler abhandengekommen, aus dessen Bekämpfung erbislang seine Popularität bezog.

In einem konstruktiven Misstrauens-votum wurde am 14. April 2009 mitden Stimmen der Sozialisten und derLiberalen der bisherige Wirtschafts-minister Gordon Bajnai neuer Minister-präsident einer so genannten „Experten-regierung“. Er gilt als enger Vertrauterseines Vorgängers, ist weder Parteimit-glied noch gehört er dem Parlament an.Die Bezeichnung „Expertenregierung“suggeriert eher fachliche Expertise dennpolitische Verantwortung der Parteien.Doch auch die „Expertenregierung“braucht die Unterstützung und dieStimmen der Parlamentarier – und be-kommt sie von den bisher regierendenSozialisten und dem ehemaligen libera-len Koalitionspartner. Das erstauntnicht, denn die meisten Kabinettsmit-glieder gehörten der bisherigen Regie-rungspartei an bzw. stehen ihr nahe. Die

„Expertenregierung“ ist damit wederNeuanfang noch Kontinuität, dennochprofitieren alle im Parlament vertretenenParteien: Allen voran die Sozialisten,denn sie bleiben, wenn auch wenigersichtbar, an der Macht. Und da sowohlfür die Liberalen als auch für das konser-vative „Ungarische Demokratische Fo-rum“ der Wiedereinzug ins Parlamentmehr als ungewiss ist, spielen auch siedieses Spiel mit. Ebenso der Fidesz,denn je länger eine von ihm nicht unter-stützte Regierung im Amt ist, desto hö-her wird Orbáns Sieg bei den nächstenregulären Parlamentswahlen im Frühjahr2010 sein.

Rechtsextreme als Partner?

Viktor Orbán lehnte – obwohl er sichfrüher aus taktischen Gründen anderslautend geäußert hatte – die Bildungeiner parteiübergreifenden Regierungund die Unterstützung eines gemeinsa-men Kandidaten strikt ab. Wenngleichmit Gyurcsánys Rücktritt die Haupt-forderung der Opposition erfüllt war,hat sich Orbán im politischen Graben-kampf mittlerweile derart festgefahren,dass eine parteiübergreifende Verstän-digung – sofern sie denn jemals wirklichgewollt war – vom rechten Lager alsVerrat gedeutet würde. Der Fidesz lässtsich dazu auf ein gefährliches Spiel mitdem Feuer ein: Der rechte Rand solleingebunden und eine Spaltung des„bürgerlichen“ Lagers verhindert wer-

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den, um eine eigene überwältigendeMehrheit zu erzielen und nach denWahlen nicht auf einen rechtsextremenKoalitionspartner angewiesen zu sein,der national wie international eine unan-genehme politische wie mediale Wahr-nehmung auf sich ziehen würde.

Schlechte Aussichten

Orbán versucht sich so in der Franz-Josef-Strauß-Taktik: Den rechten Randrhetorisch bedienen, politisch einbindenund dann aufsaugen und dominieren.Doch die immer mehr an Popularitätgewinnende rechtsextreme Partei„Jobbik“ (ein im Ungarischen doppel-deutiger Begriff = die Rechten, die Bes-seren) hat in letzten Wahlumfragenknapp die 5 Prozent-Hürde übersprun-gen. Und auch die „Ungarische Garde“,eine rechtsextreme Bewegung, die sichals „Bürgerwehr“ versteht und ihreUniformen an die der ungarischenFaschisten der vierziger Jahre anlehnt,sorgt im In- wie Ausland immer wiederfür Schlagzeilen. Die eigentliche Gefahrgeht jedoch nicht von der relativ kleinenGruppe Rechtsextremer aus, sondernvom schleichenden Einzug des Rechts-extremismus in den öffentlichen politi-schen Diskurs, von seiner zunehmendenSalonfähigkeit und gesellschaftlichenEtablierung.

Der neue Premier Bajnai steht vorkeiner beneidenswerten Herausforde-rung. Hatte die Regierung Ende 2008

für das Folgejahr noch ein Wirtschafts-wachstum von 3 Prozent kalkuliert, wirdmittlerweile eine Rezession von mehr als6 Prozent erwartet. Um das Haushalts-defizit an der symbolischen 3 Prozent-Marke des Bruttoinlandsprodukts zuhalten, sind angesichts der infolge dernachlassenden Wirtschaftsleistung zu-rückgehenden staatlichen Einnahmenmassive Ausgabenkürzungen notwendig.Hierzu hat Bajnai dem Parlament einumfangreiches Sparpaket vorgelegt, dasmit den Stimmen der Sozialisten undLiberalen angenommen wurde. Zum 1.Juli 2009 werden die 13. Monatsrenteund das 13. Gehalt der öffentlichen Be-diensteten gestrichen. Das Rentenalterwird schrittweise von 62 auf 65 Jahreangehoben, die Mehrwertsteuer steigtum fünf auf 25 Prozent, Subventionenfür Gas und Strom werden weitergekürzt. Sozialleistungen für Familienbzw. Mütter werden ebenfalls beschnit-ten und die Wohnbauförderungengestrichen. Zum Ausgleich sollen dieSozialabgaben sinken und niedrigeEinkommen sowie Grundbedarfsgüterschwächer besteuert werden. Zum Be-ginn des nächsten Jahres wird eine neueImmobiliensteuer eingeführt.

Für die Menschen in Ungarn stehenkeine leichten Zeiten bevor. Bajnai selbstsprach von einem für alle schmerzhaftenProgramm. Außerdem steht er interna-tional unter Druck und hat nur begrenz-ten Handlungsspielraum, denn Ungarnhat sich bei den Verhandlungen für den

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internationalen Notkredit zu weit rei-chenden Konsolidierungsmaßnahmenverpflichten müssen. Doch Orbán atta-ckiert die Pläne der Regierung aufsHeftigste und verspricht, nach einemWahlsieg sämtliche Spar- und Steuer-maßnahmen wieder zurückzunehmen.Ein eigenes solides Haushaltskonso-lidierungsprogramm hat Fidesz aller-dings bislang nicht präsentiert, auchbleibt unklar, wie ohne Belastung derPrivathaushalte die Auflagen des Finanz-hilfepakets erfüllt werden sollen. So ein-fach kann Oppositionsarbeit sein.

Ob das umfangreiche Reformpro-gramm der Übergangsregierung nach-haltige Wirkung erzielen wird, ist mehrals fraglich – denn Gordon Bajnai bleibtnicht viel Zeit. Im nächsten Frühjahrstehen Neuwahlen an, Ende des Jahreswird der Wahlkampf beginnen, und das„Expertenkabinett“ hat nach eigenemBekunden gegenwärtig keine über denWahltag hinausgehenden politischenAmbitionen. Damit verliert Ungarn inden nächsten Monaten kostbare Zeit.Genau aus diesem Grund hat Staats-präsident László Sólyom nach derRücktrittsankündigung Gyurcsánys

umgehend Neuwahlen gefordert. Nur sokönne eine stabile neue Regierung gebil-det werden, die dann für eine reguläreLegislaturperiode handlungsfähig sei.Sein Wunsch fand jedoch kein Gehör.

Viktor Orbán sieht nun seine großeStunde kommen, die lang beschworene„Wende“ scheint in greifbarer Nähe.Umfragen prognostizieren Fidesz ge-genwärtig eine Zweidrittelmehrheit imParlament. Die Sozialisten, so Orbán,hätten das Land in den vergangenensieben Jahren zugrunde gerichtet undwürden dafür bei den nächsten Wah-len politisch und anschließend vonder neuen Regierung juristisch zurVerantwortung gezogen. Dann wirddas Spiel weitergehen, nur mit geän-derten Rollen.

Auch wenn 2010 der wirtschaftlicheAufschwung nach Europa zurückge-kehrt sein sollte, solange im politischenMeinungsbildungs- und Entscheidungs-prozess der Kompromiss als Schwächeempfunden, als Niederlage dargestelltund als Verrat bekämpft wird – solangewird die Krise in Ungarn bleiben. Unddort fühlt sie sich seit längerem sehrwohl. �

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D R. G E R E O N S C H U C H

ist Programmleiter am Zentrum für Mittel- und Osteuropa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

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D er Fall der Mauer, die Freigabe derDDR durch Gorbatschow und die

Veränderungen in der DDR („Wirsind das Volk“) machten 1990 dieWiedervereinigung möglich. Die Ver-änderungen in der Sowjetunion undbei ihren Verbündeten führten zumZusammenbruch des Ostblocks undzu dessen Ende. Durch die nunmehroffenen Kapitalmärkte entwickelte sichdie Globalisierung mit ihren positivenwie negativen Folgen überproportionalschnell. Die sprunghafte Weiterent-wicklung des elektronischen Medien-transfers schaffte dafür die technischeGrundlage.

Die Weltwirtschaft und ihre Insti-tutionen waren auf diese globale Ent-wicklung ebenso wenig vorbereitet wiedie Deutschen auf ihre Wiedervereini-gung. Mittlerweile ist das entfesselteWeltfinanzsystem – für alle offensicht-lich – an seine Grenzen gestoßen. Füh-rende Wissenschaftler und Analytikerwarnen eindringlich vor einem Kollaps.

Eine Hauptursache ist, dass keinegesetzlichen Regelungen bezüglichDeregulierung und Selbstregulierungdes Marktes existieren. Im Wettbewerbder Nationen und Regionen bedarf es

jedoch einheitlicher Normen und Re-geln. Der weltweite Kapitalverkehrhingegen ignoriert staatliche Grenzenund Regeln weitgehend. Im Standort-wettbewerb der Staaten bilden Steuer-hinterziehung und Steuerumgehungeigene Geschäftsfelder. Die schwinden-den Steuereinnahmen müssten durchBesteuerung globaler Transaktionenkompensiert werden.

Kurz vor dem Zusammenbruch

Eine Folge dieses Prozesses ist, wie sichbereits deutlich zeigt, die Umverteilungvon Einkommen und Vermögen vonunten nach oben – von vielen zu weni-gen, von Personen zu Kapitalinstitutio-nen. Hinzu kommen, sowohl nationalals auch international, Einschränkun-gen des sozialen Ausgleichs, ein An-wachsen der Inflation und damit eineweitere Konzentration des Reichtums.

Wir alle wissen, dass nicht alle Men-schen Zugang zu diesen Systemenhaben. Etwa eine Milliarde Menschenhat kein Dach über dem Kopf, keinenZugang zu Trinkwasser, Medikamen-ten, Bildung. Diese Menschen müssenvon weniger als einem Dollar pro Tag

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Gibt es einen dritten Weg?NUR MIT REFORMEN LÄSST SICH DIE FINANZ- UND SYSTEMKRISE ÜBERWINDEN

VON EDGAR MOST

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leben. Die Hälfte der Menschheit –3,5 Milliarden – lebt von weniger alszwei Euro pro Tag. Jedes Jahr sterbenfast elf Millionen Kinder unter fünfJahren. Armut ist die schlimmsteKrankheit. Sie muss durch ein neuesWeltfinanzsystem besiegt werden. Dasbedeutet, dass sich die Zinsen für Ent-wicklungshilfen gegen Null entwickelnund alle Zinseszinserscheinungen abge-schafft werden müssen. Der Zins istzugleich Schmiermittel und Krebsge-schwür für die wirtschaftliche undsoziale Entwicklung. Auch in Deutsch-land nimmt die Bedeutung ergänzen-der – alternativer, regionaler, produkt-bezogener – Währungssysteme zu, mitdenen man sich punktuell vor Welt-finanzkrisen schützen kann. DiesemThema müssen wir zukünftig mehrBeachtung schenken.

Mit der derzeitigen Finanzkrise sindwir lediglich knapp am totalen Zusam-menbruch vorbeigeschrammt, wobeiwir die Krise nicht als überwundenansehen dürfen, solange die Grund-prämissen einer Übereinstimmung vonFinanz- und Realwirtschaft nicht er-reicht sind. Leider wird über diesesThema in den Krisenberatungen nichtdiskutiert. In ihrem Buch Weltfinanz-system am Limit weisen die Wissen-schaftler um Dirk Sollte darauf hin,dass von 1970 bis 2005 das Finanz-vermögen gegenüber der Wertschöp-fung einen überproportionalen Anstiegaufwies. So wuchs das Gesamtvolumen

der Verschuldung auf dem Weltfinanz-markt um das Dreißigfache, das Geld-volumen aus Aktien gar um das Vier-zigfache, wohingegen das weltweiteBruttoinlandsprodukt lediglich um dasDreizehnfache stieg. Aus diesen dispro-portionalen Steigerungsraten resultiert,dass sich der Anteil des Einkommensaus Finanzvermögen mehr als verdop-pelte. Das bedeutet eine gewaltige Stei-gerung des Einkommens aus Sachver-mögen – logisch, dass der Anteil ausder Erwerbsarbeit dabei stetig sank.Wo soll das hinführen, wenn weltweitdas Einkommen aus Finanzblasenschneller steigt als aus realwirtschaftli-cher Arbeit?

Das Bankensystem ist krank

Die Ursachen der weltweiten Verschul-dung und des proportional dazu wach-senden Geldreichtums sind eng mit derEntwicklung der Haushaltsdefizite undMilitärausgaben in den USA verwo-ben, was sich an den Ausgaben für dieKriege in Vietnam, Afghanistan unddem Irak zeigt. Ist es nicht mehr alsschizophren, dass durch die Wertever-nichtung in Kriegen die Kapitalkon-zentration zunimmt und der Reichtumder Vermögenden anwächst? Den Ge-winnern der Geld- und Kapitalwirt-schaft stehen auf der anderen Seite dieVerlierer gegenüber.

Ein Gesellschaftssystem, das derarti-ge Phänomene akzeptiert und fördert,

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

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kann in einer globalen Welt langfristignicht aufrechterhalten werden. Inso-fern haben wir es nicht allein mit einerFinanz-, sondern mit einer Systemkrisezu tun. Die Finanzkrise hält nun derglobalisierten Welt den Spiegel vor:Unsere Gesellschaft ist ebenso krankwie ihr Bankensystem. Es gibt vieleAnsätze, sie wieder gesunden zu lassen.Dazu jedoch müssen wir neue Wegebeschreiten.

Geld als Selbstzweck

Was im Kalten Krieg unter dem Man-tel von Ideologien verborgen lag, trittheute klar zutage: Die Verselbstständi-gung des Geldes. Es ist nicht mehrMittel zum Zweck, sondern – wie be-reits Marx erkannt hatte – Selbstzweckgeworden. Geld hat keine Heimat undkennt keine Grenzen. Die Finanz- unddie Realwirtschaft sind seit Abschaf-fung der Goldparität des US-Dollarsim Jahr 1970 und der Aufgabe der Ab-hängigkeit der Währungen untereinan-der Mitte der siebziger Jahre nichtmehr direkt miteinander verbunden.

Einst entstand aus der gesellschaftli-chen Arbeitsteilung das Geld als Ver-mittler von Werten. Heute gilt das auf-grund der Trennung von Finanz- undRealwirtschaft nur noch bedingt. Dasheißt, die Banken verdienen durch al-ternative Finanzgeschäfte – wie Deri-vate, Swaps, Verbriefungen, Zertifikateund andere – mittlerweile mehr als

über die von der Gesellschaft geleisteteWertschöpfung. Das betrifft auch dieunkontrollierte Zunahme der Schatten-bankwirtschaft durch Hedge-Fonds,Privat-Equity-Geschäfte und Devisen-spekulationen.

Reichtum und Wohlstand in denIndustrieländern gehen nicht längerauf Arbeit und realwirtschaftliche Leis-tungen zurück, sondern beruhen zumGroßteil auf Spekulationen. Es istnicht die Gier der Investmentbankerallein, sondern unser aller Gier, diedazu beigetragen hat, was wir heute inder größten Krise seit Jahrzehnten erle-ben. Der Mensch ist trotz aller Glau-bensbekenntnisse sämtlicher Religio-nen so beschaffen, aus Geld mehr Geldmachen zu wollen. Diese Entwicklungist zügellos, solange keine weltweit gel-tenden einheitlichen Grenzen undRegelungen bestehen. So können wirheute einen Witz aus DDR-Zeitenwiederbeleben: „So wie wir heute le-ben, haben wir noch nie gearbeitet“.

Macht ist kein Heilsbringer

So wichtig der Markt ist, so ist er dochkein Heilsbringer. Geld und Kapitalbedürfen einer – möglichst global ver-bindlichen – Regulierung. Dass einzügelloser Markt nicht funktioniert,zeigen die Ergebnisse der deutschenEinheit und der Weltwirtschaftskrise.Schaffen wir die Bedingungen für einneues Weltfinanzsystem, das an die

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edgar most – gibt es einen dritten weg?

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Realwirtschaft gekoppelt ist, Finanz-produkte besser absichert und Speku-lationen sowie Steuerumgehungenkonsequent unterbinden, beschreibenwir damit bereits den Dritten Weg.

Heute müssen wir feststellen, dassdie Einschätzung unserer Vorfahren,Geld verderbe den Charakter, unverän-dert zutrifft. Wir benötigen jedoch dasGeld als Stimulanz. Nur an die Moralzu appellieren, bringt nicht viel. Wirbrauchen entsprechende Rahmenbe-dingungen. Die Menschen haben einenAnspruch darauf, dass ihre Problemegehört und ernst genommen werden.

Dritter Weg in die Einheit

Bei der Wiedervereinigung sind vieleFehler begangen worden. Ich erinnerezum Beispiel an die De-Industrieali-sierung Ost, hohe Kreditschulden inder Wohnungswirtschaft bei ständigerAbwanderung, überdimensionierteRoh- und Abwasseranlagen. Wenn derStaat zur Bekämpfung der Finanzkrisemit Milliarden zur Verfügung steht,

über die man teilweise eine andere Po-sition beziehen kann, zum Beispiel beiLandesbanken, IKB und teilweise auchbei der Commerzbank aufgrund derÜbernahme der Dresdner Bank, dannmuss es auch möglich sein, die wirt-schaftliche Wiedervereinigung auf denPrüfstand zu stellen.

Wenn wir das angehen, können wir auch von einem Dritten Weg inder deutschen Einheit sprechen. DerStaatssozialismus ging nicht zuletztwegen des Allmachtsanspruchs einerPartei zugrunde. Der Neoliberalismusmit seinem Glauben an den Markthat ebenso versagt. Die soziale Markt-wirtschaft ist aufgrund der neuenStrukturen der Gesellschaft in Arbeitund Demografie langfristig nichtmehr zu finanzieren. Wir stehen alsovor grundlegenden neuen Herausfor-derungen. Die Finanz- und System-krise wird keine Gewinner hervorbrin-gen. Aber viele wachrütteln. Darinbesteht vielleicht ihre eigentlicheChance: Wir müssen den Willen auf-bringen, etwas zu verändern. �

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thema – eine neue wirtschaftsordnung?

E D G A R M O S T

war letzter Vizepräsident der Staatsbank der DDR, nach der Wende Mitglied der Geschäftsleitung der Deutschen Bank in Berlin

sowie Vorstandsvorsitzender des ostdeutschen Bankenverbandes.

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harald christ – warnungen, wechselbäder und widersprüche

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Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und KlimaHeft 38 Das rote PreußenHeft 39 Osteuropa und wirHeft 40 Bildung für alle

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