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WIE DER NEUE SOZIALSTAAT AUSSEHEN SOLL TOBIAS DÜRR : Vom Nutzen der Zuversicht THOMAS KRALINSKI : Ostdeutschland gibt es nicht TILL MEYER : Mehr Demokratie wagen KLAUS FABER : Nach der Föderalismusreform MATTHIAS PLATZECK | JENS BULLERJAHN : Mehr Lebenschancen für mehr Menschen ANTHONY GIDDENS : Vom negativen zum positiven Sozialstaat WOLFGANG SCHROEDER : Vorsorge ist besser als Nachsorge KARPINSKI | REINISCH | WEBER : Von Anfang an gesund aufwachsen KARL-HEINZ SCHRÖTER : Schule aus einem Guss MARTINA MÜNCH : Ursachen behandeln, nicht Symptome Der Vorsorgende Sozialstaat BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 33 FEBRUAR 2007 www.perspektive21.de

perspektive21 - Heft 33

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Der Vorsorgende Sozialstaat

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WIE DER NEUE SOZIALSTAAT AUSSEHEN SOLL

TOBIAS DÜRR : Vom Nutzen der Zuversicht

THOMAS KRALINSKI : Ostdeutschland gibt es nicht

TILL MEYER : Mehr Demokratie wagen

KLAUS FABER : Nach der Föderalismusreform

MATTHIAS PLATZECK | JENS BULLERJAHN : Mehr Lebenschancen für mehr Menschen

ANTHONY GIDDENS : Vom negativen zum positiven Sozialstaat

WOLFGANG SCHROEDER : Vorsorge ist besser als Nachsorge

KARPINSKI | REINISCH | WEBER : Von Anfang an gesund aufwachsen

KARL-HEINZ SCHRÖTER : Schule aus einem Guss

MARTINA MÜNCH : Ursachen behandeln, nicht Symptome

Der VorsorgendeSozialstaat

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 33 FEBRUAR 2007 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

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Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigener KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun, Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert H

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Das Debattenmagazin

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Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Der Vorsorgende Sozialstaat I m Oktober 2007 wird der SPD-Bundesparteitag mit dem Hamburger Programm

ein neues Grundsatzprogramm beschließen. Damit wird das im Dezember 1989verabschiedete Berliner Programm endgültig der sozialdemokratischen Geschichts-schreibung übergeben. 17 Jahre nach der deutschen Einheit wird die SPD dann end-lich ein gesamtdeutsches Programm haben, das die Erfahrungen aus Ost und Westseit der Wende einbezieht. Dabei geht es aber nicht nur um die Erfahrungen derdeutschen Einheit. Es geht auch darum, neue politische Antworten auf die durchoffene Grenzen und neue Informationstechnologie beschleunigte Dynamik der Glo-balisierung zu finden. Das neue Programm muss aber ebenfalls die veränderte Sicher-heitslage in der nun nicht mehr bipolaren Welt und den wachsenden Einfluss derdemografischen Entwicklung auf die Zukunft unserer Sozialsysteme reflektieren.

Wesentlicher neuer sozialdemokratischer Leitgedanke des Hamburger Programmsist die Idee des „Vorsorgenden Sozialstaates“, die maßgeblich von Matthias Platzeckin die Debatte eingebracht wurde – und gegen erhebliche Widerstände durchgesetztwurde. Grund genug für uns, das Thema zum Schwerpunkt dieser Ausgabe zuwählen. Mit den Professoren Anthony Giddens und Wolfgang Schroeder haben wirdazu zwei herausragende Autoren gewinnen können. Dass es dabei nicht nur umeine theoretische Debatte im Elfenbeinturm geht, verdeutlichen Martina Münchund Vertreter des Lauchhammer Netzwerkes „Gesunde Kinder“ in ihren Beiträgenanschaulich. Ich bin überzeugt, dass die SPD aus der Leitidee des „VorsorgendenSozialstaates“ neue Ideen für ihre praktische Politik und damit neue Kraft gewinnenkann.

Schwerpunkt der Debatte in der Perspektive 21 war immer die Entwicklung inOstdeutschland. Dr. Tobias Dürr und Thomas Kralinski liefern dazu in dieser Aus-gabe zwei streitbare Beiträge. Widerspruch ist – wie immer – durchaus erwünscht!

KLAUS NESS

[ vorwort ]

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[ impressum ]

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J SPD-Landesverband Brandenburg

J Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

in Berlin, Brandenburg und Mecklen-

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REDAKTION

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(Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias

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Der Vorsorgende Sozialstaat WIE DER NEUE SOZIALSTAAT AUSSEHEN SOLL

MAGAZIN—TOBIAS DÜRR : Vom Nutzen der Zuversicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Warum wir gerade die Geburt einer Neuen Ostdeutschen Mitte erleben

THOMAS KRALINSKI : Ostdeutschland gibt es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19In den neuen Ländern sind parallele Gesellschaften entstanden

TILL MEYER : Mehr Demokratie wagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Neue Wurzeln müssen wachsen, damit die Demokratie nicht ihre Bürger verliert

KLAUS FABER : Nach der Föderalismusreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Die Wissenschaftspolitik braucht auch in Zukunft den Bund

THEMA—MATTHIAS PLATZECK | JENS BULLERJAHN : Mehr Lebenschancen . . . . . . . . . . . . 47Warum wir den Sozialstaat für das 21. Jahrhundert neu formieren müssen

ANTHONY GIDDENS : Vom negativen zum positiven Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . 53Zur Zukunft des europäischen Sozialmodells

WOLFGANG SCHROEDER : Vorsorge ist besser als Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 6710 Thesen zur Leistungs- und Legitimationsweise des alten Sozialstaates

KARPINSKI | REINISCH | WEBER : Von Anfang an gesund aufwachsen . . . . . . . . . 75Das „Netzwerk Gesunde Kinder“ als Beispiel für vorsorgende Familienpolitik

KARL-HEINZ SCHRÖTER : Schule aus einem Guss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Jetzt müssen beherzte Schritte in der Bildungspolitik folgen

MARTINA MÜNCH : Ursachen behandeln, nicht Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Für eine neue Familienpolitik müssen sich auch die Männer ändern

[ inhalt ]

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WARUM WIR GERADE DIE GEBURT EINER NEUEN OSTDEUTSCHEN MITTE ERLEBENVON TOBIAS DÜRR

Vom Nutzen derZuversicht

I. Seit 1949 richtet das Allensbacher Institut für Demoskopie regelmäßig kurzvor Weihnachten eine Frage an die Bevölkerung. Sie lautet: „Sehen Sie dem

neuen Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ Dabei gaben die Be-fragten in Deutschland insgesamt im Jahr 2002 nur zu 35 Prozent die Antwort„mit Hoffnungen“. In den Jahren 2003 und 2004 blickten dann jeweils 38 Pro-zent optimistisch in die nähere Zukunft, 2005 immerhin schon 45 Prozent. Ende2006 saßen sogar 49 Prozent der Bundesbürger mit Hoffnung im Herzen unterihren Weihnachtsbäumen. Es ist also in Deutschland in den vergangenen Jahreneine kontinuierliche Verbesserung der Stimmung zu verzeichnen.1 So zuversicht-lich wie in diesen Monaten waren die Deutschen schon lange nicht mehr.

Auch in Ostdeutschland ist dieser langfristige Trend eindeutig zu verzeichnen,wenn auch – kaum überraschend – auf etwas niedrigerem Niveau. War es nochEnde 2003 mit 31 Prozent nur ein knappes Drittel der Bürger in den neuen Bun-desländern, das mit Hoffnungen ins neue Jahr ging, so stieg die Zahl der ostdeut-schen Optimisten bis 2004 auf 35 Prozent, bis 2005 sogar auf 40 Prozent. Insjetzt laufende Jahr starteten dann Ende 2006 immerhin schon 42 Prozent „mitHoffnungen“. Damit hat sich die allgemeine Stimmung in Ostdeutschland seitdem Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzungen um die Reformpolitikder Regierung Schröder im Jahr 2004 um 7 Prozentpunkte aufgehellt. Und allesin allem ist ein Zuwachs an zuversichtlichen Ostdeutschen um 11 Prozentpunkteinnerhalb der vergangenen drei Jahre zu verzeichnen.

Die Gesamtstimmung in Ostdeutschland ist in diesen Monaten so gut wie seitdem – emotional besonders aufgeladenen – „Jahrtausendwechsel“ 1999/2000nicht mehr. Damals starteten volle 54 Prozent der Ostdeutschen mit Zuversicht

1 Allensbacher Berichte, „Zum Jahreswechsel: Die Stimmung der Bevölkerung hat sich weiter verbessert“, Dezember 2006, Nr.20/2006.

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[ tobias dürr ]

ins neue Millenium. Aber wie lässt sich der Stimmungsaufschwung der vergange-nen Jahre deuten? Was fangen wir mit diesen Zahlen an?

Das Allensbacher Institut selbst deutet seine Ergebnisse zunächst einmal nurim Kontext des wirtschaftlichen Auf und Ab: „In der Vergangenheit stand dieZahl der Optimisten am Ende eines Jahres häufig in enger Verbindung mit derKonjunkturentwicklung des folgenden Jahres. Wenn die Zahl derjenigen, diehoffnungsvoll ins neue Jahr gingen, größer war als im Vorjahr, warWirtschaftswachstum angesagt.“ Das leuchtet unmittelbar ein. Es könnteallerdings sein, dass die Allensbacher Zahlen, bezogen auf Ostdeutschland, nochauf tiefer gehende Veränderungen hindeuten. Bahnt sich womöglich eine grund-legende Verschiebung der Perspektiven, der Grundhaltungen und Hoffnungen inder ostdeutschen Gesellschaft an? Und worin könnten diese Verschiebungenbestehen?

II. Die Allensbacher Jahreswechselbefragung ist ein einfaches, aber verlässlichesdemoskopisches Instrument und mittlerweile in langen Jahren bewährt. Den-

noch ist klar, dass ein Befund wie jener aus Allensbach sofort heftigen Widerspruchauf sich ziehen muss. Hat nicht gerade erst der ostdeutsche Sozialverband Volkssoli-darität in seinem „Sozialreport 2006“ schlagend nachgewiesen, dass die Stimmung inOstdeutschland „weiter gekippt“ ist?2 Als zentrale Ergebnisse ihrer Untersuchungverkündete im Januar 2007 der Präsident der Volkssolidarität, Professor GunnarWinkler: „Die allgemeine Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen hat im Jahr 2006einen neuen Tiefpunkt erreicht. Zugleich haben die Befürchtungen mit Blick auf dieZukunft wieder zu- und die Hoffnungen entsprechend abgenommen.“ Genau soschrieben es die Journalisten mit, genau so wurden die Ergebnisse der Studie dannauch in den Medien dargestellt: „Stimmung in Ostdeutschland auf neuem Tief-punkt“ oder ähnlich lautete erwartungsgemäß die Schlagzeile der meisten Berichte.Wer hat also Recht, das Allensbacher Institut oder die Volkssolidarität?

Festzuhalten ist zunächst, dass es sich beim „Sozialreport 2006“ der Volkssolida-rität unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten um eine ziemlich hanebücheneKarikatur ernsthafter empirischer Sozialforschung handelt. Man merkt sogleichdie Absicht und ist beträchtlich verstimmt. Denn überaus durchschaubar dientdiese angebliche „Studie“ von der ersten bis zur letzten ihrer 52 Seiten allein demeinen strategischen Zweck, die These von der immer weiter voranschreitenden

2 Volkssolidarität (Hg.), Sozialreport 2006, Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2006.

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[ vom nutzen der zuversicht ]

sozialen Verelendung Ostdeutschlands und der Ostdeutschen insgesamt öffentlichdurchzusetzen. Anders gesagt: Der „Sozialreport 2006“ soll genau diejenige mieseStimmung schaffen und verstärken, deren Ausbreitung er vermeintlich wissen-schaftlich belegt.

Anders als seriöse empirische Untersuchungen mit wissenschaftlichem An-spruch enthält diese – vom PDS-nahen „Sozialwissenschaftlichen Forschungszen-trum Berlin-Brandenburg“ für die PDS-nahe Volkssolidarität präparierte – Studiemerkwürdigerweise weder die Aussage, die 885 Befragten seien zufälligausgewählt worden noch den Hinweis, es handele sich bei den Befragten umeinen repräsentativen Querschnitt durch die ostdeutsche Bevölkerung. Irgendje-mand hat mit irgendwelchen 885 Menschen gesprochen, diese Information mussgenügen. Dafür wird es Gründe geben. Obendrein erfolgte die Datenerhebungbereits im Juni 2006. Sie kann also positive (oder sonstige) Auswirkungen desseither stark beschleunigten wirtschaftlichen Aufschwungs auf die Stimmung inOstdeutschland noch gar nicht einbeziehen.

Umso ärgerlicher ist, wie in der interpretierenden Auswertung dieser Untersu-chung alle erhobenen Daten so zurechtinterpretiert werden, dass sie dem ge-wünschten Deutungsraster von der fortschreitenden Verelendung entsprechen.Dabei irritieren auf Anhieb bereits die zahllosen aufgeführten Banalitäten: Auchohne diese Studie hätte man bereits vage geahnt, dass arme Arbeitslose mit ihremLeben im Durchschnitt möglicherweise weniger zufrieden sind als Hochschulab-solventen mit einem Nettoeinkommen oberhalb von 2.000 Euro. Das wird wohlso stimmen, ist aber nicht gerade eine Neuigkeit.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Schwerer wiegen hingegen die tendenziösen Bewertungen von Ergebnissen, dieder Volkssolidarität politisch und normativ nicht in den Kram passen: Was nichtpasst, wird passend gemacht. Wo beispielsweise verschämt und ohne Nennungirgendwelcher Belege oder Zahlen die – möglicherweise aus kluger Einsicht – ge-stiegene Bereitschaft jüngerer Ostdeutscher eingeräumt wird, private Vorsorge zubetreiben, da liefert Professor Winkler sicherheitshalber sogleich die politischekorrekte Interpretation mit: „Die größere Orientierung auf Privatvorsorge beiJüngeren sollte jedoch nicht als anzustrebendes Modell, sondern eher als Zweifelan den vom Staat zu gebenden Sicherheiten anzusehen sein.“

Tatsächlich? Oder vielleicht doch nicht? Dass Winkler, in seinem früherenLeben Professor für Sozialistische Betriebswirtschaft an der DDR-Gewerkschafts-

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[ tobias dürr ]

hochschule „Fritz Heckert“ in Bernau, sehr genaue Vorstellungen hinsichtlich derFrage pflegt, wie die „vom Staat zu gebenden Sicherheiten“ auszusehen haben, ver-wundert natürlich keineswegs. Aber was, wenn sich die Einstellungen und Wert-haltungen in der Bevölkerung irgendwann verändern sollten? Dass Gesellschaftenim Zeitverlauf einem „Wertewandel“ (Inglehart/Klages) unterliegen, ist schließlichbekannt. Und gerade davon, solchen Veränderungsprozessen nachzuspüren, han-deln doch Umfragen und empirische Sozialforschung. Aber dem „Sozialreport2006“ liegt nun einmal nicht Neugier auf die Wirklichkeit zugrunde. Hier sollenfelsenfest gefügte Überzeugungen und vorgefertigte Tiefpunktthesen verbreitetwerden. Und deshalb übersehen Professor Winkler und seine Volkssolidarität geflis-sentlich sogar diejenigen Hinweise auf gegenläufige Tendenzen, die an allen Eckenund Enden aus den Zahlen ihres eigenen „Sozialreport 2006“ herauslugen.

So besessen ist Winkler von seiner fixen Idee vom ostdeutschen Absturz, dassihm mögliche alternative Deutungen seiner Daten überhaupt nicht in den Sinnkommen. Ja, 16 Prozent der im Juni 2006 für Winklers Untersuchung befragtenOstdeutschen gaben zu Protokoll, „unzufrieden“ oder sogar „sehr unzufrieden“ zusein. Das ist gewiss ein hoher Wert, genauer: ein unbefriedigend hoher Wert –aber andererseits durchaus nicht höher als in den Vorjahren. Sogar im Gegenteil:2004 hatte die Volkssolidarität 17 Prozent unzufriedene und sehr unzufriedeneOstdeutsche gemessen und 2005 sogar 19 Prozent. Wie aber kann dann 2006 ein„neuer Tiefpunkt“ gewesen sein?

Am zufriedensten sind die 25- bis 39-Jährigen

Den 16 Prozent „allgemein Unzufriedenen“ in den neuen Bundesländern stehendiejenigen Ostdeutschen gegenüber, die sich „sehr zufrieden“, „zufrieden“ oderdoch wenigstens „teilweise zufrieden“ fühlen. Sie machten im Juni 2006 zusam-men immerhin 82 Prozent der befragten Ostdeutschen aus. Im Jahr 2005 hattensich laut Volkssolidarität erst 79 Prozent zu den teilweise bis sehr zufriedenenOstdeutschen gezählt. Ein Zuwachs an Zufriedenen um 3 Prozentpunkte also –und trotzdem ein „neuer Tiefpunkt“? Auch das passt hinten und vorne nichtzusammen.

Äußerst aufschlussreich im Hinblick auf gesellschaftlichen Wandel und zukünf-tige Entwicklungen (aber in diametralem Widerspruch zur Winklerschen Tief-punktthese) fallen die Ergebnisse des „Sozialreports 2006“ besonders für die Alters-gruppe der 25- bis 39-jährigen Ostdeutschen aus. In dieser Kohorte der jüngerenund mittleren Erwachsenen im Berufseinstiegs- und Familiengründungsalter fällt

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[ vom nutzen der zuversicht ]

die Stimmung im Osten am allerbesten aus. So bezeichneten sich im Juni des ver-gangenen Jahres überhaupt nur 11 Prozent als „unzufrieden“, während 89 Prozentder Befragten mindestens „teilweise zufrieden“ waren (darunter 33 Prozent „zufrie-den“ und 8 Prozent sogar „sehr zufrieden“). Vor dem Hintergrund der guten Stim-mung gerade in diesen nachwachsenden jüngeren Kerngruppen der ostdeutschenGesellschaft, die mitten im Leben stehen und viel von ihrer Zukunft noch vor sichhaben, muten Professor Winklers apokalyptische Diagnosen schlicht bizarr an.Eine Gesellschaft, in der gerade die jüngeren Erwachsenen in der Erwerbs- undFamiliengründungsphase am zufriedensten mit ihrem Leben sind, kann eigentlichnicht an ihrem Tiefpunkt angelangt sein.

„Auf der Kippe“ steht hier gar nichts

Es soll nun keineswegs verschwiegen werden: Deutlich mäßiger ist laut „Sozialre-port 2006“ die Stimmung in den Kohorten der 40- bis 49-Jährigen und der 50-bis 59-Jährigen. In diesen Altersgruppen ist man nur zu 70 beziehungsweise 80Prozent zufrieden oder „mindestens teilweise zufrieden“, und die allgemeine Un-zufriedenheit fällt gerade in diesen Segmenten mit 27 beziehungsweise 20 Prozentüberdurchschnittlich aus. Das ist nicht gut, gar keine Frage. Aber auch diese Werteeignen sich mitnichten zum Beleg der von Volkssolidarität und Professor Winkleraufgetischten Niedergangserzählungen. Wie übrigens auch nicht der ausgesprochenerfreuliche Umstand, dass die für die Studie befragten über 60-Jährigen zu vollen85 Prozent mindestens teilweise zufrieden sind und nur zu knappen 13 Prozenterklären, sie seien unzufrieden. „Auf der Kippe“ steht hier offensichtlich gar nichts.

Dasselbe gilt für die Ergebnisse der Volkssolidarität zur wirtschaftlichen Lage derOstdeutschen. Es ist ohne Frage kein guter, sondern ein unbedingt verbesserungs-würdiger Zustand, wenn 28 Prozent der Befragten ihre ökonomischen Verhältnisseim Juni 2006 als „schlecht“ einschätzen. Aber: Im Jahr 2003 belief sich die Gruppeder nach eigener Einschätzung wirtschaftlich schlecht Gestellten auf 30 Prozent,und 2005 zählten sich 29 Prozent zu ihr. Stagnation auf hohem Niveau ist keinanzustrebender Zustand, und auf unbefriedigende Verhältnisse hinzuweisen ist legi-tim und richtig. Trotzdem lässt sich auch ohne Computer berechnen, dass 29 Pro-zent (2005) und erst recht 30 Prozent (2003) mehr sind als 28 Prozent (2006).Auch beim Indikator wirtschaftliche Lage kann also von irgendeinem „neuen Tief-punkt“ im Jahr 2006 überhaupt nicht die Rede sein.

Geradezu rührend naiv – oder doch ideologisch verbohrt? – klingen dann dieAusführungen im „Sozialreport 2006“ zum Wechselverhältnis zwischen Qualifika-

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[ tobias dürr ]

tion und wirtschaftlicher Lage. So schätzten im vorigen Juni deutlich überdurch-schnittliche 49 Prozent der Hochschulabsolventen in Ostdeutschland ihre ökonomi-schen Verhältnisse als gut ein. Die Volkssolidarität zieht daraus zwei messerscharfeSchlüsse: erstens, dass Qualifikation ökonomisch differenzierend wirke; zweitens, dassAkademiker auf dem Arbeitsmarkt sowie hinsichtlich ihrer Einkommen „bevorzugt“seien. Parbleu, was für eine erschütternde Enthüllung! Und was für eine himmel-schreiende soziale Sauerei!

Nicht, dass dies für sich genommen abwegig wäre, ganz im Gegenteil. Aberkönnte es sein, das andere das Problem schon früher erkannt haben? Könnte essein, dass exakt dieser vom Professor aus Bernau „entdeckte“ Zusammenhang zwi-schen Qualifikation und beruflichen Perspektiven der Grund dafür ist, dass immermehr Menschen – völlig zu Recht – zu der Einsicht gelangen, dass Bildung dieentscheidende soziale Frage des 21. Jahrhunderts schlechthin ist? Und dass wir des-halb gut daran tun, ernst damit zu machen, möglichst allen Menschen von Anfangan hervorragende Bildungschancen zu ermöglichen, statt säuerlich über die „Be-vorzugung“ derjenigen zu lamentieren, die Bildung und Qualifikation besitzen(und damit im Übrigen zur Wertschöpfung dieser Gesellschaft beitragen)?

Aber was ganz praktisch getan werden muss, damit mehr Menschen bessereBildungs- und damit bessere Lebenschancen erhalten – eben das ist nicht dasThema von Winklers „Sozialreport 2006“. Dem Professor für Sozialistische Be-triebswirtschaft geht es erkennbar ausschließlich um seine Lieblingsthese, derzufolge die ostdeutsche Gesellschaft demoralisiert und entkräftet immer neuenTiefpunkten entgegenwankt. Auch nur ansatzweise schlüssig nachgewiesen wirddiese Behauptung im – schon deshalb rundum obskuren – „Sozialreport 2006“zwar nicht. Aber funktioniert hat der Bluff trotzdem: Alle Medien haben dietrübe Botschaft wieder einmal unkritisch verbreitet – die altbekannte Geschichtevom „Osten auf der Kippe“ verkauft sich immer noch gut, weil sie so schön zuden verfestigten Deutungsmustern der Deutschen aller Landesteile passt.

III. Renate Köcher ist, wie es scheint, eine höfliche Frau. Angesichts der viel-fachen Unzulänglichkeiten des „Sozialreport 2006“ äußerte sich die Lei-

terin des Allensbacher Instituts für Demoskopie nur „verwundert“. Trocken gabFrau Köcher im Januar 2007 zu Protokoll, die monatlichen Untersuchungen ihresInstituts zeigten ein anderes Bild. Nicht im Jahr 2006, sondern in den Jahren

3 Vgl. Evangelische Nachrichtenagentur „idea“: „Verwunderung über Volkssolidarität-Studie“, Pressemeldung vom 19.1.2007.

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[ vom nutzen der zuversicht ]

1992 sowie 1996/97 sei die Zufriedenheit in den neuen Bundesländern am ge-ringsten gewesen.3

Es mag sein, dass sich Renate Köcher tatsächlich gewundert hat. Falls ja: Die Zu-sammenhänge lassen sich erklären, denn ganz so erstaunlich sind Professor WinklersErgebnisse im Grunde auch wieder nicht. Man muss nur begreifen, dass sein im Ge-wand wissenschaftlicher Seriosität daherkommender „Sozialreport 2006“ letztlichweder Wahrheitsfindung noch Erkenntnisgewinn bezweckt. Vielmehr handelt es sichhier um ein politisches Instrument in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung– kühl konzipiert, berechnend verfasst und systematisch verbreitet durch politischeAkteure, die von der miesen Stimmung leben, die spätestens dann entsteht oder sichaufs Neue verfestigt, wenn alle Zeitungen wieder einmal melden: „Trauriger Rekord… Zufriedenheit gesunken … Ostdeutsche pessimistisch wie noch nie“.

Der Pessimismuspolitik geht der Nachwuchs aus

Welches politische Kalkül wird hier verfolgt? Aktive und optimistische Menschenwählen keine Parteien, die ihnen erklären, sie seien die erniedrigten Opfer immerelender werdender Verhältnisse. Aktive und optimistische Menschen entscheidensich für Politiker und Parteien, die ihrem aktiven und optimistischen Lebensgefühlentsprechen. Politiker und Parteien, die davon leben, dass sich ihre Wähler alsOpfer ungerechter Verhältnisse empfinden, stehen deshalb vor einem gewaltigenkulturellen und politischen Problem, sollte sich ein grundlegender gesellschaftli-cher Trend hin zu mehr Zuversicht, mehr Selbstbewusstsein und mehr Selbstver-antwortung abzeichnen. Denn dann droht den Pessimismuspolitikern und -par-teien der Nachwuchs auszugehen – es sei denn, es gelänge ihnen aufs Neue, auchjüngere Kohorten nochmals mit ihren demoralisierenden Opfer- und Tiefpunktge-schichten zu entmutigen.

Offenkundig gelingt eben das nicht mehr ohne weiteres. Renate Köchers positiveZahlen jedenfalls deuten darauf hin; die vergleichsweise hohen Zufriedenheitsratenin der Kohorte der 25- bis 39-Jährigen Ostdeutschen laut „Sozialreport 2006“ wei-sen in dieselbe Richtung. Und noch eine weitere empirische Untersuchung, die vonDietmar Sturzbecher erarbeitete aktuelle Studie „Jugend in Brandenburg“, deutetklar darauf hin, dass Jüngere dem angeblich kollektiven ostdeutschen Lebensgefühlder Ohnmacht und des Jammerns nur noch wenig abgewinnen können.4 In der

4 Dietmar Sturzbecher u. a., Jugend in Brandenburg. Ergebnisüberblick der Zeitreihenstudie zur Lebenssituation Jugendlicher inBrandenburg, Potsdam 2006.

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[ tobias dürr ]

(übrigens auf der Befragung von 3.379 Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 20Jahren basierenden) Brandenburger Studie heißt es: „Die Jugendlichen von heute ste-hen … Veränderungen im Leben positiver gegenüber als vor sechs Jahren und beur-teilen ihre berufliche Zukunft unverändert eher optimistisch. Darüber hinaus glau-ben fast 40 Prozent der brandenburgischen Jugendlichen, ‚des eigenen GlückesSchmied’ zu sein, ihr Leben also selbst wirksam beeinflussen zu können – das sind12 Prozent mehr als 1999.“

Allerdings hat diese positive Entwicklung eine weniger erfreuliche Kehrseite:„Auch der Anteil derjenigen Jugendlichen ist leicht [von 3,8 auf 4,9 Prozent,T.D.] gestiegen, die mit starkem Fatalismus und sehr wenig Optimismus in dieZukunft schauen.“ Wo fatalistische und pessimistische Menschen obendrein nochunter den Einfluss einer Politik geraten, die ihnen erklärt, die Verantwortung fürihre trostlose Lage trügen „äußere Mächte“ (Sturzbecher) – ob diese nun „Kapita-lismus“ heißen oder „Globalisierung“, „Westdeutsche“ oder „Ausländer“ –, dawird dies ihre Fähigkeit gerade nicht erhöhen, ein aktives und selbst verantworte-tes Leben zu führen.

Und genau darum geht es. Die Vorkämpfer des Fatalismus und Pessimismussetzen ganz bewusst auf Baisse und Entmutigung. Sie bestätigen die Passiven inihrer Passivität, die Wütenden in ihrer Wut, die Hoffnungslosen in ihrer Hoff-nungslosigkeit. Sie geben ihnen zu verstehen: „Ihr seid unzufrieden, die Verhält-nisse sind schuld!“ Aber sie tun nicht das Geringste dafür, auch nur einen einzi-gen zusätzlichen Menschen zu einem Leben aus eigener Kraft zu ermutigen undzu befähigen. Auch der „Sozialreport 2006“ der Volkssolidarität signalisiert denOstdeutschen: „Ihr seid unzufrieden, die Verhältnisse sind schuld!“ Wer heute inOstdeutschland solche Botschaften aussendet, verachtet deshalb in Wirklichkeitdie Menschen, deren Interessen er zu artikulieren vorgibt.

Kann die Methode Münchhausen funktionieren?

Was folgt aus dieser Einsicht? Zunächst einmal eine große Erleichterung darüber,dass in Ostdeutschland offenbar die Zahl der Menschen zunimmt, die das Jam-mern und Bejammertwerden, das Unzufriedensein und Schuldzuweisen schlichtsatt haben und stattdessen lieber anpacken wollen. Immer mehr Ostdeutschescheinen ansprechbar und empfänglich zu sein für nüchterne, zugleich aber zu-packende, Mut machende und motivierende öffentliche Ansprache. Diesen Tonhat in den vergangenen Jahren Matthias Platzeck als Brandenburger Ministerprä-sident exemplarisch angeschlagen. Seine zugleich ernste und optimistische Rheto-

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[ vom nutzen der zuversicht ]

rik von der „Erneuerung aus eigener Kraft“, vom „zupackenden Land“ oder vom„Land in Bewegung“ wies auch schon unter den ungünstigeren Bedingungen dervergangenen Jahre den richtigen Weg, weil sie dazu beitragen sollte, angesichtsschwieriger Verhältnisse dennoch jene positive öffentliche Stimmung zu schaffenund zu stärken, die sie selbst behauptete und vorlebte.

Die Frage ist, ob das eigentlich funktionieren kann. Tatsächlich sind am BodenLiegende in der wirklichen Welt nicht in der Lage, sich – dem Baron Münchhausengleich – am eigenen Schopfe wieder aus dem Schlammassel zu ziehen; zumindestnach den Gesetzen der Physik gelingt dies nicht. Gegen eine „Politik der Zuversicht“wird deshalb regelmäßig das Argument ihrer vermeintlich objektiven Unmöglichkeitins Feld geführt. Doch wer das sagt, verkennt die hochgradig unterschiedlichen psy-chologischen Wirkungen optimistischer und pessimistischer politischer Kommunika-tion. Pessimismus lähmt Menschen. Deshalb behalten die Prediger des Pessimismuszwar nicht selten Recht – aber sie verändern nie etwas zum Besseren.

„Diese Welt gehört den Optimisten“

Sowohl Bekundungen der Zuversicht wie der Niedergeschlagenheit in der Politikwohnt die Tendenz inne, als sich selbst erfüllende Prophezeiungen zu wirken.Wem es freilich vor allem ums Rechtbehalten geht, der sollte sich unbedingt aufdie Seite des Pessimismus schlagen. Hoffnungen und Optimismus können sichauch den größten Anstrengungen zum Trotz als trügerisch erweisen. Pessimismushingegen ist jederzeit eine bombensichere Sache. Wer die Vergeblichkeit aller An-strengungen predigt, wer deshalb Handeln verhindert und auch selbst gar nichterst zum Handeln schreitet, dem wird natürlich nicht viel gelingen. Tatsächlichmag Pessimismus angesichts überwältigender – oder jedenfalls überwältigenderscheinender – Problemlasten oft genug angebracht erscheinen, doch leistet dieseHaltung eben keinen Beitrag zur Verbesserung der Verhältnisse, die sie beklagt.Wer immer nur jammert, sein Glas sei halb leer, hat objektiv schlechte Chancen,jemals vor einem vollen Glas zu sitzen. Der Scheiternde scheitert eben oft genugvor allem daran, dass er sein eigenes Scheitern voraussagt.

Optimismus funktioniert anders. Zwar kann es passieren, dass allzu überbor-dende Bekundungen der Zuversicht in schwierigen Zeiten unglaubwürdig wirken– und damit zuweilen das Gegenteil des gewünschten Effekts bewirken. Aber an-dererseits gilt auch, dass ohne Optimismus und Mut noch niemals und nirgendsder Aufstieg aus trostlosen Verhältnissen gelungen ist. „Diese Welt gehört denOptimisten“, schreibt der renommierte Wirtschaftshistoriker David Landes,

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„nicht weil sie immer Recht haben, sondern weil sie positiv eingestellt sind. Selbstwenn sie irren, denken sie positiv. Deshalb erreichen sie etwas, korrigieren Fehler,kommen weiter und haben Erfolg. Kultivierter, wacher Optimismus zahlt sichaus. Pessimismus bringt nur den leeren Trost, Recht gehabt zu haben.“5

IV. In der ostdeutschen Gesellschaft konnte sich diese optimistische Grund-haltung in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten nie auf eine struktu-

relle Mehrheit stützen. Besonders großer gesellschaftlicher Zustimmung durftensich seit 1990 regelmäßig diejenigen Politiker und Parteien sicher sein, die denPessimismus und die Hoffnungslosigkeit beträchtlicher Gruppen der Gesellschaftpolitisch aufnahmen und – als Propheten immer neuer „Tiefpunkte“ – sogleich indie Gesellschaft zurückspiegelten. Ostdeutschland und den Ostdeutschen hat die-ser sich selbst in Gang haltende Mechanismus der ständigen pessimistischenRückkopplung nicht gut getan.

In dieser Hinsicht hat sich der Wind nun tendenziell gedreht, und das stimmtfür die Zukunft hoffnungsvoll. Keine Frage, die wirtschaftliche und gesellschaftli-che Lage in Ostdeutschland ist auch im Frühjahr 2007 noch immer keineswegsrosig – und sie wird dies auf absehbare Zeit nicht sein. Zudem differenziert sichdie ostdeutsche Gesellschaft zügig aus, weshalb man bei der Bewertung der gesell-schaftlichen Stimmungslagen nach Generationen, Bildungskohorten, Regionenund Geschlechtern sehr genau unterscheiden muss – eine Anstrengung, der sichdie Lautsprecher der angeblich einen und ungeteilten ostdeutschen Untergangs-stimmung übrigens beharrlich verweigern. Aber fest steht: Mehr Menschen als inden vergangenen Jahren sind heute im Zweifel bereit, das Glas für halb voll zuhalten und nicht mehr für halb leer.

Daraus erwachsen neue Chancen für eine positive und aktivierende politischeKommunikation, wie beispielsweise unlängst die Auseinandersetzung um „Deutsch-lands frechsten Arbeitslosen“ (Bild) Henrico F. anschaulich illustriert hat: Ganz ein-deutig dominierte in den öffentlichen Debatten – auch in Ostdeutschland – geradenicht die Einschätzung, bei Henrico F. aus Gotha handele es sich vor allem um einunschuldiges Opfer kapitalistischer oder „marktradikaler“ Verhältnisse, und KurtBeck habe Unrecht mit seiner Kritik an dem Arbeitslosen. Vielmehr vertrat offen-sichtlich eine deutliche Mehrheit der Öffentlichkeit die Ansicht, es sei der von Hen-rico F. repräsentierte Typus des – vermeintlich oder tatsächlich – arbeitsunwilligenSozialleistungsbeziehers, der Kritik verdiene.

5 David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 525.

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Das ist neu, jedenfalls bezogen auf Ostdeutschland. Möglich geworden istdiese Verschiebung der Perspektiven womöglich durch veränderte mentale undkulturelle Dispositionen innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft, zu deren Ver-ständnis Untersuchungen wie der „Sozialreport 2006“ mit voller Absicht keinenBeitrag leisten. Vor allem aber die konjunkturelle Aufhellung des vergangenenJahres, scheint mittlerweile auch einstellungsverändernd zu wirken. Eine Arbeit zuhaben und zu behalten, sich gegebenenfalls nach einem besseren Job umzusehen,Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu finden oder nach einer Phase der Erwerbslosig-keit wieder eine neue Anstellung zu bekommen – dies alles erscheint heute auchin Ostdeutschland einem höheren Anteil der Menschen möglich und plausibel alsin früheren Jahren. Damit geraten die politischen Vermarkter der pessimistischenOpfer- und Tiefpunktagenda in die Defensive.

Es darf nun natürlich nicht darum gehen, den erwerbstätigen Mainstream derGesellschaft gegen die tatsächlich wirtschaftlich und sozial Benachteiligten auszu-spielen. Was aber in Ostdeutschland gebraucht wird – übrigens: gerade im Inter-esse der Benachteiligten und Bedrückten –, ist die nochmals verstärkte Anspracheund Ermutigung der Tätigen, der Aktiven, der „Menschen, die hart arbeiten undsich an die Regeln halten“, wie Bill Clinton diese Gruppen gerne nannte. Umsomehr haben die ostdeutschen Parteien Anlass, ihrerseits die Signale aus der Mitteder Gesellschaft feinfühlig wahrzunehmen, politisch, kulturell und symbolisch zuverarbeiten. Beide großen Volksparteien in Deutschland haben in der Vergangen-heit immer dann Wahlen gewonnen, wenn sie die Interessen, die Vorlieben unddas Lebensgefühl der gesellschaftlichen Mitte besonders gut verarbeitet und wi-dergespiegelt hat, wobei der Begriff der „Mitte“ sowohl sozialökonomisch wiekulturell und generationell verstanden werden soll.6

Die moderne Mitte kommt in der Politik kaum vor

Die arbeitende Mitte der Gesellschaft setzt sich heute, über den Daumen gepeilt,aus den Menschen der Geburtsjahrgänge zwischen 1950 und 1980 zusammen. Sieganz besonders tragen diese Gesellschaft. Denn es sind vor allem die Angehörigendieser Kohorte, die berufstätig sind, ihre Steuern und Sozialbeiträge zahlen, Kindererziehen, sich um ihre Eltern kümmern und bürgergesellschaftlich in Vereinen, Ini-

6 Vgl. Tobias Dürr, Was ist und wem gehört die Mitte? Überlegungen zum Parteienstreit um einen strategischen Begriff, in:Tilman Mayer und Reinhard C. Meier-Walser (Hg.), Der Kampf um die politische Mitte. Politische Kultur und Parteiensystemseit 1998, München 2002, S. 30-42.

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tiativen oder Freiwilligen Feuerwehren engagieren. Es sind heute diese Gruppen, diedie Gesellschaft in Ostdeutschland stützen und zusammenhalten. Man tritt keineranderen Gruppe zu nahe – weder den Jüngeren noch den Älteren, weder den Är-meren noch den Reicheren – wenn man feststellt, dass es auf die erwerbstätige ge-sellschaftliche Mitte unserer Gesellschaft in besonderem Maße ankommt – undzwar um des Wohlergehens der gesamten Gesellschaft willen.

Weil die Mitte die Gesellschaft trägt, prägt sie immer auch deren Selbstver-ständnis und Gegenwartsdeutung – mit starker Ausstrahlungswirkung in die übri-gen (jüngeren oder älteren) Alterskohorten und sozialen Gruppen hinein. In die-ser gesellschaftlichen Prägekraft und Deutungsmacht der Mitte liegt die tiefereWahrheit des Satzes „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“. Dennoch gerätdiese Einsicht in der politischen Auseinandersetzung – nicht nur in Ostdeutsch-land – immer wieder in Vergessenheit: „Diese modernen, voll im internationalenWettbewerb stehenden Arbeitnehmer haben in der heutigen Bundesrepublik …kaum eine politische Vertretung“, wundert sich zu Recht der Journalist ThomasHanke. „Ihr Lebensgefühl, ihre Anliegen wie Weiterbildung, mehr Chancen fürden gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Kinder kommen in der politischen und ge-sellschaftlichen Diskussion praktisch nicht vor. Wenn Kurt Beck einen sprödenSatz wie ‚Leistung muss sich wieder lohnen’ von sich gibt, ist das schon der Hö-hepunkt der Annäherung an die Realität – bleibt allerdings folgenlos. Wie ineiner Endlosschleife wird über Hartz IV und die Rente gesabbelt – die Arbeitneh-mer, deren Wertschöpfung all das erst ermöglicht, sind dagegen ein Nicht-Sujet.Auch das erklärt die Enttäuschung über Politik.“ 7

Wie sich die ostdeutsche Gesellschaft verändert

Wo aber Volksparteien den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte und derenLebensgefühl verpassen, da hören sie irgendwann auf, überhaupt Volksparteien zusein. Tektonische Verschiebungen in Weltsicht und Selbstverständnis der Mittesollten deshalb unbedingt Auswirkungen auf die Politik und Außendarstellungder ostdeutschen Sozialdemokratie haben. Wenn es stimmt, dass wir gegenwärtigin Ostdeutschland einen grundsätzlicheren Trend erleben als bloß kurzfristig bes-sere Laune im Volk aus konjunkturellen Gründen, dann sollten gerade die ost-deutsche Sozialdemokraten darauf in ihrer Programmatik, Symbolik und Kom-

7 Thomas Hanke, Die Politik als Nachzügler. Noch immer wird in Deutschland gejammert und geklagt – in Wirklichkeit ist derdeutsche Kapitalismus längst erfolgreich dabei, die Globalisierung zu meistern, in Berliner Republik 9 (2007), S. 24-29; vgl.auch Thomas Hanke, Der neue Kapitalismus. Republik im Wandel, Frankfurt und New York 2006.

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munikation reagieren. Die Hegemonie des auf Dauer geradezu selbstzerstörerischwirkenden Niedergangs- und Tiefpunktgeredes endlich zu beenden, liegt in ihremureigenen Interesse.

V. Viele Indizien sprechen also dafür, dass gegenwärtig eine „Neue Ostdeut-sche Mitte“ im Entstehen begriffen ist, die zuversichtlicher denkt, fühlt,

handelt und, kurz gesagt, „tickt“ als die von den Umbrüchen der vergangenenzwei Jahrzehnte tatsächlich vielfach gebeutelte „Generation ABM“ sowie derenselbst ernannte politische Repräsentanten. Wir haben es zunehmend mit einerneuen gesellschaftlich prägenden ostdeutschen Mitte zu tun, die aufs Zupackenund Selbermachen setzt; mit pragmatischen und illusionslosen Realisten ohneSehnsucht nach den muffigen Wärmestuben und utopischen Überschüssen derVergangenheit. Damit aber könnten diejenigen in Gesellschaft und Politik end-gültig ins Hintertreffen geraten, die für diese „Neue Ostdeutsche Mitte“ inhalt-lich und stilistisch keine Antworten bereithalten. Die Debatte darüber, was sichin der ostdeutschen Gesellschaft eigentlich ändert und wie es sich ändert, solltenjedenfalls diejenigen unerschrocken führen, denen ernsthaft daran gelegen ist,Ostdeutschland aus seinem ewigen Kreislauf aus (angeblich) immer schlechtererLage und (angeblich) immer mieserer Stimmung herauszuführen.

Setzt sich die zupackende Grundhaltung der „Neuen Ostdeutschen Mitte“durch, dann werden diejenigen Parteien davon profitieren, die sich am besten aufdie veränderte Situation einstellen. Dass es dabei nicht um irgendeinen „NeuenÜberschwang“ gehen sollte, sollte allerdings ebenfalls klar sein – die Lage bleibt jaschwierig. Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle sagt in seiner Prognosefür 2007 wohlweislich voraus, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts inOstdeutschland in diesem Jahr nur 1 Prozent betragen werde: „So nimmt dieZahl der Erwerbstätigen erneut ab. … Die gespaltene Entwicklung auf dem deut-schen Arbeitsmarkt verstärkt sich wieder.“ 8

Hinzu werden mittel- bis langfristige Entwicklungstendenzen kommen, diemittlerweile alle nur zu gut bekannt sind: Abwanderung, Alterung, Geburten-rückgang, sinkende Nachfrage und schrumpfende öffentliche Haushalte, Mangelan qualifizierten und hoch qualifizierten Arbeitskräften bei gleichzeitigem Über-schuss an zu gering Qualifizierten und so weiter. Wie mit dieser geballten Pro-blemlast umgegangen wird, ist zu guten Teilen eine Frage der Haltung: Etwas tun

8 IWH Halle, Deutsche Wirtschaft 2007, Aufschwung mit Januskopf – das andere Gesicht, IWH-Pressemitteilung 43/2006 vom21.12.2006; auch in: Wirtschaft im Wandel, 13 (2007), S. 7-28.

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oder nicht? Trotz allem zupacken oder weinerlich resignieren? Schon deshalb istdie jetzt spür- und messbare Bereitschaft zum Aufbruch eine kostbare Pflanze, dieso sorgsam gepäppelt werden sollte, wie nur irgend möglich. Nur dann wird derderzeit entstehende neue Geist auch Rückschläge überstehen. Das muss er aber,denn schwierige Umbrüche stehen Ostdeutschland bekanntlich auch weiterhinbevor.9 Die „allgemeine Lebenszufriedenheit“ der Menschen im Osten brauchtdas freilich nicht zu beeinträchtigen, eher im Gegenteil. Denn es stimmt: „Garnicht so selten liegt das größte Glück darin, schwierige Aufgaben beherzt anzu-packen.“ 10 Wo immer mehr Menschen diese Auffassung teilen, braucht man sichvor der Zukunft nicht zu fürchten. L

DR. TOBIAS DÜRR

ist Chefredakteur der Zeitschrift Berliner Republik.

9 Siehe beispielsweise aktuell und zutreffend: „Ostdeutschland als Spiegel der Zukunft. Alterung und Bevölkerungsschwund vielschneller als im Westen“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Dezember 2007.

10 Matthias Platzeck, Glücklich schrumpfen? Warum gerade die schrumpfende Gesellschaft eine erneuerte Gerechtigkeitspolitikbraucht, in: Hubertus Heil und Juliane Seifert (Hg.), Soziales Deutschland. Für eine neue Gerechtigkeitspolitik, Wiesbaden2005, S. 130-138, hier S. 138.

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IN DEN NEUEN LÄNDERN SIND PARALLELE GESELLSCHAFTEN ENTSTANDEN.VON THOMAS KRALINSKI

Ostdeutschland gibt es nicht

Ü ber Ostdeutschland wird immer in Schüben gesprochen. Nach der Wendekam das Thema alle paar Jahre auf die Tagesordnung – mal durch die „Auf-

der-Kippe“-These von Wolfgang Thierse, mal durch Hochwasser an Oder undElbe, mal durch den Umstand, dass sowohl die Kanzlerin und als auch der kurz-zeitige Vorsitzende der Sozialdemokraten in der DDR aufgewachsen sind. Jüngsthaben Studien zur Stimmung in Ostdeutschland das Thema wieder in die öffent-liche Auseinandersetzung gebracht.

Die ganze Sache hat nur einen Haken: „Ostdeutschland“ gibt es nicht mehr.Es gibt viele Ostdeutschlands – und zwar mindestens vier: Es gibt die Aufsteiger,die versteckten Champions, die Kämpfer und die Hoffnungslosen. Es lohnt sich,genauer hinzuschauen.

I. Die Aufsteiger

Der bisweilen zu hörende, leicht ironische Satz „Wie im Westen, nur schöner“charakterisiert die Aufsteiger ziemlich gut. Wer kennt sie nicht? Dresden, Jena,Leipzig, Potsdam. Wenn es um den Erfolg des Aufbaus Ost geht, fallen immerdieselben Namen, werden immer die gleichen Beispiele genannt. Es gibt sie wirk-lich und es gibt sogar mehr als nur drei oder vier. Perfekte Infrastruktur, großeEinkaufspaläste, geräumige Messehallen, restaurierte Innenstädte, neue Univer-sitäten und Forschungseinrichtungen, moderne Krankenhäuser. Wer durch dieInnenstadt von Leipzig läuft, kann den Optimismus, die Energie, die positiveGrundstimmung förmlich mit Händen greifen. Wer die sommerlichen Elbwiesenin Dresden kennt oder durch das Holländische Viertel in Potsdam spaziert, spürteine Leichtigkeit, die viele im Osten nicht vermuten würden.

Doch der Erfolg ist schwer verdient. Leipzig oder Potsdam haben fast alleindustriellen Arbeitsplätze verloren. Geblieben ist ein Rest – und der ist heute

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zweifelsohne modern und erfolgreich. Überlebt haben auch die gut ausgebildetenFachkräfte, ohne deren Engagement und Flexibilität BMW nicht nach Leipzig,VW nicht nach Zwickau, Opel nicht nach Eisenach, Infineon und AMD nichtnach Dresden gekommen wären. Diese Städte und Regionen sind erfolgreichnicht nur im ostdeutschen Maßstab, sie sind es auch im europäischen Vergleich.Der Export wächst überdurchschnittlich – doch muss einem auch klar sein, dasses ohne diese Leuchttürme ziemlich dunkel aussehen würde. Allein die Hälfte dessächsischen Exports wird von einer Hand voll Unternehmen erbracht. Auf jedenFall verfügen die ostdeutschen Aufsteiger über eine hoch moderne Basis, sie sindexportstark und ausbaufähig.

Trotzdem oder gerade deshalb: Zu den größten Erfolgsgeschichten des AufbausOst gehören die „neuen“ Industrien. Leider nur binden sie kaum Arbeitskräfte.Der Anteil der Industrie am ostdeutschen BIP liegt bei 15 Prozent – das ist dieHälfte des westdeutschen Wertes, entspricht aber im Übrigen ziemlich exakt demUmfang der US-amerikanischen Industrie. Es könnte also sein, dass hier die Wirt-schaftsstruktur und Gesellschaft der Zukunft entsteht. Leipzig, Weimar, Potsdam,das Berliner Umland sind „moderne“ Regionen, die neben einer kleinen, aber fei-nen industriellen Basis vor allem auf moderne Dienstleistungen setzen, aufMedien, auf Kultur und Tourismus.

Abwärtsspirale ist durchbrochen

Die Aufsteigerregionen besitzen – zumindest mittelfristig – einen großen Vorteilgegenüber allen anderen. Sie haben eine einigermaßen stabilisierte demografischeBasis. Leipzig und Dresden sind die einzigen Gebiete, in denen Sachsen bis 2020eine stabile oder leicht wachsende Bevölkerung erwartet. Potsdam wird in dieserZeit sogar um zehn Prozent wachsen. Zwar wird die Bevölkerung wie überall älter,die Negativspirale aus wirtschaftlicher Auszehrung und der Abwanderung gut aus-gebildeter jungen Leute ist jedoch durchbrochen. Sogar Ansätze einer gut funktio-nierenden Zivilgesellschaft gibt es. Es eint diese Regionen das Gefühl, sich durchge-bissen und Erfolg gehabt zu haben. Vereine, Verbände, kleine Initiativen sind ent-standen, kümmern sich um ihr Umfeld, die Kultur, den Zusammenhalt.

Auch die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur gesellschaftlichen Situation inDeutschland1 zeigt, dass es die „zufriedenen Aufsteiger“ in Ostdeutschland gibt. Ihr

1 Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Gesellschaft im Reformprozess, Berlin 2006.

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Anteil an der ostdeutschen Gesellschaft beträgt 8 Prozent – das ist deutlich wenigerals in Westdeutschland. Sie haben den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft und ver-trauen in die Demokratie. Auch der Sozialreport der Volkssolidarität2 zeigt, dassimmerhin 25 Prozent der Ostdeutschen mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufriedensind. Wenn es um die allgemeine Lebenszufriedenheit geht, sind allerdings nur 4Prozent der Ostdeutschen sehr zufrieden, immerhin 35 Prozent sind zufrieden.

II. Die versteckten Champions

Neben diesen „arrivierten“ Aufsteigern im Osten gibt es eine ganze Reihe von klei-nen Erfolgen abseits der großen Städte: die versteckten Champions. Die Vertreter dergroßen Politik schauen hier seltener vorbei, die der großen Medien noch weniger.Schwedt an der Oder ist so ein versteckter Champion. Neben einer modernen Che-mieraffinerie sind hier mittlerweile vier große Papierfabriken sowie die größte Bioga-sproduktion Europas entstanden. Wernigerode und der Harz mit seiner Fach-hochschule und einer breit gefächerten Automobilzulieferindustrie sind ein weiteresBeispiel. Im thüringischen Sömmerda wird fast die Hälfte der in Europa hergestell-ten PCs produziert, im Rostocker Hafen arbeiten heute mehr Menschen als vor derWende und schlagen dabei mehr Güter um als jemals zuvor. Oder Chemnitz: Ausdem hässlichen Entlein ist vielleicht kein schöner Schwan, aber immerhin ein stolzerStorch geworden – mit erfolgreichem Maschinenbau, einer guten Universität sowieeiner renommierten Kultur- und Kunstszene. Schwarzheide, Wismar, oder Freibergim Erzgebirge sind Beispiele für Orte, die Nischen besetzt haben – und dabei erfolg-reich geworden sind. Ihr Kennzeichen ist oft die intensive Vernetzung verschiedenerPartnern – eine Vernetzung von kleinen Unternehmen mit Forschungseinrichtungenoder Hochschulen, ohne die die vielen kleinen Erfolgsgeschichten kaum denkbarwären. Diese örtlichen und regionalen Netzwerke sind kaum bekannt, aber sympa-thisch durch ihren unbedingten Willen, vorwärts kommen zu wollen.

Zwar stehen die heimlichen Champions unter großem demografischen Druck.Ihre Einwohnerzahl ist nach der Wende massiv gesunken, und erst in jüngsterZeit konnte der Abwärtstrend gebremst werden. Die Menschen dieser Orte hat-ten es schwer nach der Wende, den ganz großen Sprung haben sie vielleicht nichtgeschafft – aber sie sind angekommen im neuen System. Typisch für sie ist derSozialtypus des gut ausgebildeten Ingenieurs, der im DDR-System unabkömm-

2 Volkssolidarität (Hg.), Sozialreport 2006. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2006.

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lich war – und sich langsam aber sicher im neuen Deutschland eingefunden hat.Sein wichtigstes Merkmal ist die beharrliche Anstrengung, es besser zu machenund mitzuhalten. Sein größtes Ziel: auf eigenen Füßen stehen – und laufen kön-nen. Wie schwer das ist, wird deutlich, wenn man die Wachstumsraten von Wirt-schaft und Beschäftigung miteinander vergleicht. In den wirtschaftlich besondersstarken Kreisen Brandenburgs – Teltow-Fläming, Oberhavel und Havelland –wuchs die Wirtschaft zwischen 1995 und 2003 jährlich zwischen 4 und 8 Pro-zent. Die Zahl der Arbeitsplätze hingegen stieg nur um gerade 1 Prozent pro Jahr.

III. Die Kämpfer

Im Jahr 2005 verkündete die Brandenburger Landesregierung ein neues Förderkon-zept. Die Gießkanne wurde in den Schrank gestellt, Mittel konzentriert. Wachstums-kerne sollen seitdem besonders berücksichtigt werden, „Stärken stärken“ heißt dasneue Credo. Dieses mutige Konzept erntete viel Applaus – vor allem aber löste eszunächst einen großen Aufschrei im Land aus. Die Diskussion über die Umstellungder Förderpolitik führte jedoch zu einem Umdenken. Das Prinzip des Schwächen-ausgleichs wurde abgelöst durch das der Stärkenkonzentration. Damit waren Regio-nen ganz zwangsläufig gezwungen, nicht mehr zu jammern, sondern zu klotzen. Jetztmussten Stärken und Potentiale vorgezeigt werden, um neue Fördermittel zu recht-fertigen. Sicher, nicht alles, was sich dafür hielt, war wirklich eine handfeste Boomre-gion. Gleichwohl hat dieser Umdenkprozess in den Regionen eine Bewegung inGang gesetzt, die sich langfristig auszahlen wird.

Denn es haben sich Verwaltungen, Unternehmen, Verbände und Initiativenzusammengesetzt und beraten, wo die Stärken ihrer Region liegen und wie dieseverbessert werden könnten. In etlichen Gegenden hat man dabei Ziele formuliertund Projekte entwickelt, die auch noch weiter verfolgt wurden, als die Landesre-gierung den Zuschlag als offizieller „Wachstumskern“ verweigerte. „Wir werdentrotzdem weitermachen, auch wenn es keine Fördermittel gibt“, lautete der trot-zige Ausruf von fünf Bürgermeistern aus der Region um Wittstock im branden-burgischen Norden, nachdem die negative Nachricht aus Potsdam gekommenwar. Im Kern ist dies jedoch eine positive Nachricht. Trotz widriger Umständewollen die Verantwortlichen einer Region ihr Schicksal in die eigenen Händenehmen. Man lässt sich nicht von außen unterkriegen, sondern vertraut in eigeneStärken.

Eine ähnliche Geschichte lässt sich vom Bürgerbus in Gransee erzählen. Sin-kende Einwohnerzahlen und zurückgehender Schülerverkehr machen öffentlichen

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Nahverkehr in dünn besiedelten Gegenden immer teurer und unrentabler. Umdie Situation vor allem älterer Menschen in den Dörfern um den kleinen nord-brandenburgischen Ort zu verbessern, gründete sich 2004 ein Bürgerbus-Verein.Mit einem Kleinbus und ehrenamtlichen Fahrern sollte ein kleiner aber brauch-barer Busverkehr eingerichtet werden, der die Menschen in die nächste Stadt, aufden Markt, ins Amt und die Geschäfte bringt. Das Ganze wurde ein großerErfolg. Nach anfänglicher Skepsis verzeichnet der Bürgerbus steigende Fahrgast-zahlen. Für die Fahrer, unter ihnen viele Arbeitslose und Rentner, bieten sich soneue Gelegenheiten zu Beschäftigung und Verantwortung, zum Erlebnis desGebraucht-Werdens. Mancher Arbeitsloser konnte auf dem Umweg über die Tä-tigkeit beim Bürgerbus bereits eine „richtige“ neue Stelle ergattern. Und für vieleFahrgäste ist der Bürgerbus so etwas wie ein guter Bekannter geworden, manchedrehen sogar eine Extra-Runde, um sich ein bisschen zu unterhalten, um sichumzuschauen.

Die Beispiele zeigen: Es gibt Mut – selbst dort, wo man es kaum erwartet.Leute, die für ihre Region kämpfen, Leute, die bereit sind, ihr Schicksal in dieeigenen Hände zu nehmen, auch wenn es schwierig wird. Wer in solchem sozia-len und wirtschaftlichen Umfeld etwas auf die Beine zu stellen versucht, verdienthöchsten Respekt – gerade weil diese Entwicklungen immer wieder in die Gefahrdes Scheiterns geraten. Hier ist eine Politik der Ermutigung gefragt, denn zu vieleRegionen, zu viele Menschen in Ostdeutschland stehen genau an diesem Scheide-weg: Scheitern oder Mut fassen – gerade wenn es schwierig ist.

Die Menschen hier stemmen sich mit aller Macht gegen eine trostlose Zukunft.Sie wollen nicht, dass ihre Heimat deprimierenden und unglücklichen Zeiten ent-gegen dümpelt. Zu oft in den vergangenen Jahren wurden staatliche Gelder zueiner Droge, die abhängig gemacht hat. Zu oft hat man sich mit Fördermittelneingerichtet. Inzwischen haben die „Kämpfer“ verstanden, dass die öffentlichenFördermittel in Zukunft geringer ausfallen werden, dass sie mit weniger Geld bes-sere Qualität erreichen müssen – und können. Den Zirkel der Abhängigkeit zudurchbrechen, Menschen und ganze Regionen mitzunehmen und aufzurütteln, dasist die eigentliche Leistung.

IV. Die Hoffnungslosen

Im Sommer 2004 schien es für einige Wochen, als könnte in Ostdeutschland einezweite Revolution ausbrechen. In über 100 Städten demonstrierten Zehntausendegegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung – und nahmen dabei aus-

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drücklich Bezug auf die Wende-Demonstrationen vom Herbst 1989. Die Protesteflauten zwar nach einigen Wochen wieder ab, gleichwohl gingen die Demonstra-tionen weiter. In gut einem Dutzend Brandenburger Städte kamen die Unverzag-ten über ein Jahr lang Montag für Montag zusammen, um ihrem Protest, manch-mal auch nur ihrer Angst Ausdruck zu verleihen. Die Menschen fühlten sichabgehängt, sie fühlten sich allein gelassen und hatten jede Hoffnung verloren,dass der Staat ihnen noch helfen könne.

Es gibt ganze Regionen, in denen das Gefühl dominiert, vergessen worden zu sein.Alte Industrieregionen wie die Lausitz oder Ostthüringen, ländliche Gegenden wie Vor-pommern oder die Altmark haben die Jahre nach der Wende als einen einzigen großenAbstieg wahrgenommen. So hat der Kohleabbau nicht nur riesige Löcher in der Land-schaft, sondern auch viele Menschen übrig gelassen. Menschen mit guter Ausbildungund hartem Arbeitsleben – von denen heute kaum noch jemand gebraucht wird. DieArbeitslosenquote erreicht in diesen Regionen bis zu 30 Prozent – und das schon seit Jah-ren. Die Menschen wandern von einer Beschäftigungsgesellschaft in die Arbeitslosigkeit,von da in eine ABM, anschließend in eine Fortbildung und dann wieder in die Arbeitslo-sigkeit. Im Kreis Demmin leben 25 Prozent der 18-65-Jährigen von Sozial- oder Arbeits-losengeld. Zu beobachten ist dort ein dreimal stärkerer Alkoholkonsum als im Bundes-durchschnitt, häufigere Herz-Kreislauf-Krankheiten, höhere Übergewichtigkeit.

Qualifikationen passen nicht mehr zu Jobs

Langzeitarbeitslosigkeit ist ein schleichendes Gift. Es vergiftet nicht nur das Le-ben jedes einzelnen Betroffenen, es macht auch keinen Halt vor seiner Umge-bung, seiner Region. Die Stimmung in diesen zerstörten Gemeinschaften ist amBoden, das Vertrauen dahin. Die Abwanderung von gut ausgebildeten jungenLeuten verstärkt das Gefühl, abgehängt zu sein. Die Alterung schreitet damitumso schneller voran. In diesen Regionen entsteht ein neues Unten, das zudemstark männlich dominiert ist. In einigen Gegenden Ostdeutschlands kommen auf100 Männer nur noch 80 Frauen.

Wer die wirtschaftlichen und demografischen Probleme zumindest ansatzweisebeherrschen will, muss sich vor allem um die Frauen kümmern. Gut ausgebildeteFrauen wollen Job und Kind miteinander verbinden, sind flexibel bei der Wahlihres Arbeitsplatzes – und schneller bereit, Regionen zu verlassen, die keine Hoff-nung mehr bieten.

Tatsächlich steht dem Osten ein enormes Fachkräfteproblem unmittelbar bevor.Allein in Brandenburg werden in den kommenden Jahren bis zu 100.000 Fachkräfte

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gebraucht – bei einer Gesamtzahl von 700.000 sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigten! Die hohe Langzeitarbeitslosigkeit hat dazu geführt, dass die Erfahrungenvieler Menschen – und damit sie selbst – entwertet wurden. Viele haben schlicht ver-lernt zu arbeiten. Ihre Qualifikationen passen nicht mehr zu den Jobs von morgen.So kann es nicht verwundern, dass es Menschen geradezu verrückt macht, wenn sieseit langer Zeit arbeitslos und Unternehmen zugleich offene Stellen haben, für die sieaber nicht in Frage kommen. Dieses Dilemma zu bewältigen und nicht noch mehrFrust entstehen zu lassen, wird zu den großen politischen und kommunikativen Her-ausforderungen der kommenden Jahre gehören.

Es fehlen Anker

Etliche Gegenden wie die Lausitz oder die Prignitz können den demografischenund wirtschaftlichen Zug nicht mehr aufhalten. Manches Dorf wird nicht mehrweiter existieren können. Im Kern geht es in vielen Regionen darum, den Nieder-gang zu moderieren – viele kehren auch demografisch zurück auf ein Niveau, dassie vor der ebenso implantierten wie sprunghaften Industrialisierung der DDR-Zeit hatten. Dennoch: Alles einfach dem Selbstlauf, der Zerstörung und bisweilender Selbstzerstörung von Traditionen und Lebensleistungen zu überlassen, wärefalsch. Aber bisher fehlt eine brauchbare Strategie des geordneten Rückzugs, einesRückzugs, der nur mit den Menschen gelingen kann. Eine funktionierende Gesell-schaft kann und muss es auch in schrumpfenden Regionen geben.

Was fehlt, sind „Anker“. Von einer funktionierenden Zivilgesellschaft findensich nur Rudimente. Vereine und Ehrenamtlichkeit, Initiative und freiwilligesEngagement sind kaum zu finden oder haben nur wenig Ausstrahlungskraft. Par-teien, Politik und auch die Demokratie erleben schwindenden Rückhalt. EineLangzeitstudie unter jungen Ostdeutschen zeigt, dass nur eine Minderheit zuDemokratie und Marktwirtschaft steht. Das fehlende gesellschaftliche Interessezeigt sich immer deutlicher. Das Vertrauen in Demokratie ist oft bereits so gering,dass sie den Menschen schlicht egal geworden ist.

Ein interessantes Beispiel erlebte jüngst der Brandenburger Landtag. Die Pots-damer Landtagsparteien stellten im Frühjahr 2006 eine Reform des Abgeordnetenge-setzes vor, die neben einigen Kürzungen auch eine maßvolle Diätenerhöhung vorsah.Debatten über Abgeordnetendiäten sind normalerweise immer gut für Empörung,für böse Leserbriefe, zornige Zuschriften und aggressive Anrufe. Diesmal passiertegar nichts! Es blieb so ruhig, dass die Teilnahmslosigkeit nicht nur Politiker insNachdenken brachte.

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Für dieses Phänomen der gesellschaftlichen Abgeschiedenheit hat die Frie-drich-Ebert-Stiftung den Begriff des „abgehängten Prekariats“ gefunden, zu dem25 Prozent der Ostdeutschen gezählt werden können. Viele dieser Menschenhaben einen – unerwarteten – gesellschaftliche Abstieg erlebt und mittlerweilefehlt ihnen jedes Zutrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen. Es hatvor allem Männer im mittleren Alter getroffen, hoch ist der Anteil der Arbeiterund einfachen Angestellten. Sie haben sich vollkommen ins Private zurückgezo-gen und haben den Mut und die Kraft verloren, der selbst wahrgenommenenVerliererseite nochmal entkommen zu können.

Viele Menschen haben das Gefühl verloren, gebraucht zu werden, dazu zugehören und ein Teil des Ganzen zu sein. Sie fühlen sich ohnmächtig und ausge-liefert. Eine Stimmung der Ignoranz macht sich breit. Ignoranz gegenüber demStaat, der Heimat, der Gemeinschaft, auch gegenüber Nachbarn und Mitmen-schen. Es ist diese Stimmung, die dazu beigetragen hat, dass Schwangerschaftenund das Verschwinden kleiner Kinder unbemerkt blieben, dass Nachbarn sichmehr über Hundegebell als über Kinderleiden beschwerden.

Mit Engagement lässt sich jedoch viel erreichen. In Lauchhammer in der Lau-sitz ist man beispielsweise dabei, ein Netzwerk zu knüpfen, das Kinderärzte,Jugend- und Sozialamt, Polizei und Kindergärten zusammen bringt. Ziel ist es,Familien mit Kindern besser zu unterstützen, ihnen aktiv Hilfe anzubieten.3 VonAnfang an war den Initiatoren klar: Wer eine Kultur des Hinschauens erreichenwill, muss die Menschen zum Mitmachen bewegen. Deshalb sollten ehrenamtli-che Helfer in dieses Familiennetzwerk einbezogen werden. Viele waren skeptisch,ob dies ausgerechnet in dieser zermürbten Region gelingen könne. Der Ansturmder Freiwilligen war überwältigend. Die Lust mitzumachen und eine Aufgabe zuübernehmen, hat viele – darunter auch ehemalige und arbeitslose Lehrer undKrankenschwestern – motiviert, das Familiennetz zu unterstützen. Und das mit-ten in einer Region, in der Zukunft für viele ein Fremdwort ist. Und so entstehtgerade dort neue Zuversicht.

V. Die Gleichzeitigkeit

Der Osten ist nicht mehr „der Osten“. Die Wende von 1989/90 hat das Lebender Menschen in Ostdeutschland vollkommen durcheinander gewürfelt. DiesesErlebnis mit all seinen Folgewirkungen für jede einzelne Biografie hat die Men-

3 Siehe dazu den Beitrag von Hendrik Karpinski, Solveig Reinisch und Simone Weber in diesem Heft.

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[ ostdeutschland gibt es nicht ]

schen zusammengehalten. Doch heute, 17, 18 Jahre später zeigt sich, dass paral-lele Gesellschaften entstanden sind, die zwar alle gleiche Wurzeln, aber unter-schiedliche Interessen und Zukunftserwartungen haben. Politik für Ostdeutsch-land wird schwieriger und muss stärker als bisher differenzieren. Die Spaltung inGewinner und Verlierer verstärkt sich, die Differenzen zwischen den Regionenwerden zunehmen. Die ostdeutsche Gesellschaft geht Schritt für Schritt auseinan-der. Jena und Demmin haben nur noch wenig miteinander zu tun, ähnliches lässtsich für Leipzig und Salzwedel sagen, für Potsdam und Altenburg. Das kleineMaschinenbauunternehmen aus Chemnitz hat ganz andere – bessere – Perspekti-ven als der Computerhändler in einer schrumpfenden Region ohne wirtschaftli-che Basis. Das gleiche trifft auch auf einen ehemaligen Bergbauarbeiter in Mittel-deutschland und einen Inhaber einer kleinen modernen Biotech-Firma im Berli-ner Umland zu.

Dabei gilt aber auch: Diese unterschiedlichen Gesellschaften sind unmittelbareNachbarn. In Leipzig gibt es nicht nur das glänzende Zentrum, sondern auch ver-lassene Stadtteile, in denen man nachts lieber nicht zu Fuß unterwegs ist. In Gu-ben an der Neiße, einer Stadt, die in den vergangenen Jahren ein Drittel seinerEinwohner verloren hat, würde man kaum eine der größten und modernsten Bä-ckereien Ostdeutschlands erwarten – doch genau die gibt es dort. In den meistenRegionen ist die Hoffnung der unmittelbare Nachbar der Niedergeschlagenheit.

Ostdeutschland wird normaler

Die öffentliche Diskussion um Ostdeutschland schwankte bisher stets zwischenzwei Polen hin und her. Auf der einen Seite wird auf die erfolgreichen Regionenverwiesen, in denen Infrastruktur und wirtschaftliche Entwicklung mittlerweiledas allseits angestrebte „Westniveau“ erreicht und bisweilen auch überschrittenhaben. Auf der anderen Seite stehen die abgehängten und verlorenen Menschenund Regionen. Doch dazwischen gibt es viele Gegenden und gesellschaftlicheGruppen, die sich in die eine oder die andere Richtung entwickeln können.

Menschen und Regionen müssen die Chance erhalten, sich aus eigener Kraftentwickeln zu können. Die Gefahr, dass Verzweiflung und Entkräftung um sichgreifen, ist real. Unter keinen Umständen darf dies zur dominanten Kultur inganzen Bevölkerungsgruppen und Regionen werden. Zumal in dem Maße, wiedie Zuweisungen aus dem Solidarpakt II langsam sinken werden, lassen sich Pro-bleme in Zukunft nicht mehr mit Geld lösen oder zudecken. Helfen können ein-zig und allein noch gute Ideen.

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[ thomas kral inski ]

Zugleich werden die Probleme offener und härter als bisher zu Tage treten. Eswird schwieriger in Ostdeutschland, vielleicht aber auch einfach nur ein bisschen„normaler“ werden – eben eine moderne ausdifferenzierte Gesellschaft mit allihren Brüchen und Widersprüchen.

Erforderlich ist deshalb eine Politik, die aktiv die überall vorhandenen Mo-tivatoren unterstützt – und sich dabei besonders auf die „versteckten Champions“und noch viel stärker auf die „Kämpfer“ konzentriert. Dabei geht es gar nichteinmal so sehr um mehr finanzielle Mittel. Die Zeiten wachsender und konstanterHaushalte sind vorbei. Geld muss viel stärker in intelligente Ermutigung als inRuhigstellung und Infrastruktur aus Beton gesteckt werden.

„Der Osten“ braucht mehr Diskussion, vor allem mit sich selbst – und musssich seiner Stärken stärker bewusst werden. Politik und Gesellschaft müssen moti-vieren und aktivieren. Sie müssen dazu beitragen, dass zwischen den Teilgesell-schaften Leitern und Übergänge bestehen bleiben und neu entstehen, damit dieHoffnungslosen nicht ihrem vermeintlichem Schicksal überlassen sind. L

THOMAS KRALINSKI

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Zeitschrift Perspektive 21.

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NEUE WURZELN MÜSSEN WACHSEN, DAMIT DIE DEMOKRATIE NICHT IHRE BÜRGER VERLIERTVON TILL MEYER

Mehr Demokratiewagen

U m NPD und DVU das Wasser abzugraben, müssen wir die Demokratiestärken und ausbauen. Das ist die Schlussfolgerung, die ich aus den

jüngsten Wahlerfolgen der Rechtsextremen in Mecklenburg-Vorpommern undBerlin ziehe. Die alte Forderung Willy Brandts, mehr Demokratie zu wagen,greife ich bewusst auf, weil sie das Schild ist, unter dem wir uns sammeln sollten,hinter dem wir alle Initiativen bündeln und mit dem wir das immergleiche Reiz-Reaktions-Schema nach besonders schweren rechtsextremen Gewalttaten durch-brechen und Meter um Meter verlorenes Terrain zurückerobern können.

Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus hat eine neue Dimensionerreicht. Die Zeit hat Recht, wenn sie am 21. September 2006 schreibt: „Der ost-deutsche Rechtsextremismus ist keine Kinderkrankheit, die von selbst vergeht.“Wir haben es nicht mehr mit einer zyklisch auflebenden NPD zu tun, sondernmit einer strategisch organisierten „neuen nationalsozialistischenHerausforderung“ (Frank Jansen). Übrigens nicht nur in Ostdeutschland, auchwenn hier in augenfälligster Art und Weise die Bedrohung für eine demokratischeund liberale Gesellschaft am größten ist.

I. Die wehrhafte Demokratie

Menschenverachtende Einstellungen und Verhaltensweisen aus brauner Vorzeithat es auch in den vergangenen Jahrzehnten gegeben. Aber noch nie gelang esden neuen Nazis, in den Alltag nicht weniger Gemeinden und damit vieler Men-schen einzudringen. Demokraten sind gezielt und parteiübergreifend gefordert.Die Mehrheit der Menschen wird von einer kleinen, aber nicht mehr unbedeu-tenden Minderheit herausgefordert. In den Landtagen von Brandenburg, Sachsenund seit jüngstem Mecklenburg-Vorpommern sowie den Berliner Bezirksparla-menten von Marzahn, Lichtenberg, Treptow-Köpenick, Neukölln und Pankow

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[ t i l l meyer ]

sitzen Rechtsextreme. 60.000 Menschen insgesamt haben in Mecklenburg-Vorpommern ihr Kreuzchen bei jenen gemacht, die einen anderen Staat wollen.In zwanzig Gemeinden lag die NPD bei über 20 Prozent, in drei Gemeindendavon sogar bei über 30 Prozent der Wählerstimmen.

Die rotgrüne Bundesregierung hat mit ihren Sonderprogrammen ENTIMON,CIVITAS und XENOS Grundlagen geschaffen, um den Rechtsextremismus wir-kungsvoller bekämpfen zu können. Die offensive Auseinandersetzung mit denVerfassungsfeinden, die entschieden mehr bringt als demonstrative Ignoranz, fin-det in den Parlamenten, Kreistagen und Gemeindevertretungen sowie auf derStraße statt. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist ein Kampf um dieKöpfe. In diesem Kampf ist die Demokratie wehrhaft und stark.

Wer wie die NPD nicht die Teilhabe, sondern die Beseitigung der parlamenta-rischen Demokratie anstrebt, der gehört schlicht und einfach abgeschafft, dasheißt mit den Mitteln des Rechtsstaates verboten. Rückschläge, wie das geschei-terte Verbotsverfahren, dürfen uns nicht aufhalten, weil sonst dauerhaft signali-siert wird, dass es sich bei den Feinden des Grundgesetzes um eine ganz normale,weil eben nicht verbotene Partei handele. So sehr ich mir auch wünsche, dass einePartei wie die NPD inexistent wäre, so weiß ich doch, dass ein neues Verbotsver-fahren nur ein Mittel im Kampf für die Demokratie und kein Allheilmittel ist.

Hinzu kommen polizeiliche Repression und Strafverfolgung, Jugend- und Bil-dungsarbeit und die Auseinandersetzung in den Parlamenten. Die Gleichbehand-lung aller Abgeordneten ist dort nicht mehr zeitgemäß, wo sich Abgeordnetenicht mehr als Dienstleister der parlamentarischen Demokratie verstehen, wo mitSteuergeldern verfassungsfeindliche und potentiell terroristische Strukturen gegendiesen Staat aufgebaut werden sollen. Wir sollten alles dafür tun, den organisier-ten Rechtsextremismus jetzt zu zerschlagen. Wenn NPD, DVU und freie Kame-radschaften als so genannte „Volksfront“ gemeinsam vorgehen, dann müssen sichauch Demokraten sichtbar verabreden. Traditionelle Parteianimositäten gilt es zuüberwinden, damit sie von den Antidemokraten nicht für verfassungsschädlicheZwecke ausgenutzt werden können.

II. Die gewollte Demokratie

Viele Menschen in Ostdeutschland wissen noch gut, wie es sich vor 1989 an-fühlte, falten zu gehen, um die Kandidaten der Nationalen Front zu „unterstüt-zen“. Handeln auf Befehl und Gehorsam, den Gleichschritt zu üben, das gehörtzu den Schattenseiten deutscher Vergangenheit und war einer der wesentlichen

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[ mehr demokratie wagen ]

Gründe, warum die Menschen in der DDR nach 40 Jahren Experiment Freiheitwollten.

Heute habe ich die Qual dieser freiheitlichen Wahl und weiß, dass ich verant-wortungsvoll mit ihr umgehen muss. Meine Freunde und ich wählen demokrati-sche Parteien, weil wir an diesen Staat glauben, an seine große, friedliche Kraft desAusgleichs, besser als alle anderen Staats- und Regierungsformen für die Mehrzahlder Menschen Wohlstand, Freiheit und Sicherheit zu schaffen. Wir wählen demo-kratisch, weil wir die Demokratie wollen, weil wir wissen, dass Demokratie ein soseltenes Gut ist, dass wir in Europa jahrhundertelang darum ringen mussten. Sieist nur dann vorhanden, wenn sie aus vielen guten Gründen gewollt wird, wennsie von unten wächst und wenn sie an allen Orten von den Menschen getragenwird. Doch vergangenen Herbst machte eine Umfrage zunächst ratlos: Nur 38Prozent der Ostdeutschen (im Vergleich zu 64 Prozent der Westdeutschen) hieltim vergangenen Jahr die Demokratie für die beste Staatsform. Was ist los in Ost-deutschland? Welche Schlussfolgerungen müssen wir ziehen?

Normalität gibt es nicht

Vor Reflexen und Aktionismus sollten wir uns genauso hüten wie vor einfachenErklärungsmustern: Die neuen Nazis sind weder nur soziale Verlierer oder arbeits-lose Single-Männer, die in den bevölkerungsarmen Landstrichen keine Freundinfinden. Der Vormarsch der neuen Nazis hat viele Gründe. Fakt ist, dass sich dierechtsextremen Wähler nicht mehr verstecken und ihre Entscheidung mit der Vo-kabel „Protestwahl“ erklären, sondern öffentlich dazu stehen und Zuspruch finden,so dass autoritärer Geist und antidemokratische Einstellungen mehr und mehr inder Mitte der Gesellschaft ankommen. Je entwickelter die kulturelle Hegemonieder Rechtsextremisten vor Ort ist, desto gemäßigter geben sich die neuen Nazisund desto anziehender ist ihre „Politik“ für ehemals skeptische Wähler.

Diese Entwicklung muss und kann gestoppt werden. Allen muss klar sein: Wer mitdem Feuer spielt, der wird sich arg verbrennen. Wer keine demokratischen Lösungen,kein Ringen um den Kompromiss, sondern die Gleichschaltung, den Stechschritt unddie Friedhofsruhe will, der hat seinen Platz in der Gemeinschaft der Demokraten end-gültig verloren. Wer sich auf Gewalt und Gewaltandrohung als Mittel politischer Aus-einandersetzung, auf Nazis und autoritäre Lösungen einlässt, der steht außerhalb unse-rer Gesellschaft und zieht entschlossene Gegenmaßnahmen auf sich. Schon 1966schrieb Jean Améry in dem Essay Die Tortur, die Gewalt des Nazismus sei kein Mittelgewesen, sondern sei eigentlicher Zweck. Wer die in SA-Manier brutal gestörten Land-

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[ t i l l meyer ]

tagswahlkämpfe, die demolierten Stände und psychischen und physischen Verletzun-gen im vergangenen Herbst miterlebt hat, der weiß, wie wahr diese Äußerung Amérysist.

Man kann keine Grenze zwischen West und Ost, zwischen Schwarz und Weiß zie-hen. Mittlerweile gibt es überall, in West- wie in Ostdeutschland, Wachstumszentrenund Erfolgsgeschichten, aber auch jene Regionen, die sich abgekoppelt und im Abseitsfühlen. „Wieso wählen, bringt doch eh nüscht“, höre ich in jenen Regionen von mehrund mehr Menschen. Übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch bei meinenReisen nach Polen, Rumänien und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. In Bu-dapest führte das Unbehagen und Misstrauen gegenüber der Regierung zu wochenlan-gen Protesten und Ausschreitungen, in Tschechien kam über Monate keine stabile Re-gierungskoalition zusammen und auch in Polen fühlen sich viele Menschen von ihrerRegierung nicht repräsentiert. Die Absetzbewegung vom demokratischen System trittimmer deutlicher zu Tage, auch in deutschen Bundesländern, in denen keine Staats-krise herrscht, aber die beiden Volksparteien bei Wahlen gemeinsam kaum mehr als 50Prozent aller Stimmen erreichen. Ein Ergebnis wie in Sachsen-Anhalt, wo sich bei derLandtagswahl im März 2006, nur 44 Prozent der Bürger in die Wahllokale begaben,spricht Bände.

Die Westdeutschen hatten das Glück, Demokratie parallel zum Wirtschaftswunderder fünfziger und sechziger Jahre lernen zu dürfen; sie erlebten Demokratie als einlohnenswertes Ringen und als eine Staatsform, in der sich ihre Lebenssituation stetigund ständig verbesserte. Viele Ostdeutsche haben dieses Glück nicht, erfahren Ar-beitslosigkeit und soziale Degradierung. Vor lauter Wende und Nachwendezeit kannsich Normalität nicht einstellen. Desintegration und Orientierungslosigkeit könnenzu Ressentiments, zu antikapitalistischer Wut und wachsendem Demokratiefrust füh-ren. Rechtsextreme Rattenfänger versuchen mit einfachen Erklärungen, aus diesemUmstand Kapital zu schlagen. Sie versuchen nicht ohne Erfolg, die wachsende Sehn-sucht nach Geborgenheit in Zeiten der Entsolidarisierung zu bedienen. Doch Demo-kraten dürfen nicht zulassen, dass die Demokratie ihre Bürger verliert, dass zivileStandards, Pluralismus und Individualismus zurückgefahren werden.

III. Die begeisternde Demokratie

Brandenburg ist das einzige ostdeutsche Bundesland, das professionelle Bera-tungsangebote, Strukturprojekte zur Vernetzung, Hilfe für ratlose Bürgermeister,Schuldirektoren und Opfer rechtsextremer Gewalt, voll finanziert. Aber nicht nurFörderprogramme, sondern auch praktische Aktionen haben große Wirkung auf

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[ mehr demokratie wagen ]

die Bevölkerung. Viele Brandenburger fuhren am 18. November nach Halbe, woeine der letzten, sinnlosesten und grausamsten Schlachten des Zweiten Weltkrie-ges tobte, die in den Apriltagen 1945 noch mal Zehntausende Tote gefordert hat.Seit geraumer Zeit versuchen alte und neue Nazis, Halbe zu ihrem Wallfahrtsortzu machen und die Geschichte umzudeuten. Sie instrumentalisieren die Opferdes Nationalsozialismus einmal mehr für ihre verbrecherischen Ziele.

Eine Demokratie hat Charisma. Weitaus mehr Gründe sprechen für als gegen sie.Eine Demokratie muss ehrgeizig und kann selbstbewusst sein, sie darf und sollte be-geistern und vorhandene Probleme nicht herunterspielen. Ich möchte keinen ah-nungslosen Bürgermeister mehr erleben, der von desorientierten Jugendlichenspricht oder sich anders mit den nationalen Sozialisten (sic !) arrangiert. Die „Unkul-tur des Zurückweichens“ (Heribert Prantl) ist stets der Anfang noch größeren Übels.

Heft nicht aus der Hand nehmen lassen

Willy Brandts „beflügelndes parteienübergreifendes Engagement für unsere De-mokratiewerdung“ (Hildegard Hamm-Brücher) seit seiner Zeit als WestberlinerRegierender Bürgermeister hat Maßstäbe gesetzt. Was dem ersten sozialdemokrati-schen Bundeskanzler innenpolitisch gelang, war nicht nur sein Beitrag zur deut-schen Verständigung, sondern auch eine stärkere gesellschaftliche Mitwirkung, einAufbruch zu mehr Teilhabe und Mitbestimmung. „Mehr Demokratie wagen“, dasberühmte Zitat aus seiner ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 warder Auftakt zu gesellschaftlichen Reformen, die im Nebengang auch der NPD Ein-halt geboten, der seit 1966 der Einzug in sieben Länderparlamente gelungen war.

Ebenso wie es damals gelang, die Nazis abzuwehren, müssen wir auch heutedie Auseinandersetzung in den rechts indoktrinierten Milieus suchen und dasKlima in den Dörfern und Gemeinden verändern. In der letzten Zeit gibt es er-neut eine größere Sensibilität in der Bevölkerung, viel mehr Gruppen, Initiativenund runde Tische, die nicht hinnehmen, was die Nazis hier veranstalten. DieseZivilgesellschaft gilt es zu unterstützen – finanziell, personell, juristisch und stra-tegisch. Das Konzept Tolerantes Brandenburg der Brandenburger Landesregierungist das erste seiner Art gewesen, in das sich Kommunen und zahlreiche Bündnisseeingliedern konnten. Wir dürfen nicht vergessen: Der Schwerpunkt aller Politikist ehrenamtlich. Demokratie lebt vom Ehrenamt, sie ist dort am besten, wo allesüberschaubar ist, das heißt in der Gemeinde.

Die Werte der Demokratie wollen nicht wie eine Monstranz umher getragen,sondern gelebt und verteidigt werden. Wir sollten unsere Werte nicht nur stärker

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[ t i l l meyer ]

zitieren, sondern auch reproduzieren. Deutlich mehr demokratische Präsenz istgefordert, damit wir auch jene erreichen, die gar nicht wählen gehen, weil sie kei-ne Arbeit, keinen Sportverein und keine Verbindungen zum öffentlichen Lebenmehr haben. Mehr Demokratie wagen heißt, dass Kommunalpolitiker, Eltern,Lehrer und Schüler, also die Basis eines jeden Lebens in einer Gemeinde, aufste-hen, Zivilcourage zeigen und sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen.Weil die Parteien, Gewerkschaften und Kirchen im Osten geringere Bindungs-kraft als im Westen haben, sind auch Feuerwehren und Heimatvereine in derdemokratischen Pflicht, das Gespräch mit den rechtsextremen Wählern zu su-chen, den rechten Parolen zu widersprechen und ihre Propaganda zu widerlegen.

Erinnerung und Auseinandersetzung

Viel zu viele Schüler glauben, dass 25 oder gar 50 Prozent Ausländer in Branden-burg leben. Dabei sind es nur 2 Prozent. Dass diese Ausländer gewollt sind, dasswir mit Fremden zusammenleben und den Umgang mit der Verschiedenheit wol-len, gehört zu den Grundüberzeugungen, die an den Schulen stärker vermitteltwerden sollten. Themen wie Zuwanderung und Integration, Toleranz- und De-mokratiegeschichte müssen in die Schule Einzug halten und diskutiert werden.Politische Bildung darf bei der Beschäftigung mit dem Holocaust nicht aufhören.Der Wesensgehalt unserer Gesellschaftsordnung muss an den Schulen erklärt wer-den: ihre Werte, ihre Rechtsprinzipien, ihr Selbstverständnis. Wo sonst, wennnicht in der Schule, soll das Verständnis für die Grundregeln einer funktionieren-den Gemeinschaft geweckt werden? Dabei ist Demokratie nicht nur die Organi-sationsform unseres Staates, sondern „ein Prinzip, das alles gesellschaftliche Seinder Menschen beeinflussen und durchdringen muss“, wie Willy Brandt 1968erklärte.

In einer aktuellen Befragung von 2.000 Berliner Schülern verneinte nur etwajeder Zweite den Satz „Die DDR war keine Diktatur – die Menschen musstensich nur wie überall anpassen“. In der vergleichenden Bewertung von alter Bun-desrepublik und DDR konnte sich ebenfalls jeder Zweite mit der These anfreun-den, die Bundesrepublik sei anders, aber nicht besser als die DDR gewesen. Hierist das, was ich als „Demokratieunterricht“ bezeichnen möchte, dringend vonNöten. Hier sind derzeitige Lehrer und zukünftige Lehrer gefordert – übrigensfächerübergreifend! Sie müssen sagen, warum die Weimarer Republik schon früh-zeitig auf den Holzweg geriet, warum Israel eine große Errungenschaft des 20.Jahrhunderts ist und warum die DDR, trotz guter Absicht manches Antifaschis-

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[ mehr demokratie wagen ]

ten und viel Idealismus in den Anfangsjahren, letztendlich nichts anderes als eineDiktatur war.

Wider den Volksempfänger

Wir sollten uns nicht länger an Statistiken halten, sondern in den Gesichtern derMenschen lesen. Dort erblicken wir Sorgen und Nöte, die längst nicht erklären,geschweige denn rechtfertigen, warum jemand zum Antidemokraten wird. Ernst-zunehmen gilt es sie dennoch. Den Spaltungslinien in unserer Gesellschaft ist nurmit einer Graswurzelstrategie beizukommen, indem sich Demokraten ihren Nach-barn als Ansprechpartner zur Verfügung stellen. Dort, wo das Vertrauen verlorengegangen ist, bei jungen, frustrierten Arbeitsuchenden und bei von Abstiegsangstbetroffenen Mittelschichten, muss es auch wieder gewonnen werden. Die viel be-schworene Zivilgesellschaft ist gefordert, aber auch und nicht zuletzt der Staat bzw.die Politik. Die Politik muss zur demokratischen Partizipation beitragen, so dassdie Wir-kümmern-uns-Versuche der Nazis ins Leere laufen.

Es ist gute sozialdemokratische Tradition, die Verhältnisse ändern zu wollen.Für Sozialdemokraten gilt unverändert Willy Brandts legendäre Aussage: „Wir sindnicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an!“ In über 140 Jah-ren demokratischer Politik haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratendabei mehr erreicht, als alle anderen vermeintlichen, antidemokratischen Wohltä-ter zusammen. Keine Kraft der Welt sorgt letztendlich besser für den kleinenMann, als die Idee der sozialen Demokratie. Die NPD, das müssen wir immerwieder betonen, richtet sich gegen diese Demokratie und nicht gegen soziale Miss-stände.

Die Stärkung der Demokratie bedingt eine Auseinandersetzung mit der sozia-len Frage. Sie geht einher mit der Schaffung zeitgemäßer Angebote für das neueUnten und bedeutet die Mehrung von Lebenschancen, Lebenssinn und sozialemZusammenhalt. Wo die Demokratie ihre Bürger verliert, ist es fahrlässig, wennwir unser veraltetes Sozialsystem nicht grundlegend überarbeiten und einige we-nige Neoliberale weiterhin von Sozialklimbim sprechen. Wir brauchen Antwortenfür eine Gesellschaft, die von Zufällen der Marktentwicklung bzw. Globalisie-rungsfolgen, von fragmentierten Lebensläufen, von Abwanderung und Alterunggeprägt ist. Wir wollen Antworten für eine Gesellschaft, die nicht aus Gewinnernund Verlierern, sondern aus gleichberechtigten Menschen bestehen soll. Politik istmehr als die Summe ihrer Gesetze, sondern enthält auch eine schwer fassbareatmosphärische Komponente. Deshalb brauchen wir einen neuen Anlauf in dem,

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[ t i l l meyer ]

was Hans Magnus Enzensberger in den sechziger Jahren als politische Alphabeti-sierung der Bundesrepublik bezeichnete.

Ich bin mir sicher, wenn damals dieses „Mehr Demokratie wagen“ gelungenist, dann schaffen wir das auch heute. Demokratie ist keine Einbahnstraße. Esgibt keinen Volksempfänger, der einem sagt, was ich wann und wie zu tun habe.Es gibt lediglich das Grundgesetz, das einen Rahmen für unser Zusammenlebenschafft. Dieses Grundgesetz ist erfolgreicher und dauerhafter als alle anderen bis-herigen Versuche, das Zusammenleben der Deutschen zu regeln. Dass die Freiheiteinfach ist, hat keiner behauptet. L

TILL MEYER

ist Juso-Vorsitzender in Potsdam und Referent der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.

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DIE WISSENSCHAFTSPOLITIK BRAUCHT AUCH IN ZUKUNFT DEN BUNDVON KLAUS FABER

Nach derFöderalismusreform

E ine Bewertung der jetzt abgeschlossenen ersten Veränderungsinitiativen zumdeutschen Föderalismus und zum Stellenwert von Wissenschaftspolitik in

diesen Ansätzen sollte sich zunächst mit einigen Grundelementen der „Reform“-Ziele befassen. Die allgemeinen Aspekte unseres Verständnisses vom unitarischenBundesstaat, der Politikverflechtung und der Entflechtungsvorschläge können indem hier gegebenen Kontext allerdings nur angedeutet werden.1 Dies trifft ebensoauf wesentliche Kritikpunkte an der Föderalismusreform zu, die nur am Randebehandelt werden – auch dann, wenn ein Zusammenhang mit der Wissenschafts-politik besteht.

Bei einer grundsätzlicher angelegten Bewertung wären die in dem Gesetz ge-troffenen Neuregelungen zur Bundesgesetzgebung insgesamt kritisch zu würdi-gen. Das 1994 durch Verfassungsänderung eingeführte Erforderlichkeitskriteriumfür die Bundesgesetzgebung (Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz) hat sich zum Beispielnicht bewährt. Im Rahmen der Föderalismusreform hätte man erwarten dürfen,dass das Kriterium nicht nur in Teilbereichen aufgegeben, sondern insgesamt wie-der abgeschafft wird. Die nun im beschlossenen Gesetz vorgesehene Möglichkeit,von bestimmten Zentralstaatsvorgaben durch Landesgesetz abzuweichen, mag,um ein weiters Kritikbeispiel anzuführen, für Bundesstaaten wie Kanada mit er-heblichen Nationalitätenkonflikten (Quebec) auch unter Berücksichtigung derRaumdimensionen akzeptabel sein. Sie ist für den deutschen Bundesstaat mit sei-nen weit entwickelten Abstimmungsbedürfnissen aber ungeeignet und zu kompli-ziert. Unverzichtbar für eine Erörterung des beschriebenen Themas ist allerdingseine Beurteilung des gesamtstaatlichen Handlungsbedarfs im Wissenschafts-bereich und der daraus folgenden Konsequenzen für die Föderalismusreform.

1 Vgl. dazu etwa Peter Glotz und Klaus Faber, Grundgesetz und Bildungswesen, in: Ernst Benda, Werner Maihofer, Hans-Jochen Vogel,Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin und New York 1995, S. 1363-1424. Der hier abgedruckteBeitrag enthält eine gekürzte und aktualisierte Fassung des Artikels von Klaus Faber, Wissenschaftspolitik und Föderalismusreform.Verfassungspolitische Ungereimtheiten, in: Die Kunst des Vernetzens, Festschrift für Wolfgang Hempel, Berlin 2006, S. 449 - 460.

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[ klaus faber ]

Im internationalen Bundesstaatenvergleich fällt Deutschland vor allem mitzwei Elementen seiner Föderalismuskonstruktion auf. Kein anderer Bundesstaatkennt eine ähnlich starke Stellung der Gliedstaatenregierungen bei der Gesetzge-bung des Bundes, wie sie im Bundesrat zum Ausdruck kommt. Die zweite Auffäl-ligkeit betrifft die Vielfalt und Aufgabenfülle von Gremien der Länderselbst-sowie der Bund-Länder-Koordination. Man denke etwa an die Kultusminister-konferenz, die für die Abstimmung in der Bildungs-, Kultur- und Wissenschafts-politik verantwortlich ist, oder die Bund-Länder-Zusammenarbeit zum Beispielbei den Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und 91b des Grundgesetzes.

Deutsche Traditionen: Bürokratie- und Regierungsföderalismus

Beide Elemente – die Bundesratsposition der Landesregierungen und der Gremien-ausbau auf der „dritten Ebene“ neben Bund und Ländern – geben den Landesregie-rungen im deutschen Bundesstaat ein starkes Gewicht. Ein Reflex dieser Machtstel-lung ist die Bedeutung der Landesregierungschefs in der politischen Debatte auf derBundesebene. Keinem Gouverneur eines amerikanischen Bundesstaats steht quaAmt eine vergleichbare Einflussposition in der nationalen Politik zu. Das bundes-staatliche System ist in Deutschland mehr als in anderen Ländern ein „Exekutivfö-deralismus“. Historisch gesehen geht diese Tendenz auf den von Preußen geführtenBürokratie- und Regierungsföderalismus der Bismarckzeit zurück.

Auch ältere Bundesstaaten mit einer ungebrochenen demokratisch-parlamenta-rischen Tradition verfügen über Koordinationseinrichtungen zwischen der Bun-des- und der Landesebene sowie zwischen den Ländern, jedoch über kein um-fangreiches Verflechtungsnetz mit so engen Maschen wie das deutsche Modell. Inanderen Bundesstaaten wird viel eher als in Deutschland akzeptiert, dass imVerantwortungsbereich der Gliedstaaten kein größerer Vereinheitlichungsbedarfbesteht. In diesen Bundesstaaten verfügen die zentralstaatlichen Ebenen aberandererseits häufig ebenso über ausreichende Zuständigkeiten für die Erfüllunggesamtstaatlicher Aufgaben. Den Zentralstaaten vor allem in angel-sächsischenBundesstaaten steht im Rahmen der power of the purse oft ein finanziellesInterventionsinstrument zu, das auch ohne weitere Bundeszuständigkeit beigesamtstaatlichem Bedarf in allen wichtigen Sektoren, zum Beispiel in derWissenschaft, eine Mitfinanzierung erlaubt. Ein auch nur entfernt vergleichbaresInstrument kennt der deutsche Bundesstaat nicht.

Generell tendieren Bundesstaaten dazu, den Bildungs- und Kultursektor derregionalen oder lokalen Ebenen zuzuordnen. Für den Wissenschaftsbereich gilt

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[ nach der föderalismusreform ]

das in aller Regel nicht in gleicher Weise. Dort verfügt im internationalen Ver-gleich der Zentralstaat vielfach über beachtliche Kompetenzen. Diesem verbreite-ten Modell ist der deutsche Bundesstaat mit den Verfassungsänderungen von1969 näher gekommen. Zum Teil unter dem Eindruck der 68er-Proteste an denHochschulen erhielt der Bund damals unter anderem die neuen Zuständigkeitenfür die Ausbildungs- einschließlich der Studienförderung und für die Hochschul-rahmengesetzgebung. Außerdem wurden, überwiegend mit Auswirkungen auf diegemeinsame Finanzierung, die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben Hochschul-bau, Forschungsförderung und Bildungsplanung eingeführt.2

Mit der Kurzformel vom „kooperativen Föderalismus“ wurde die politischeKonzeption beschrieben, die der Verfassungsänderung von 1969 zugrunde lag.Doch bereits in den siebziger Jahren formierte sich die Gegenbewegung. Stich-worte für die Kritik waren die „Politikverflechtung“, die Entparlamentarisierung,die Tendenz zur Bildung von verdeckten großen Koalitionen zwischen Bundesratund Bundestag sowie die daraus folgende Ausschaltung des Parteienwettbewerbsals innovativem Politikmotor. Schon damals waren sowohl die Zustimmung desBundesrats zu Bundesgesetzen, die sich inzwischen auf weit mehr als die Hälftealler Gesetzesvorhaben bezieht, als auch die Exekutivkooperation von Bundes-und Landesregierungen Ansatzpunkte für Neuordnungsüberlegungen.

Neue Föderalismusdebatte und ihre Ergebnisse

Die 2000 beginnende neuere Föderalismusdebatte nahm einige Stichpunkte ausfrüheren Diskussionen wieder auf – meistens allerdings ohne den Bezug zu denVorläuferdiskussionen herzustellen. Von Anfang an beteiligte sich auch die Bun-desregierung mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen an dem Diskurs überdie Neuordnung der wissenschaftsrelevanten und anderer Bundeszuständigkeiten.Sie war, was sich als ein außerordentlich problematisches Signal erweisen sollte,ebenso wie die Mehrheit der Landesregierungschefs sehr früh dazu bereit, insbe-sondere auf die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau zu verzichten. Im Hoch-schulbereich sollte, so 2004 die Position der Bundesregierung, stattdessen eineneue Bundesförderkompetenz eingeführt werden. Vor allem aus finanzschwachen,darunter auch ostdeutschen Ländern kamen allerdings bereits vor den Bundesvor-

2 Zur Kompetenzverteilung in diesem Sektor siehe: Klaus Faber, Zentraler Modernisierungsansatz in Bildung und Forschung.Veränderung und Erneuerung unter den Bedingungen der föderativen Politikverflechtung,; in: Ulrich Heyder, Ulrich Menzel,Bernd Rebe: Das Land verändert? Rot-Grüne Politik zwischen Interessenbalancen und Modernisierungsdynamik, Hamburg2002, S. 108 f. Ein erheblicher Teil der Bundesfinanzierung im Wissenschaftsbereich beruhte seitdem auf diesen neuen Bundes-zuständigkeiten.

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[ klaus faber ]

schlägen von 2004 Stimmen, die den Verzicht auf die bildungs- und wissen-schaftsbezogenen Gemeinschaftsaufgaben ablehnten.3

Nach den am 30. Juni 2006 beschlossenen Verfassungsänderungen bleiben aufder zentralstaatlichen Ebene im Sektor Bildung und Hochschule nur noch wenigeBundeszuständigkeiten übrig. Die Zuständigkeitsverluste betreffen unter anderemdie Hochschulgesetzgebung und die frühere Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbaunach Art. 91a des Grundgesetzes. Die Hochschulrahmengesetzgebung des Bundeswird, wie insgesamt die Rahmengesetzgebung, aufgegeben. Im Bereich der kon-kurrierenden Gesetzgebung erhält der Bund die Regelungskompetenzen für dieHochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse (die zuvor nur von der Rah-menkompetenz erfasst wurden), nicht aber diejenige für die Hochschulpersonal-struktur. Als Ausgleich für die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgabe Hoch-schulbau werden zweckgebundene Übergangszahlungen des Bundes, berechnetnach dem Durchschnitt zuvor erbrachter Leistungen, bis 2013 geleistet. Ab 2014entfällt die Zweckbindung der Bundesbeiträge, die, unter dem Vorbehalt einerErforderlichkeitsprüfung, noch bis 2019 gezahlt werden sollen.

Auf der anderen Seite führt das Föderalismusreformgesetz eine neue Gemein-schaftsaufgabe zur Förderung von „Vorhaben der Wissenschaft und Forschung anHochschulen“ ein, die in der letzten Beratungsphase in Art. 91b Abs. 1 desGrundgesetzes eingefügt wurde und die sich auch auf Bauvorhaben an Hochschu-len beziehen kann. Bund-Länder-Vereinbarungen zu dieser neuen Gemeinschafts-aufgabe bedürfen nach einer Zusatzbestimmung allerdings der Zustimmung allerLänder.4

Rot-grüne Bilanzen

Die verfassungspolitischen Ziele des Gesetzentwurfs zur Föderalismusreform müs-sen vor dem Hintergrund des wissenschafts- und bildungspolitischen Engage-ments der früheren rot-grünen Bundesregierung überraschen – ein Eindruck, dersich auch durch die erwähnte Einfügung einer neuen Wissenschaftsgemein-schaftsaufgabe nicht entscheidend ändern kann. Teile der rot-grünen Leistungsbi-lanz auf diesem Gebiet können sich nämlich durchaus sehen lassen. Die Ausga-ben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung stiegen von 1998 bis

3 Zum Verlauf der Debatte vgl. u.a. Klaus Faber, Innovationspolitik und föderale Selbstblockade. Ost-westdeutsche Wissen-schaftsdefizite und gesamtstaatlicher Handlungsbedarf; in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Föderalismus im Diskurs. Perspekti-ven einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung, Berlin 2004, S. 197-214, sowie die dort wiedergegebenen weiteren Beiträge.

4 Vgl. zu den Einzelheiten Klaus Faber (siehe Fußnote 1), S.454, 458 f.

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[ nach der föderalismusreform ]

2005 um fast 40 Prozent. Die längst überfällige BAföG-Reform führte zu einembeachtlichen Anstieg der Studierendenzahl. Ein vom Bund initiiertes Exzellenz-förderprogramm für den Wissenschaftsbereich mit 1,9 Milliarden Euro wird seit2005 gemeinsam von Bund und Ländern durchgeführt. Darüber hinaus gab esvon 1998 bis 2005 beachtliche Bundesinitiativen zur Strukturreform. Im Zusam-menwirken mit den Ländern wurde zum Beispiel die Internationalisierung imRahmen des Bologna-Prozesses gefördert.

Mit einigen Vorhaben ist das von Edelgard Bulmahn 1998 bis 2005 geführteBundesbildungsministerium allerdings gescheitert. Das Gesetz zur Reform derHochschulpersonalstruktur – zur Dienstrechtsreform – hat das Bundesverfas-sungsgericht 2004 aufgehoben. Gleiches geschah 2005 bei der Novelle zumHochschulrahmengesetz, die unter anderem ein Verbot von Studiengebühren fürdas Erststudium enthielt. Die rot-grüne Bundesregierung hat es dabei versäumt,der Öffentlichkeit und den Wählern zu vermitteln, dass die auch hier relevantenSchwachstellen in der föderativen Willensbildung für einen nicht unerheblichenTeil der Umsetzungsprobleme selbst bei im Prinzip unstreitigen politischen Pro-jekten verantwortlich sind.

Gesamtstaatlicher Handlungsbedarf

Die Dimension des damit angesprochenen Problems zeigt ein Blick auf den ge-samtdeutschen Modernisierungsbedarf. Er bezieht sich nicht nur auf die Reformder Sozialsysteme oder der Gesundheitsvorsorge, sondern auch auf DeutschlandsRückstand in der Wissenschaft und der Bildung, der nicht erst seit den neuenOECD-Vergleichen und den PISA-Publikationen bekannt ist. Deutschland hatbei den Hochschulzugangsberechtigten, den Studierenden oder den Hochschulab-solventen wesentlich kleinere Anteile am jeweiligen Altersjahrgang als andere Län-der, mit denen wir international im Innovationswettbewerb stehen.

Immer mehr junge Menschen nehmen nach OECD-Vergleichsuntersuchungenunter 27 Industrienationen ein Studium auf. Im Schnitt der OECD-Studien sindes fast 50 Prozent eines Altersjahrgangs. Nicht nur Finnland (mit über 70 Pro-zent), Schweden und Norwegen, sondern auch Polen, Australien oder Island ha-ben bei der Studienanfängerquote am Altersjahrgang bereits die 60 Prozent-Gren-ze überschritten. In Deutschland liegt die Quote zur Zeit bei über 38 Prozent.Die ostdeutschen Durchschnittszahlen bewegen sich in einigen Ländern bei derStudienanfängerquote in der Nähe von 25 Prozent. Bei den Bildungsinvestitionennahmen nach entsprechenden Untersuchungen, berechnet nach dem Anteil am

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5 Vgl. u. a. Deutsche Presse-Agentur GmbH, dpa-Dossiers. Kulturpolitik Nr. 39/2003; OECD, Zu wenig Bildung in Deutsch-land schwächt Wachstum, S. 8 ff. Zur innerdeutschen Defizitbeschreibung siehe: Rainer Janisch, Wie finanzieren? Die Ausbau-ziele der Hochschulen; in: SPD-Landtagsfraktion Brandenburg (Hg.), Wissenschaft in Zeiten knapper Kassen. Wie weiter mitder Hochschulfinanzierung?, Märkische Hefte Nr. 3, Potsdam 2006, S. 31-37.

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[ klaus faber ]

Bruttoinlandsprodukt, die USA mit 7 Prozent, Schweden mit 6,5 Prozent undKorea mit 6,3 Prozent die vorderen Plätze ein; Deutschland erreichte mit 5,3 Pro-zent nicht den OECD-Schnitt von 5,9 Prozent.5 Auch im Schulwesen gibt es, wienicht nur (und erst) PISA gezeigt hat, erhebliche Rückstände im finanziellenBereich und in anderen Sektoren.

Rückstand bei den Hochschulausgaben

In der deutschen politischen Debatte wird zur Abwehr der auf den Stand desHochschulausbaus und des Bildungswesens gerichteten Kritik manchmal behaup-tet, die deutschen Hochschulen und ihre Abschlüsse verfügten im Vergleich mitanderen Staaten über eine höhere Qualität. Außerdem sei die deutsche Berufsbil-dung so gut, dass damit ebenfalls ein Teil des Defizits ausgeglichen werde. BeideArgumente greifen im Ergebnis jedoch nicht. Selbstverständlich gibt es Niveau-und Strukturunterschiede zwischen den einzelnen nationalen Systemen. DerartigeDifferenzen haben aber keine große Bedeutung für die Einschätzung der Gesamt-entwicklung eines Landes – und das gilt auch dann, wenn man die Berufsbildungeinbezieht. Für Deutschland kann jedenfalls nicht behauptet werden, es verfügeüber einen allgemeinen Niveauvorsprung im Hochschulbereich. Bei der Berufsbil-dung ist zu berücksichtigen, dass ihr Anteil am deutschen Bildungssystem ausverschiedenen Gründen, vor allem wegen der Umstrukturierung in der Wirtschaftund im Bildungssystem, sinken wird. Insofern werden sich die Bedingungen dortSchritt für Schritt den internationalen Verhältnissen annähern.

Ein für Deutschland ungünstiges Bild ergibt sich ebenso aus anderen Gegen-überstellungen. Die USA geben (mit öffentlichen und privaten Finanzierungsan-teilen) pro Kopf der Bevölkerung für das Hochschulwesen fast doppelt so viel auswie Deutschland. In ungefähr gleicher Höhe (zum Teil darüber hinausgehend)bewegen sich die Pro-Kopf-Ausgaben für die Hochschulen etwa in Finnland oderSchweden – wobei diese wie in Deutschland überwiegend öffentlich finanziertsind. Auf dem Hochschulfinanzierungsgebiet weisen ostdeutsche Regionen ge-genüber dem deutschen Schnitt wiederum einen zum Teil erheblichen Rückstandauf. Gemessen an den Hochschulausgaben pro Kopf der Bevölkerung belegeneinige der fünf ostdeutschen Flächenstaaten einen Platz am Ende der deutschen

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6 Vgl. Rainer Janisch (siehe Fußnote 5), S. 33 ff.

[ nach der föderalismusreform ]

Leistungsskala.6 Auch vor dem Hintergrund des in ganz Deutschland zu erwar-tenden neuen Anstiegs der Studentenzahlen sind deshalb in Ostdeutschland eineBeschleunigung des Hochschulausbaus und eine Erweiterung anderer Wissen-schaftskapazitäten erforderlich.

Das gilt vermehrt dann, wenn, wie dies etwa die im Januar 2004 von der SPD inWeimar beschlossenen Innovationsleitlinien fordern, Ostdeutschland eine „Innova-tionsregion“ werden soll. In vielen westdeutschen Regionen sind aber ebenso Aus-bau- und Erneuerungsmaßnahmen notwendig. Viele Länder, darunter zumindestdie Mehrheit der ostdeutschen, haben schlicht nicht die Finanzkraft, den damitgestellten Aufgaben ohne Bundeshilfe mit eigenen Mitteln gerecht zu werden.

Verfassungspolitische Ungereimtheiten

Bei dieser Ausgangslage ist es schwer verständlich, dass der gesamtstaatlicheHandlungsbedarf auf dem Gebiet der Wissenschaft weder in der Föderalismus-kommission, noch in dem zunächst eingebrachten Föderalismusgesetzentwurfausreichende Beachtung gefunden hat. Der radikale Abbau von Bundeskompe-tenzen auf diesem Gebiet steht vielmehr den Sachbedürfnissen diametral entge-gen. Dabei hatte sich 1994 ein von Bundestag und Bundesrat zur Vorbereitungeiner Verfassungsänderung eingesetztes Gremium mit Blick auf die in Ost undWest erforderlichen Aufbau- und Ausbauaufgaben zum Beispiel noch ausdrück-lich für die Beibehaltung der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau ausgespro-chen. Nach wie vor bestehen, wie der aktuelle internationale und innerdeutscheVergleich sowie die Anhörung zum Föderalismusgesetzentwurf gezeigt haben, inDeutschland auch heute noch große Rückstände und regionale Unterschiede imHochschulausbau- und -leistungsstand. Die Ergebnisse der ersten Runde desoben erwähnten Bund-Länder-Exzellenzförderprogramms im Hochschulbereichsind dafür ebenso ein Beleg. Dort ist keine ostdeutsche Hochschule berücksich-tigt worden.

Der Erhalt von grundgesetzlich abgesicherten Mitfinanzierungsmöglichkeitendes Bundes vor allem für den Hochschulbereich war und ist auch deshalb wich-tig, weil Zweifel bestanden, ob die in der Öffentlichkeit diskutierten (und jetztumgesetzten) Bund-Länder-Hochschulpakt-Ideen nach einer Verabschiedung derFöderalismusreform, so wie sie ursprünglich konzipiert war, noch ohne erhebliche

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[ klaus faber ]

verfassungsrechtliche Risiken hätten realisiert werden können.7 Auch als Folgeverschiedener Anhörungsrunden und Expertengespräche brachten daher ab Mai2006 insbesondere ostdeutsche Bundestagsabgeordnete Änderungsinitiativen zumFöderalismusgesetzentwurf mit dem Ziel ein, die gemeinsame Hochschulbaufi-nanzierung zu sichern. Eine neue flexible Fassung für Artikel 91b Absatz 1 desGrundgesetzes sollte nach diesen Vorschlägen die Bund-Länder-Fördermöglich-keit für den Hochschulbau erhalten. Sie sollte zudem gewährleisten, dass die För-derung nicht am Veto einzelner Länder scheitern kann. Die entsprechenden Vor-schläge gehen vor allem auf die Bundestagsabgeordneten Andrea Wicklein (Auf-bau-Ost-Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion), Peter Danckert (stellvertreten-der Sprecher der Landesgruppe Ost in der SPD-Bundestagsfraktion) und Wolf-gang Thierse (Bundestagsvizepräsident) zurück. Diese und andere ähnliche Initia-tiven haben zu dem nun beschlossenen Kompromiss zu Artikel 91b Grundgesetzgeführt. Damit ist, von der Bundesratsseite aus gesehen verfassungspolitisch eherunbeabsichtigt, eine neue Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung von„Vorhaben der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen“ geschaffen worden.

Solidarität der Länder ist weiter nötig

Am Verfahren der geplanten Verfassungsreform wurde und wird unter verschiedenenGesichtspunkten Kritik geübt. Das Gewicht der Landesregierungen war nach der ge-wählten Prozedur für eine Reform dieser Tragweite und Ausrichtung viel zu groß, dasEngagement der Bundesregierung demgegenüber deutlich zu gering. Auch dass imVerbundverfahren zwischen Bundesrat und Bundestag Anhörungen durchgeführt wur-den, lässt ein nicht unproblematisches verfassungspolitisches Verständnis erkennen.Ein derartiges Verfahren setzt das von der Verfassung gewollte Spannungsverhältniszwischen den beiden Verfassungsorganen zeitweise außer Kraft. Um die Zwei-Drittel-Mehrheits-Zustimmung des Bundesrats zu sichern, wurde für die Föderalismusreformin der Prozedur und in der Sache ein hoher Preis gezahlt. Er gefährdet das angestrebteZiel der Politikentflechtung und Bundesstaatsmodernisierung – auch wenn es in letzterMinute gelungen ist, wenigstens bestimmte Möglichkeiten der Bundeswissenschaftsfi-nanzierung festzuschreiben. Fraglich ist bereits, ob die (problematische) Geschäfts-

7 Die Pakt-Überlegungen orientierten sich offensichtlich an dem Modell der Bund-Länder-Hochschulsonderprogramme der acht-ziger Jahre. Nach diesem Modell entlastet der Bund die Länder durch eine vorübergehende fiktive Erhöhung seines Anteils beider gemeinsamen Forschungsförderung. Dadurch sollen die Länder in den Stand gesetzt werden, für die im Hochschulbereichgemeinsam vereinbarten Ziele, unter anderem im Personalausbau und in der Lehre, Mittel auszugeben. Tatsächlich handelt essich dabei um eine nicht in der Verfassung geregelte Sonderform einer Mischfinanzierung, bei der der Bund Aufgaben in ihmsonst verschlossenen Gebieten mitfinanziert. Das war bereits in den achtziger Jahren auch unter rechtlichen Gesichtspunkten alsproblematisch angesehen worden.

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[ nach der föderalismusreform ]

grundlage der Gesetzesinitiative gesichert ist, in einem ausgeglichenen Geben undNehmen einerseits die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze zu reduzieren undandererseits auf Bundeszuständigkeiten zu verzichten. Es bestehen Zweifel, ob mitdem Föderalismusreformgesetz, wie beabsichtigt, eine auch nach dem Sachgewicht derGesetze entscheidende Reduzierung der Fälle der Bun-desratszustimmung erreichtwird.

Wie weit wir – verfassungspolitisch – inzwischen gekommen sind, zeigt eineSonderkonferenz von „Geberländern“ des Länderfinanzausgleichs, die nach unde-mentierten Presseberichten im Juni 2006 darüber beraten hat, wie „Empfänger-länder“ notfalls durch die Einsetzung von Staatskommissaren oder gar eine Auflö-sung (über den finanzpolitischen Druck zur Länderfusion) zur sparsamen Haus-haltsführung angehalten werden können. Außerdem soll, so die Konferenz, aufdiese Weise für mehr „Wettbewerb“ im deutschen Föderalismus gesorgt werden.Noch im Jahr 1989 hatte Bayern, das zu den wichtigsten Initiatoren dieser Son-derkonferenz wie auch der Föderalismusreformgesetzgebung gehörte, unter ande-rem von Nordrhein-Westfalen über den Länderfinanzausgleich Zahlungen erhal-ten. Jahrzehntelang hat Bayern über derartige Transferleistungen seinen Aufbau zueiner heute finanzstarken Region finanziert. Vor der Wiedervereinigung waren ausBayern niemals Stimmen gegen die Bund-Länder-Solidargemeinschaft oder fürmehr Länderwettbewerb zu hören – obwohl die Ausgangsvoraussetzungen füreinen derartigen Wettbewerb vor 1990 in Westdeutschland viel eher gewährleistetgewesen wären als für die 16 Länder nach 1990.

Eine grundlegende Staatsstrukturerneuerung (die durchaus notwendig ist) darfim deutschen Bundesstaat nicht von einem Teil der Bundesländer und ihrenPartikularinteressen bestimmt werden. Nur die dazu in erster Linie legitimiertenVertreter der gesamtstaatlichen Interessen – die Bundesregierung und der Bundes-tag – können sie erfolgreich voranbringen. Die Föderalismusreform von 2006und die erwähnte Sonderkonferenz geben, trotz der in den Abschlussberatungenfür die Wissenschaft erreichten Teilverbesserungen, leider Anlass zu Zweifeln, obdie tragenden Kräfte der großen Koalition diese Aufgabe in vollem Umfang ange-nommen haben. Dieser Sachverhalt kann auch für die jetzt auf den Weggebrachte „Föderalismusreform II“ Bedeutung haben. L

KLAUS FABER

ist Staatssekretär a.D., Rechtsanwalt und Publizist sowie Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der

Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

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WARUM WIR DEN SOZIALSTAAT FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT NEU FORMIEREN MÜSSENVON MATTHIAS PLATZECK UND JENS BULLERJAHN

Mehr Lebenschancenfür mehr Menschen

D ie SPD wird, ihr Grundsatzpro-gramm aus dem Jahr 1989 erneu-

ern. Das ist dringend nötig. Das vorerstnoch gültige Berliner Programm, entwi-ckelt und geschrieben in der westdeut-schen Bundesrepublik unter dem Ein-druck des Kalten Krieges, reicht als Na-vigationssystem für sozialdemokrati-sches Handeln im 21. Jahrhundert beiweitem nicht mehr aus. Seit dem Mau-erfall und der deutschen Vereinigunghaben sich nicht nur Deutschland undEuropa fundamental verändert; tatsäch-lich leben wir heute in einer neuenWelt – politisch, wirtschaftlich, gesell-schaftlich.

Dass ein Grundsatzprogramm ausdem 20. Jahrhundert auf viele der Her-ausforderungen des 21. Jahrhundertskeine überzeugenden Antworten mehrgeben kann, ist wenig überraschend.Immerhin jedoch: Einen auch fürunsere Zeit wichtige und richtige Ein-sicht enthielt, wenn auch versteckt undallzu vorsichtig formuliert, bereits dasBerliner Programm: „Sozialpolitik willnicht nur reparieren und in Notfällen

einspringen, sondern vorausschauendgestalten“.

TraditionellesVersprechen erneuern

Vorausschauende Gestaltung – genaudarauf kommt es an, wenn sozialde-mokratische Politik auch im 21. Jahr-hundert ihr traditionelles Versprechenerfolgreich erneuern will, systematischimmer mehr Menschen bessere Lebens-chancen zu eröffnen: die Chance zurTeilhabe an unserer Gesellschaft, dieBefähigung und handfeste Möglich-keit, eigene Lebenspläne zu verwirkli-chen. Dieser offensive Anspruch,Menschen zu stärken und ihnen neueWege zu selbst verantwortetem Lebenzu eröffnen, muss nach unserer Über-zeugung als zentrale Messlatte für denErfolg sozialdemokratischer Politik im21. Jahrhundert gelten. Deshalb ist dieim Berliner Programm vorerst nur zö-gerlich formulierte Absicht, nicht nurbereits eingetretene soziale Schadens-fälle zu „reparieren“, sondern einzelne

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[ matthias platzeck | jens bul ler jahn ]

Menschen und die gesamte Gesell-schaft vorbeugend zu stärken, heutewichtiger denn je.

Nachträgliches Reparieren stand im Mittelpunkt

Allerdings müssen wir uns heutedurchaus selbstkritisch fragen, in wel-chem Umfang die deutsche Sozialde-mokratie diesem Anspruch in den ver-gangenen zwei Jahrzehnten gerechtgeworden ist. Die Antwort fällt unbe-friedigend aus. Die jüngsten Debattenüber sozialen Ausschluss und das Pro-blem der langfristigen Verfestigungeiner neuen – keineswegs nur materi-ellen – Armut belegen, dass wirbestimmte Herausforderungen deut-lich weniger gut bewältigt haben alsmanche unserer europäischen Nach-barn. Einzuräumen ist, dass die SPD(ebenso übrigens wie andere deutscheParteien) das Ziel der vorausschauen-den Vermehrung von Lebenschancenin der politischen Wirklichkeit nichtwichtig genug genommen hat. Um eszuzuspitzen: Wir haben uns inDeutschland in den letzten zwei Jahr-zehnten deutlich zu stark auf dasnacheilende Reparieren und Einsprin-gen in Notfällen konzentriert.

Die Ergebnisse dieser Politik sindalles andere als ermutigend. Gemessenan seinen hohen Kosten ermöglichtunser bisheriges Sozialmodell ganz ein-fach nicht genug neue Lebenschancen,

zu wenige Möglichkeiten des sozialenAufstiegs, nicht genug soziale Inklu-sion, gesellschaftliche Durchlässigkeitund aktive Beteiligung. Zu Recht hatKurt Beck unlängst darauf hingewie-sen, dass in Deutschland in den ver-gangenen Jahrzehnten ein strukturellverfestigtes neues Unten entstandenist. Zu diesem Befund kommen seriö-se Sozialwissenschaftler und Publizis-ten seit langem. Wir müssen konsta-tieren: Unter den Bedingungen des21. Jahrhunderts bietet der nachsor-gende und überwiegend beitragsfinan-zierte Sozialstaat bismarckscher Prä-gung keine sozialdemokratischen Pers-pektiven mehr. Wir haben keinenguten Grund, nostalgisch weiter anihm festzuhalten.

Mangelhafte Resultatedes Sozialstaats

In unserem künftigen Grundsatzpro-gramm müssen wir deshalb die ge-nannte Formulierung des Berliner Pro-gramms sehr energisch und unmissver-ständlich vom Kopf auf die Füße stel-len. Lauten könnte dies etwa so: „Allesozialdemokratische Politik verfolgtdas unbedingte Ziel, wo immer mög-lich vorausschauend mehr Lebens-chancen für mehr Menschen zu schaf-fen; nur in denjenigen Notfällen, indenen sich dies als unmöglich erweist,muss Sozialpolitik nachträglich ein-springen.“

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[ mehr lebenschancen für mehr menschen ]

Im Vergleich mit anderen Sozial-staaten, besonders im Norden und imWesten von Europa, die sich seit Jah-ren dynamisch auf die neuen Bedin-gungen einstellen, weist Deutschlandheute auf verschiedenen Feldern äu-ßerst mangelhafte Resultate auf. Be-sorgnis erregend hoch ist in unseremLand besonders die Armutsquote; ge-rade Kinder und Jugendliche sowieallein erziehende Eltern sind inDeutschland überproportional und inweiter zunehmendem Maße von Ar-mut betroffen. Dies ist umso schädli-cher für unsere Gesellschaft, als mate-rielle Not in frühen Lebensabschnittenallzu oft Bildungsdefizite und damitdauerhaft prekäre Erwerbsbiografiennach sich zieht.

Teufelskreis aus Armut,Bildung und Sozialtransfer

Kaum etwas ist für die soziale undwirtschaftliche Zukunft unseres Lan-des insgesamt so wichtig, wie dasDurchbrechen des Teufelskreises ausArmut, mangelnder Bildung, schlech-ten Erwerbschancen, Sozialtransferkar-rieren – und erneut schlechten Zu-kunftschancen in der nächsten Gene-ration. Die katastrophalen Folgen zugeringer sozialer Investitionen in dieZukunft von Kindern und Jugend-lichen sind auch durch noch so hohespätere Sozialtransfers niemals wiederwirklich zu „reparieren“. Der „reparie-

rende“ und nachsorgende Sozialstaatwird mit den Aufgaben des 21. Jahr-hunderts nicht mehr fertig.

Fähigkeit zum Lernen ist unverzichtbar

Dass die Bildungschancen von Kindernheute in der entwickelten Welt kaumirgendwo so sehr von ihrer sozialen undethnischen Herkunft abhängen wie inDeutschland, ist aber nicht nur unterdem Gesichtspunkt individueller Le-benschancen ein gesellschaftliches De-bakel. Vielmehr grenzt es auch anvolkswirtschaftliche Selbstverstümme-lung, sollten wir es weiterhin zulassen,dass in Deutschland zehn Prozent allerJugendlichen die Schule ohne jedenAbschluss verlassen; dass bei uns nuretwa jedes zehnte Kind aus einer Arbei-terfamilie überhaupt ein Hochschulstu-dium aufnimmt; oder dass der Anteilder gering qualifizierten und langfristigerwerbslosen Menschen in Deutschlandhöher als in jedem vergleichbaren LandEuropas liegt.

Längst herrscht Konsens unter allendeutschen und internationalen Exper-ten: Die Fähigkeit und Notwendigkeitzum Lernen und zur Weiterbildung istin der wissensintensiven Wirtschaft des21. Jahrhunderts unverzichtbarer ge-worden denn je. Und dabei kommt esauf den Anfang an, die in den allerers-ten Lebensjahren erworbenen kogniti-ven Kompetenzen sind entscheidend.

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[ matthias platzeck | jens bul ler jahn ]

Wir sind in Deutschland zu Recht stolzdarauf, „Exportweltmeister“ zu sein.Wollen wir auch in den kommendenJahrzehnten ein Land mit dynamischer,produktiver Wirtschaft sowie hoherWertschöpfung bleiben, dann müssenwir aus dem engen Zusammenhangzwischen Bildung und Wirtschaft end-lich klare Konsequenzen ziehen.

Kein Kindzurücklassen

Dabei muss das glasklare Gebot gelten,dass wir eine hervorragende Bildung füralle brauchen. Die Potentiale und Bega-bungen der Menschen sind unterschied-lich – aber jeder einzelne Mensch hatPotentiale und Begabungen. UnsereGesellschaft kann es sich nicht leisten,auch nur ein Kind zurückzulassen. AlleBildungspotentiale müssen ausgeschöpftwerden. Es ist grotesk: Deutschland al-tert und seine Bevölkerung schrumpft,doch mit den kostbarsten überhauptvorhandenen Potentialen unsers Landesgehen wir noch immer höchst ver-schwenderisch um. Wir nehmen es – obaus Gleichgültigkeit, aus Gedankenlo-sigkeit oder aus borniertem Dünkel –noch immer hin, dass viele Jugendlicheund junge Erwachsene in unserem Landzu dem Eindruck gelangen müssen, siewürden im Grunde nicht gebraucht.Dabei wird jedes heutige Kind, jedereinzelne junge Mensch in Zukunft alsproduktive Arbeitskraft, als Steuer- und

Beitragszahler sowie als aktiver Bürgerunserer Demokratie ganz dringend be-nötigt. Der Wohlstand und das Funk-tionieren unseres Landes hängen davonab. Wer immer in den kommendenJahrzehnten in Deutschland eine Rentebeziehen will, muss ein dringendesInteresse an der hervorragenden Bil-dung aller Kinder und Jugendlichenhaben, die hier aufwachsen.

Noch immer geht in unserer Gesell-schaft die Vorstellung um, Deutschlandgehe die Arbeit aus – ein Fehlschluss,der auch das Berliner Programm derSPD durchzog. In fast allen unsererwest- und nordeuropäischen Nachbar-länder erlebt man aber das glatte Ge-genteil.

Fachkräfte werdenMangelware

Und schon heute suchen in Ostdeutsch-land Unternehmen und ganze Branchenintensiv und teilweise vergeblich nachausgebildeten Fachkräften – bei gleich-zeitig hoher Arbeitslosigkeit. Richtig ist:Auch in Zukunft werden gering qualifi-zierte Arbeitskräfte in dem Maße weiterunter Druck geraten, wie die Potentialewissensintensiver Arbeit in Deutschlandnicht energisch genug genutzt werden.Investitionen in mehr Bildung für mehrMenschen in Deutschland sind damitzugleich unbedingte Voraussetzung füreine dynamische Ökonomie mit hoherWertschöpfung; umgekehrt schafft

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[ mehr lebenschancen für mehr menschen ]

überhaupt erst eine dynamische Wirt-schaft die Voraussetzungen dafür, dassauch Menschen mit geringer Qualifika-tion zunehmend wieder die Chanceerhalten, einem Beruf nachzugehen.

Sozialstaat und Wirtschaft beflügeln einander

Mehr Bildung für alle und mehr Ar-beit für alle – beides bedingt einanderund beflügelt sich gegenseitig. Vorsor-gender Sozialstaat und funktionieren-de Ökonomie sind zwei Seiten dersel-ben Medaille. Wer eine prosperierendeWirtschaft will, muss unter den Be-dingungen des 21. Jahrhunderts ver-nünftigerweise zugleich einen Sozial-staat befürworten, der systematisch inMenschen und soziale Infrastrukturinvestiert. Nur auf einem insgesamthöheren Bildungspfad wird Deutsch-land auch wieder ein höheres Wachs-tum und mehr Beschäftigung errei-chen. Deshalb führt die in Deutsch-land noch immer gängige Auseinan-dersetzung zwischen den Verfechterndes alten, nachsorgenden Sozialstaatesund den marktradikalen Gegnern jeg-licher Sozialstaatlichkeit in die Irre.Weder die eine noch die andere Seitehat verstanden, wie dringend es heuteauf die umfassende Befähigung vonMenschen zur wirtschaftlichen undgesellschaftlichen Teilhabe ankommt.

In den „Leitsätzen auf dem Weg zueinem neuen Grundsatzprogramm der

SPD“ aus dem Frühjahr 2006 wardiese Einsicht sehr deutlich enthalten.Dort heißt es klar und unmissver-ständlich: „Die neuen sozialen Fragen,vor allem die Bekämpfung neuer For-men von Armut und Ausschluss, las-sen sich mit dem Sozialstaat bisherigerPrägung nur noch unzureichend be-wältigen. … Der vorsorgende und indie Menschen investierende Sozialstaatfördert Beschäftigung, setzt auf Ge-sundheitsprävention und verhindertArmut. Er gestaltet den demografi-schen Wandel mit den Betroffenen,und er erkennt die existentielle Bedeu-tung von Bildung für die einzelnenMenschen wie auch für die Zukunftunserer Gesellschaft an.“ Und weiter:„Der Sozialstaat soll die Menschenaktivieren, ihr Leben in eigener Ver-antwortung zu gestalten. … Der vor-sorgende Sozialstaat ist kein Wachs-tumshindernis, sondern eine wirt-schaftliche Produktivkraft.“

Wir brauchen den zupackenden Staat

Hinter diese zutreffenden Einsichtendarf die SPD auf keinen Fall wieder zu-rückfallen. Die Menschen in Deutsch-land brauchen einen zupackenden undhandlungsfähigen Staat – und sie wol-len ihn auch. Mit dem Prinzip des vor-sorgenden Sozialstaates besitzt die SPDein zukunftstaugliches und überzeugen-des Leitbild für die kommenden Jahr-

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[ matthias platzeck | jens bul ler jahn ]

zehnte. Keinesfalls dürfen wir zulassen,dass der zeitgemäße Gedanke der sozia-len Vorsorge aufgeweicht und uminter-pretiert wird: Der vorsorgende Sozial-staat ist etwas grundsätzlich anderes alsein materiell versorgender oder fürsorg-licher Sozialstaat. Und wir müssen unsklipp und klar zu dem Satz bekennen:Die Qualität moderner Sozialstaatlich-

keit bemisst sich nicht an der Höhe derumverteilten Transferleistungen. Obder Sozialstaat die Menschen in unse-rem Land systematisch dabei unter-stützt, ihr Leben selbst verantwortetund nach ihren eigenen Wünschenleben zu können – das ist das entschei-dende Prüfkriterium für soziale Demo-kratie im 21. Jahrhundert. L

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg und Landesvorsitzender der SPD.

JENS BULLERJAHN

ist Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD.

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ZUR ZUKUNFT DES EUROPÄISCHEN SOZIALMODELLS VON ANTHONY GIDDENS

Vom negativen zumpositiven Sozialstaat

G ibt man bei der Internet-Suchma-schine Google „Europäisches So-

zialmodell“ ein, erscheinen 11,2 Millio-nen Einträge. Die enorme Verbreitungdes Begriffes spiegelt womöglich dieTatsache wider, dass das EuropäischeSozialmodell, wie vieles andere imKontext der Europäischen Union, imKern umstritten ist. Die Idee ist zwarvon zentraler Bedeutung, aber wennwir versuchen, sie mit mehr Ge-nauigkeit zu beschreiben, scheint sieuns doch immer wieder zu entfliehen.

Das Europäische Sozialmodell istkein einheitliches Konzept. Vielmehrhandelt es sich um ein Gemisch ausWerten, Errungenschaften und Hoff-nungen, die hinsichtlich ihrer Formund des Grades ihrer Verwirklichungin den einzelnen europäischen Staatenunterschiedlich ausfallen.

Meine eigene Liste von Kriterienfür das Europäische Sozialmodell siehtso aus:J ein entwickelter und interventions-

fähiger Staat, gemessen am Anteilder Steuerabgaben am Bruttosozial-produkt,

J ein robustes Sozialsystem, das ef-fektiven Schutz bietet – zu einemnicht unbeträchtlichen Grad für alleBürger, am meisten jedoch für dieBedürftigsten der Gesellschaft,

J die Begrenzung oder Eindämmungwirtschaftlicher und anderer For-men von Ungleichheit,

J eine Schlüsselrolle bei der Bewah-rung dieser Institutionen spielen dieso genannten Sozialpartner, also dieGewerkschaften und andere Orga-nisationen, die die Rechte der Ar-beitnehmer vertreten

J und: Jede der hier genannten Ei-genschaften des Europäischen So-zialmodells muss zur Ausweitungvon Wohlstand und zur Schaffungvon Arbeitsplätzen beitragen.

Der Begriff des „Europäischen So-zialmodells“ hat keine lange Geschich-te. Er wird erst seit den frühen achtzi-ger Jahren verwendet, schon vorherallerdings war vom „Sozialen Europa“die Rede gewesen. Es ist kein Zufall,dass die Kategorie genau zu der Zeiteingeführt wurde, als die marktliberale

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[ anthony giddens ]

Weltanschauung ihren Aufstieg erleb-te. Der Begriff des Europäischen So-zialmodells war Bestandteil des Ver-suchs, die Besonderheiten des „euro-päischen Ansatzes“ im Gegensatz zurneuen Orthodoxie des Marktes zu be-kräftigen.

Die großen globalen Trends warenvon fundamentaler Bedeutung. Ent-scheidend ist jedoch die Einsicht, dassdie heutigen Probleme des Europäi-schen Sozialmodells ihre Ursachennicht bloß in den Veränderungen derinternationalen Umwelt haben. Einigeder Kernprobleme sind hausgemacht –oder doch bestenfalls lose verbundenmit den Veränderungen auf der Weltinsgesamt. Zu diesen KernproblemengehörenJ demografische Veränderungen,

besonders das Altern der Bevölke-rung,

J das damit verbundene Problem derRentenfinanzierung,

J der rapide Geburtenrückgang,J Veränderungen der Familienstruk-

turen, das heißt viel mehr Alleiner-ziehendenfamilien als früher sowiemehr Frauen und Kinder, die inArmut leben,

J hohe Erwerbslosenraten, für diezum Teil nicht reformierte Arbeits-märkte verantwortlich sind.

Manche Beobachter neigen dazu,die Schwierigkeiten zu unterschätzen,vor denen Europa heute steht. Das

durchschnittliche Wachstum in denLändern der EU-15 ist seit den achtzi-ger Jahren im europäisch-amerikani-schen Vergleich kontinuierlich zurück-gegangen. Die Vereinigten Staaten hat-ten nicht nur höheres Wachstum, sieerlebten in dieser Periode auch größerewirtschaftliche Stabilität. Zu etwaeinem Drittel ist das niedrigere euro-päische Bruttosozialprodukt pro Kopfdie Folge durchschnittlich niedrigererArbeitsproduktivität. Zu einem weite-ren Drittel ergibt es sich aus den kür-zeren europäischen Arbeitszeiten. Undein drittes Drittel macht die in Europaniedrigere Erwerbsquote aus.

Zweifel an der Nachhaltigkeit

Keine dieser Entwicklungen entspringtaus irgendwelchen europäischen „Vorlie-ben“ oder bewussten Entscheidungen –aber jede einzelne von ihnen gefährdetdie Zukunftsfähigkeit des EuropäischenSozialmodells. 20 Millionen Menschensind in der Europäischen Union arbeits-los, 93 Millionen sind wirtschaftlich in-aktiv: Das sind weitaus höhere Raten alsin den Vereinigten Staaten. Die Erwerbs-quote älterer Arbeitnehmer (über 55) inder EU beträgt 40 Prozent, verglichenmit 60 Prozent in den Vereinigten Staa-ten und 62 Prozent in Japan.

Es gibt daher gute Gründe für dieFolgerung, dass die Nachhaltigkeit desbestehenden Europäischen Sozialmo-dells im Laufe der vergangenen Jahre

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[ vom negativen zum positiven sozialstaat ]

immer zweifelhafter geworden ist. Hö-heres durchschnittliches Wirtschafts-wachstum und mehr Arbeitsplätze ge-hören ganz an die Spitze der politischenPrioritäten, denn die bisherige Mi-schung aus niedrigem Wachstum undsteigenden öffentlichen Ausgaben kannso ganz einfach nicht mehr weitergehen.

Reformer profitieren

Einige Staaten der Europäischen Uni-on haben sich jedoch erheblich bessergeschlagen als andere. Eine Minder-heit von Ländern, ganz besonders dienordischen Staaten sowie die Nieder-lande, Österreich und Großbritannienweisen vergleichsweise gute Bilanzenauf. Die nordischen Länder besitzenzugleich die am weitesten entwickeltenFormen des Europäischen Sozialmo-dells und die höchsten Erwerbsquoten.Bemerkenswert ist, dass die Ländermit der günstigsten Wachstums- undWohlstandsentwicklung zugleich dieje-nigen Länder sind, die am reformfreu-digsten waren: im Hinblick auf denSozialstaat und das Rentensystem, aufdie Bildung, den Arbeitsmarkt sowieden Einsatz von Informations- undKommunikationstechnologie.

In Kontinentaleuropa und in denMittelmeerländern sieht das Bild andersaus. Deutschland und Italien weisenniedrige Wachstumsraten in Verbin-dung mit hohen Raten von Erwerbs-losigkeit auf. Frankreich hat in der

jüngeren Vergangenheit mehr Wachs-tum erwirtschaftet, aber hier ist vorallem die Jugend- und Langzeiter-werbslosigkeit besonders hoch. In die-sen Ländern führt die Kombinationvon ausgeprägter Regulierung derArbeitsmärkte und starkem Einflussder Gewerkschaften zu Insider/Outsi-der-Arbeitsmärkten. Das bedeutet:Wer einen unbefristeten Arbeitsplatzbesitzt, kann gut zurechtkommen –aber wer draußen ist, dem ergeht eserheblich schlechter. Die Zahlen derLangzeitarbeitslosen sind hoch, undviele Menschen flüchten in sekundäre(Schwarz-)Arbeitsmärkte, die jederstaatlichen Regulierung entzogen sind.

Lektionen zum Lernen

Was zeigen uns nun die europäischenErfahrungen der vergangenen Jahredarüber, wie sich Wettbewerbsfähig-keit und soziale Gerechtigkeit mitein-ander verbinden lassen? Die hier ge-nannten Punkte sind schematisch –jeder Einzelne von ihnen ließe sichselbstverständlich weit gründlicherausarbeiten. Und bekanntlich stecktder Teufel immer im Detail.1. Es ist richtig, Arbeitsplätze und

Wachstum an die erste Stelle zu set-zen. Ein hohes Beschäftigungsni-veau oberhalb eines anständigenMindestlohns ist aus mehr als einemGrund wünschenswert. Je größerder Anteil von berufstätigen Men-

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[ anthony giddens ]

schen, desto mehr Geld steht für so-ziale Investitionen und sozialenSchutz zur Verfügung. Einen Ar-beitsplatz zu besitzen, ist außerdemder beste Weg aus der Armut. Ob estatsächlich zu mehr Jobs kommt,hängt dabei natürlich von vielenFaktoren ab. Es kann aber kein Zu–fall sein, dass alle europäischen Län-der mit Erwerbsquoten oberhalbvon 70 Prozent aktive Arbeitsmarkt-politiken verfolgen. Solche Strate-gien umfassen die gezielte Weiterbil-dung von Arbeitslosen sowie von Ar-beitnehmern, die durch Arbeitslosig-keit bedroht sind. Und in allen die-sen Ländern versucht man aktiv, Ar-beitslose und freie Stellen zusammen-zubringen. Die effektivsten Sozial-staaten Europa verbinden das Prinzipder Sozialpartnerschaft mit dem all-gemeinen Zugang zu Sozialleistun-gen, die Umschulungen, Weiterbil-dung und Hilfen zum Neuanfang ananderen Orten gewährleisten. Genaudies ist die Flexicurity genannte Ver-bindung aus Flexibilität und Sicher-heit.

2. Die Vertreter der rechten Seite despolitischen Spektrums behaupten, ineiner Welt immer intensiveren Wett-bewerbs könnten nur Niedriglohn-ökonomien erfolgreich sein. Dochdie empirische Beweislast zugunstendes genauen Gegenteils ist eindeutig.Es gibt keine direkte Beziehung zwi-schen der Steuerhöhe (als Anteil am

Bruttosozialprodukt) auf der einenund dem Wirtschaftswachstum sowieneuen Arbeitsplätzen auf der anderenSeite. Zwar besteht vermutlich eineObergrenze; das zeigt sich am Bei-spiel Schwedens, das eine Zeit langdie höchsten Steuersätze aller Indu-strieländer aufwies und dabei zu-gleich hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens seiner Einwohner rela-tiv zurückfiel. Doch wichtiger als dieReichweite des Staates ist die Frage,wie effektiv die staatlichen Institutio-nen funktionieren und welche Artvon Wirtschafts- und Sozialpolitik siebetreiben.

Weniger Diskriminierung

3. Flexible Arbeitsmärkte sind eingrundlegender Bestandteil des politi-schen Grundmusters in den erfolg-reichen Staaten. Das bedeutet keinHire and Fire nach amerikanischemMuster. Im Zeitalter eines sich be-schleunigenden technischen Wan-dels wird die „Beschäftigbarkeit“(employability) der Menschen je-doch zu einem Erfordernis erstenRanges. Angesichts der Bedeutungdes technologischen Wandels sindkontinuierliche Neuorientierungund Weiterbildung selbst dort not-wendig, wo Arbeitnehmer densel-ben Arbeitsplatz behalten wie zu-vor. Schätzungen besagen, dass vierFünftel der technologischen Aus-

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stattung, die in der Zeit von 1995bis 2005 in den Volkswirtschaftender EU-15 benutzt wurde, wenigerals zehn Jahre alt war. Umgekehrtliegt die Ausbildung von vier Fünf-teln der Erwerbstätigen bereitsmehr als zehn Jahre zurück.Flexibilität hat keinen guten Namen,besonders bei bestimmten Vertreternder politischen Linken. Für sie be-deutet „Flexibilität“, dass die Anlie-gen der Arbeitnehmer zugunsten derAnforderungen des kapitalistischenWettbewerbs geopfert werden. Aberdie Art und Weise der Arbeitsmarkt-regulierung ist mindestens so wichtigwie ihr Ausmaß. Viele Arbeitnehmer-rechte können und sollten bestehenbleiben. Dazu gehören Konsulta-tions- und Mitbestimmungsrechte,die Regulierung von Arbeitsbedin-gungen, Gesetze gegen Diskriminie-rung und so weiter. Viele Arbeitnehmer wünschen sichtatsächlich flexible Arbeitszeitenoder die Möglichkeit der Teilzeitar-beit, um Beruf und Familie untereinen Hut zu bringen. Auch aufanderen Gebieten des alltäglichenLebens moderner Gesellschaftenspielt Flexibilität eine zunehmendeRolle. Die meisten Bürgerinnenund Bürger haben sich daran ge-wöhnt, auf dem Gebiet der Le-bensstile viel mehr Auswahl treffenzu können als frühere Generatio-nen – einschließlich der Entschei-

dung darüber, welche Arbeit sie wound wann tun wollen.

Lovely jobs und lousy jobs

4. Die viel zitierte Wissensökonomieist mehr als ein Schlagwort ohneInhalt. Allerdings sollte anstellevon Wissensökonomie eher vonWissens- und Dienstleistungsöko-nomie die Rede sein. Im Durch-schnitt der 15 „alten“ Staaten derEuropäischen Union arbeiten nurnoch 17 Prozent der Erwerbstäti-gen in der industriellen Fertigung– und dieser Anteil sinkt weiter. Vollbeschäftigung in der Wissensö-konomie ist möglich – in einigender besser funktionierenden euro-päischen Volkswirtschaften hat mandiesen Zustand erreicht. Aber dieseEntwicklung hat ihren Preis. Mehrals zwei Drittel der Arbeitsplätze,die in der Wissensökonomie ge-schaffen werden, erfordern guteFachkenntnisse. Das sind die sogenannten lovely jobs, deren Zahlweiter zunimmt. In der Zeit zwi-schen 1995 und 2004 nahm derAnteil der Arbeitsplätze in den Län-dern der EU-15, für die fortge-schrittene Qualifikationen erforder-lich sind, von 20 auf 24 Prozent zu.Arbeitsplätze für Menschen mit ge-ringen Qualifikationen – die so ge-nannten lousy jobs – nahmen dage-gen von 34 auf 25 Prozent ab.

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Zugleich aber müssen viele Arbeit-nehmer noch immer genau solcheTätigkeiten ausüben – in Lädenoder Supermärkten, in Tankstellenoder Schnellrestaurants. Der Min-destlohn darf nicht so hoch ange-setzt werden, dass diese lausigen Jobsunmöglich werden, weil wir sonstzugleich die guten Jobs einbüßenwürden, die mit ihnen einhergehen.Wir müssen also zum einen versu-chen, die Höhe des Mindestlohns sofestzulegen, dass niemand trotz Er-werbsarbeit in Armut lebt (workingpoor). Und wir müssen zum anderendafür sorgen, dass Menschen nichtfür alle Zeit in diesen Tätigkeitenhängen bleiben.

Hightech-Sozialstaat

5. Investitionen in Bildung, der Ausbauvon Universitäten sowie die Verbrei-tung von Informations- und Kommu-nikationstechnologie sind unabding-bare Bestandteile der Modernisierungdes Europäischen Sozialmodells.Finnland ist das aufschlussreiche Bei-spiel einer Gesellschaft, die auf demGebiet der Informations- und Kom-munikationstechnologie an der Spitzedes Fortschritts steht und gleichzeitigeinen starken Wohlfahrtsstaat besitzt.Der Fall Finnland widerlegt die The-se, dass eine Hightech-Wirtschaft not-wendigerweise dem deregulierten Sili-con-Valley-Modell zu folgen habe.

Finnland weist eine höhere Durch-dringung mit Informationstechnolo-gie auf als die Vereinigten Staaten.Die Wachstumsrate des Landes betrugzwischen 1996 und 2001 durch-schnittlich 5,1 Prozent pro Jahr. Finn-land gehört zur Spitzengruppe allerIndustriestaaten im Hinblick aufsoziale Gerechtigkeit, und das finni-sche Steueraufkommen ist hoch.

Mehr gesellschaftliche Gleichheit

6. Oft wird erklärt, „unsere Gesell-schaften werden immer ungleicher“,doch in vieler Hinsicht stimmt dieseBehauptung nicht. Die Stellung vonFrauen, Homosexuellen oder Behin-derten zum Beispiel hat sich im Ver-lauf der vergangenen drei Jahrzehntenahezu überall verbessert. Wahr ist,dass in vielen Industriegesellschaftendie Ungleichheit der Einkommenzugenommen hat, aber es gibt An-zeichen dafür, dass dieser Prozess in-zwischen im Abklingen begriffen ist.Einigen Staaten ist es gelungen, be-merkenswerte gesellschaftlicheGleichheit zu bewahren – wobeiwieder einmal die nordischen Län-der an der Spitze liegen. Die wich-tigste Erklärung ist das überlegeneInvestieren der Skandinavier in dasHumanvermögen ihrer Gesellschaf-ten. Wir müssen daher drastischhöher in die frühkindliche Bildungund Betreuung investieren, weil

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über so viele Fähigkeiten bereits indiesem Lebensabschnitt entschiedenwird. Die Investition in frühkindli-che Bildung und Erziehung ist einSchlüsselelement zur Verminderungvon Armut während des gesamtenLebensverlaufs.

7. Ökologische Fragen müssen weitdeutlicher als in der Vergangenheitin den Vordergrund treten. Diesgelingt dann am besten, wenn dasThema unter dem Leitmotiv derökologischen Modernisierung be-handelt wird. Die Idee entstand inbewusstem Widerspruch zur Thesevon den „Grenzen des Wachstums“,die von einer früheren Generationökologischen Denkens vorgebrachtwurde. Ökologische Modernisierungbedeutet, wo immer möglich ökolo-gische Innovationen zu finden, diemit wirtschaftlichem Wachstum ver-einbar sind. Dazu können grüneTechnologien gehören, ebenso derGriff zu marktbasierten und steuerli-chen Anreizen für Konsumenten,Unternehmen und andere Institutio-nen, in ihrem Handeln umwelt-freundlicher zu werden.

Multikulturelle Solidarität

8. Das Thema Einwanderung und In-tegration ist überall in Europa zueiner der heißesten Fragen über-haupt geworden. Der Gegenstandist viel zu komplex, als dass er hier

ausführlich diskutiert werden könn-te. Die zentralen Fragen lauten:Verlieren Gesellschaften, in demMaße, wie sie multikulturell wer-den, unweigerlich ihr Grundgefühlder Gemeinsamkeit, ihren Sinn fürsoziale Solidarität? Werden Mehr-heiten bereit sein, eine Politik zu-gunsten derjenigen zu unterstützen,die neu hinzugekommen sind odersich kulturell vom Mainstream un-terscheiden? Vergleichende Studienlassen die Vermutung zu, dass dieAntwort darauf ein vorsichtiges„Ja“ ist, solange bestimmte Voraus-setzungen erfüllt sind (Rossi 2003).Zu diesen Voraussetzungen gehörterstens, dass die Einwanderer ausallen Bildungsgruppen stammenmüssen – dass sie also nicht über-wiegend ohne Qualifikationensind; zweitens, dass nicht vonAnfang an ein Anspruch auf denvollen Zugang zu sämtlichen Sozi-alleistungen besteht; und drittens,dass konkrete Schritte unternom-men werden, damit die Einwande-rer die grundlegenden kulturellenNormen der Gesellschaften akzep-tieren, in denen sie neu angekom-men sind.

Alterung ist kein „Problem“

9. Die alternde Bevölkerung sollte alsMöglichkeit begriffen werden undnicht bloß als ein weiteres „Pro-

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blem“. Wir wissen, was geschehenmuss. Die Lösung der Schwierigkei-ten in den meisten Ländern hängtdavon ab, ob der politische Willeaufgebracht wird, die nötigen Verän-derungen tatsächlich herbeizuführen.Wir müssen jüngere Menschen da-von überzeugen, dass sie mehr Geldzurückzulegen haben. Die Hauptur-sache für das Altern der Gesellschaftist nicht, dass die Menschen immerlänger leben. Das tun sie zwar, dochentscheidend ist die niedrige Ge-burtenrate. Der Staat muss den Men-schen Anreize geben, mehr Kinder zubekommen, und er muss dafür sor-gen, dass zeitgemäße Formen von So-zialstaatlichkeit verwirklicht werden. Ganz egal, welche Maßnahmen er-griffen werden, um Menschen beimSparen zu helfen oder sie sogar dazuzu zwingen: Es gibt nur eine einzigeMöglichkeit, das Problem unfinan-zierbarer Rentenverpflichtungen zulösen. Wir müssen ältere Menschendavon überzeugen und dazu moti-vieren, länger zu arbeiten. Solch einZiel ist mitnichten nur negativ. Wirmüssen sowohl in der Arbeitsweltwie auch sonst gegen die Diskrimi-nierung Älterer kämpfen. Für Men-schen über 55 oder sogar über 65besitzt „Alter“ heute nicht mehr die-selbe be- und verhindernde Wir-kung wie einst.

10.Die fortgesetzte Erneuerung desStaates und seiner öffentlichen

Dienstleistungen ist für die Zu-kunft des Europäischen Sozialmo-dells genauso wichtig wie die be-reits genannten Punkte. Wo immeres nützlich ist, heißen die Leitli-nien dabei Dezentralisierung undDiversifizierung. Es liegt auf derHand, dass eine Balance zwischendiesen Zielen und weiterer Integra-tion bestehen muss. Die Beziehun-gen der Staaten der EuropäischenUnion, die zugleich die Verschie-bung von Macht nach oben wienach unten erleben, sind ein her-ausragendes Beispiel (aber dennochnur ein Beispiel) dafür, wie unaus-weichlich das Regieren und Ver-walten auf mehreren Ebenen zu-gleich bereits heute ist. Natürlichist die Frage, ob öffentliche Diens-te privatisiert oder in die Händegemeinnütziger Organisationenund Agenturen gelegt werden soll-ten, weiterhin Gegenstand heftigerDebatten. Auf jeden Fall sollten öf-fentliche Dienstleistungen genausosehr wie kommerzielle Organisatio-nen an den Bedürfnissen derer aus-gerichtet werden, für die sie dasind – und in mancher Hinsichtsogar noch mehr.

Die Prinzipien der Erneuerung

Die meisten Probleme, vor denen dasEuropäische Sozialmodell heute steht,betreffen nicht spezifisch einzelne Län-

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der, sondern sie sind strukturell be-dingt. In der Ära der Globalisierunglässt sich oft – oder sogar normaler-weise – verallgemeinern, um welcheLösungen es gehen muss. Was ich imFolgenden skizziere ist eine Art Ideal-typ – eine Liste von Merkmalen, dieauf je eigene Weise von Ländern imProzess der Erneuerung realisiert wer-den könnten. Ein Muster für ein Er-neuertes Europäisches Sozialmodellkönnte durch die folgenden Grundei-genschaften gekennzeichnet sein:J Verschiebung von negativer zu posi-

tiver Sozialstaatlichkeit. Als WilliamBeveridge seinen Plan für den briti-schen Wohlfahrtsstaat der Nach-kriegszeit entwickelte, stellte er sich– wie fast alle anderen auch – denSozialstaat als Einrichtung zur Kor-rektur von Missständen vor. DerSinn seiner Neuerungen bestanddarin, die „fünf Übel“ der Unwis-senheit, des Elends, der Verwahrlo-sung, der Untätigkeit und derKrankheit anzugreifen. Tatsächlichsollte uns keines dieser Übel ausdem Blick geraten, aber heute soll-ten wir viel stärker versuchen, sieins Positive zu wenden. Mit ande-ren Worten: Wir sollten Bildungund Lernen fördern, Wohlstand,Wahlmöglichkeiten, aktive sozialeund wirtschaftliche Partizipationsowie gesunde Lebensweisen.

J Solche Ziele setzen Anreize ebensovoraus wie Leistungen, Pflichten

ebenso wie Rechte, weil es zu ihrerErreichung auf die aktive Beteiligungder Bürger ankommt. Die Verbin-dung von Wohlfahrt und Bürger-schaft erfolgt eben nicht – wie klas-sisch von T. H. Marshalls formuliert –durch die Ausweitung von Rechten,sondern durch die richtige Mischungvon Rechten und Pflichten. Der pas-sive Bezug von Arbeitslosengeldwurde in der Vergangenheit nahezuausschließlich als Recht definiert –und hat sich vor allem aus genau die-sem Grund als dysfunktional erwie-sen. Mit der Einführung aktiverArbeitsmarktpolitiken wird deutlichgemacht, dass die erwerbsfähigen Ar-beitslosen die Pflicht haben, nachArbeit zu suchen, wenn sie staatlicheHilfe in Anspruch nehmen wollen –und mit Hilfe von Sanktionen wirddurchgesetzt, dass sie dieser Pflichtauch wirklich nachkommen.

J Der traditionelle Sozialstaat hat ver-sucht, einen Risikotransfer vom Indi-viduum auf den Staat oder die Ge-meinschaft zu organisieren. Sicherheitwurde als Verringerung oder Abwe-senheit von Risiken definiert. Tatsäch-lich jedoch wohnen dem Risiko auchviele positive Aspekte inne. Häufigmüssen Menschen Risiken eingehen,um ihr Leben zu verbessern. Ohnehinist es in einer sich schnell bewegendenUmgebung wichtig, ob Menschen inder Lage sind, sich auf Veränderungeneinzustellen, ob sie den Wandel aktiv

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für ihre Zwecke zu nutzen verstehen.Diese Aussage trifft auf Arbeitnehmergenauso zu wie auf Unternehmer; sietrifft genauso zu für Menschen, dieeine Scheidung oder andere sozialeÜbergänge erleben, wie für die Weltder Ökonomie. Der kreative Umgangmit Risiken bedeutet jedoch nicht dieAbwesenheit von Sicherheit – ganzund gar nicht! Zu wissen, dass Hilfezur Verfügung stehen wird, wenn dieDinge schief gehen sollten, kann oftdie Bedingung dafür sein, dass Men-schen überhaupt ein Risiko einzuge-hen bereit sind. Dies scheint mir einBestandteil der Logik des Prinzips derFlexicurity auf dem Gebiet der akti-ven Arbeitsmarktpolitik zu sein.

J Ein erneuertes Europäisches Sozial-modell muss sich verstärkt auf Ge-bühren stützen. Öffentliche Dienst-leistungen, die für ihre Nutzer kos-tenlos sind, mögen aus edlen Moti-ven heraus entworfen worden sein.Sie geraten jedoch leicht in ganzbestimmte Schwierigkeiten. Da siewenige Mechanismen aufweisen,um die Nachfrage nach ihnen imZaum zu halten, werden sie vonallzu vielen Menschen und allzu oftin Anspruch genommen – und lei-den dann an „Überfüllung“. So ent-wickeln sich Zweiklassensysteme:Wer genug Geld hat, entzieht sich.Das Gebührenprinzip – Gebührenentrichtet von unmittelbaren Nut-zern – wird deshalb für die öffentli-

chen Dienstleistungen vermutlicheine zunehmende Rolle spielen, vonden Renten über die Gesundheitbis hin zum Hochschulstudium.

J Das erneuerte Europäische Sozial-modell muss entbürokratisiert wer-den. Der alte Sozialstaat beruhte festüberall darauf, die Bürger als passiveUntertanen zu behandeln. Kollekti-vismus war früher in einem anderenMaße akzeptabel, als dies heute derFall ist – und sein sollte. Entbürokra-tisierung heißt, sich den Interessenvon Produzenten entgegenzustellen,für Dezentralisierung und lokaleEntscheidungsspielräume einzutre-ten. Aufschlussreiche Beispiele dafürbieten die gesundheits- und bil-dungspolitischen Reformen, dieSchweden und Dänemark in denfrühen neunziger Jahren eingeführthaben. Diese Bemühungen sollteneindeutig vom Instrument der Priva-tisierung unterschieden werden, dieeine andere Möglichkeit darstellt,solche Ziele zu verfolgen.

Ein neues Sozialmodell

Auf der Ebene der konkreten politi-schen Maßnahmen möchte ich 13Punkte vorschlagen, die ein erneuertesEuropäisches Sozialmodell kennzeich-nen sollten:1. Die progressive Einkommenssteuer

bleibt als ein Mittel zur Verringerungvon Ungleichheiten bestehen. Das

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Einkommen nach Steuern ist in allenIndustriestaaten noch immer egalitä-rer als das Bruttoeinkommen. Über-all führt der Trend fort von Steuernauf Arbeit und hin zur Besteuerungdes Konsums – wiederum so weitwie möglich mit progressiven Ele-menten.

2. Verantwortliche Haushaltspolitik istein Leitprinzip der Finanzierung desSozialstaats – wenngleich in be-stimmten Situationen Flexibilitätangebracht ist. Dieses Prinzip giltlangfristig und betrifft beispielsweisedie Fähigkeit, spätere Rentenver-pflichtungen vorauszusehen.

3. Es werden aktive Arbeitsmarktpoliti-ken angewandt, die auf ein ange-messenes Gleichgewicht aus Anrei-zen und Verpflichtungen setzen.Diese Anreize und Verpflichtungengelten für ältere Arbeitnehmer ge-nauso wie für andere Altersgruppen.Flexibilität und staatliches Engage-ment im Hinblick auf Weiterbil-dung oder Umschulung gehörenzusammen. Besondere Aufmerk-samkeit wird dem Ziel gewidmet,als erwerbsunfähig registrierte Men-schen in Beschäftigungsverhältnissezurückzubringen.

4. Die Schaffung von Arbeitsplätzenspielt eine zentrale Rolle sowohl imHinblick darauf, Wachstum zu er-möglichen wie hinsichtlich der Ein-dämmung von Armut – der besteAusweg aus der Armut ist ein anstän-

diger Arbeitsplatz mit einem Gehaltoberhalb des Mindestlohns.

5. Teilzeitarbeit wird aktiv gefördertund nicht stigmatisiert. Sie muss an-teilig genau dieselben sozialen Leis-tungen verschaffen wie Vollzeitarbeit.

6. Die Betonung des Gleichheitsprin-zips ist ein roter Faden, der alle Poli-tiken miteinander verbindet: der fun-damentale Sinn des erneuerten Euro-päischen Sozialmodells besteht ge-rade darin, wirtschaftliche Dynamikund soziale Gerechtigkeit miteinan-der zu verbinden. Aufwärtsmobilitätist viel wichtiger, als „den Reichen“das Leben möglichst schwer zu ma-chen, denn die „Reichen“ sind einewinzige Gruppe, die „Armen“ hinge-gen eine sehr große. Besondere Auf-merksamkeit gilt der Kinderarmut.Gesellschaften mit geringer Kinder-armut sind typischerweise auch aufvielen anderen Gebieten egalitärer alsandere Gesellschaften.

7. Es werden gezielte Strategien einge-setzt, um verfestigte und langfristigeFormen von Armut und sozialemAusschluss zu bekämpfen. Dazu kön-nen negative Einkommenssteuernoder Steuergutschriften gehören.

8. Besondere Aufmerksamkeit wird den-jenigen Beschäftigten gewidmet, diein Dienstleistungsberufen mit niedri-gem Qualifikations- und Lohnniveauarbeiten, um so weit wie irgend mög-lich zu gewährleisten, dass auch fürdiese Gruppen Aufstiegschancen be-

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stehen. Das erfordert nicht nur diestaatliche Gewährleistung von Weiter-bildung, sondern auch die Zusam-menarbeit mit Arbeitgebern, um Ar-beitsplätze nach Möglichkeit aufzu-werten. Lebenslanges Lernen bleibtkeine leere Phrase mehr, sondern wirdgelebte Wirklichkeit. Dazu gehört dieMöglichkeit der ordnungsgemäßenDokumentation erworbener Zusatz-qualifikationen.

9. Es werden gezielte Maßnahmen zurbesseren Integration ethnischer Min-derheiten und Einwanderer ergriffen.

10. Das Verhältnis von Sozialleistungenund Gebühren wird so organisiert,dass sich möglichst wenige wohlha-bende Bürger für die Flucht aus denSozialsystemen entscheiden können.

11. Der Staat wendet relativ wenigerMittel für die Älteren auf und mehrfür die Jungen. Dabei wird der Kin-derbetreuung, der frühkindlichenBildung und der Ermutigung zur Fa-miliengründung besondere Aufmerk-samkeit gewidmet.

12. Investitionen in Wissenschaft, inTechnologie und Hochschulbildungsind die entscheidenden Einflussgrö-ßen, sowohl auf dem Gebiet der In-dustriepolitik wie im Hinblick aufdie Schaffung neuer Arbeitsplätze.

13. Jegliche Politik wird unter dem Ge-sichtspunkt ihrer ökologischen Wir-kung bewertet. Alle Staaten betrach-ten ihre Zusagen im Rahmen desKyoto-Protokolls als verpflichtend.

Die Mitgliedsstaaten der Europäi-schen Union bekennen sich aktiv zuden kurz- und längerfristigen ökolo-gischen Zielen der EuropäischenKommission. Ein Beispiel sind lang-fristig wirksame Pläne wie der einesvollständigen Übergangs zur Wasser-stoffwirtschaft bis zum Jahr 2050.

Verzicht ist nicht möglich

Ein erneuertes Europäisches Sozial-modell entlang dieser Leitlinien weistfür Europa – einschließlich der neuenEU-Mitgliedstaaten – einen wirklichenWeg nach vorne. Sicherlich sind diepraktischen und politischen Barrieren,die solch einem Projekt entgegenstehen,in einigen Ländern beträchtlich. Selbstwo Lösungen verallgemeinerbar erschei-nen, bleiben Fragen und Schwierigkei-ten hinsichtlich der Verwirklichung vonMethoden der best practice bestehen.

Immer wieder wird die Frage gestellt:Kann sich Europa sein Sozialmodellleisten? Aber vielleicht sollten wir genauumgekehrt fragen: Kann sich Europaleisten, auf sein Sozialmodell zu verzich-ten? Das Ausmaß der Ungleichheit, dasin den Vereinigten Staaten herrscht,könnte Amerika in den kommendenJahren noch dramatische Probleme ver-schaffen. Es mag ja beispielsweise sein,dass die USA die besten Universitätender Welt besitzen, aber das Land besitztauch den höchsten Anteil von Analpha-beten aller industrialisierten Staaten.

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Den Ergebnissen der international ver-gleichenden PISA-Studie zur Lesekom-petenz von 15-Jährigen zufolge belegendie Vereinigten Staaten unter 29 Län-dern nur den 24. Rang; ebenfalls nurden 24. Platz erreichen die amerikani-schen Jugendlichen hinsichtlich ihrerFähigkeit, Probleme zu lösen. In einerZeit, da die Wissensökonomie selbstglobalisiert wird, könnte es sein, dasssich ein reformiertes Europäisches So-zialmodell dem amerikanischen Modellüberlegen erweisen wird.

Die beste aller Welten?

Ein Europa, das sich der Welt gewach-sen zeigen würde, hätte …J ein Niveau der Ausstattung mit

Informations- und Kommunikati-onstechnologie so wie Finnland,

J eine industrielle Produktivität sowie Deutschland,

J gesellschaftliche Gleichheit so wieSchweden,

J eine hohe Erwerbsquote so wieDänemark,

J Wirtschaftswachstum so hoch wiein Irland,

J ein Niveau der Gesundheitsversor-gung so wie Frankreich,

J ein Bruttosozialprodukt pro Kopfso hoch wie in Luxemburg,

J ein Bildungsniveau so wie Norwe-gen (das jedoch nicht der Europäi-schen Union angehört),

J einen kosmopolitischen Geist sowie Großbritannien und

J Wetter so wie Spanien.

Ich hatte diese Aufzählung zunächstnur als Satire gemeint. Aber vielleichtsollten wir – abgesehen von den spani-schen Klimaverhältnissen – tatsächlichnichts Geringeres anpeilen als genaudiese hohen Ziele. L

Aus dem Englischen von Tobias Dürr. Wir danken dem policy network in London und der

Friedrich-Ebert-Stiftung für ihre Unterstützung.

LORD ANTHONY GIDDENS

ist seit 2004 Mitglied des britischen Oberhauses und war bis 2003 Direktor der London School of Economics and Political Science.

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10 THESEN ZUR LEISTUNGS- UND LEGITIMATIONSKRISE DES ALTEN SOZIALSTAATES VON WOLFGANG SCHROEDER

Vorsorge ist besserals Nachsorge

D er deutsche Sozialstaat ist zwarbesser als sein Ruf, gleichwohl

befindet er sich nicht auf der Höheder Zeit. In diesem Sinne werden inden folgenden Thesen die als defizitäridentifizierten Strukturen des deut-schen Sozialstaates beleuchtet, um da-für zu sensibilisieren, dass nicht nurein Umdenken, sondern auch ein Um-steuern notwendig ist. Die Konzeptioneines vorsorgenden Sozialstaates ist da-rauf eine politische Antwort. Mit ihmlässt sich die Leistungs- und Legitima-tionskrise des nachsorgenden Sozial-staates angehen.

I. Unterschiedliche Desintegrations-prozesse bestimmen die soziale

Wirklichkeit in Deutschland. Neu da-ran ist weniger die verfestigte Massen-arbeitslosigkeit, die sich in Deutsch-land durch eine international seltenanzutreffende Zahl von Langzeitar-beitslosen und Niedrigqualifiziertenauszeichnet. Dieses Übel begleitet diebundesdeutsche Gesellschaft seit mitt-lerweile über 30 Jahren. Die Armut in

Deutschland ist seit 1998 gestiegen,besonders betroffen sind Alleinerzie-hende, Arbeitslose, Kinder und jungeErwachsene. Die besondere Brisanzdieser alten sozialen Frage verschärftsich seit einigen Jahren durch neue so-ziale Befunde. Zu den wesentlichenElementen dieser neuen sozialen Fra-gen zählen: J Bildungs- und Ausbildungsdefizite, J anwachsende Bedeutung von Zivili-

sationskrankheiten, J unzureichende soziale Durchlässig-

keit, J abnehmender Aufstiegswille in

bestimmten gesellschaftlichenMilieus,

J Desintegrationsprozesse beibestimmten Migrantengruppen,

J unzureichende Infrastruktur fürlebenslanges Lernen sowie

J eine schwache Basis um die Verein-barkeit von Familie und Beruf zuverbessern.

Im Ergebnis lassen sich die Befundeder neuen sozialen Fragen auf finanzi-

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[ wolfgang schroeder ]

elle, strukturelle und mental-kulturelleUrsachen zurückführen. Die am ein-fachsten und zugleich am wenigstenproblematische Dimension ist dabeidie finanzielle.

In regelmäßigen Abständen wirdseit nunmehr fast 30 Jahren in unter-schiedlichen Varianten darüber debat-tiert, dass der bestehende Sozialstaatden neuen sozialen Herausforderun-gen nicht hinreichend gewachsen ist.In den siebziger Jahren diskutiertenwir die „neue soziale Frage“, ausgelöstdurch die CDU. In den achtziger Jah-ren stießen die Gewerkschaften eineDebatte über die „neue Armut“ an. Inden neunziger Jahren haben die Prota-gonisten der sozialdemokratischen„Dritte Weg-Debatte“ die Exklusions-debatte begonnen. Gemeinsam ist alldiesen Debatten ihre Folgenlosigkeit.

Keine Antwort fürverunsicherte Mittelschicht

Wie kann aber nun verhindert wer-den, dass der 2006 geführten Unter-schichtendebatte das gleiche Schicksalwiderfährt? Meine erste und vielleichtwichtigste Antwort darauf lautet, dassEinigkeit darüber hergestellt werdensollte, dass die neuen Herausforderun-gen des Sozialstaates mit der aktuellen„Unterschichtendebatte“ nur partielleingefangen werden. Denn zugleichbesteht auch eine hohe Unzufrieden-heit der Mittelklassen über das Ver-

hältnis zwischen ihren finanziellen Be-lastungen und den dafür angebotenensozialstaatlichen Leistungen. Abge-hängte Unterschichten und verunsi-cherte Mittelschichten müssen als diebeiden Seiten einer sozialstaatlichenDebatte verstanden werden.

II. Der nachsorgende, beitragsfi-nanzierte Sozialstaat war eine

adäquate Antwort auf eine Industrie-gesellschaft, die auf der vollbeschäftig-ten, männlichen Ernährerrolle mit sta-bilen Familienmilieus basierte. Ursäch-lich für die grundlegenden Defizite desgegenwärtigen Sozialstaates sind seineprimär beitragsfinanzierten, passivenund statusorientierten Strukturen, diees nicht verhindern, dass der FaktorHerkunft zementiert wird, Ausgren-zung zunimmt und die Durchlässig-keit der Gesellschaft abnimmt.

Um diese Konstruktionsfehler an-zugehen, ist es notwendig, den Sozial-staat stärker in Richtung eines vorsor-genden Sozialstaates auszubauen. Umdieses Ziel zu erreichen, braucht esgrundlegende politische Entscheidun-gen, die dazu führen, dass der zukünf-tige Sozialstaat mehr steuer- und weni-ger beitragsorientiert und dadurchmehr dynamisch-aktivierend als seg-mentierend und statusorientiert ist.

Nachsorgender und vorsorgenderSozialstaat lassen sich nicht gegenein-ander in Stellung bringen. Sie gehörenzusammen. Die zentrale Bedeutung

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[ vorsorge ist besser als nachsorge ]

eines nachsorgenden Sozialstaates istauch in einer durch sozialen und öko-nomischen Wandel stark verändertenGesellschaft nicht von der Hand zuweisen. Diese Ergänzung ist jedochnicht additiv zu verstehen, sondernstrukturell. Ziel muss ein neues Mi-schungsverhältnis sein, bei dem derSchwerpunkt von der nachsorgendenzur vorsorgenden Dimension verscho-ben wird.

III. Wer darüber nachdenkt, wieder Sozialstaat weiter entwi-

ckelt werden kann, muss die Transfor-mation der Arbeitsgesellschaft mit be-denken. Der Arbeitsgesellschaft ist trotzenormer Produktivitätssprünge, trotzgigantischer Rationalisierungserfolgeund eines stark geschrumpften industri-ellen Arbeitsmarktes nicht die Arbeitausgegangen. Das Gegenteil ist der Fall.Immer mehr Menschen arbeiten, im-mer mehr Menschen suchen eine Ar-beit. Verschließen kann man die Augenaber nicht davor, dass sich nicht nur dieErwerbsarbeit, sondern auch die Ar-beitsverhältnisse gewandelt haben.

Seit Jahren wird die primäre Finan-zierung des Sozialstaates über die Er-werbsarbeit schwächer, während dieProbleme (Arbeitslosigkeit und dis-kontinuierliche Erwerbsbiografien),die durch den Wandel der Arbeitsge-sellschaft geschaffen werden, wachsen.Auch die dauerhafte und sichere Inte-gration in den Arbeitsmarkt ist stark

abgeschwächt worden. Die Antwortauf diese Phänomene sollte jedochnicht in einer passiven Alimentierungderjenigen bestehen, die zurzeit keinenPlatz in der Erwerbsgesellschaft fin-den. Darauf würde zum Beispiel dieEinführung eines bedingungslosenGrundeinkommens hinauslaufen. Essollte weiter das Gegenteil angestrebtwerden: die Integration in die Arbeits-gesellschaft. Sicher, für viele Langzeit-arbeitslose kann dies schwierig odergar nicht mehr möglich sein, weshalbfür sie andere, ihrer Lebenssituationgemäße Formen der Unterstützunggefunden werden müssen.

Nicht Alimentierungsondern Aktivierung

Grundsätzlich aber sollte auch für denvorsorgenden Sozialstaat die Integra-tion in die Erwerbsarbeit zentral sein.Das heißt, dass neben allen längerfris-tigen Aktivitäten der vorsorgendenSozialpolitik, ein zentrales Augenmerkauf die Felder des dualen Systems, derWeiterbildung und der aktivierendenArbeitsmarktpolitik gelegt werdenmuss. Der entscheidende Punkt ist,dass gegenwärtig vergleichbare gesell-schaftliche Binde-, Sinn- und Aner-kennungsbezüge nur die Erwerbsarbeitherstellen kann. Diese These ist sichder Schattenseiten der Arbeitsgesell-schaft bewusst, wozu gegenwärtigMassenarbeitslosigkeit, die Existenz

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[ wolfgang schroeder ]

schlecht bezahlter Jobs und problema-tische Arbeitsbedingungen zählen.

IV. Das Zentrum der deutschenSozialpolitik lag bislang in der

Sozialversicherungspolitik. Dagegenwurden Bildungs-, Familien- und Mi-grationspolitik nur am Rande berück-sichtigt. Um angesichts der hohen Be-deutung, die Bildung und die richtigeAusbildung für eine bessere Integrationin den Arbeitsmarkt haben, sind dieVoraussetzungen dafür insbesondere inden bildungsfernen Schichten neu zubedenken. Wichtig ist deshalb eine Bil-dungspolitik, die schon in der früh-kindlichen Phase einsetzt, um den Ein-zelnen so früh wie möglich zu fördernund damit Chancengleichheit herzu-stellen. Aber auch wenn das Motto „jefrüher desto besser“ konsequent umge-setzt wird, sollten auch die älteren Ar-beitnehmer berücksichtigt werden:Denn diese Gruppe ist in den letztenJahren immer häufiger und immerfrüher vom Arbeitsmarkt ausgeschlos-sen worden. Notwendig sind hier eineStrategie des lebenslangen Lernens undFörderns sowie eine Politik, die alters-gerechte Arbeit fördert.

Kommen wir zur neuen Familienpo-litik, die durch eine enge Verkettungmit anderen Politikfeldern gestärkt wer-den könnte. Dafür müssen bessere Be-treuungsmöglichkeiten vor und nachder Schule geschaffen werden, um Fa-milie und Beruf leichter zu vereinbaren.

Die dritte Säule bildet die Gesund-heitspolitik, die den vorsorgenden As-pekt ihres Auftrages in den letztenJahrzehnten sträflich vernachlässigt hatund viel stärker präventiv angegangenwerden muss. Eine gute Gesundheitist Voraussetzung für eine langfristigeIntegration in den Arbeitsmarkt.

Das vierte Politikfeld zielt auf eineIntegrationsoffensive gegen Menschen,die eingewandert sind und in Deutsch-land leben und arbeiten. Diese Leer-stelle verantwortet einen Teil der sozia-len Probleme, die gegenwärtig unterdem Label der neuen sozialen Fragendiskutiert werden.

V. Das Zentrum des vorsorgendenSozialstaates sind qualitativ ver-

besserte Einrichtungen, um Lebens-chancen zu fördern. Konkret geht esum den Ausbau der frühkindlichenErziehung in Kindergärten, Schulenund Hochschulen sowie betrieblicheAus- und Weiterbildungsmöglichkei-ten. In der Bildungspolitik sind ver-stärkte Investitionen in Grund- undHauptschulen, deren stiefmütterlicheBehandlung sich zu einer großen Bela-stung für eine integrative Chancenpo-litik auswächst, notwendig.

Auch das Feld der Stadt- und Woh-nungspolitik, eng mit der Familien- undBildungspolitik verzahnt, könnte einewichtige Sphäre für eine vorsorgende In-frastruktur bilden. Projekte, wie die „so-ziale Stadt“, könnten neue vorsorgende

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[ vorsorge ist besser als nachsorge ]

Sozialstaatselemente befruchten. Dass diePrivatisierung städtischer Wohnungsbau-gesellschaften die Voraussetzungen dafüreinfacher macht, ist wenig plausibel. Eineandere Infrastruktur muss nicht nur dieStartchancen gerechter verteilen, sondernauch zweite und dritte Chancen anbieten,damit auch nach gescheiterten Versuchender Einstieg in das Bildungs- und Arbeits-marktsystem wieder gelingen kann.

Weniger Transfer, dafürbessere Infrastruktur

Träger dieser erweiterten und verbes-serten Infrastruktur muss jedoch kei-nesfalls immer der Staat selbst sein. ImKontext einer positiven Verantwor-tungsteilung kann es auch sinnvollsein, dass Vereine, Verbände und ineinzelnen Fällen auch Unternehmenund Privatpersonen Träger einer er-neuerten sozialen Infrastruktur sind.Letztlich bedarf es vor allem einer an-spruchvollen politischen Steuerung,die knappe Ressourcen innovativerund effektiver einsetzt. Eine qualitativanspruchsvolle Infrastruktur kann dieBasis dafür bilden, von den MenschenEigenvorsorge für ein selbst bestimm-tes Leben zu fordern und ihnen bes-sere Verwirklichungschancen für einselbst bestimmtes Leben zu bieten.

VI. Dreh- und Angelpunkt einerqualitativ hochwertigen und

leistungsfähigen Infrastruktur sind die

Menschen, die in den betreffendenEinrichtungen darüber entscheiden,wer wie gefördert werden kann. Des-halb geht es auch darum, wie die Er-zieher, Sozialarbeiter, Lehrer, Fallma-nager, Pfleger etc. ausgebildet, bezahlt,unterstützt und anerkannt werden.Nicht zu unterschätzen ist aber auch,ob sie selbst durch ein ausgeprägtesBerufsethos dazu beitragen, ihre eigeneHandlungsfähigkeit zu erweitern.

Notwendig ist dafür zweifellos einegesellschaftliche Aufwertung der Be-schäftigten in den sozialstaatlichenEinrichtungen vom Kindergarten biszum Altersheim, von der Schule biszur Ausbildungsstätte. Eine wesentli-che Voraussetzung, um Ansehen, Leis-tungsfähigkeit und gesellschaftlicheUnterstützung für diese zentralen sozi-alstaatlichen Akteure zu verbessern, isteine veränderte Rekrutierungs- undProfessionalisierungspolitik. Für man-che Berufe, wie zum Beispiel für dendes Erziehers, bedeutet dies, dass so-wohl die Ausbildung als auch die Be-zahlung qualitativ gehaltvoller werdenmüssen. Bei den Lehrern ist nicht nurein anderes Studium, sondern aucheine stärker an der pädagogischen Eig-nung ausgerichtete Auswahl der Stu-dierenden notwendig.

VII. Das zentrale Problem desdeutschen Sozialstaates sind

keineswegs seine Kosten. In den meis-ten Bereichen steht genügend Geld

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[ wolfgang schroeder ]

zur Verfügung; auch für diejenigen,die keine Arbeit haben. Jedenfallswenn man diese Leistungen im inter-nationalen Maßstab vergleicht. Gleich-wohl sind gerechtere, ergiebigere undnachhaltigere Formen der Finanzie-rung möglich und anzustreben. Dabeisollte und kann man das Kind nichtmit dem Bade ausschütten.

Auch in Zukunft sollte der deutscheSozialstaat primär über Beiträge finan-ziert werden. Ohne jedoch weitere Ein-nahmequellen zu erschließen und sichstärker als heute über Steuern zu finan-zieren, wird es einen vorsorgenden Sozi-alstaat nicht geben können. Das Kon-zept des vorsorgenden Sozialstaates setztdarauf, durch den Ausbau von Präven-tion und Infrastruktur Nachsorge zu re-duzieren. Da sich diese Ausgaben wedergleich in positiven Ergebnissen nieder-schlagen noch direkt Ausgaben imnachsorgenden Bereich reduzieren hel-fen, bedarf es der Einsicht, dass dieseStrategie der Umsteuerung ein längerfri-stiges Projekt ist.

Investitionen zahlensich langfristig aus

Der vorsorgende Sozialstaat ist alsozunächst keine billige Lösung, sonderneine, die mit durchaus kostspieligenInvestitionen verbunden sein kann.Dies bedeutet, dass kurz- bis mittel-fristig sogar ein höherer Finanzauf-wand notwendig ist, der solidarisch

auf allen Schultern der Gesellschaftverteilt werden muss. Die Investitio-nen werden sich erst mittel- und län-gerfristig auszahlen. Wenn der vorsor-gende Sozialstaat erfolgreich ist, dannkönnte sich das qualitative Angebotdes nachsorgenden Sozialstaates ver-bessern, weil dieser von bestimmtenKosten befreit wäre und sich mithinbesser auf die wirklichen Problemfällekonzentrieren könnte.

VIII. Immer mehr Menschenfühlen sich ausgeschlossen,

abgehängt oder verunsichert. DieserTendenz muss entgegengewirkt werden.Jedoch ist eine Konzentration allein aufdie „Unterschichten“ dabei nicht sinn-voll. Erstens, weil auch der vorsorgendeSozialstaat primär über Beiträge finan-ziert werden muss – und deshalb aufdas Einverständnis der Mittelschichtenangewiesen ist. Notwendige Verände-rungen müssen primär von dieserGruppe getragen werden. Zurzeit fühltsich die Mittelschicht wie der Lasteselder Nation.

Zweitens kommt hinzu, dass der So-zialstaat auch für die Lebenssituationender Mittelschichten unzureichende Lei-stungen erbringt, um sich im gesell-schaftlichen Wandel als dynamischerund stabiler Akteur zu empfinden. Somacht sich ein Verunsicherungsgefühlbreit, das längst weite Teile der Mittel-schicht erfasst hat. Den Sozialstaat neudenken und ihn stärker vorsorgend aus-

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[ vorsorge ist besser als nachsorge ]

zurichten, böte insofern auch die Chan-ce, einen Beitrag zu leisten, um das Ver-unsicherungsgefühl größer werdenderBevölkerungsteile abzubauen. Dabeimüssen sowohl die Bedürfnisse der Mit-tel- als auch der Unterschichten berück-sichtigt werden.

Um die infrastrukturellen Leistungenfür die Unter- und Mittelschichten zufinanzieren, braucht es einen höherenSteueranteil. Deutlich herausgestellt wer-den sollte dabei, dass eine Politik, diedazu beiträgt, dass die Unterschichtenwieder integriert sind und in andere ge-sellschaftliche Schichten aufsteigen wol-len und können, durchaus im Eigenin-teresse der Mittelschichten liegt. Dennmehr gesellschaftliche Dynamik, weni-ger Arbeitslosigkeit, abnehmende Kri-minalität und weniger Kosten fürbestimmte sozialstaatliche Leistungenwürden auch die Lebensbedingungender Mittelschichten fördern.

IX. Die Grenzen des vorsorgendenSozialstaates sind offensichtlich.

Wer sie kennen lernen will, braucht bloßeinen Blick in die Debatten über Staats-und Marktversagen zu werfen. Gleich-wohl kann ein kohärentes Konzept sozi-alstaatlicher Vorsorgepolitik, auf der Ba-sis einer qualitativen Infrastrukturpolitik,organisiert durch fein justierte und refle-xive Steuerungsmittel, dazu beitragen,vor allem die Startchancen junger Men-schen grundlegend zu erhöhen. Dochwas passiert mit denen, die schon ge-

scheitert, zu alt oder gar abgehängt sind?Was passiert mit denen, die aufgrundvon Behinderungen nicht in die Er-werbsarbeit integriert werden können?

Auch für diese Gruppen darf esnicht nur nachsorgende Politiken ge-ben. Auch sie sollten Adressaten fürspezifische Formen einer aktivierendenund vorsorgenden Politik sein. Zu-gleich stehen diese Gruppen aber auchfür die Grenzen vorsorgender Sozial-staatspolitik. Eine besondere Heraus-forderung kann auch entstehen, solltedas Strukturprinzip der Vorsorge mitdem Prinzip der Freiheit konkurrieren.Es würde sich dann die Frage stellen:Wie viel Verpflichtung, gar Zwang,verträgt der vorsorgende Sozialstaat,wenn er sich einer emanzipativen Per-spektive verpflichtet?

X. Reformen aus einem Guss sindderart voraussetzungsvoll, dass

ihr Gelingen äußerst selten, mithinhöchst unwahrscheinlich ist. Ursächlichdafür sind nicht nur die vielen beteilig-ten Akteure mit ihren widerstreitendenInteressen, sondern auch die Schwierig-keit, auf Anhieb die richtigen Antwor-ten auf den sozialen Wandel geben zukönnen. So verwundert es nicht, dassder Ruf nach grundlegenden Reformengenau so laut ist wie die Angst davor.

Umzusetzen ist vermutlich nur einenachbessernde, inkrementalistischeStop-and-go-Politik. ReflektiertesScheitern kann die Voraussetzungen

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[ wolfgang schroeder ]

für bessere Reformen legen. Handelnnach Versuch und Irrtum muss jeden-falls nicht per se Ausdruck handwerk-licher Schwäche sein. Vielmehr solltedie Politik inkrementeller Anpassun-gen als seriöse Art der politischenSteuerung anerkannt werden. Notwen-

dig ist aber eine klare konzeptionelleRichtung, die als Kompass im Laby-rinth des politischen Stückwerkes die-nen kann. Genau dieser Notwendig-keit trägt das übergreifende Konzeptdes vorsorgenden Sozialstaates Rech-nung. L

PROF. DR. WOLFGANG SCHROEDER

lehrt Politikwissenschaft an der Universität Kassel und ist Mitglied der Grundsatzprogrammkommission der SPD.

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DAS „NETZWERK GESUNDE KINDER“ IST EIN BEISPIEL FÜR VORSORGENDE FAMILIEN- UND KINDERBETREUUNG VON HENDRIK KARPINSKI, SOLVEIG REINISCH UND SIMONE WEBER

Von Anfang angesund aufwachsen

S eit langem fällt uns auf, dass wirKinder, die in unsere Klinik kom-

men, zwar gesund machen können, dasursächliche Problem jedoch häufig wei-ter besteht. Vorsorgeuntersuchungenund Vorsorgeimpfungen werden zuwenig in Anspruch genommen. Häufigmerken wir, dass junge Familien zu unskommen und einfach nur Rat suchen –weil Mütter und Väter im Umgang mitihren Kindern unsicher sind.

Aus diesen vielfältigen Beobachtun-gen, die wir – Ärzte, Krankenschwe-stern, Hebammen und Therapeuten –in den Kliniken für Geburtshilfe undKindermedizin gemacht haben, ist dieIdee für ein Projekt entstanden, dasdie Kinder in den Mittelpunkt stelltum Familien umfassend und von An-fang an zu begleiten.

Nach intensiven Vorbereitungenkonnte das „Niederlausitzer NetzwerkGesunde Kinder“ als erstes von dreiBrandenburger Modellprojekten imMai 2006 starten. Es ist ein Elementdes „Maßnahmepaketes für Familien-und Kinderfreundlichkeit“ der Bran-

denburger Landesregierung. Das Landübernimmt in den ersten drei Jahren diefinanzielle Unterstützung. Hinzu kom-men Eigenmittel des Krankenhauses,Einnahmen aus Fortbildungsangeboten,Spenden und Sponsoren. Kernstück desProjektes ist der Einsatz ehrenamtlicherFamilienpaten. Allerdings muss manderzeit (noch) von Patinnen sprechen.

Weichen für die jungeFamilie stellen

Aus unserer Erfahrung heraus wissenwir, dass Hinweise und Gespräche –wenn sie bereits vor oder unmittelbarnach der Geburt eines Kindes angebo-ten werden – viele Weichen für dasZusammenleben in der Familie positivstellen können. Viele (werdende) Müt-ter und Väter wünschen sich heuteverschiedenerlei Unterstützung in ihrerverantwortungsvollen Rolle als Eltern.Dieser Wunsch und unsere Beobach-tungen haben uns dazu veranlasst, inenger Zusammenarbeit mit der Bran-denburger Landesregierung das Pilot-

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[ hendrik karpinski | solveig reinisch | s imone weber ]

projekt „Niederlausitzer NetzwerkGesunde Kinder“ ins Leben zu rufen.Mit dem Netzwerk wollen wir diegesundheitlich-soziale Entwicklungder in unserem Landkreis geborenenKinder fördern und ihre Gesundheitverbessern.

Freiwillig und für alle

Im Landkreis Oberspreewald-Lausitzwerden ungefähr 350 bis 400 Kinderim Jahr geboren. Ziel des Projektes istes, allen Familien mit Neugeborenen –also nicht nur Familien in sozial bela-steten Lebenssituationen – Begleitungund bei Bedarf Unterstützung anzu-bieten. Das „Niederlausitzer NetzwerkGesunde Kinder“ schafft auf freiwilli-ger Basis ein umfassendes Angebot zurBegleitung von Familien für eine ge-sundheitlich-soziale Entwicklung ihrerKinder. Dieses Angebot mit präventi-vem Charakter beginnt in der Schwan-gerschaft und setzt sich in den erstenLebensjahren fort. Unser Ziel ist es,alle Familien einzubeziehen, derenKinder ab 15. Mai 2006 im KlinikumNiederlausitz geboren werden und de-ren Wohnsitz im Landkreis Oberspree-wald-Lausitz liegt.

Das Projekt soll die Familien mitihren Kindern wieder in den gesellschaft-lichen Mittelpunkt stellen, Ermutigungin die Familien bringen, frühkindlicheBeziehungen stabilisieren, damit die Kin-

der sich gesund entwickeln können –und die bisherigen Erfahrungen zeigen,dass dies möglich ist.

Wie funktioniert das Netzwerk?Gewonnen werden Familien für eineTeilnahme über die regionale Schwan-gerenkonfliktberatung „Pro Familia“,den ambulanten Gynäkologen undHebammen, die Geburtsklinik undandere. Die Eltern verpflichten sichschriftlich in einem Vertrag zur Teil-nahme, können ihre Teilnahme amProjekt aber auch jederzeit beenden.Mit ihrer Unterschrift verpflichten siesich zur regelmäßigen Teilnahme anden Vorsorgeuntersuchungen (ein-schließlich Vorsorgeimpfungen bzw.Impfberatungen) bei ihrem Kinder-arzt. Daneben sollen die Eltern einmaljährlich ein kostenfreies Angebot derElternbildung besuchen, das ebenfallsvom Projekt in Form einer „Elternaka-demie“ aufgebaut wird. Hinzu kom-men die Hausbesuche ehrenamtlicher„Paten“. Als Anreiz zur Teilnahme amProjekt erhalten die jungen Eltern einkleines Geschenk für die Erstausstat-tung des Kindes.

Hilfe setzt bereitsvor der Geburt ein

Entscheidend für die Teilnahme mög-lichst vieler (werdender) Mütter undihrer Familien ist das Vertrauen in dasProjekt. Es muss möglich sein, dieAngebote so zu gestalten, dass es für die

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[ von anfang an gesund aufwachsen ]

teilnehmenden Familien unaufdringlichist und es so einfacher für sie wird, amProjekt teilzunehmen. Die bereits vorder Geburt einsetzende Hilfe unter-streicht den vorsorgenden Charakterdes Projekts. Vor allem soll sie die Not-wendigkeit verringern, dass später –häufig genug ist es ja zu spät – das Ju-gendamt vor der Tür steht.

Wie sehen die Angebote für die(werdenden) Mütter und ihre Fami-lien aus ? Es geht dabei um vier Kom-plexe – das Familienbegleitbuch, dieehrenamtlichen Paten, die Anreizge-schenke und Schulungsmöglichkeiten.

Das Familienbegleitbuch ist das erste„Geschenk“. Er wurde speziell für dieEltern entwickelt und dient als regiona-les soziales Adressbuch und ständigerbegleitender Dokumentensammler zuallen Beratungs-, Untersuchungs- undTherapieterminen des Kindes. Die(werdende) Mutter erhält es unmittel-bar nachdem sie ihre Teilnahmeerklä-rung unterzeichnet hat. Das Buch dientferner als Aufbewahrungsmöglichkeitfür alle routinemäßig vorhandenenFamilien- und Kinderdokumente. Soenthält es beispielsweise: J Mutterpass,J Vorsorgeheft („gelbes Heft“),J Impfpass,J Röntgenpass undJ Kinderausweis.

Weiter sind standardmäßig Infor-mationen über das Projekt, Telefon-

nummern von Praxen, Behörden undEinrichtungen u. a. eingeordnet, diejederzeit ergänzt werden.

In das Familienbegleitbuch tragendie jeweiligen regionalen Fachkräfteein, wann die Familie mit ihrem Kindwelche Einrichtung besucht hat undob ein Problem (z.B. gesundheitlichoder sozial) aufgetreten ist. Bevor„Problem Ja“ angekreuzt wird, erklärtdie jeweilige Fachkraft den Eltern, wa-rum ein „Problem“ angekreuzt wurde.So bleibt das Selbstbestimmungsrechtder Eltern und der Datenschutz ge-wahrt, und trotzdem können möglicheEntwicklungsrisiken zurückverfolgtwerden.

Ehrenamtliche Patenals Novum

Bisher einzigartig ist der Einsatz eh-renamtlicher Paten. Im „Niederlausit-zer Netzwerk gesunde Kinder“ dienendie Paten als Navigationshilfe für dieFamilien, als konstante Ansprechpart-ner, als Türöffner, damit Familien beiBedarf auch professionelle Hilfe an-nehmen. Die Paten sind der FamilieBegleiter, Vertraute und Ratgeber inallen Alltagsbelangen, die den Elternfür das Zusammenleben mit ihremKind wichtig erscheinen.

Darüber hinaus informieren die Pa-ten die Familien über die zur Verfügungstehenden staatlichen, kommunalenund projektbezogenen Unterstützungen,

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[ hendrik karpinski | solveig reinisch | s imone weber ]

erinnern an die Inanspruchnahme vonempfohlenen gesundheitsvorbeugendenMaßnahmen (zum Beispiel Vorsorgeun-tersuchungen, Schutzimpfungen) undermutigen bei Bedarf die Eltern zumAufsuchen professioneller Helfer.

Während der Projektlaufzeit wirdes elf obligate Besuchskontakte zwi-schen der Mutter (bzw. den Eltern)und dem ehrenamtlichen Familienpa-ten geben:J im letzten SchwangerschaftsdrittelJ in den ersten 14 Tagen nach der

Entbindung (Übergabe von Ge-schenk 1),

J um die 4. bis 5. Lebenswoche(Erinnerung an U3 und an Vorsor-geimpfungen),

J um die 12. Lebenswoche (Erinne-rung an die U4),

J im fünften Lebensmonat (Erinne-rung an Vorsorgeimpfungen),

J im siebten Lebensmonat (Erinne-rung an die U5),

J um den zehnten Lebensmonat(Erinnerung an die U6),

J um das vollendete erste Lebensjahr(Erinnerung an Vorsorgeimpfungen),

J um den 18. Lebensmonat. J um den 23. Lebensmonat (Erinne-

rung an die U7) undJ im Alter von 2 ½ bis 2 ¾ Jahren.

Für jeden Besuchszeitpunkt gibt eseinen Hinweisbogen für die Paten,welche Themen der Gesundheitsvor-sorge angesprochen werden sollten.

Darüber hinaus können zwischen derMutter bzw. der Familie und dem eh-renamtlichen Familienpaten weitereBesuchstermine nach Bedarf verein-bart werden.

Die Paten haben eine eigene projekt-interne Ausbildung erhalten, deren In-halte vorher in unserem Netzwerk ent-wickelt wurden Das mit Blick auf unserelangjährigen Erfahrungen entwickelteCurriculum der Ausbildung umfasst fol-gende Bausteine: J interaktive Gesprächsführung, zum

Beispiel in Form von Rollenspielen,die mit einer Videokamera aufge-nommen und ausgewertet wurden(IntraActPlus-Konzept ®),

J frühkindliche Interaktion undEltern-Kind-Bindung (IntraActPlus-Konzept ®),

J Inhalt und Chancen der Vorsorge-maßnahmen,

J „Das Leben mit dem neuen Kind –Hebammenwissen“,

J Rechte und Pflichten der Eltern bei Geburt eines Kindes,

J Unfallverhütung im frühen Kindesalter,

J Entwicklung und Entwicklungs-förderung von Kindern zwischen 0 und 3 Jahren,

J die eigene Rolle als Patin: Möglich-keiten und Grenzen einer Familien-patenschaft im „NiederlausitzerNetzwerk Gesunde Kinder“ und

J Kindeswohl und Kindesgefährdun-gen.

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[ von anfang an gesund aufwachsen ]

Die Vermittlung der Patinnen indie Familien läuft über eine Koordina-tionsstelle. Diese Koordinatorin ist dieeinzige fest angestellte Mitarbeiterinim Projekt. Die teilnehmenden Fami-lien können bei Eintritt in das ProjektWünsche in Bezug auf einen Paten(zum Beispiel Alter oder eigene Erfah-rung mit Kindern) angeben. Die Ko-ordinatorin versucht, diese Wünschebei der Vermittlung der Patin zu be-rücksichtigen.

Geschenke erhöhenTeilnahmebereitschaft

Der Einsatz und das Engagement derPaten haben uns alle überrascht. VieleMenschen meldeten sich nach Berich-ten in der Presse – ohne dass es einengezielten Aufruf gegeben hätte. AlsPaten melden sich erfahrene Mütterund Großmütter aus den verschieden-sten Berufen. Das zeigt, wie wichtigfür die Mitmenschen Kindeswohl undKinderschutz sind. Mit Hilfe diesesehrenamtlichen Netzwerkes wird einebreite Kultur des Hinschauens, derAufmerksamkeit für Kinder und Fami-lien entstehen, die dazu beiträgt, dassdas Land kinder- und familienfreund-licher wird.

Als zusätzlicher Anreiz für die Teil-nahme von Familien an dem Projektdienen drei hochwertige Entwick-lungsgeschenke für Mutter und Kind,deren Abgabe an das Einhalten der

Bedingungen im Teilnahmevertraggekoppelt ist. Das erste Geschenkübergibt die Patin in den ersten 14Lebenstagen des Kindes. Es beinhaltetfür das Neugeborene einen Schlafsack,eine Wickeldecke, ein Fieberthermo-meter, Jäckchen und Lätzchen sowieeinen Gutschein zum Babyschwim-men. Aber auch für die Mutter istetwas dabei: ein Massagegutschein imHausbesuch und ein Set aus Dusch-bad, Creme und anderem.

Das zweite Geschenk wird durch diePatin im 10. Lebensmonat des Kindesüberreicht, nach der fünften Vorsorge-untersuchung. Hier ist für das Kind einhöhenverstellbarer Stuhl geplant. Dasdritte Geschenk wird mit ca. 2 ¾ Jah-ren des Kindes überreicht, nach dersiebten Vorsorgeuntersuchung.

Vorhandene Strukturenvernetzen

Schließlich bekommen die Familienauch Gutscheine für die kostenfreieoder kostengünstige Teilnahmen anAngeboten wie Schwangerenschwim-men, Geschwisterschulen, Eltern- undVäterkursen.

Wir streben an, die im Projekt ent-wickelten und umgesetzten Präventions-strukturen auf andere Landkreise Bran-denburgs zu übertragen. Das Projektselber plant eine Ausdehnung der Besu-che der Paten auf die ersten siebenJahre, um gezielt auch die Sprachent-

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[ hendrik karpinski | solveig reinisch | s imone weber ]

wicklung der Kinder zum Thema ma-chen zu können und eine Überleitungin die Schulzeit zu gewährleisten. DiePaten sollen insgesamt Wissen undGespür für geeignete Hilfesysteme ent-wickeln, die sie den Familien empfehlenkönnen. Weiterhin sollen während derProjektlaufzeit vorhandene Angebotebesser aufeinander abgestimmt und op-timal an die Bedürfnisse von Familienangepasst werden. Dabei sollen Syner-gieeffekte im Netzwerk für die Familienausgelotet und ausgenutzt werden.

Das „Niederlausitzer Netzwerk Ge-sunde Kinder“ verbindet und vernetztso in systematischer Art und WeiseMenschen in der Kommune und imländlichen Sozialraum auf verschiede-ne Art und Weise: J auf der professionellen Ebene unter

anderem durch die multidisziplinä-re Jugendhilfe und Gesundheits-vorsorge,

J auf der Ehrenamts-Ebene durch dieVernetzung der Paten, die gemein-same Ausbildung und Gruppentref-fen und

J auf der Ebene aller Familien mitNeugeborenem durch die Paten,zum Beispiel während der Besuchevon Paten in „ihren“ Familien sowiein der Elternakademie.

Wo stehen wir nun, gut ein halbesJahr nach dem Startschuss für das Pro-jekt? Mittlerweile sind etwa 50 Patin-nen in 200 Familien im Einsatz. Jede

Woche kommen zwischen fünf undacht Familien hinzu, darunter beson-ders häufig allein erziehende Mütterund Erstgebärende. Insgesamt nehmenFamilien aus allen sozialen Schichtenteil. Im Dezember 2006 entschiedensich ca. 80 Prozent der Familien mitNeugeborenen im Landkreis für dieTeilnahme am Netzwerk. Das ist einErfolg, der selbst unsere Erwartungenübertrifft. Derzeit befinden sich 25Patinnen in der Ausbildungsphase, siewerden ab dem 1. März 2007 in denFamilien eingesetzt.

Bundesweiteinmaliges Projekt

Zusammen mit den ehrenamtlichen Pa-ten ist so ein sozialräumliches Netzwerkentstanden, das alle regionalen Akteurevereint, die mit der Gesundheit und derEntwicklung von Kindern beschäftigtsind. Dazu gehören die Schwanger-schaftskonflikt-Beratungsstelle, dieFrühförderstelle, die FamilienberatungFRÖBEL e.V., Gynäkologen und Kin-derärzte, Hebammen, die Geburts- undKinderklinik, das Jugendamt, freie Trä-ger der Jugendhilfe, der AllgemeineSoziale Dienst, das Deutsche RoteKreuz, das Gesundheitsamt, Kinderta-gesstätten, das Frauenhaus und der Kin-derschutzbund. Auch der Jugendhilfe-ausschuss des Kreistages sicherte dieUnterstützung des Projekts durch Mit-arbeiter des Jugendamtes und seine

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[ von anfang an gesund aufwachsen ]

freien Träger zu mit einem entsprechen-den Beschluss.

Dieses in der BundesrepublikDeutschland einmalige Präventions-projekt lebt wesentlich durch das ehren-amtliche Engagement von Mitbürgerin-nen und Mitbürgern unserer Region,die sich als ehrenamtliche Paten fürdie Gesundheit von Kindern einsetzenmöchten. Nur durch den beispielhaf-

ten Einsatz dieser Paten und der vielerFachkräfte in Praxen, Institutionen,Behörden und Beratungsstellen sowieder Landesregierung, des Landkreisesund der Kommunen, die im „Nieder-lausitzer Netzwerk Gesunde Kinder“ihren Beitrag leisten, können wir unserzentrales Ziel erreichen: GesundesAufwachsen von Kindern in positivenfamiliären Beziehungen. L

HENDRIK KARPINSKI

ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und Geschäftsführer des Klinikums Niederlausitz.

SOLVEIG REINISCH

ist Projektkoordinatorin des „Niederlausitzer Netzwerk Gesunde Kinder“.

SIMONE WEBER

ist Geschäftsführerin des Klinikums Niederlausitz.

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DEM NEUEN GRUNDSATZPROGRAMM MÜSSEN BEHERZTE SCHRITTE IN DER BILDUNGSPOLITIK FOLGEN VON KARL-HEINZ SCHRÖTER

Schule auseinem Guss

M it dem Bremer Entwurf desneuen Grundsatzprogrammes

der SPD befinden wir uns nun in derheißen Phase der Diskussion um un-sere neue programmatische Basis. Wirvollziehen damit den Sprung aus demZeitalter der Teilung der Welt in zweiBlöcke in das Zeitalter der Globalisie-rung. Wir bieten Antworten auf Fra-gen, die die Menschen zu zerreißenscheinen.

Eine dieser Fragen lautet, wie mansich in dieser komplexen Welt zurecht-finden und auf dem Arbeitsmarkt be-stehen kann. Unsere Antwort klingtangesichts unserer PISA-Ergebnisse wieein Hilferuf – ein Ruf nach mehr undbesserer Bildung für unsere Kinder.

Schon heute hängen individuelleLebenschancen mehr als je zuvor vomBildungsniveau ab. Als Landkreis, derdie Vermittlung von Langzeitarbeitslo-sen in eigener Verantwortung über-nommen hat, stellen wir fest, dass sichunter den jugendlichen Empfängernvon Arbeitslosengeld II überproportio-nal viele ohne oder mit schlechtem

Schulabschluss befinden. Für sie kom-men nur einfache Jobs in Frage, diejedoch sowohl in der Industrie als auchder Landwirtschaft unseres Landes im-mer weniger werden. Selbst in einemKalksandsteinwerk, ersetzen Maschi-nen Dutzende Arbeiter. In den Hän-den derjenigen, die die Automatenprogrammieren und überwachen, liegtjedoch die Verantwortung für Millio-nenbeträge in Anlagevermögen. Siemüssen entsprechend qualifiziert sein.

Für Nachwuchs vorsorgen

In unverblümter Klarheit sagen mir IHKund Handwerkskammer, dass vieleSchulabgänger kaum die Mindestvor-aussetzung für eine Lehre erfüllen. Un-sere Schulen „produzieren“ zu viele nichtausbildungsfähige Absolventen, währendNachwuchs für naturwissenschaftlicheRichtungen, Informatik, Ingenieurstu-dien oder moderne landwirtschaftlicheAusbildungen händeringend gesuchtwird. Nach meiner Einschätzung als Ver-treter eines Kreises, der sich eigenverant-

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[ karl -heinz schröter ]

wortlich um Arbeitslose kümmert, öffnetsich diese Schere gegenwärtig sogar wei-ter. Das bedeutet, dass wir einerseitsSchulabgänger haben, die kaum ein exi-stenzsicherndes Einkommen erreichenkönnen und für die damit immer wiederPhasen der Arbeitslosigkeit program-miert sind und die lebenslang auf unsere„nachsorgenden“ Sicherungssystemeangewiesen sein werden. Andererseitsgeht unserer Wissensgesellschaft derNachwuchs aus, und wir sind mit allenKonsequenzen für unseren Wohlstanddavon bedroht, im internationalen Wett-bewerb zurückzufallen.

Zu viel Reparatur

Derzeit leisten wir uns im Bildungsbe-reich einen gigantischen Reparaturbe-trieb. So bieten beispielsweise unsereVolkshochschulen Grundbildung an.Dorthin vermitteln wir etliche unsererlangzeitarbeitslosen Jugendlichen. Dasheißt, junge Menschen, die unser Bil-dungssystem zehn Jahre und längerdurchlaufen haben, sollen dort lesenund schreiben lernen. Wir organisierenVorbereitungsjahre, um die Grundvor-aussetzungen für eine Lehre zu schaffen.Dazu zählen übrigens auch erzieherischeLeistungen. Dass es allerdings ungleichschwerer ist, junge Erwachsene zu erzie-hen und zu bilden als Kindergartenkin-der und Erstklässler liegt auf der Hand.

Um die Kluft zwischen mangelnderSchulbildung und immer höheren

Anforderungen in der Arbeits- undLebenswirklichkeit zu schließen, set-zen wir nicht erst seit dem BremerEntwurf für das neue Grundsatzpro-gramm auf die Ganztagsschule. Dabeiberufen wir uns gebetsmühlenartig aufdas finnische Modell, mit dem vorallem die Bildungsergebnisse von Kin-dern aus sozial schwachen oder so ge-nannten bildungsfernen Familien sig-nifikant verbessert wurden.

Der Bremer Entwurf erweckt mitder starken Fokussierung auf den Aus-bau der Ganztagsschulen den Ein-druck, als seien sie allein schon eineGewähr für die Lösung unseres Bil-dungsproblems. Als Schulträger habenwir aber längst zu spüren bekommen,dass dem nicht so ist.

Schockstarre überwinden

Rückblende: Als sich die Bundesregie-rung aus der Schockstarre der deut-schen PISA-Ergebnisse gelöst hatte,sah sie in der Ganztagsschule eineMöglichkeit, Bildung und Erziehungwieder stärker zusammen zu rücken.Da der Bund in Sachen Bildung keineKompetenzen hat, versuchte die Bun-desregierung der richtigen Idee durchAuslobung von vier Milliarden EuroFördergeld zum Durchbruch zu ver-helfen.

Als Landkreis sind wir Träger vonSchulen. Von der Richtigkeit des Ge-dankens überzeugt, haben wir frühzei-

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[ schule aus einem guss ]

tig Förderanträge vorbereitet und unsden vorzeitigen Baubeginn genehmigenlassen. Ergebnis: In Trägerschaft desKreises haben wir bis heute erst wenigeGanztagsschulen. Warum sind es nichtmehr? Weil die Lehrerschaft und dieSchulen selbst es nicht wünschen.

Zersplitterung aufgeben

Das Land, dem in Sachen Bildung die„Lufthoheit“ zukommt, kann die Ein-richtung von Ganztagsschulen gegendie Mitwirkungsgremien nicht durch-setzen. Die Landesregierung versucht esnunmehr durch sanften Druck, indemfür Lehrer Präsenzzeiten angeordnetwerden sollen. Das wiederum scheitertvielerorts an fehlenden Lehrerarbeits-plätzen. Dafür jedoch ist der Schulträ-ger zuständig – also Landkreise undKommunen.

Angesichts solcher Eulenspiegeleienbezweifle ich, dass wir mit unserer bil-dungspolitischen Kleinstaaterei für dieAnforderungen der Globalisierung ge-rüstet sind. Ich teile auch nur bedingtdie Auffassung, es fließe zu wenig Geldin die Bildung. Allein wir als Landkreishaben für die komplette Modernisie-rung unserer Förderschulen, Gymna-sien und Oberstufenzentren in den zu-rückliegenden 15 Jahren mehr als eineviertel Milliarde Euro ausgegeben. Ichkenne allerdings keine Statistik, die diesje abgefragt hätte. Ich bin der Überzeu-gung, dass wir unser Steuergeld in Sa-

chen Bildung weit zielgenauer einsetzenkönnten, wenn wir die unselige Splitte-rung von Zuständigkeiten aufgäben.Ich plädiere darum dafür, auch einezweite Zutat des finnischen Erfolgsre-zeptes zu nutzen: Das ist die Zusam-menführung der inneren und äußerenSchulträgerschaft.

Akzeptanz für Leistung

Die Zuständigkeit für die inneren An-gelegenheiten, wie das Personal vomSchulleiter bis zum Hausmeister, unddie äußeren, wie Haushaltsmittel für In-vestitionen und Instandhaltungen, ge-hören in eine Hand. Und zwar in diedes Schulträgers. Dann kann eine Schu-le aus einem Guss, mit einer Philoso-phie entstehen, die in der Region ver-wurzelt ist. Die Bürgerschaft, spezielldie Elternschaft, wirkt als Regulativ undGarant für den Erfolg. Dem Schulträgersteht ein Schulleiter gegenüber, der inseiner Autonomie gestärkt ist. Diese Au-tonomie erwirbt er vor allem durch hoheAkzeptanz in der Bürgerschaft, alsodurch anerkannte Leistung. So lässt sichauch die Identifikation der Lehrerschaftmit dem örtlichen Gemeinwesen unddie Einbindung der Lehrkräfte in dassoziale Umfeld der Schule wieder herstel-len. Schließlich ist das schulische Per-sonal die wichtigste Qualitätsressource.

Die Landkreise sind gegenwärtig ver-antwortlich für Schulgebäude, für tech-nisches Personal sowie für die Schüler-

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[ karl -heinz schröter ]

beförderung. Im Bereich der Jugend-hilfe sind sie bereits für die Erziehung,Bildung und Betreuung von Kindernund Jugendlichen vor und neben derSchule verantwortlich. Die Bildungs-und Erziehungsaufträge von Schule undJugendhilfe haben unterschiedlicheGrundlagen, berühren sich aber. Umwirksame Hilfen einleiten oder besserentbehrlich machen zu können, bedarfes eines frühzeitigen Kontakts. Gegen-wärtig aber haben Jugendhilfe, Sozial-hilfe und die Grundsicherung für Lang-zeitarbeitslose vor allem die Folgen einesVersagens von Schule zu tragen.

Kooperationen verstärken

In der Ganztagsschule werden nach-mittags oftmals Angebote der Musik-schulen und der Volkshochschuleneinbezogen, so dass eine Trennungzwischen staatlichen und kommunalenAngelegenheiten ohnehin kaum nochmöglich ist. Gleiches gilt für den Ein-satz von Schulassistenten und Sozialar-beitern. Beim Übergang vom Kinder-garten zur Schule muss die Kooperationvor der Einschulung der Kinder ver-stärkt werden.

Mit dem Bremer Entwurf sprechensich die Sozialdemokraten für die Stär-kung der Selbständigkeit der Schulenaus. Dazu sollen die Auswahl des Per-sonals und ein verlässliches Schulbud-get gehören. Das ist das richtige Ziel.Der gegenwärtige Weg jedoch, dass

sich die Schule als „Diener zweierHerren“ mit dem Schulamt über dasPersonal und mit dem Träger über dasBudget abstimmen muss, ist holprig.Die Zusammenführung von innererund äußerer Schulträgerschaft ist nachmeiner Überzeugung unabdingbareVoraussetzung für eine starke Schule.

Global denken, lokal handeln

Meine Vision sind zentral vorgegebeneRahmenlehrpläne, die durch Lehrerkreativ ausgefüllt werden, die sich mitder Schule identifizieren und in derRegion Anerkennung und Akzeptanzgenießen. Der kommunale Trägersteht in umfassender Verantwortungund muss dafür den personellen undtechnischen Rahmen setzen. Er unter-liegt der unmittelbaren Erfolgskontrol-le durch die Bürgerschaft und ihrerVertretung sowie durch die Gremiender Schule. Wenn die Schule also bei-spielsweise auf bestimmte soziale Pro-bleme im Umfeld reagieren muss,könnte der Träger sowohl die nötigenFachkräfte wie Psychologen, Schulsozi-alarbeiter und Pädagogen einsetzenund entsprechende materielle Voraus-setzungen schaffen. Oder die Schulesteckt sich das Ziel, verstärkt neue Me-dien einzusetzen. Dann könnte derTräger entsprechend ausgebildete Pä-dagogen und die Anschaffung vonLaptops zusammenführen. Dazu be-dürfte es vor Ort nur eines gemeinsa-

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[ schule aus einem guss ]

men Willens, komplizierte Abstim-mungen oder aufwändige Modellver-suche wären überflüssig.

Ich bin der Meinung, dass Bil-dungsziele und Rahmenpläne auf na-tionaler Ebene definiert werden soll-ten. Schließlich sehen sich Kinder,egal ob sie in Friesland oder dem All-gäu aufwachsen, globalisierten Anfor-derungen gegenüber.

Wenn die Bildung nun aber schonder Tribut (in seiner Wortbedeutungein Opfer) an den Föderalismus ist,dann sehe ich darin nur einen Vorteil.Wir könnten in Brandenburg als rich-tig Erkanntes, wie die Zusammenfüh-rung der Schulträgerschaft, in unseremLand zügig umsetzen.

Begabte mehr fördern

Das träfe auch auf eine wirkliche För-derung Hochbegabter zu. Hierzu fin-det sich in unserem Bremer Entwurfbisher nicht der kleinste Hinweis. Wirsollten uns nicht den Luxus leisten,darauf zu verzichten. Über Finnland,dass in der allgemeinen Schulbildung

anerkanntermaßen in den letzten 20Jahren vorangekommen ist, urteiltThelma von Freymann, profundeKennerin sowohl des finnischen alsauch des deutschen Systems, „dassFinnland sich in Bezug auf die Begab-ten eine enorme Verschwendung ge-sellschaftlicher Ressourcen leistet.“1

Diese Erkenntnis setze sich zuneh-mend auch in der finnischen Gesell-schaft durch.

Die auch bei uns häufig anzutref-fende Meinung, Lehrer könnten imZuge der Binnendifferenzierung so-wohl benachteiligte als auch hochbe-gabte Schüler gleichermaßen fördern,verneint Freymann deutlich.

Die Frage nach der richtigen Förde-rung Hochbegabter von Kindergartenund Grundschule an, ist in Finnlandunbeantwortet. Sie ist es auch bei uns.Bislang widmen sich in Deutschlandfast nur private Spezialschulen diesenKindern. Angesichts der Herausforde-rung der Zukunft, sollten wir unserstaatliches System von der Kita biszum Gymnasium unbedingt auch fürdie Begabtenförderung rüsten. L

1 Thelma von Freymann, geboren in Finnland, gehört zu den profundesten Kennern des finnischen Bildungssystems in Deutschland.Unter anderem arbeitete sie von 1975 bis 1995 am Institut für Angewandte Erziehungswissenschaft und Allgemeine Didaktik an derUniversität Hildesheim.

KARL-HEINZ SCHRÖTER

ist Landrat des Landkreises Oberhavel, Vorsitzender des Landkreistages Brandenburg und Vizepräsident des Deutschen Landkreistages.

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FÜR EINE NEUE FAMILIENPOLITIK MÜSSEN SICH AUCH DIE MÄNNER ÄNDERNVON MARTINA MÜNCH

Ursachen behandeln,nicht Symptome

W ohin man auch guckt: Glückli-che Mütter. Und immer häufi-

ger auch stolze Papas, die Windelnwechseln, zu Hause bleiben und amSandkasten fachsimpeln. Wirtschafts-unternehmen bemühen sich um Fami-lienfreundlichkeit, denen das Themavor nicht allzu langer Zeit allenfallsein Achselzucken abnötigte. Gibt eseinen neuen Kinder- und Familien-kult? Sind wir ein kinderfreundlichesLand geworden? Leider nein.

Viele Nachbarländer sind erfolgrei-cher als Deutschland: Es werden mehrKinder als bei uns geboren, sie habeneine geringere Familienarmut, aber einehöhere Erwerbsquote von Männernund Frauen sowie ein größeres Wirt-schaftswachstum. Es gibt dort mehrKinder in den Familien und mehr Fa-milien in der Gesellschaft. Und – da istdie Entwicklung in Deutschland wiedereinmal langsamer als anderswo – dieRollenverteilung zwischen Männernund Frauen ist anders als bei uns.Gleichberechtigung heißt nämlich vorallem, sich endlich vom patriarchali-

schen Leitbild des männlichen Allein-verdieners zu lösen. Das fällt uns Deut-schen schwer, so schwer, dass es einerkleinen Revolution gleichkam, als dieFamilienministerin zwei obligatorischePapa-Monate einführte, wenn eine Fa-milie in den vollständigen Genuss desElterngeldes kommen möchte. Beson-ders in der traditionell patriarchalischaufgestellten CDU schlagen die Wellendarüber bis heute hoch.

Repräsentative Umfragen zeigen, dass90 Prozent aller jungen Deutscheneigene Kinder wollen. Im Schnitt wün-schen sie sich 1,8 Kinder, sie bekom-men aber nur 1,3. Woran liegt das? Wiekommt es, dass sich junge Frauen undjunge Männer Kinder sehnlichst wün-schen, aber diesen Wunsch zunehmendspät oder nie verwirklichen?

Altes Denken

Familienpolitik ist ein hochideologi-sches Themenfeld – leider. Geradewenn es um die Geburtenrate, umErziehungsbeteiligung oder um De-

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[ mart ina münch ]

mografie geht, sind politische Gra-benkämpfe und Schlagworte beliebt,die an der Lebenswirklichkeit vielerMenschen vorbeigehen, wie etwa „Fer-tilitätsrate“, „Zeugungsverweigerung“oder „Ehegattensplitting“.

Hinzu kommt: Familienpolitik istin Mode gekommen; unter anderemauch, weil der Handlungsbedarf ein-fach übergroß ist. Ganz nüchtern kon-statiert der 7. Familienbericht derBundesregierung, dass die deutscheFamilienförderung der vergangenenJahrzehnte wirkungsschwach gebliebenist. Und das, obwohl der deutscheStaat seit dem Urteil des Bundesver-fassungsberichts 1999 zur Erhöhungder Kinderfreibeträge 10 MilliardenEuro zusätzlich für Familien ausgibt.Das Betreuungsangebot für Kleinkin-der hat sich kaum verbessert, die Ver-einbarkeit von Beruf und Familie istnicht leichter geworden, die Gebur-tenrate hat sich dadurch nicht erhöht.

25 Milliarden für Familien

Am Skandalösesten aber ist die zuneh-mende Kinderarmut, und das trotz dervergleichsweise hohen finanziellenTransferleistungen. Der 7. Familien-bericht hat im vergangenen Jahr ent-hüllt, dass der Staat seinen Ehepaarenund Familien jedes Jahr unglaubliche184 Milliarden Euro zahlt. Der größteBatzen, es handelt sich immerhin um73 Milliarden, geht als Förderung an

Ehepaare in Form von Ehegattensplit-ting und Witwenrente. Die Familienpo-litik via Sozialversicherung kostet insge-samt etwa 25 Milliarden. Die Ausgabenfür Kinderbetreuung machen hingegennur zehn Milliarden aus.

Die Frau soll zu Hause bleiben

Und da kommen wir zu einer Haupt-wurzel unseres Problems: Ehegatten-splitting bringt einer Familie das mei-ste Geld, wenn der Hauptverdienerdas Geld verdient und die Ehefrau zuHause bleibt. Solange die Kinder kleinsind, mag das angehen, aber die Split-tingvorteile gelten auch ohne Kinder.Das heißt, dass durch dieses Steu-erinstrument, das einen großen Teilder Finanztransfers an Familien aus-macht, das traditionelle Rollenmodelldes berufstätigen Mannes und derHausfrau unterstützt wird. Währenddas eigentliche Ziel, Familien mit Kin-dern wirkungsvoll zu unterstützen, nurschlecht erreichen.

Die Bundesfamilienministerin willnun als große Neuerung und gegen er-heblichen Widerstand in den eigenenReihen das sogenannte „Familiensplit-ting“ einführen. Das erhöht prinzipielldie Zielgenauigkeit des Finanzinstru-mentes, es ist aber trotzdem ein Schrittin die falsche Richtung: Auch das Fami-liensplitting kommt besser verdienen-den Familien in weit höherem Maßzugute, weil die Entlastung mit steigen-

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[ ursachen behandeln, nicht symptome ]

dem Steuersatz und damit Einkommensteigt.

Ein Grundproblem ist jedoch daserhöhte Armutsrisiko für Familien undvor allem alleinerziehende Mütter –und mit einem neuen Steuersplittinglösen wir es nicht.

Deutlich wird das bei einem Ver-gleich der wirtschaftlichen Situationder Familien in den geburtenstarkenJahren seit 1960 mit den heutigenZahlen: Die Geburtenrate in Deutsch-land hat sich seit 1965 annähernd hal-biert und der Anteil der Sozialausga-ben verdoppelt. Trotzdem hat sich diefinanzielle Situation der Familien seit-her drastisch verschlechtert: Lebte1965 nur jedes 75. Kind unterhalb derArmutsgrenze, so war es 1998 jedessiebte Kind, Tendenz steigend.

Kitas braucht das Land

So richtig die Einführung des El-terngeldes und die Forderung nach flä-chendeckender Krippenversorgungauch ist: Ein nüchterner Blick inRegionen Deutschlands, wo es eineausreichende Versorgung mit Krippen-plätzen, einen konditionierten Rechts-anspruch ab Geburt und eine nochnicht kinderentwöhnte Gesellschaftgibt, zeigt, wie wenig diese Maßnah-men die Geburtenzahl erhöhen kön-nen. Was im Westen Deutschlands mitriesigem Aufwand in den nächstenJahren aufgebaut werden soll, nämlich

eine flächendeckende Krippenversor-gung und Ganztagsschulen bzw. Hor-te, existiert in den neuen Ländernnicht erst seit der Wende. In denneuen Ländern war die Berufstätigkeitder Frau seit langem selbstverständ-lich, es gab ein weitgespanntes Netzvon finanzieller und gesellschaftlicherund staatlicher Unterstützung. DieGeburtenrate in der DDR lag daherauch deutlich höher als die Rate in derBundesrepublik.

Kein Allheilmittel

Obwohl das Betreuungsnetz nach wievor im gesamtdeutschen Vergleich her-vorragend ist, hinkt die Geburtenratein Ostdeutschland der im Westenmittlerweile sogar hinterher, und das,obwohl der Osten längst da ist, wo dieBundesfamilienministerin hinkommenmöchte.

Daher lohnt es, darüber nachzuden-ken, was junge Frauen und Männervon der Erfüllung ihres zu Beginn vor-handenen Kinderwunsches viel zu oftabhält. Unumgänglich ist es, vor allemdarüber nachzudenken, welchen Ein-fluss Arbeitslosigkeit oder eine unsi-chere berufliche Perspektive mit kaumexistenzsicherndem Lohn haben. WerFamilienpolitik verbessern will, musssie daher in Zusammenhang mit Ar-beitsmarktpolitik, Mindestlöhnen undBildungsdebatte setzen. Auch hierhängt alles mit allem zusammen. El-

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terngeld und Krippenbetreuung sindnur zwei Facetten viel komplexererLösungsstrategien.

Alle Untersuchungen zeigen: Vielzu lange haben wir die Erziehung vonKindern ausschließlich zur Frauensa-che erklärt. Viel zu viele Politiker sa-hen den Lebenssinn von Frauen aufdas Gebären und Aufziehen von Kin-dern, die Förderung der Karriere desMannes und die Pflege der Eltern be-schränkt. Seit der Einführung desErziehungsurlaubes 1986 („familien-politische Offensive“ der CDU) wurdedie Nichterwerbstätigkeit der Müttergeradezu gefördert. Lange Freistel-lungszeiten führen dazu, dassJ die ungleiche Verteilung der Erzie-

hungs- und Haushaltsarbeit zwi-schen Mann und Frau sich weiter-hin fortsetzt;

J die Arbeitszeiten und damit dasEinkommen von Männern undFrauen heute weiter auseinanderdriften als noch vor ein paar Jahren;

J 40 Prozent der betroffenen Frauennicht mehr in ihren Beruf zu-rückkehren, sondern unterhalb ihrerQualifikation oder in Teilzeit arbeiten;

J Mütter sich eine berufliche Karrierezumeist abschminken können.

Der typische Chef ist Ehemannund Vater. Die typische Chefin hinge-gen unverheiratet und kinderlos. Dasalte patriarchalische Leitbild lässt grü-ßen. In der traditionellen gesellschaft-

lichen Sichtweise, die nachhaltig dieGesetzgebung beeinflusst hat, wirdimmer noch davon ausgegangen, dassder Mann die alleinige Ernährerrollehat. In der jüngeren Generation vonMännern stößt dies zunehmend aufUnbehagen. Und nicht von ungefährzeigen Umfragen, dass junge Männersich in höherem Maß als Frauen derZeugung von Kindern verweigern.

Männer müssen umdenken

Immer weniger gut ausgebildete jungeMänner wissen, dass sie nicht miteiner gut dotierten Festanstellung biszum Eintritt des Rentenalters rechnenkönnen, und sie wollen sich dahernicht die Verpflichtung aufladen, al-leinverantwortlich für Frau und Kin-der finanziell sorgen zu müssen. Dazukommt, dass die Männer, die sich be-wusst für ihre Vaterrolle entscheiden,mehr Zeit mit ihren Kindern verbrin-gen möchten. Das wird gesellschaftlichund im Berufsleben bisher kaum ak-zeptiert. Die geringe Inanspruchnah-me des Erziehungsurlaubes durchMänner spricht eine deutliche Spra-che. Es bleibt zu wünschen, dass sichdies auch durch die Papa-Monate desElterngeldes ändern wird.

Die geringe Geburtenrate ist keinFrauenproblem. Männer werden nichtnur als Erzeuger gebraucht, sondernauch als aktive Väter. Wir brauchen einanderes Männerbild, indem Fürsorg-

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[ ursachen behandeln, nicht symptome ]

lichkeit, Verantwortung für Erziehungund die Freude am Zusammenlebenmit Kindern Teil des männlichen Le-bensentwurfs ist. Ein Hoffnungszeichendafür, dass die deutschen Männer mitimmer größerer Begeisterung gute Vätersind, sind die aktuellen Ergebnisse einerUmfrage der Zeitschrift „Eltern“: 75Prozent der befragten 6-12-jährigenKinder sind stolz auf ihren Papa. 80Prozent der Kinder sind sicher, dass ihrVater sie liebt, zwei Drittel können mitihm über alles reden, jedes zweite Kindwird vom Papa ins Bett gebracht.

Bei der Entscheidung für ein Kindkommt erschwerend hinzu, dass sichviele Paare überfordert fühlen, weil sieim Lebensalter zwischen 30 und 40Jahren alles gleichzeitig tun sollen:eine Festanstellung erringen, ein Kindzeugen, ein Haus bauen. Expertensprechen von der „Rushhour“ des Le-bens, weil sich bei beruflich ambitio-nierten Frauen das Zeitfenster für dieFamiliengründung auf höchstens zehnJahre verkürzt.

Hast der Rush-Hour

Es ist ein Mentalitätswandel erforder-lich, wenn wir dieses Problem lösenwollen. Die Forschung belegt, dass daseigentliche Altern heute erst jenseitsder 80 beginnt. Warum teilen wir dieLebensverläufe anders ein? Jutta All-mendinger, ab April Präsidentin desWissenschaftszentrums Berlin für

Sozialforschung (WZB), schlägt bei-spielsweise vor, dass wir bereits in dieMitte des Lebens Phasen der freiwilli-gen Nicht-Erwerbstätigkeit legen, diedann für die Weiterbildung, aber auchfür die Erziehung von Kindern durchMänner und Frauen genutzt werden.

Vom Einsatz der Mittel

Wir dürfen diejenigen, die währendihrer Ausbildung Kinder bekommen,nicht als Bummler betrachten, son-dern müssen ihre Familienbildung un-terstützen. Heutzutage fürchten vieleFrauen – durchaus zu Recht – dass siemit dem Doppelstigma Berufsanfängerund Mutter kaum Chancen auf demArbeitsmarkt haben. Auch nach denersten Jahren in oftmals befristetenbzw. unzureichenden Arbeitsverhält-nissen sollten Erwerbsunterbrechun-gen junger Menschen unterstützt wer-den. Das kann z.B. dadurch gesche-hen, dass Bildungsgutscheine für einganzes Erwerbsleben gelten, aber auchdass angesammelte Rentenpunkte be-reits in der Mitte des Lebens einsetz-bar sind.

Obwohl Deutschland im EU-Ver-gleich sehr viel Geld für Familien aus-gibt, sind die Ergebnisse unterdurch-schnittlich. Woran liegt das? Einfachgesagt: weil die Deutschen ihre Fami-lien nicht richtig unterstützen, weilihre Familienpolitik hinter der dermeisten EU-Staaten „um mindestens

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15 bis 20 Jahre“ (Renate Schmidt)hinterherhinkt. Weil die Bundesregie-rung veraltete Leistungen anbietetoder sie nicht aufeinander abstimmt;weil die Transfers – aufgrund falscherLeitbilder – ins Leere laufen.

Elterngeld als erster Schritt

Der Umbau der finanziellen Förder-maßnahmen ist deshalb im vollenGange. Wir brauchen mehr Geld fürKinderbetreuung und junge Familienund weniger Geld für die Finanzie-rung der Einverdienerehe. Mit dem zuBeginn des Jahres eingeführten Eltern-geldes stabilisiert sich das Familienein-kommen in der ersten Zeit nach derGeburt eines Kindes. Richtig ist, dassauch Besserverdienende mit Kinder-wunsch eine an ihrem Gehalt orien-tierte Einkommenssicherung erhalten.Falsch ist, dass das Elterngeld für ar-beitslose, studierende oder gering ver-dienende Eltern so niedrig bemessenist – denn gerade in diesen Familienkommen die meisten Kinder zur Weltund bedürfen unserer ganzen Auf-merksamkeit. Es ist daher folgerichtig,den Kinderzuschlag für Geringverdie-ner weiter auszubauen.

Familienleistungen für Eltern sindvielfältiger Natur. In finanzieller Hin-sicht fällt auf, dass auf der einen Seitedie Familien die größten Steuerzahler(direkte und indirekte Steuern) sind,sie aber auf der anderen Seite – im

Vergleich zu den Kinderlosen – mate-riell immer ärmer geworden sind.Familienpolitik muss hier ansetzen,um Chancengerechtigkeit für alle Kin-der zu erreichen. Das meint die Ideevom vorsorgenden Sozialstaat: JedesKind soll unabhängig von seiner fami-liären Situation seine Chancen best-möglich entfalten können.

Das erfordert Solidarität zwischenreichen und armen Familien, aber auchzwischen Eltern mit Kindern und Kin-derlosen. Beispielsweise durch eine Ver-änderung unseres Steuersystems, dasbisher vor allem so funktioniert, dasssich Familien über ihr Steueraufkom-men überwiegend selbst finanzieren. Inden skandinavischen Ländern stehenPaare, die annähernd gleich hohe Ein-kommen haben, steuerlich besser da. InDeutschland werden dagegen nach wievor jene besonders bevorzugt, derenEinkommen sehr unterschiedlich sind(Ehegattensplitting).

Sozialisieren statt privatisieren

Kinder sind unsere Zukunft. OhneKinder werden auch die Älteren keinegute Zukunft haben, und auch die Kin-derlosen profitieren durch den Solidar-pakt zwischen den Generationen vonden Kindern. Durch Kinder entstehtein materieller Gewinn für unsere Ge-sellschaft, der Nutzen wird also soziali-siert. Die materiellen Belastungen, dieFamilien durch Kinder gerade in den

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ersten beiden Lebensjahrzehnten entste-hen, werden zu 70 bis 75 Prozent dage-gen von den Familien getragen, sindalso privatisiert. Es ist dringend erfor-derlich, einen gerechteren Familienlas-tenausgleich herbeizuführen.

Ab ins Haus der Geschichte

Wenn wir tatsächlich eine moderne Fa-milienförderung wollen, dann müssenwir das traditionelle Modell des deut-schen Wohlfahrtsstaates ad acta legenund unter der Überschrift „Relikte desIndustriezeitalters“ ins Haus der Ge-schichte verbannen. Denn im Mittel-punkt steht immer noch das veralteteBild des männlichen Alleinverdieners,dessen Arbeit für das Haupteinkommender Familien sorgt. Ihm werden dankHeirat Steuern erlassen, seine gesetzlicheKrankenversicherung schützt Ehefrauund Kinder, noch nach seinem Tod si-chert seine Rente das Auskommen derWitwe. Dieses Modell ist antiquiert undnicht mehr mit der Wirklichkeit verein-bar. Im heutigen Deutschland eignensich junge Männer nicht mehr als Al-leinverdiener auf Lebenszeit, weil dieFrauen mit ihnen in weiten Bereichengleichgezogen haben und geradlinigeBerufskarrieren nicht mehr sicher sind.Es darf auch niemanden verwundern,wenn junge Frauen, in deren Ausbildungin den vergangenen Jahren enorm vielinvestiert wurde und die in vielen Berei-chen mittlerweile auf der Überholspur

sind, mit dem traditionellen Familien-modell nichts mehr anfangen können.

Wer Beruf und Familie für Männerund Frauen will, darf nicht primär Ehen,sondern muss jeden Einzelnen fördern.Das heißt auch, dass nicht mehr Ehenoder Familien, sondern jeder Einzelnebesteuert werden muss.

Ziel muss ein ausreichendes existenz-sicherndes Einkommen von Mann undFrau sein. Das skandinavische Modellzeigt, dass es hilft, die Unabhängigkeitund Erwerbstätigkeit von beiden zu för-dern. Sowohl die Geburtenraten als auchdie Frauenerwerbstätigkeit sind in skan-dinavischen Ländern höher als bei uns.Sogar die Witwenrente konnte man dortabschaffen, weil Frauen mit ihrem eige-nen Einkommen für ihre Rente sorgen.Was zunächst nach Tabubruch klingt,dient letztendlich der Entrümpelung ver-alteter Leitbilder. Und es soll auch Män-ner entlasten und ermutigen, sich denKinderwunsch zu erfüllen, weil die fi-nanzielle Last gerechter verteilt ist.

Gemeinsame Verantwortung

Natürlich sind Finanzen nur ein As-pekt. Es geht vor allem darum, dassMann und Frau Lebensentwürfe ver-wirklichen können, die familiäre undberufliche Erfüllung ermöglichen.Dazu gehört auch die gemeinsameVerantwortung in der Elternzeit unddie Flexibilisierung von Zeitarbeitsmo-dellen, wie z.B. Lebensarbeitszeitkon-

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ten. Entsprechende Modelle gibt es inSkandinavien. Denn deutschen Elternbleibt durch eine hohe Arbeitszeitbe-lastung weniger Zeit, um sie mit ihrenKindern zu verbringen als den euro-päischen Nachbarn.

Eine neue Gleichstellungspolitik

Erforderlich ist dazu eine neue Gleich-stellungspolitik, die nicht bei theoreti-schen Fragen aufhört, sondern praktischeAntworten liefert, wie sich Mutterschaft,Vaterschaft und berufliche Verwirkli-chung vereinbaren lassen. Die neueGleichstellungspolitik muss mehr sein alsDebatten um Feminismus, Männerge-walt, Lohn- und Quotenkämpfe, wennsie durchsetzungsfähige Strategien fürFamilien, für Männer und Frauen errei-chen will. Hier stehen wir noch ganz amAnfang einer wichtigen und nachhalti-gen Debatte.

Nachdenken müssen wir über dastraditionelle Bild von Männern, aberauch von Frauen. Weder die Super-Mami, die Beruf, Ehe und Kinder-schar scheinbar mühelos unter einenHut bringt, noch die einsame Karrie-refrau sind authentische und lebbareRollenentwürfe.

Auch das Fernsehen zeigt kaum dieWirklichkeit, sondern einsame Wöl-finnen oder multitasking begabte Po-werfrauen. Im vergangenen Jahr hatim Auftrag des Familienministeriumsdas Grimme-Institut Mütter- und

Väterbilder im Fernsehen untersucht.Das Ergebnis ist ernüchternd: Diedurchschnittliche deutsche Fernseh-frau ist oft allein, am Tisch wie imBett. Im Schnitt gebiert sie höchstens0,48 Kinder, residiert aber im schmu-cken Eigenheim. Nur selten belastetsie sich mit Haushaltspflichten. Dassihr meist der Mann fehlt, stört sieallenfalls erotisch. Nähmen sich dieDeutschen Fernsehfiguren zum Vor-bild, wäre das Land bald noch kälterund kinderärmer.

Der kleine Unterschied

Zu den größten Wünschen von Kin-derlosen mit Kinderwunsch zählt einkinderfreundlicheres Klima in der Ge-sellschaft. Weil eine familienfreundli-che Infrastruktur aus mehr als Kinder-krippen und -horten besteht, sollte esdarum gehen, Familienpolitik alsQuerschnittsaufgabe anzusehen. Esgeht für alle beteiligten Akteure inStaat und Gesellschaft darum, dietatsächlichen Bedürfnisse von Familienzu erfüllen und sie nach Kräften zuunterstützen. Das afrikanische Sprich-wort „It takes a village to bring up achild“ – man braucht ein ganzes Dorf,um ein Kind großzuziehen – drücktdas kurz und bündig aus. Familie undKinder sind keine Privatangelegenheit,Familien sollten vielfältige Unterstüt-zung erfahren. Umgekehrt wird auchdie ganze Gesellschaft durch Kinder

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reich an Freude, Lebensperspektivenund Zukunft.

Kindersitze als Statussymbol

Unterstützung für Familien fängt damitan, dass man Eltern Respekt entgegen-bringt und beispielsweise nicht voneiner „Rabenmutter“ spricht, wenn eineallein erziehende Frau versucht, Arbeitund Erziehung unter einen Hut zubringen. Das setzt sich damit fort, dasswir Familien nicht zum Objekt staatli-cher Fürsorge machen, sondern sie alsdas anerkennen, was sie sind: Herausra-gende Leistungsträger unserer Gesell-schaft.

Gerade die Sozialdemokratie hat letz-teres immer wieder betont und einenParadigmenwechsel hin zu einem neuenFamilienbild angestrebt, das umso wich-tiger ist, weil ein wachsender Teil derBevölkerung kaum noch Kontakt zuKindern und Jugendlichen hat. UnsereGesellschaft ist zu großen Teilen kinder-entwöhnt.

Erst wenn es selbstverständlich seinwird, dass Kinder dazugehören undwenn nicht mehr das schnelle Auto,sondern die Anzahl der Kindersitze imAuto ein Statussymbol geworden sind,haben wir den entscheidenden Schrittin Richtung eines kinderfreundlichenLandes getan.

Brandenburg ermuntert junge Men-schen, sich für Kinder und Familie zuentscheiden. Die Brandenburger SPD

trägt dabei den Bedürfnissen von Kin-dern, Müttern und Vätern (und zwar indieser Reihenfolge) Rechnung. IhrePolitik steht für eine flächendeckendeBetreuung in Krippen und Kitas, in diefast alle Brandenburger Kinder gehen.Wir haben erkannt: An den Zukunfts-und Bildungschancen von Kindernmisst sich das Schicksal unseres Landesinsgesamt. Auch bei immer mehr Un-ternehmen ist heute Familienfreund-lichkeit ein Standortfaktor. Im Interesseunserer Kinder wollen wir erreichen,dass Männer und Frauen von Anfangan mit Rat und Tat unterstützt werden.

Brandenburger Projekte

67 Brandenburger Projekte haben wirim bundesweit vorbildlichen „Maß-nahmepaket für Familien- und Kin-derfreundlichkeit“ in Angriff genom-men. So bauen wir beispielsweiseEltern-Kind-Zentren aus und initiier-ten das Modellprojekt „Lokale Netz-werke Gesunde Kinder“ zur Förde-rung in den ersten Lebensjahren. Esgibt mittlerweile 15 „Bündnisse fürFamilien“ in Brandenburg.

Kinderbetreuung ist in Branden-burg kein Elternrecht, das auf die Kin-der berufstätiger Eltern zielt, sondernein Kinderrecht, das ein neues Verhält-nis von öffentlicher und privater Ver-antwortung beinhaltet. KostenfreieVorsorgeangebote von der Geburt biszur Einschulung, eine verbesserte Ver-

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netzung zwischen Gesundheits-, Ju-gend- und Sozialämtern sowie neueAnsätze in der Kindergartenpädagogiksind unsere konkreten Ziele. Es sprichtbeispielsweise nichts dagegen, einemVierjährigen bereits Buchstaben undZahlen beizubringen. Manche habensogar Interesse an Frühenglisch. Odermit Zoo- und Schwimmbadbesuchen,Turnen, Tanzen und Gestalten in derKrippe vor allem die Chancen derKinder zu verbessern, deren Eltern einbreites Angebot nicht finanzieren oderorganisieren können. Die Berufstätig-keit von Müttern und Vätern ist inBrandenburg schon lange selbstver-ständlich. Bereits jetzt schon hat Bran-denburg die dritthöchste Frauen-Be-

schäftigungsquote in der EU, nachDänemark und Schweden. Das hatnicht zuletzt etwas mit unserem gutenKita-Netz zu tun.

Familienfreundliche Infrastrukturhat etwas mit Wohnungsangeboten,Stadtplanung, Freizeitmöglichkeiten,Erreichbarkeit und einem vielfältigenbezahlbaren Bildungsangebot zu tun.

Neue Männer braucht das Kind

In den Schulen wollen wir die Kinderso erziehen, dass Mädchen und Jungengleichberechtigte Partner sind. Wichtigist das Erleben von positiven männli-chen Vorbildern gerade für Jungen.Statistisch gesehen beteiligen sich zwar

Männer, die Elternzeit genommen haben oder darüber nachdenken

Quelle: European Opinion Research Group 2004

Deutschland Frankreich Großbritannien Schweden

4 %1 % 2 % 3 %

7 % 6 %

18 %

34 %

für ein/das erste Kind für mehrere/alle Kinder

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[ ursachen behandeln, nicht symptome ]

junge Männer mehr als vor zwanzigJahren bei der Hausarbeit – aber nursolange beide erwerbstätig und nochkinderlos sind. Es fehlt an überzeugen-den männlichen Vorbildern, die Für-sorglichkeit und Verantwortung auchals Väter selbstbewusst leben. Hiergibt es noch viel zu tun.

Es bewegt sich was

In Brandenburg ist der traditionellegirls´day längst ein boys´and girls´daygeworden, an dem auch Jungen sichüber traditionelle Frauenberufe infor-mieren. Es gibt viele Schulpraktikan-ten in Kindergärten, die begeistert vonihren guten Erfahrungen berichten. Esgelingt noch viel zuwenig, diese Freu-de am Umgang mit Kindern in Berufeals Erzieher oder Grundschullehrerumzusetzen. Aber es ist langsam etwasin Bewegung gekommen.

Die Abkehr vom patriarchalischenRollenmodell bedeutet für Männerund Frauen die Chance, ihren Lebens-weg ohne die Einengung in antiquier-te Rollenmuster zu leben und zu wirk-licher Gleichberechtigung und gleicherLebenserfüllung zu gelangen: Der Er-füllung im Beruf und der Erfüllungund großen Freude bei der Verwirkli-chung des Kinderwunsches. Familienwerden in ihrer großen Verantwortungvon der Gesellschaft bestmöglich un-terstützt und gefördert. So haben wirdie Chance, dass Deutschland einLand wird, in dem Kinder nicht län-ger die Ausnahme, sondern die Regelsind. Diesem Ziel hat sich moderneFamilienpolitik verschrieben. Wennwir diesen erfolgreichen Weg fortset-zen, werden bald in mehr als nur 25Prozent aller Haushalte Kinder leben.Und Familienpolitik wäre keine Min-derheitenpolitik mehr. L

DR. MARTINA MÜNCH

ist Landtagsabgeordnete in Brandenburg und stellvertretende SPD-Landesvorsitzende.

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Das Debattenmagazin

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,– EUR inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten als Einzelheft erhältlich oder im Abonnement zu beziehen: Jahresabo 30,– EUR; Studentenjahresabo 25,– EUR

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Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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WIE DER NEUE SOZIALSTAAT AUSSEHEN SOLL

TOBIAS DÜRR : Vom Nutzen der Zuversicht

THOMAS KRALINSKI : Ostdeutschland gibt es nicht

TILL MEYER : Mehr Demokratie wagen

KLAUS FABER : Nach der Föderalismusreform

MATTHIAS PLATZECK | JENS BULLERJAHN : Mehr Lebenschancen für mehr Menschen

ANTHONY GIDDENS : Vom negativen zum positiven Sozialstaat

WOLFGANG SCHROEDER : Vorsorge ist besser als Nachsorge

KARPINSKI | REINISCH | WEBER : Von Anfang an gesund aufwachsen

KARL-HEINZ SCHRÖTER : Schule aus einem Guss

MARTINA MÜNCH : Ursachen behandeln, nicht Symptome

Der VorsorgendeSozialstaat

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 33 FEBRUAR 2007 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de alspdf-Datei herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnengerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigener KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun, Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert H

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SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550