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HAUSHALTSPOLITIK ZWISCHEN KONSOLIDIERUNG UND AUFBAU OST MATTHIAS PLATZECK : Demografie und Zukunft THOMAS KRALINSKI : Die demografische Transformation RAINER SPEER : Finanzpolitik für Brandenburg TOBIAS DÜRR : Sparen mit Speer – und was noch? NIKOLAUS VOSS : Umbau Ost statt Weiter-so-Aufbau-Ost OLIVIER HÖBEL : Von Luxembourg lernen, heißt siegen lernen TINA FISCHER : Grips statt Beton CARSTEN STENDER : Bürokratieabbau für Brandenburg ERARDO CHRISTOFORO RAUTENBERG : Schwarz-Rot-Gold Ohne Moos nix los? BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 26 APRIL 2005 www.perspektive21.de

perspektive21 - Heft 26

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Ohne Moos nix los?

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Page 1: perspektive21 - Heft 26

HAUSHALTSPOLITIK ZWISCHEN KONSOLIDIERUNG UND AUFBAU OST

MATTHIAS PLATZECK : Demografie und Zukunft

THOMAS KRALINSKI : Die demografische Transformation

RAINER SPEER : Finanzpolitik für Brandenburg

TOBIAS DÜRR : Sparen mit Speer – und was noch?

NIKOLAUS VOSS : Umbau Ost statt Weiter-so-Aufbau-Ost

OLIVIER HÖBEL : Von Luxembourg lernen, heißt siegen lernen

TINA FISCHER : Grips statt Beton

CARSTEN STENDER : Bürokratieabbau für Brandenburg

ERARDO CHRISTOFORO RAUTENBERG : Schwarz-Rot-Gold

Ohne Moos nix los?

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 26 APRIL 2005 www.perspektive21.de

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältere Exemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de alspdf-Datei herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnengerne auch auf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 13 Kräfteverhältnisse – Brandenburgisches ParteiensystemHeft 14 Brandenburgische IdentitätenHeft 15 Der Islam und der WestenHeft 16 Bilanz – Vier Jahre sozialdemokratisch-bündnisgrünes ReformprojektHeft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?!Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigener Kraft H

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los?

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

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Das neue DeutschlandDie Zukunft als ChanceHerausgegeben von Tanja Busse und Tobias Dürr336 Seiten. Broschur. s 15,90 (D)ISBN 3-351-02553-X

Kr ise im Westen, Umbruch im Osten – wie wir gemeinsamChancen beg rei fen und Refor men durchsetzen. Mit Bei trägenvon: Frank Decker, Wolfgang Engler, Matthias Platzeck, UweRada, Landol f Scherzer, Alexander Thumfar t und vie len anderen

W W W. A U F B A U -V E R L A G . D E

aufbauV E R L A G

Das neueDeutschland

Das Debattenmagazin

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Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR im Zeitschriftenhandel erhältlich oder im Abonnement zu beziehen:

als Jahresabo zum Preis von 30,- EURals Studentenjahresabo zum Preis von 25,- EUR

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich

Wieviel Einspruch verträgt der Mainstream? Heute regieren die 68er – aber was kommt,

wenn sie fertig haben? Die Berliner Republik ist der Ort für eine neue politische Generation:

undogmatisch, pragmatisch, progressiv. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

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Ohne Moos nix los?I st Sparen sexy? Wohl kaum. Für den Staat bedeutet Sparen – oder neudeutsch:

Haushaltskonsolidierung – weniger Geld auszugeben, weniger Grundsteine zulegen, weniger Fördermittelbescheide zu übergeben. Kurzum staatliche Leistun-gen für jeden einzelnen Bürger einzuschränken. Nicht nur für die Menschen,auch für die Politik keine Situation, die die innere Befriedigung erhöht. OhneMoos also nix mehr los in Brandenburg, im Osten, in ganz Deutschland? Aufjeden Fall nicht mehr so viel wie in den ersten 15 Jahren nach der Wende. Obdas in der Vergangenheit mehr ausgegebene Geld jedoch immer sein Ziel erreichthat, ist dabei noch eine ganz andere Frage.

Haushaltskonsolidierung führt in Brandenburg aber auch künftig nicht zumStillstand. Im Gegenteil: Angesichts einer im Vergleich zu den westdeutschenFlächenländern immer noch doppelt so hohen Investitionsquote von gut 20 Pro-zent werden von staatlicher Seite deutliche Impulse für Wirtschaft und Arbeits-plätze gesetzt. Brandenburgs neuer Finanzminister Rainer Speer und Tobias Dürrgeben dazu in ihren Beiträgen genug Stoff zum Nachdenken.

Haushaltskonsolidierung und die Neuausrichtung der Förder- und Strukturpo-litik sind in diesen Monaten die Schwerpunkte brandenburgischer Landespolitik.Und es braucht keines Propheten, um vorauszusagen, dass diese Themen auch inden kommenden Jahren die politische Agenda bestimmen werden. Und das allesgeschieht vor dem Hintergrund eines demografischen Wandels, der unser Land inden nächsten Jahrzehnten in fast allen denkbaren Bereichen dramatisch verändernwird. Matthias Platzeck und Thomas Kralinski beschreiben in ihren Beiträgen diespezifischen brandenburgischen Ausprägungen dieser demografischen Revolutionund geben erste Antworten.

Politik in Brandenburg bleibt spannend, denn dieses Land ringt um eineErneuerung aus eigener Kraft. Dazu ist es notwendig, wie Platzeck es formuliert,„das Land in ein Gespräch über seine Zukunft zu verstricken“. Mit dieserAusgabe der Perspektive wollen wir dazu einen Beitrag leisten.

KLAUS NESS

[ editorial ]

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[ impressum ]

2 heft 26 | april 2005

HERAUSGEBER

SPD-Landesverband Brandenburg

Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie in

Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vor-

pommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (ViSdP), Thomas Kralinski (lei-

tender Redakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias

Dürr, Dr. Klaus Faber, Tina Fischer, Klara

Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß,

Till Meyer, Manja Orlowski

ANSCHRIFT – SPD-LANDESVERBAND

Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

Telefon: 0331/200 93 -0

Telefax: 0331/270 85 35

ANSCHRIFT – WISSENSCHAFTSFORUM

c/o Klaus Faber

An der Parforceheide 22, 14480 Potsdam

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E-MAIL : [email protected]

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weberpress. Daniela Weber

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Ohne Moos nix los?HAUSHALTSPOLITIK ZWISCHEN KONSOLIDIERUNG UND AUFBAU OST

MAGAZIN—

MATTHIAS PLATZECK: Demografie und Zukunft – Nicht nur in Ostdeutschland wird die Bevölkerungsentwicklung das Land verändern . . . . . . 5

THOMAS KRALINSKI: Die demografische TransformationEine kleine Einführung in die Brandenburger Bevölkerungsentwicklung . . . . . . 9

THEMA—

RAINER SPEER: Finanzpolitik für BrandenburgWarum das Land sparen und gleichzeitig investieren muss . . . . . . . . . . . . . . . 25

TOBIAS DÜRR: Sparen mit Speer – und was noch?Wie man ein Produkt verkauft, das eigentlich niemand haben will . . . . . . . . . 43

NIKOLAUS VOSS: Umbau Ost statt Weiter-so-Aufbau-OstDie neuen Länder brauchen mutige politische Entscheidungen . . . . . . . . . . . 53

OLIVIER HÖBEL: Von Luxembourg lernen, heißt siegen lernenMindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen in der EU? . . . . . . . . . . . . 61

TINA FISCHER: Grips statt Beton oder warum die aktuelle Diskussion um den Solidarpakt zur richtigen Zeit kommt . . . . . . . . . . . . . . . 67

CARSTEN STENDER: Bürokratieabbau für BrandenburgAnwendungsfreundliche Rechtssetzung statt Flucht vor Gemeinwohlpflichten . . 77

ERARDO CHRISTOFORO RAUTENBERG: Schwarz-Rot-GoldDas Symbol für die nationale Identität der Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .87

[ inhalt ]

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5perspektive21

NICHT NUR IN OSTDEUTSCHLAND WIRD DIE BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG DAS LAND VERÄNDERNVON MATTHIAS PLATZECK

Demografie und Zukunft

W ie andere Menschen auch beschäftigen sich Politiker am liebsten mit Pro-blemen, für die sie schnelle Lösungen anbieten können. Das ist verständ-

lich, zugleich aber der Grund dafür, dass sich die Politik in Deutschland nochimmer viel zu zögerlich dem Thema der Bevölkerungsentwicklung annähert.Denn für die dramatischen Herausforderungen unserer demografischen Zukunftgibt es nun einmal per Definition keine „Patentlösungen“.

Die Rechnung ist einfach: Kinder, die vor 15 Jahren nicht geboren wurden,werden weder in fünf noch in zehn Jahren oder später ihrerseits Nachwuchs be-kommen. Sie sind einfach nicht da. Alle diese nicht geborenen Menschen werdenunserem Land in den kommenden Jahrzehnten als produktive Arbeitskräfte feh-len – also ausgerechnet dann, wenn die Zahlen der zu versorgenden Rentner ih-ren höchsten Stand erreichen. Ändern lässt sich daran nichts mehr. Das nichtgeborene Kind ist längst in den Brunnen gefallen.

Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat das Demografiedilemma derPolitik klar beschrieben: „Da politische Macht in einer Demokratie durch Wah-len errungen wird, für deren Erfolg sich das Versprechen einer sorglosen Zukunftals ein geeignetes Mittel erwiesen hat, ist die Verdrängung der demografischenProbleme zu einer heimlichen überparteilichen Staatsräson unseres demokrati-schen Wohlfahrtsstaats geworden.“ Birgs bitterer Schluss: „Wer dem Wähler alserster die Wahrheit sagt, der hat verloren.“

Aber Angst ist kein guter Ratgeber. An Birgs Faustregel hat sich Politik inDeutschland viel zu lange gehalten. Auch unter den Bürgern herrscht daher verbrei-tete Unkenntnis über die unausweichlich bevorstehenden Prozesse der Schrumpfungund Alterung unserer Gesellschaft. Noch 2003 ergab eine Umfrage, dass 52 Pro-zent aller Deutschen von dem Begriff demografische Entwicklung noch niemalsauch nur gehört hatten. Die Folge ist ein gefährlicher Kreislauf: Weil der Politikkeine sofort wirksamen Lösungen einfallen, schiebt sie das demografische Pro-

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[ matthias platzeck ]

blem auf die lange Bank – und weil sie das tut, verstehen die Bürger nicht, wasunweigerlich auf unser Land zukommt. So geht kostbare Zeit verloren: Der über-fällige Kurswechsel wird immer wieder vertagt.

In Brandenburg haben wir uns entschlossen, diesen verhängnisvollen Kreislaufaus Verdrängung und Unkenntnis endlich zu durchbrechen. Die Voraussetzungdemografischer Zukunftsfähigkeit ist Aufklärung: die schonungslose Auseinander-setzung mit der demografischen Realität und ihren Folgen. Diese Debatte istdringend nötig, denn nichts verunsichert Menschen so sehr wie Probleme, diezwar im Alltag wahrgenommen, aber im Kern nicht begriffen werden. Demogra-fische Bildung wird zu einer Schlüsselaufgabe demokratischer Politik.

Tatsächlich ist die demografische Zukunft in ihren vielfältigen Facetten längstangebrochen. Beileibe nicht nur in Ostdeutschland leben die Menschen schonheute inmitten des dramatischen Wandels. Abwanderung und zunehmender Woh-nungsleerstand, die Schließung von Schulen, Bibliotheken und Schwimm-bädern,ländliche Regionen mit immer weniger jungen Menschen und Dörfer ohne Kin-der – das alles ist bereits heute Wirklichkeit: „Von Sachsen über Thü-ringen bisins Ruhrgebiet zieht sich eine regelrechte Schneise der Entvölkerung quer durchdie Republik“, heißt es in einer aktuellen Studie zu den demografi-schen Perspek-tiven bis 2020. Mit anderen Worten: Was heute schon im Osten geschieht, stehtauch im Westen mit voller Wucht bevor.

Zusammenhalt und Lebenschancen neu organisieren

Zugleich aber entstehen in Deutschland und Europa moderne neue Ballungs-räume: verdichtete Boomregionen mit dichter internationaler Vernetzung. Siewerden in den kommenden Jahren immer heftiger um die rapide schwindendeZahl qualifizierter Arbeitskräfte konkurrieren. Vor allem Baden-Württemberg undBayern sind heute die Gewinner der enormen innerdeutschen Wanderung. Aberauch das brandenburgische Umland von Berlin gilt allen einschlägigen Untersu-chungen zufolge als eine der zukunftsträchtigsten Regionen Deutschlands. Fürdie kommenden Jahrzehnte werden ihr daher beträchtliche weitere Bevölkerungs-zuwächse vorausgesagt.

So intensiv wie kein zweites Bundesland erlebt Brandenburg daher die gegen-läufigen Prozesse von Bevölkerungsschrumpfung und -wachstum zugleich. Dassdiese Lage in den einzelnen Regionen des Landes Hoffnungen und Ängste inhöchst unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auslöst, ist nur zu begreiflich.Während die einen zu Recht neue Chancen erkennen, fürchten sich andere davor,

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[ demografie und zukunft ]

dauerhaft „abgehängt“ zu werden. Harte innergesellschaftliche Konflikte könnendie Folge sein. Zusammenhalt, Bildung und Lebenschancen für alle unter radikalveränderten sozialräumlichen Bedingungen neu zu organisieren, wird zur zentra-len Frage demokratischer Politik. Völlig neue Verhältnisse erfordern völlig neueIdeen. Brandenburg muss deshalb auf dem Weg in die demografische Zukunfts-fähigkeit Vorreiter in Deutschland sein.

In den kommenden Jahren werden sich gerade vor Ostdeutschland demografi-sche Herausforderungen auftürmen, für die sich in der Vergangenheit keine Bei-spiele finden. Im Jahr 2020 werden die Zuweisungen des Solidarpakts II endgültigausgelaufen sein. Bis dahin müssen die neuen Länder auf ihren eigenen Beinen ste-hen – und laufen. Noch also bleibt uns Zeit. Mit großer Sicherheit „abgehängt“wird Ostdeutschland nur, wenn wir sie ungenutzt verstreichen lassen. Brandenburgdarf und wird diesen Fehler nicht begehen. ■

MATTHIAS PLATZECK

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburgund SPD-Landesvorsitzender.

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[ matthias platzeck ]

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9perspektive21

EINE KLEINE EINFÜHRUNG IN DIE BRANDENBURGER BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNGVON THOMAS KRALINSKI

Die demografischeTransformation

E ine Stadt in Brandenburg. Vieles wirkt unfertig, manche Straße ist eher eine Sand-piste, vieles ist in Bewegung. Falkensee ist die am schnellsten wachsende Kommu-

ne Deutschlands, bis 2020 wird sich die Einwohnerzahl auf 44.000 verdoppelt haben.Die Stadt wirkt lebendig – und jung. An allen Ecken wird gebaut, die Gewerbegebietefüllen sich. Der Bedarf an neuen Kitas und Grundschulen ist groß. Ganz anders imSüdwesten Brandenburgs. Der ICE gleitet durch Jüterbog – das Zeichen der modernenZeit hält nicht. Rechts und links der Bahntrasse – Leere. Im Ort selbst: renovierte Häu-ser, hergerichtete Straßen – und Ruhe. Die Stadt schrumpft, wenn auch langsamer alsanderswo. Mit dem Regionalexpress ist man demnächst in nur noch 45 Minuten in Ber-lin – dies ist der Hoffnungsschimmer für einen Ort, der an manchen Stellen wirkt, alswäre er mit seinen neuen Fassaden ein potemkinsches Dorf.

Unlängst befragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa die Deutschen überihre Vorstellungen zum demografischen Wandel. Das nüchterne Ergebnis: nur 7Prozent der Befragten konnten exakt beschreiben, was sich hinter demografis-chem Wandel verbirgt. Und dass, obwohl sich ein Großteil der politischen Eliteeinbildet, das Thema schon lange zu kennen.

Demografie als Elitenthema

Aber Elitendiskurs hin oder her – beim Volk ist die Bevölkerungsveränderungnoch nicht angekommen. Zwar mögen die Menschen die eine oder andere Aus-wirkung spüren – komplexe Zusammenhänge sind noch nicht erkannt. DieselbeUmfrage hat aber auch versucht, nach den Gründen für das Unwissen zu for-schen. Ergebnis: Für die Mehrheit ist das Thema komplett neu und sie fühlensich von Politik und Medien nicht informiert. Und: Drei Viertel der Deutschenglauben, dass die Politik weder den Mut hat, diese unangenehmen Fakten untersVolk zu tragen noch die Probleme wirklich lösen kann.

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[ thomas kral inski ]

Fangen wir also ganz vorne an. Wo steht das demografische Brandenburg? In Brandenburg kommen zu wenig Kinder zur Welt. Und das schon seit 1970.

Damals bekamen 20 Frauen und Männer 22 Kinder – das waren etwas mehr als die21, die rein statistisch zum Erhalt der Einwohnerzahl ohne Zuwanderung nötig sind.Seit den siebziger Jahren sank die Geburtenrate langsam – abgesehen von einem kur-zen Anstieg um das Jahr 1980 (dem so genannten „Honecker-Buckel“) aufgrund der„sozialpolitischen Maßnahmen“ in der DDR. An diesem „Honecker-Buckel“ lässtsich auch gut das „demografische Echo“ studieren. Zum einen ergaben sich die ho-hen Kinderzahlen damals auch aufgrund der großen Elterngeneration, die als Baby-boomer nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt kamen. Die vielen Kinder des „Ho-necker-Buckels“ werden wiederum in ein paar Jahren dafür sorgen, dass die Zahl derNeugeborenen wieder etwas steigt.

Wieder etwas mehr Geburten

Zur Wende lag die Geburtenrate bei 16 Kindern pro 20 Männer und Frauen.Danach brach die Zahl der Neugeborenen in nie da gewesener Geschwindigkeitein. Der Tiefststand wurde 1993 mit nur 7 Kindern auf 20 Männer und Frauenerreicht – eine der tiefsten Geburtenraten der Welt.

Seitdem steigt die Geburtenrate wieder leicht an, allerdings ist sie mit 1,2 Kindernpro Frau nach wie vor eine der niedrigsten in Deutschland und Europa. Es gibt ver-

Zahl der Geburten in Brandenburg 1960 bis 2020

Quelle: LDS; * = Prognose

1960 1970 1980 1990 2000 2010* 2020*

50.000

37.00040.000

29.000

18.000 17.00015.000

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11perspektive21

[ die demografische transformation ]

schiedene Ursachen für den Einbruch der Geburtenrate: ein deutlicher Anstieg desDurchschnittsalters der Mütter, die starke Abwanderung junger Frauen sowie diewirtschaftlichen und sozialen Unsicherheiten der Nachwendezeit. Der leichte Anstiegder Geburtenrate seit Mitte der neunziger Jahre geht mit einer regionalen Aufspal-tung einher – im Berliner Umland ist die Zahl der Neugeborenen höher als in denäußeren Regionen (während vor der Wende die Geburtenrate in den ländlichen Re-gionen höher war). Darüber hinaus ist in Ostdeutschland ein Trend zu beobachten,der sich bereits seit vielen Jahren in den alten Ländern abzeichnet: Vor allem die jun-gen und gut ausgebildeten Frauen verzichten mehr und mehr auf Familiengründung.

In den kommenden Jahren wird erwartet, dass die Geburtenrate sich auf niedrigemNiveau bei 13 Kindern auf 20 Männer und Frauen stabilisieren wird. Gleichwohl wirddie Zahl der Neugeborenen weiter sinken, da die Zahl der potenziellen Mütter sinkt.Gerade als Folge des Geburtenknicks nach der Wende werden ab 2012 auch die Kin-derzahlen weiter zurückgehen. Dieses „demografische Echo“ wird sich dann jede Ge-neration wiederholen. Besonders stark wirkt sich dies in den äußeren Regionen desLandes aus. Dort sinkt die Zahl der 15-45jährigen Frauen von 322.000 (2002) aufnur noch 191.000 (-41 Prozent). Im Berliner Umland ist der Rückgang der potenziel-len Mütter nur halb so groß – ihre Zahl geht von 207.000 auf 160.000 (-22 Prozent)zurück.

Lebenserwartung steigt

Während die Zahl der Kinder in Brandenburg rapide sinkt, steigt die Lebenser-wartung im Land. Seit der Wende ist sie für Männer um fast fünf und die derFrauen um knapp vier Jahre gestiegen auf 74 bzw. 81 Jahre. Der Trend zur höhe-ren Lebenserwartung setzt sich auch in den kommenden Jahren fort – und wird2020 bei 76 Jahren für Jungen und 83 Jahren für Mädchen liegen, womit das Ni-veau der alten Bundesländer erreicht würde. Die steigende Lebenserwartung fälltin den kommenden Jahren mit der älter werdenden „Babyboomer“-Generationder Nachkriegszeit zusammen. So wird die Zahl der über 60jährigen von 640.000auf 822.000 im Jahr 2020 (+28 Prozent) steigen. Noch stärker ist der Anstieg beiden über 80jährigen von 87.000 auf 183.000 (+112 Prozent).

Das Berliner Umland ist dabei besonders stark von der Alterung betroffen –dort steigt bis 2020 die Zahl der über 60jährigen um 45 Prozent und die derüber 80jährigen um 134 Prozent. Dabei wirken sich die hohen Zuzüge der neun-ziger Jahre aus, als vor allem die Altersgruppe der 30-40jährigen aus der Stadt indas Berliner Umland gezogen ist.

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[ thomas kral inski ]

Durch die zunehmende Alterung der Brandenburger Bevölkerung und die sin-kenden Kinderzahlen wird das Geburtendefizit (also der Saldo aus Neugeborenenund Sterbenden) in den kommenden Jahren immer größer. Im Jahr 2002 betrugdieser negative Saldo 9.000, im Jahr 2020 wird er bei 21.000 liegen. Bis dahinwird insgesamt eine Viertel Million Brandenburger mehr gestorben als geborensein.

Dieser Saldo könnte allein durch Wanderung nach Brandenburg ausgeglichenwerden. Und um es gleich vorwegzunehmen: Bis 2020 wird damit gerechnet, dassper saldo (nur) 89.000 Menschen nach Brandenburg ziehen werden – woraus sichein Defizit von 171.000 Menschen ergibt.

Die Wanderung ist damit das zweite bestimmende Element der Bevölkerungs-entwicklung und lässt sich in drei Elemente unterscheiden. Da ist zum einen dieWanderung mit dem Ausland, die sich vor allem auf Aussiedler und Asylbewerberbezieht. Zwischen 1990 und 2003 sind per saldo 120.000 Menschen aus demAusland nach Brandenburg gezogen, die Mehrzahl zwischen 1992 und 1996. DerAusländeranteil beträgt damit 2,6 Prozent – und ist einer der niedrigsten derBundesrepublik. Bisher ist nicht anzunehmen, dass die Zuwanderung aus demAusland deutlich ansteigen wird, da Zuwanderung in der Regel zu Arbeitsplätzenund zu bereits bestehenden Netzwerken hin erfolgt.

Weiblich, ledig, jung, sucht …

Die zweite Wanderungswelle vollzieht sich zwischen Brandenburg und den altenBundesländern. Seit 1990 ist dieser Wanderungssaldo durchgängig negativ, hatsich Mitte der neunziger Jahre abgeschwächt und ist seit 1997 wieder wachsend.In den vergangenen Jahren haben sich bei den Fortzüglern mehrere Schwerpunk-te herauskristallisiert. So ist die Mehrzahl der Abwanderer zwischen 18 und 30Jahre alt (2003: 47 Prozent), auch ist der Frauenanteil überdurchschnittlich groß(bei den 18-25jährigen in 2003: -50,5 pro 1.000 Frauen, -37,1 pro 1.000 Män-ner). In der Summe wandern vor allem die jungen Frauen und damit auch zu-künftige Mütter ab. Wanderungsanalysen weisen auch darauf hin, dass das Bil-dungsniveau der Abwanderer etwa doppelt so groß ist wie im Durchschnitt derBevölkerung. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, dass die Abwande-rung der jungen Menschen in den nächsten Jahren deutlich zurückgehen wird –vor allem weil die Zahl der jungen Menschen infolge des Geburtenknicks derNachwendezeit deutlich kleiner wird.

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[ die demografische transformation ]

Während sich Anfang der neunziger Jahre die Abwanderung noch quer über dasganze Land legte, sind es seit 1993 vor allem die äußeren Regionen des Landes, dievon der Abwanderung in die alten Länder besonders hart getroffen werden. Bis zu 5Prozent der Generation der 18-25jährigen sind pro Jahr aus den peripheren Regionenabgewandert. Pro Jahr verlassen per saldo etwa zwischen 11.000 und 18.000 Men-schen die äußeren Regionen – das entspricht einer Stadt wie Angermünde. Im BerlinerUmland hingegen hat es seitdem eine Zuwanderungswelle gegeben, mit der per saldoüber 231.000 Menschen (1991 bis 2003) nach Brandenburg gezogen sind. Dabeiliegt der Altersschwerpunkt bei den 30- bis 50jährigen sowie deren Kindern. Progno-stiziert wird, dass der positive Wanderungssaldo im Berliner Umland auch in denkommenden Jahren – wenngleich deutlich kleiner – erhalten bleibt. Allerdings wirdsich eine deutlich stärkere räumliche Differenzierung bemerkbar machen.

Veränderung in %1990- 2003- 1990-

1990 2003 2020 2003 2020 2020

Brandenburg/Havel 92.400 75.500 66.100 -18,3 -12,5 -28,5

Cottbus 132.300 107.500 95.400 -18,7 -11,3 -27,9

Frankfurt/Oder 86.200 67.000 58.600 -22,3 -12,5 -32,0

Potsdam 140.900 145.000 162.500 2,9 12,1 15,3

Barnim 150.700 174.000 166.300 15,5 -4,4 10,4

Dahme-Spreewald 142.900 160.200 150.900 12,1 -5,8 5,6

Elbe-Elster 142.700 125.500 110.300 -12,1 -12,1 -22,7

Havelland 132.300 153.300 158.700 15,9 3,5 20,0

Märkisch-Oderland 174.400 191.700 184.900 9,9 -3,5 6,0

Oberhavel 169.100 197.100 194.300 16,6 -1,4 14,9

Oberspreewald-Lausitz 166.400 136.300 115.600 -18,1 -15,2 -30,5

Oder-Spree 193.800 193.100 172.600 -0,4 -10,6 -10,9

Ostprignitz-Ruppin 118.800 110.100 97.700 -7,3 -11,3 -17,8

Potsdam-Mittelmark 172.300 201.300 200.300 16,8 -0,5 16,3

Prignitz 109.400 91.200 77.600 -16,6 -14,9 -29,1

Spree-Neiße 157.400 141.300 124.400 -10,2 -12,0 -21,0

Teltow-Fläming 150.100 161.100 151.700 7,3 -5,8 1,1

Uckermark 170.400 143.400 123.500 -15,8 -13,9 -27,5

Bevölkerungsentwicklung in den Kreisen des Landes

Quelle: LDS, LUW, eigene Berechnungen

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14 heft 26 | april 2005

[ thomas kral inski ]

Zwei Drittel des Bevölkerungszuwachses bis 2020 von 53.000 Menschen imUmland wird sich auf Potsdam und das Havelland konzentrieren. Im südöstli-chen Teil des Berliner Umlandes werden sogar Bevölkerungsverluste prognosti-ziert (wobei diese Beurteilung mit Blick auf den neuen Flughafen Schönefeldsicherlich noch nicht abschließend ist, wenn man sich die Entwicklung in ähnli-chen Regionen wie um den neuen Münchener Flughafen ansieht).

Die Wanderungsströme illustrieren die demografische Zweiteilung des Landes.Die äußeren Regionen sind gekennzeichnet durch hohe Abwanderung, niedrigeGeburtenraten und stark wachsende Geburtendefizits. Im Berliner Umland sind dieGeburtenraten etwas höher (gleichwohl zu niedrig), der Wanderungssaldo pendeltsich nach den hohen Raten Mitte der neunziger Jahre auf niedrigem Niveau ein.Dieser Saldo kann das Geburtendefizit dennoch mehr als ausgleichen. Bis zum Jahr2001 konnte die Bevölkerungszunahme im Berliner Umland den Rückgang der

Bevölkerungsentwicklung in den Kreisen 2003-2020

UM

TF

SPN

PR

PM

OPR

LOS

OSL

OHV

MOL

HVL

EE

LDS

BAR

P

FF

CB

BRB

-30 -20 -10 0 10 20

-5,3 -16,9

-15,4 6,4

-2,3 -16,9

-1,7 -13,4

-17,8 17,8

-0,7 -12,6

-22,3 0,7

-4,4 -19,0

-18,3 17,3

-19,7 13,9

-12,1 18,2

-1,4 -15,5

-17,6 8,6

-17,0 10,9

-0,8 20,1

-4,5 -5,3

-4,0 -9,7

-1,0 -9,0

Wanderungssaldo

Saldo in 1.000 Personen

natürlicher Saldo

Quelle: LDS

Page 17: perspektive21 - Heft 26

15perspektive21

[ die demografische transformation ]

Einwohnerzahl in den äußeren Regionen überkompensieren. Seitdem jedoch gehtdie Bevölkerungszahl Brandenburgs langsam zurück – bis 2020 um jährlich zwi-schen 6.000 und 13.000 (bei weiterer Zunahme im Umland und starkem Rück-gang in den peripheren Regionen).

Während der neunziger Jahre war die Bevölkerungsentwicklung hauptsächlichvon den Wanderungsströmen dominiert. In den kommenden Jahren wird es je-doch vor allem die natürliche Bevölkerungsentwicklung sein, die die Richtungder Veränderung determiniert. So wird in allen Kreisen der Geburtensaldo nega-tiv sein. Bis 2020 wird in nur neun Kreisen ein positiver Wanderungssaldo pro-gnostiziert, wobei nur in drei Kreisen das Geburtendefizit ausgeglichen wird.

Gespaltenes Land

So wird auf dem konsolidierten Niveau die Bevölkerungszahl des Landes bis 2020um etwa 7 Prozent auf 2,41 Millionen zurückgehen. Das ist verglichen mit Sachsen(-13 Prozent) und Sachsen-Anhalt (-19 Prozent) ein sehr moderater Rückgang.Gleichwohl versteckt sich hinter dieser Zahl ein Rückgang der Einwohnerzahl inden äußeren Regionen um fast 14 Prozent (seit 1990 um -23 Prozent) und eineZunahme im Berliner Umland um über 5 Prozent (seit 1990 um +30 Prozent).

Brandenburg äußere Regionen Berliner Umland

0-6jährige als Maß für Bedarf an Kita-Plätzen2002 112.300 63.400 48.9002020 100.600 55.400 45.200

Veränderung in % -10,4 -12,6 -7,6

6-10jährige als Maß für Bedarf an Grundschulen2002 63.100 36.500 26.6002020 74.000 41.100 32.900

Veränderung in % 17,3 12,6 23,7

10-16jährige als Maß für Bedarf an Sekundarstufe 12002 178.000 111.300 66.7002020 122.900 61.500 61.400

Veränderung in % -31,0 -44,7 -7,9

Die Entwicklung der jüngeren Altersgruppen in Brandenburg

Quelle: LDS, LUW, eigene Berechnungen

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16 heft 26 | april 2005

[ thomas kral inski ]

Dieser Trend macht auch deutlich, dass das Gewicht des Berliner Umlandes Jahrfür Jahr größer wird. Zur Wende betrug der Bevölkerungsanteil der äußeren Re-gionen noch 70 Prozent des gesamten Landes – um das Jahr 2050 wird dieserAnteil nur noch bei 50 Prozent liegen.

Brandenburg mit demografischem Anker

Gerade der Vergleich mit anderen Bundesländern im Osten macht deutlich, in welchprivilegierter Lage Brandenburg trotz aller Probleme ist, da es mit dem Berliner Um-land einen einmaligen demografischen Anker besitzt. Doch verstecken sich hinterder konsolidierten Bevölkerungszahl noch weitere Entwicklungen. So entwickeltsich die Einwohnerzahl in den Kreisen sehr unterschiedlich. Vor allem die berlinfer-nen Kreise, denen das stabilisierende Element des Umlandes fehlt, müssen weiter-hin mit starken Rückgängen von bis zu 16 Prozent bis 2020 rechnen. Damit sinktauch die Bevölkerungsdichte weiter. Uckermark und Prignitz gehören bereits heutezu den am dünnsten besiedelten Kreisen Deutschlands (mit 47 bzw. 43 Einwohnerpro qkm) – im Jahr 2020 werden dort nur noch 40 bzw. 37 Einwohner pro qkmleben. Dem steht eine Bevölkerungsdichte im Berliner Umland von derzeit 221Einwohnern pro qkm gegenüber.

Brandenburg äußere Regionen Berliner Umland

15-65jährige2002 1.829.000 1.137.000 692.0002020 1.534.000 871.000 663.000

Veränderung in % -16,1 -23,4 -4,2

20-40jährige2002 682.000 416.000 266.0002020 504.000 285.000 218.000

Veränderung in % -26,1 -31,5 -18,0

40-65jährige2002 958.000 599.000 359.0002020 933.000 534.000 400.000

Veränderung in % -2,6 -10,9 11,4

Die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials in Brandenburg

Quelle: LUW, LDS, eigene Berechnungen

Page 19: perspektive21 - Heft 26

17perspektive21

[ die demografische transformation ]

Da vor allem junge Frauen stärker abwandern als Männer, wird sich das Verhält-nis von Frauen und Männern in den kommenden Jahren – insbesondere in denäußeren Regionen – deutlich wandeln. Kamen dort 1990 auf 100 Männer noch 94Frauen, werden es im Jahr 2020 nur noch 82 (!) Frauen sein. Zu befürchten ist einedeutliche Verrohung der gesellschaftlichen Sitten, zumal tendenziell gerade die bes-ser Gebildeten (auch Männer) weiterhin abwandern werden. Kommt eine solcheSpirale – gerade aus Sicht der Frauen – erst einmal in Gang, ist es schwer, sie wiederaufzuhalten. In den peripheren Regionen entsteht so eine männlich dominierte Ge-sellschaft, die sich zu einem großen Teil aus sozialen und wirtschaftlichen „Verlie-rern“ mit relativ schlechter Bildung und unsicheren oder gar keinen Arbeitsplätzenrekrutieren wird. Es besteht die Gefahr, dass sich diese Gruppe auch kulturell starkvon Entwicklungen in anderen Teilen des Landes isolieren wird.

Weniger Kleinkinder

In den kommenden Jahren wird sich die Zahl der verschiedenen Altersgruppenweiter merklich verändern – die Zahl von Kindergärten und Schulen ist dafürimmer der erste und wichtigste Indikator. Zwar wird die Zahl der Kleinkinder bis2020 weiter sinken. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die geringe Altersgrup-pe der Post-Wende-Generation mehr Kinder bekommen, als ihre Eltern. Dadurchkann ein nochmaliger radikaler Geburteneinbruch vermieden werden, gleichwohlgeht die Zahl der 0-6jährigen im Berliner Umland um 8 Prozent, in den äußerenRegionen sogar um 13 Prozent zurück. Auf der anderen Seite wird es bis 2020sogar einen Aufwuchs in den Besetzungszahlen für die Grundschulen geben, dasTal der Tränen ist somit durchschritten. Im Berliner Umland steigt die Zahl der0-6jährigen sogar um fast ein Viertel. Gleichwohl ist im Bereich der Sekundar-stufe I und II auch in den kommenden Jahren mit weiteren Schulschließungen zurechnen. Die Schaffung der Oberschule – durch Zusammenlegung von Gesamt-und Realschulen – soll dabei helfen, einige Schulstandorte insbesondere in denäußeren Regionen zu erhalten. Gleichwohl wird ein Großteil der Schulstandortenicht zu halten sein.

Die Abwanderung und die veränderten Geburtenzahlen führen auch zu Verän-derungen im Arbeitskräftepotenzial. Das wird eine schwere Restriktion für denweiteren ökonomischen Umbau darstellen. Der erste spürbare Wandel wird inden kommenden Jahren auf dem Ausbildungsmarkt erfolgen, wenn binnen kur-zer Zeit die nur noch halb so große Wendegeneration Ausbildungsplätze nachfra-gen wird. Die Angebots-Nachfrage-Relation wird sich also im Vergleich zu heute

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[ thomas kral inski ]

umkehren. Dieser Einbruch wird dazu führen, dass die Unternehmen händerin-gend nach Azubis suchen werden. Dabei wird der Druck auf die Qualität derSchulabgänger noch größer werden, denn in einer Situation, wo Unternehmenförmlich jeden nehmen „müssen“, wird es schwieriger werden, die Ansprüche anFähigkeiten und Fertigkeiten zu erfüllen.

Die veränderte Demografie wird sich in den kommenden Jahren jedoch auch inden anderen Altersgruppen bemerkbar machen. Bis 2020 wird das Erwerbsperso-nenpotenzial (die 15-65jährigen) um 295.000 (-16 Prozent) zurückgehen. Auchhierbei sind die äußeren Regionen stärker (-23 Prozent) als das Berliner Umland (-4 Prozent) betroffen. Unterteilt man diese Gruppe weiter, wird deutlich, wie starkdas Arbeitskräftepotenzial altern wird – und dass es bis auf die Gruppe der über40jährigen im Berliner Umland überall sinken wird. Der Rückgang des Arbeitskräf-tepotentials wird deshalb zu einem starken Fachkräftemangel in der BrandenburgerWirtschaft, insbesondere in den wachsenden Zweigen der Industrie führen. Be-sonders spürbar wird dieser Fachkräftemangel in den äußeren Regionen des Lan-des sein, da hier zum einen die Erwerbspersonenzahl besonders stark zurückgehtund zum anderen hier auch einige der zentralen Zweige des verarbeitenden Ge-werbes angesiedelt sind.

Veränderung in %1990- 2003- 1990-

1990 2003 2020 2003 2020 2020

Schwedt 53.600 39.400 30.700 -26,5 -22,1 -42,7

Eisenhüttenstadt 51.200 38.600 30.800 -24,6 -20,2 -39,8

Senftenberg 36.900 30.000 24.700 -18,7 -17,7 -33,1

Wittenberge 31.800 21.100 16.600 -33,6 -21,3 -47,8

Falkensee 22.100 36.200 44.200 63,8 22,1 100,0

Oranienburg 37.100 40.400 41.500 8,9 2,7 11,9

Teltow 15.800 18.900 24.900 19,6 31,7 57,6

Eberswalde 53.600 42.900 35.900 -20,0 -16,3 -33,0

Neuruppin 34.000 32.100 29.300 -5,6 -8,7 -13,8

Einwohnerzahl ausgewählter Kommunen Brandenburgs

Quelle: LDS, eigene Berechnungen; jeweils Gebietsstand 2003

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19perspektive21

[ die demografische transformation ]

Zu den spürbarsten Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs gehören die Ver-änderungen in der Infrastruktur. Viele Orte müssen nicht nur den wirtschaftlichenUmbruch, sondern auch gleichzeitig Abwanderung und Geburtenrückgang bewälti-gen. In den großen Städten kommt dazu noch der Suburbanisierungsdruck, dasheißt der Wunsch zur Abwanderung in die Umlandgemeinden. Von diesen Trendssind in Brandenburg vor allem die Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnernbetroffen. Auch hier liegen alle Orte mit Schrumpfungsprozessen in den berlinfer-nen Gegenden des Landes. Die Stadtentwicklung steht somit vor einer besonderenHerausforderung, vor allem in Städten mit besonders starkem Einwohnerrückgang.Besonders spür- und erlebbar ist dabei der Wohnungsleerstand, zumal in einer Mie-tergesellschaft wie der Ostdeutschen, der besondere Ängste hervorrufen kann, wennWohnungsunternehmen in immer größere Schieflagen geraten.

Bedrohlicher Wohnungsleerstand

Derzeit stehen in Brandenburg etwa 150.000 Wohnungen leer – das entsprichteiner Quote von 12 Prozent. Einige Stadtviertel haben sogar Leerstandsquotenvon bis zu 70 Prozent. Die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsun-ternehmen sind dabei mit Leerstandsquoten von bis zu 40 Prozent in besonderemMaße betroffen. Mit dem so genannten „Rückbauprogramm“ von Bund undLändern wird bereits seit einigen Jahren versucht, den Wohnungsmarkt zu stabili-sieren. So sollen bis 2009 48.000 Wohnungen abgerissen werden. Gleichzeitigsollen mit Stadtentwicklungskonzepten und einer Aktivierungsstrategie frei ge-wordene Flächen entwickelt werden, die Innenstädte stabilisiert, die Infrastrukturangepasst werden und städtisches Leben weiter entwickelt werden.

Diese Schrumpfungsstrategien gehen einher mit Wachstumsbedürfnissen inder Infrastruktur im Berliner Umland. Dort ist der Nachholbedarf an Straßen,Kitas oder Schulen nach wie vor groß – und noch nicht gedeckt.

Damit sind wir bei den Fragen der kommenden Jahre. Welche Auswirkungenwird die Bevölkerungsentwicklung auf Brandenburg in den kommenden Jahrenhaben?

Am offensichtlichsten ist die Anpassung der öffentlichen Infrastruktur im Ver-kehrs-, Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich. Dabei muss die Frage im Mit-telpunkt stehen, wie es gelingen kann, in den Gegenden mit Bevölkerungsrück-gang die weniger und vor allem die älter werdende Bevölkerung mit öffentlicherInfrastruktur zu versorgen und gesellschaftliches Leben vor Ort weiterhin zu er-möglichen.

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[ thomas kral inski ]

Dabei muss das Dilemma überwunden werden, Anbindung und Grundausstat-tung zu gewährleisten bei gleichzeitig sinkenden öffentlichen Mitteln. Unter die-sem Blickwinkel wird beispielsweise das derzeitige Straßennetz kontinuierlich über-prüft werden müssen – bis hin zur Aufgabe nicht mehr benötigter Straßen.

Auch der öffentliche Nahverkehr wird vor einer ähnlichen Herausforderung ste-hen. Er muss auch in Zukunft eine Basismobilität sichern, um kulturelle oder sozialeAngebote erreichen zu können. Im ländlichen Raum wird Nahverkehr vor allem fürdie älteren und jüngeren Bewohner benötigt, da die Erwerbstätigen in der Regelüber ein Auto verfügen. Neue Angebotsformen – wie Rufbusse – werden deshalbweiter zunehmen. In Gransee wurde jetzt erstmals ein Bürgerbus eingerichtet – dasModell einer Buslinie mit ehrenamtlichen Busfahrern hat Zukunft.

Basismobilität und soziale Infrastruktur

Gerade bei der Anwendung von Telefon, Internet und E-Mail stehen wir nocham Anfang. Insbesondere im Verwaltungsbereich, aber auch bei Bildung, Versor-gung und Gesundheit gibt es noch viele Anwendungsmöglichkeiten. Vor allemgilt es, die Menschen in den entlegenen Regionen mit den neuen Anwendungenvertraut zu machen. Unmöglich ist dies nicht, den einen oder anderen Gedanken-Sprung aber wird man wohl noch machen müssen. Auch werden wir überlegenmüssen, ab welchem Einzugsgebiet und welcher Schulgröße es nötig ist, Internatean den weiterführenden Schulen einzurichten – um so auch in Zukunft eine hoheBildungsqualität anbieten zu können. Darüber hinaus wird in den dünn besiedel-ten Gegenden für seltene Fächer auch Video-Unterricht nötig sein – wie er bei-spielsweise in Finnland Gang und Gebe ist.

Die soziale Infrastruktur ist eine sehr wichtige Bestimmungsgröße für den Zusam-menhalt des Landes. Insofern ist es unabdingbar, auch in dünn besiedelten Gegendensoziale Dienstleistungen weiter anzubieten – nur wird sie anders aussehen als heute.Dabei werden Konflikte nicht vermeidbar sein – zum Beispiel über Schließungen be-stimmter Fachabteilungen von Krankenhäusern, wie derzeit bei der Geburtshilfe inTemplin. Viele der bekannten Standards werden in den kommenden Jahren nicht mehrhaltbar sein. Nach neuen Lösungen wie besserer Zusammenarbeit zwischen ambulanterund stationärer Betreuung oder der verstärkte Einsatz von Hubschraubern werden nötigsein. Anders sieht es dagegen im Alten- und Pflegebereich aus, wo die Ausbildung vonneuem Fachpersonal nicht mit dem wachsenden Bedarf Schritt halten kann.

Dabei wird auch deutlich, dass das Land bei andauernder hoher Langzeitar-beitslosigkeit gleichzeitig vor Fachkräftemangel stehen wird, da Qualifikation und

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Fertigkeiten der Arbeitslosen nicht mit den nachgefragten Arbeitskräften überein-stimmen. Dieser Zusammenhang – Fachkräftemangel und hohe Arbeitslosigkeit –birgt in den kommenden Jahren erheblichen sozialen Sprengstoff, insbesonderewenn der Ruf nach verstärkter Außenzuwanderung größer wird. Bei einigen starkwachsenden Branchen wie im Alten- und Krankenpflegebereich, aber auch in ein-zelnen Zweigen der Industrie ist dies bereits heute spürbar.

Neue Ideen für kleineren Haushalt

Wie zwingend die Etablierung neuer und flexibler Infrastrukturangebote ist, ver-deutlicht sich auch über die Einnahmebilanz des Landes. Derzeit werden lediglich44 Prozent der Einnahmen über Steuern gedeckt, 36 Prozent fließen dem Landüber Solidarpakt und Länderfinanzausgleich zu. Mit dem Auslaufen des Solidar-paktes bis 2019 wird das Volumen des Haushaltes somit schrittweise an ein ver-gleichbares Niveau westdeutscher Flächenländer angepasst. Darüber hinaus bedeu-tet jedoch jeder Einwohner, den das Land verliert, pro Jahr etwa ein Einnahme-ausfall von 2.300 €. Insgesamt wird das derzeitige Haushaltsvolumen von 9,8 Mil-liarden € bis 2020 auf etwa 7,4 Milliarden € sinken – mithin um 24 Prozent unddamit deutlich schneller als die Bevölkerungsentwicklung. Die Herausforderungder kommenden Jahre besteht also da-rin, alle staatlichen Aufgaben striktnach ihrer Notwendigkeit und Finan-zierbarkeit zu überprüfen. Dabei wirddie bestimmende Frage sein, wie staatli-che Aufgaben und öffentliche Grund-versorgung von Menschen in dünn be-siedelten und schrumpfenden Regionengewährleistet werden kann. Derzeit er-folgt die Umgestaltung der öffentlichenInfrastruktur eher nachholend – in Zu-kunft wird es darauf ankommen, neueAngebote schneller in die Praxis umzu-setzen und nicht erst, wenn die Budget-lage keinen anderen Ausweg mehr zulässt. Dabei werden gerade auch dieKommunen eine entscheidende Rollespielen. Land und Kommunen, aber

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[ die demografische transformation ]

Bevölkerungsanteil im Umland und den äußeren Regionen

Quelle: LDS, * = Prognose

100 %

75 %

50 %

25 %

0 %2050*2020*1990

äuße

reR

egio

nen

70 %

äuße

reR

egio

nen

58 %

äuße

reR

egio

nen

50 %

Ber

liner

Um

land

30 %

Ber

liner

Um

land

42 %

Ber

liner

Um

land

50 %

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22 heft 26 | april 2005

[ thomas kral inski ]

auch die Kommunen untereinander müssen, in Zukunft ihre Investitionsentschei-dungen stärker miteinander koordinieren und besser als bisher deren langfristigeFinanzierbarkeit und Folgelasten beachten.

Gleichwohl wird es aber in einigen Bereichen auch zu einem Ausbau an sozialerInfrastruktur kommen müssen. Das starke Anwachsen der älteren Mitbürger – dieZahl der über 80jährigen wird sich bis 2020 mehr als verdoppeln – wird zu mehrPflegedienstleistungen führen. Auf der anderen Seite erfordert der Rückgang derKinderzahlen eine passgenauere und neu definierte Familienpolitik. Eine Familien-politik, die auf der einen Seite das Ziel von mehr Kindern verfolgt. Auf der anderenSeite muss es gelingen, dass die vorhandenen Kinder besser als bisher ausgebildetwerden, dass sie gesünder sind und soziale Verwahrlosungstendenzen – die in letzterZeit immer häufiger zum Vorschein kommen – durchbrochen werden. Eine neueFamilienpolitik wird auf mehr setzen müssen als auf eine exzellente Versorgung mitKita-Plätzen – sie hat den Geburtenrückgang der neunziger Jahre auch nicht aufhal-ten können. Vielmehr bedarf es einer engen Verzahnung von Bildungs-, Gesund-heits-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik. Der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt –und insbesondere die Schaffung familienfreundlicher Arbeitsplätze – wird eine ent-scheidende Rolle zukommen, wenn die Geburtenzahlen wieder steigen sollen undsich die Lücke zwischen Kinderwunsch (zwischen 1,7 und 2,4 Kinder pro Frau) undRealität (zwischen 1,1 und 1,3 Kindern pro Frau) geschlossen werden soll.

Initiative und Verantwortung anstacheln

Die auseinanderklaffende Entwicklung in den beiden verschiedenen Landesteilenwird dabei in den kommenden Jahren zu einem stärker werdenden Zentrums-Peripherie-Konflikt führen. Die jüngste Debatte um das neue Leitbild des Landeshat darauf einen ersten Vorgeschmack gegeben. Die Herausforderung an die poli-tische Klasse wird entsprechend zunehmen, den Konflikt nicht zusätzlich anzu-heizen sondern zu kanalisieren. Eine Voraussetzung dafür ist, dass überall imLand Verständnis für die Entwicklungen der kommenden Jahre geschaffen wird.Die Gratwanderung besteht dabei darin, nicht nur Frustration und ein Gefühldes „Abgehängtseins“ zu schaffen. Ein aufklärerischer Ansatz reicht dementspre-chend nicht aus – er muss durch eine aktivierende Strategie ergänzt werden. Akti-vierend in Richtung von mehr Eigenverantwortung und -initiative, von mehrEngagement für die eigene Region.

Wenn selbst Unternehmer drohen, beim Ausbleiben von Fördermitteln ausdem Land gehen zu wollen – wie jüngst im Süden des Landes gedroht wurde –,

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23perspektive21

[ die demografische transformation ]

kann es mit Unternehmertum und Eigeninitiative im Land nicht weit her sein. In den vergangenen Jahren haben sich die Menschen an die Fördermittel „ge-

wöhnt“ – denn bisher war noch immer genügend davon da. Die Philosophie desAufbaus Ost bestand darin, dass staatliche Mittel die Lücke zwischen Wirtschafts-kraft Ost und West schließen. Ab 2008 nun werden die Solidarpaktmittel schritt-weise zurückgefahren – ohne das bisher absehbar ist, dass sich die „Aufbaulücke“geschlossen hat bzw. schließt. Fördermittel wird es also in Zukunft für alle wenigergeben – die Frage ist, wie es gelingt, diesen Entwöhnungsprozess zu erklären. Undwie es gelingt, dass das „süße Gift“ Steuermittel von Initiative und Verantwortungabgelöst wird.

Nur durch mehr sozialen Zusammenhalt werden die kommenden schwierigenJahre zu bewältigen sein. Wie bedroht dieser Zusammenhalt ist, ist in letzter Zeitbereits mehrfach deutlich geworden. Kindesmisshandlungen, Angriffe auf auslän-dische Geschäfte, die Anti-Hartz-Demonstrationen sind Zeichen dafür. Noch vielmehr aber greift Desinteresse an der Entwicklung der Heimat, (demonstratives)Wegschauen und ein Ohnmachtsgefühl vieler Menschen um sich. Ohnmachtüber das, was sie selbst leisten können und über das, was Politik und Gesellschaftüberhaupt an Gestaltungsspielraum zuerkannt wird. Erst wenn die Menschenstärker als bisher erkennen, dass es auf sie selbst und ihr wohlverstandenes Eigen-interesse ankommt, wird sich auch Stimmung und Lage im Land verbessern. Unddann wird vielleicht auch in Orten wie Jüterbog wieder mehr Leben einkehren. ■

THOMAS KRALINSKI

ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Brandenburger Landtag.

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[ thomas kral inski ]

Literatur

Landesumweltamt Brandenburg/Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Stati-stik Brandenburg (Hg.), Bevölkerungsprognose des Landes Brandenburg für denZeitraum 2003-2020, Potsdam 2004

Landesregierung Brandenburg, Zweiter Bericht der Landesregierung zum demo-grafischen Wandel, Potsdam 2005 (i. E.)

Landesumweltamt Brandenburg/Gemeinsame Landesplanungsabteilung Berlin-Brandenburg (Hg.), Symposium Demographischer Wandel im gemeinsamen Pla-nungsraum Berlin-Brandenburg, Potsdam 2003

Landesbetrieb für Datenverarbeitung und Statistik Brandenburg (Hg.),Statistisches Jahrbuch 2004, Potsdam 2004

Helmut Seitz, Perspektiven der ostdeutschen Kommunalfinanzen bis zum Jahr2020, in: ifo Dresden berichtet, Heft 2/ 2004

Michaela Kreyenfeld/Dirk Konietzka, Familienpolitik und Geburtenentwicklungin Deutschland, in: Georg Milbradt/Johannes Meier (Hg.), Die demografischeHerausforderung – Sachsens Zukunft gestalten, Gütersloh 2004

Steffen Kröhnert/Nienke von Olst/Reiner Klingholz, Deutschland 2020. Diedemografische Zukunft der Nation, Berlin 2004

Wolfgang Kiel, Luxus der Leere. Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstums-welt, Wuppertal 2004

Page 27: perspektive21 - Heft 26

25perspektive21

WARUM DAS LAND SPAREN UND GLEICHZEITIG INVESTIEREN MUSSVON RAINER SPEER

Finanzpolitik fürBrandenburg

I. In den kommenden Jahren stehtBrandenburg ebenso wie alle ande-

ren ostdeutschen Länder vor erhebli-chen finanzpolitischen Herausforderun-gen. Dabei liegen Risiken und Chan-cen viel näher beieinander, als dies inder öffentlichen Debatte oft wahrge-nommen wird. Diese wird überwiegendvon griffigen Schlagworten wie „leereKassen“, „hohe Verschuldung“ und„Verschwendung von Fördermitteln“bestimmt. Dabei entsteht ein Bild, dasnicht nur als Folge seiner Eindimensio-nalität der tatsächlichen Finanzlage derostdeutschen Bundesländer nicht ge-recht wird.

Vor allem blockiert diese Sicht denBlick auf die heute tatsächlich nochvorhandenen Handlungsmöglichkei-ten, über die alle Ostländer verfügen,um das prophezeite „worst-case-Szena-rio“ zu verhindern. Auch in der Fi-nanzpolitik spielt sich das Leben inRelationen ab. Im Gegensatz zur öf-fentlichen Wahrnehmung, wonach dieFinanzlage der Ostländer besondersschlecht sei, ist darauf hinzuweisen,dass sie insbesondere durch die erhebli-

chen Solidarpakt-Mittel sowie die För-dermittel der EU-Strukturfonds nochvergleichsweise gut ist. Besser jeden-falls, als dies bei vergleichbaren west-deutschen Flächenländern der Fall ist.Pro Einwohner hat Brandenburg der-zeit etwa 1000 € mehr zur Verfügungals die finanzschwachen Vergleichslän-der im Westen.

Beste Förderkulisse

Im innerdeutschen Wettbewerb umAnsiedlungen und Investitionen wirdes bis zum Jahr 2019 nirgendwo eineattraktivere „Förderkulisse“ geben alsim Osten. In dieser Tatsache liegt dieChance, die die neuen Länder jetzt er-greifen müssen, um bis zum Auslaufendes Solidarpakts wirtschaftlich und fi-nanziell im wesentlichen auf eigenenBeinen stehen zu können. Nur wenndieses Zeitfenster ungenutzt verstriche,träte das Negativszenario tatsächlichein, das heute schon oft – und zwar zuUnrecht – plakativ an die Wand ge-malt wird. Es geht nicht darum, dieProbleme herunterzureden. Aber:

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26 heft 26 | april 2005

[ rainer speer ]

Noch hat der Osten alle Chancen,noch fließen ihm erhebliche Ressour-cen zu, mit denen Wachstum undEntwicklung wirkungsvoll generiertund stimuliert werden können.

Höchster „Mehrwert“

Deshalb kommt es in der Finanzpoli-tik entscheidend auf die richtige Ba-lance zwischen der notwendigen Kon-solidierung des Landeshaushaltes undder zielgerichteten Investition in dieZukunftspotenziale des Landes an.Während ersteres dazu dient, Einnah-men und Ausgaben des Landes dauer-haft in Übereinstimmung zu bringen,kann allein letzteres dazu beitragen,jene ausreichende wirtschaftliche Basiszu schaffen, auf deren GrundlageBrandenburg dann ab 2019 tatsächlich„auf eigenen Beinen“ stehen kann.Beide Ziele müssen zugleich verfolgtwerden. Diesem Ansatz hat sich diebrandenburgische Landesregierungverschrieben. Die Finanzpolitik hatdamit die zentrale Aufgabe, die not-wendigen finanziellen Ressourcen fürden „zweiten Aufbruch“ (MatthiasPlatzeck) zu sichern und zur Verfü-gung zu stellen. Dies kann aber nurdann gewährleistet werden, wenn dieknappen Mittel beherzt auf jene Poli-tikfelder konzentriert werden, dielangfristig den höchsten „Mehrwert“für die Entwicklung des ganzen Lan-des versprechen.

Der Koalitionsvertrag zwischen SPDund CDU in Brandenburg folgt genaudieser Überlegung. Dort heißt es, dieKoalitionspartner seien sich einig, „dassder eingeschlagene Konsolidierungskurszur Sicherung der Handlungsfähigkeitder Politik zwingend notwendig ist undkonsequent fortgesetzt werden muss“.Und weiter: „Die Koalition setzt sicheine weitgehende Sanierung des Haus-halts zum Ziel, um keine weiteren Hy-potheken auf die Zukunft zu legen. DieNettokreditaufnahme soll bei Einnah-men gemäß mittelfristiger Finanzpla-nung (2003-2007) bis spätestens 2010auf Null reduziert sein, so dass es da-nach möglich ist, Schulden abzubauen.“

Sanieren und Investieren

Ausdrücklich hebt der Koalitionsver-trag damit auf den untrennbaren Zu-sammenhang von Sanierung des Haus-haltes und Sicherung der Handlungs-fähigkeit der Politik ab. Im Klartext:Der Konsolidierungskurs ist keinSelbstzweck. Weder ist er ein „landes-politisches Abbruchunternehmen“,noch wird „das Land dabei kaputt ge-spart“, wie uns Kritiker vorwerfen.Das ist eine politische Verzeichnung,die mit der tatsächlichen Entwicklungim Land auch nicht in Übereinstim-mung steht. Es gibt deshalb jedenGrund, derartiger Kritik aus Überzeu-gung klar und eindeutig entgegenzu-treten. Erst der Verzicht auf den be-

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27perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

schriebenen Zusammenhang von Kon-solidierung und Investitionen würdedas Land in eine Situation führen, inder die Handlungsfähigkeit der Politiktatsächlich verloren ginge und die För-derung politisch vorrangiger Schwer-punkte nicht mehr möglich wäre.

II.Der brandenburgische Landes-haushalt umfasst in den Jahren

2005/2006 jeweils rund 10 Milliarden€. Brandenburg verfügt damit – wie dieanderen Ostländer auch – über eineüberdurchschnittliche, um etwa einDrittel bessere Finanzausstattung alsvergleichbare westliche Flächenländer.Bei allen Problemen, vor denen dieLandesfinanzen stehen: Das ist einPfund, mit dem man wuchern muss –und Brandenburg tut das auch. Um dasan einem Beispiel zu illustrieren: DieLandesregierung ist sich der zentralenBedeutung von Wissenschaft und For-schung bewusst. Deshalb ist es trotz derbeschlossenen Konsolidierungsmaßnah-men in vielen anderen Bereichen gelun-gen, die Ausgaben für diesen Bereichmit rund 340 Millionen € pro Jahr sta-bil zu halten. Brandenburg sichert da-mit nicht nur das Bestehende, sondernbaut die Wissenschaftslandschaft sogarweiter aus: Vor kurzem ist an der BTUCottbus das ambitionierte „Informati-ons-, Kommunikations- und Medien-zentrum“ (IKMZ) eingeweiht worden.Um diese international viel beachtete„Universitätsbibliothek der Zukunft“

beneiden uns viele andere Universitäts-standorte in Deutschland. Verwirklichtaber wurde sie für rund 32 Millionen €in der Lausitz. In Wildau wird geradeeine denkmalgeschützte Industriehallefür die Nutzung durch die dortigeTechnische Fachhochschule umgebaut.An der FH Senftenberg hatte ich jüngstGelegenheit, am Spatenstich für einneues Institutsgebäude für Biotechnolo-gie teilzunehmen. Das allein sind schondrei Beispiele aus nur einem Jahr, diebekräftigen, was trotz angespannter Fi-nanzlage in Brandenburg alles „nochgeht“. Wer das nicht anerkennt, sollteeinen nüchternen Blick auf die Zustän-de in vielen anderen deutschen Hoch-schulstandorten werfen, in denen Ver-gleichbares eben nicht stattfindet.

Ressourcen freisetzen

Dieser weitere Ausbau der für das Landentscheidenden Entwicklungsmotorenist nur möglich, wenn die Finanzpolitikumgekehrt durch Konsolidierung undKonzentration die dafür benötigtenfinanziellen Ressourcen freisetzt. Werdas letztere nicht will, kann das ersterenicht tun. Dies ist – hier am Beispielvon Wissenschaft und Forschung dar-gestellt – der Zusammenhang, um denes mir immer geht. Zugespitzt: DerKonsolidierungsansatz in der Finanzpo-litik begrenzt nicht die Entwicklungs-chancen des Landes, sondern ermög-licht erst, sie auch zu nutzen. Es geht

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[ rainer speer ]

also bei der Konsolidierung nicht ums„Sparen“ allein, sondern darum, dasspolitisches „Gestalten“ in Brandenburgauch in Zukunft möglich bleibt. Genaudies ist gemeint, wenn der Koalitions-vertrag von der „Sicherung der Hand-lungsfähigkeit der Politik“ spricht. Ichbin fest davon überzeugt, dass sich die-ser Ansatz auch öffentlich ohne jedeVorbehalte und aus Überzeugung ver-treten lässt – gerade auch von Sozialde-mokraten!

Ausgaben begrenzen

Obwohl Brandenburg erhebliche Mittelaus dem Solidarpakt und aus Brüssel er-hält, sieht der Entwurf des Doppelhaus-halts 2005/2005 bei einem Gesamtvo-lumen von 10 Milliarden € jährlich eineErmächtigung zur Kreditaufnahme von976 Millionen € in 2005 und 831 Mil-lionen € in 2006 vor. Damit sinken dieKreditermächtigungen gegenüber denVorjahren zwar deutlich und auch dieKreditfinanzierungsquote unterschreitetdie 10-Prozent-Marke.

Dennoch handelt es sich ohneZweifel um hohe Summen. In ihnenkommt – verkürzt gesagt – zweierleizum Ausdruck: Erstens, dass Branden-burg nach wie vor über seine Verhält-nisse lebt. Auch mit überdurchschnitt-licher Finanzausstattung kann dasLand derzeit noch nicht auf weitereKreditaufnahmen verzichten. Dahinterverbirgt sich die Notwendigkeit, die

gesamte Struktur des Landeshaushaltskritisch zu durchforsten, Aufgaben zureduzieren und Ausstattungsvorsprün-ge zu beseitigen. Diese Aufgabe istschwieriger, als oft angenommen wird.Denn der weit überwiegende Teil desHaushaltes ist dem Grunde und viel-fach auch der Höhe nach bundes-oder landesrechtlich gebunden oderbesteht aus Dritt- und Kofinanzie-rungsmitteln und ist damit dem sofor-tigen Konsolidierungszugriff entzogen.Natürlich lassen sich auch rechtlicheBindungen lösen – dies aber setzt ent-sprechende gesetzliche Änderungenvoraus, die kurzfristig nur begrenztmachbar sind.

Messbare Erfolge

Dennoch ist es unzutreffend, die Not-wendigkeit der Kreditaufnahme alleinauf die Ausgabenstruktur des Haushal-tes zurückzuführen. Die Zeiten einerexpansiven Ausgabenpolitik sind auchin Brandenburg lange vorbei. Bei derBegrenzung der Landesausgaben sindauch in den letzten Jahren messbareErfolge erzielt worden. So bleibt dasHaushaltsvolumen 2005/2006 in etwastabil, obwohl der Etat erheblichedurchlaufende Posten (z.B. Hartz IV-Mittel 190 Millionen €, Ganztags-schulförderung 32,5 Millionen €) ent-hält. Die laufenden Ausgaben entwi-ckeln sich in Brandenburg im Länder-vergleich unterdurchschnittlich. Auch

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29perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

die Entwicklung der Personalausgabenkonnte in Brandenburg trotz Tarifstei-gerungen erfolgreich stabilisiert wer-den, während sie in vielen Ländernkontinuierlich angestiegen sind. Darinkommt zum Ausdruck, dass dieBegrenzung der Ausgaben in Branden-burg zu greifen beginnt, obwohl diesbei einer globalen Betrachtung desHaushaltsvolumens (noch) nicht aufden ersten Blick erkennbar ist. DieAusgabenstruktur allein kann die Not-wendigkeit der Kreditermächtigungenalso nicht begründen.

Massive Einnahmeausfälle

Hier kommt der zweite Aspekt insSpiel: Die Situation der öffentlichenHaushalte in Bund und Ländern kannnicht verstanden werden ohne die Be-rücksichtigung der Einnahmeentwick-lung in den letzten Jahren. Diese istvon massiven Steuerausfällen durchdie Steuerreformen und die anhaltendschwache wirtschaftliche Entwicklungin ganz Deutschland gekennzeichnet.Die Einnahmen der öffentlichenHaushalte sind damit wieder etwa aufdas Niveau von 1995 zurückgefallen.Die dadurch entstandenen Einnahme-ausfälle gegenüber den Erwartungenveranschlagen wir allein für Branden-burg auf bis zu 1 Milliarde € jährlich(im Jahr 2003). Kein Haushalt inDeutschland kann Ausfälle in dieserHöhe einfach „wegstecken“ oder ih-

nen „hinterher sparen“. Das gilt nichtnur für Ostdeutschland, das gilt fürdie westdeutschen Länder in der Regelganz genauso. Auch sie stehen mittler-weile zumeist mit dem Rücken an derWand.

Was wirklich geht

Für Brandenburg machen diese Einnah-meausfälle bis zu 10 Prozent des gesam-ten Haushaltsvolumens aus. DerartigeSummen sind im Rahmen von soforti-gen Ausgabereduzierungen schlichtwegnicht verkraftbar. Auch das Wegbrechender Steuereinnahmen führt also zu ei-nem entsprechenden Kreditbedarf derLänder. Die Landesregierung hatte diesbei der Aufstellung des Haushaltes ent-sprechend den Verabredungen des Koa-litionsvertrages zu berücksichtigen. Siehat sich dafür entschieden, die zusätzli-chen Einnahmeausfälle durch die letzteSteuerschätzung je zur Hälfte zusätzlichdurch Einsparungen zu erbringen unddurch eine entsprechende Anpassungder Kreditermächtigung abzudecken.Nun gibt es Forderungen aus der Lan-despolitik, „noch mehr“ zu sparen unddie Neuverschuldung „stärker abzusen-ken“. Als Finanzminister bin ich derletzte, der gegen dieses Anliegen etwaseinzuwenden hätte. Nur: Ich habe bisheute keine belastbaren Vorschläge ge-hört, wie dieses Ziel in der Praxis um-gesetzt werden kann. Bis dahin orien-tiere ich mich an dem, „was wirklich

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30 heft 26 | april 2005

[ rainer speer ]

geht“ statt an dem, was zwar sofort be-stellt, aber nicht geliefert werden kann.

Nachholende Modernisierung

Brandenburg ist derzeit mit 17,1 Mil-liarden € verschuldet. Es ist davonauszugehen, dass die Verschuldung desLandes bis 2010 mit etwas über 20Milliarden € ihren Scheitelpunkt errei-chen wird. Dieser hohe Schuldenstandist in Brandenburg vor allem eine Fol-ge der Ausgabenpolitik der frühenneunziger Jahre nach der Wende mitihren optimistischen Wachstums- und

Entwicklungsannahmen für die Re-gion Berlin-Brandenburg. Damalssollte das strukturschwache Landdurch massive Investitionen zügig denProzess der nachholenden Modernisie-rung und des Anschlusses an das„Westniveau“ schaffen. 1992 betrugdie Investitionsquote in Brandenburgsagenhafte 35,5 Prozent! Es ist ausheutiger Sicht leicht, über diese Politikden Stab zu brechen. Es ist auch mü-ßig. Wenn man aus dem Rathauskommt, ist man immer klüger. Rück-blickend lässt sich jedenfalls feststellen,dass Brandenburg damals auf das fal-

Schuldenstand und Nettokreditaufnahme bzw. -ermächtigung

Mio. €

25.000

20.000

15.000

10.000

5.000

0

Mio. €

2.500

2.000

1.500

1.000

500

0

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

*

2006

*

2007

**

2008

**

jährliche Nettokreditaufnahmekumulierter Schuldenstand

* Entwurf ** Mittelfristige FinanzplanungQuelle: MdF

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31perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

sche Pferd gesetzt hatte und sich dieentsprechenden hochfliegenden Er-wartungen so nicht erfüllt haben. NurSachsen ist im Osten einen grundsätz-lich anderen Weg gegangen – deshalbsteht unser Nachbar im Süden heutebei der Verschuldung und den Zinsla-sten deutlich besser da.

Wir „sparen“ noch nichts

Erst nach dem Jahr 2010 wird Bran-denburg beginnen können, seine Ver-schuldung abzutragen. Umgekehrtbedeutet das: Obwohl der „Sparkurs“der Landesregierung in aller Mundeist, „sparen“ wir bis dahin im Grundegenommen gar nichts, sondern sindweiterhin gezwungen, neue Schuldenzu machen. Nun ist allgemein aner-kannt, dass die Begrenzung der Ver-schuldung eine Pflicht ist, um dennachfolgenden Generationen nicht alleSpielräume zu nehmen. Für die Be-gründung der Konsolidierungsanstren-gungen ist dies auch ein wichtiges Ar-gument. Weniger bekannt ist dagegen,in wie starkem Maße die Verschul-dung bereits heute die Handlungs-möglichkeiten des Landes limitiert. Imvergangenen Jahr musste Brandenburgfast 850 Mllionen € für den Schulden-dienst aufwenden, ein hoher Betrag,der für aktive Politikgestaltung nichtmehr zur Verfügung steht. Dabei pro-fitiert auch Brandenburg von dem der-zeit äußerst niedrigen Zinsniveau, so

dass der ursprüngliche Ansatz sogarunterschritten wurde. Dies muss abernicht immer so bleiben. Bereits ge-ringfügige Änderungen des Zinsni-veaus können erhebliche Auswirkun-gen auf die Schuldendienstzahlungendes Landes haben. Dieses Risiko un-terstreicht die Notwendigkeit derKonsolidierung noch einmal zusätz-lich.

Verengte Spielräume

Anschaulicher werden die Auswirkun-gen, die die Verschuldung bereits heuteauf die Spielräume der Finanzpolitikhat, wenn man sich die Pro-Kopf-Aus-gaben in verschiedenen Ländern näheransieht. Im Jahr 2005 gibt Branden-burg je Einwohner 3.875 € aus („Pri-märausgaben“: Personal, Sachausgaben,Investitionen, konsumtive und inves-tive Zuweisungen, Zinsen). Zum Ver-gleich: Sachsen wendet pro Einwohner3.586 € auf. Nun könnte man darausden Schluss ziehen, in Brandenburgfände mehr Politik für die Bürger statt,sie erhielten mehr Leistung vom Staat.Doch der Eindruck täuscht. Bereinigtman die Zahlen nämlich um die Auf-wendungen für den Schuldendienst,schmilzt der Vorsprung Brandenburgsfast vollständig zusammen: 3.494 € inBrandenburg stehen dann 3.428 € inSachsen gegenüber. Das bedeutet, dassder wesentliche Strukturunterschiedzwischen Brandenburg und Sachsen im

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[ rainer speer ]

Bereich der Zinsausgaben besteht, wasursächlich durch die unterschiedlicheHöhe der Verschuldung bedingt ist.Diese liegt in Sachsen derzeit bei rund11,8 Milliarden € bei 4,3 MillionenEinwohnern.

Dieser Vergleich zeigt aus meinerSicht eindrucksvoll, wie stark die ent-sprechenden Lasten bereits heute –und nicht erst in der fernen Zukunftder nachfolgenden Generationen – diefinanziellen Handlungsmöglichkeitenbegrenzen. Die Begrenzung und Rück-führung der Verschuldung liegt damitalso auch im Interesse bereits der heu-tigen und nicht nur der zukünftigenGenerationen. Der Staat muss sichwieder „Luft verschaffen“ – diesemZiel dient der in der Koalition verab-redete Konsolidierungskurs.

Aufgaben reduzieren

Der Entwurf des Doppelhaushaltes2005/2006 sieht deshalb strukturelleEinsparungen von knapp 270 Millio-nen € vor, von denen – in unterschied-licher Höhe – alle Ressorts betroffensind. Der Staat muss sich Schritt fürSchritt auf seine Kernaufgaben be-schränken. Ich plädiere in diesem Zu-sammenhang seit längerem dafür, denabgenutzten Begriff der „Aufgabenkri-tik“ durch den klareren der „Aufgaben-reduzierung“ zu ersetzen. Denn genaudas ist gemeint. Das politische Problemdabei ist: Während sich der „schlanke

Staat“ in der öffentlichen Debatte stetsbreiter Zustimmung erfreut, sieht esimmer dann anders aus, sobald dieAufgabenreduzierung konkret wird.Auch dieser Auseinandersetzung mussman sich offen stellen: „Wasch mir denPelz, aber mach mich nicht nass“ kannjedenfalls keine Maxime der Finanzpo-litik sein.

7.400 Stellen weniger

Die Landesregierung hat Anfang desJahres auch ihre Personalbedarfspla-nung fortgeschrieben. Etwa 26 Pro-zent der Ausgaben des Landes entfal-len auf Personalkosten. Dies ist – be-dingt durch Ost-Tarif und geringereVersorgungslasten – noch unterdurch-schnittlich. Zum Vergleich: In denwestdeutschen Ländern liegt der Per-sonalausgabenanteil im Durchschnittbei 40 Prozent. Allerdings werdenTariferhöhungen, die absehbare Ost-West-Gehaltsangleichung und dasAufwachsen der noch sehr niedrigenVersorgungslasten des Landes – vonderzeit knapp 30 Millionen € aufgeschätzte 450 Millionen € im Jahr2020 – zusätzliche Kosten verursa-chen. Vor diesem Hintergrund mussdie Landesregierung weiterhin aktivbleiben, um die Dynamik der Perso-nalkostenentwicklung zu begrenzenund insgesamt im Griff zu behalten.

Derzeit verfügt die brandenburgi-sche Landesverwaltung über etwa

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33perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

57.500 Stellen. Sie sollen bis zum Jah-resende 2009 auf rund 50.100 redu-ziert werden – also um 7.400 Stelleninnerhalb von fünf Jahren. Es gehtdabei darum, die Personalausstattungdes Landes dauerhaft an den Bedarfund an die langfristigen finanziellenMöglichkeiten des Landes anzupassen.Demografische Effekte spielen dabeieine wichtige Rolle, etwa wenn es umden veränderten Bedarf an Lehrerstel-len geht. Auch bei diesem Thema istder in der Öffentlichkeit verbreiteteEindruck nicht richtig: Bereits seitmehreren Jahren hat Brandenburg sein

Landespersonal erfolgreich und deut-lich abgebaut – allein seit 2000 um8.700 Stellen. Dies hat bereits jetztgünstige Auswirkungen auf den Lan-deshaushalt.

Es ist ein wichtiger Erfolg, dass derWeg zur Begrenzung der Personalaus-gaben im Konsens mit den Gewerk-schaften beschritten werden konnte,mit denen ein entsprechender „Soli-darpakt“ abgeschlossen wurde – einerfolgreiches Modell einer „Konsoli-dierung im Konsens“. Deshalb sollteam „Solidarpakt“ mit den Gewerk-schaften keinesfalls gerüttelt werden.

Stellenvergleich der Landesverwaltung Brandenburg mit finanzschwachenwestdeutschen Flächenländern und Sachsen

Brandenburg2009

Schleswig-Hostein2005

Niedersachsen2004

Sachsen2004

Rheinland-Pfalz2005

Brandenburg2005

19,9

19,5

20,6

22,1

23222120191817

Fazit: Brandenburg erreicht selbst 2009 immer noch nicht den Vergleichswertvon Schleswig-Holstein aus dem Jahre 2005

Quelle: MdF, Basis sind die in Haushaltsplänen ausgewiesene Stellen

Stellen je 1.000 Einwohner

22,7

19,6

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[ rainer speer ]

III.Die Anstrengungen der Lan-desregierung zur Begrenzung

der Ausgaben und Konsolidierung desHaushaltes ermöglichen umgekehrterst, die immer noch erheblichen Res-sourcen des Landes auf die zentralenEntwicklungspotenziale zu konzentrie-ren. Mit Bildung, Wissenschaft undWirtschaftsförderung hat die Koalitionentsprechende Politikfelder als „politi-sche Prioritäten“ definiert. Ihre Vor-rangstellung ist im Doppelhaushaltfinanzpolitisch abgebildet.

Zweithöchste Investitionsquote

Die Ausgaben für Wissenschaft undForschung im Land bleiben stabil. DieAusgaben für Bildung steigen von 283Millionen € im Jahr 2004 auf 331Millionen € im Jahr 2005 um rund 16Prozent an. Zurückzuführen ist diesu.a. auf das Ganztagsschulprogramm,die steigende Nachfrage bei Kitas undhöhere Zahlungen Brandenburgs fürdas Gastschülerabkommen mit Berlin.Was oft übersehen wird: Obwohl dieZuschüsse für Privatschulen prozen-tual leicht abgesenkt werden sollen,steigt der Gesamtbetrag auch hier auf-grund steigender Schülerzahlen an.Schließlich bleibt der geltende Kita-Rechtsanspruch in Brandenburg unddamit eins der bundesweit besten Kin-derbetreuungssysteme unangetastet.Ein politisch gewollter „Ausstattungs-vorsprung“, den Brandenburg sich als

kinderfreundliches Land auch in Zu-kunft leisten wird. Einen deutlichenAufwuchs erfährt schließlich die drittepolitische Priorität: die Wirtschafts-,Technologie- und Innovationsförde-rung. Hier steigen die Ausgaben vonknapp 1 Milliarde € auf über 1,1 Mil-liarden € deutlich an. Mit diesen be-wussten politischen Schwerpunktset-zungen investiert Brandenburg inseine Zukunft.

Niemand bestreitet, dass die Finanz-lage angespannt ist. Es kann aber über-haupt keine Rede davon sein, dass„kein Geld“ mehr da ist. Ein Ausdruckdieser Konzentration der Mittel ist einehohe Investitionsquote von 20,7 Pro-zent in 2005 und 20,4 Prozent in 2006– dies ist nach Sachsen die zweithöchsteInvestitionsquote aller Länder. Auchdeshalb ist der vorgelegte Etat ein„Haushalt der Investitionen“ bezeich-net, der es zugleich leistet, strukturelleEinsparungen vorzunehmen und dieKreditermächtigungen abzusenken.Konsolidieren und investieren – es istnur ein scheinbarer Widerspruch. Bran-denburg muss, um den „zweiten Auf-bruch“ zu gestalten, beides tun.

Der Solidarpakt II

Mit dem Solidarpakt II steht den ost-deutschen Ländern dafür befristet einzusätzlicher und unverzichtbarer finanzi-eller „Treibstoff“ zur Verfügung. Ausdem so genannten „Korb 1“ erhalten sie

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35perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

bis 2019 insgesamt 105 Milliarden €.Aus dem „Korb 2“ noch einmal 51 Mil-liarden €. Brandenburg wird aus denLeistungen des Solidarpakts II bis zumJahr 2019 etwa 15 Milliarden € erhalten.Dies ist eine erhebliche Solidarleistung inDeutschland und keine Selbstverständ-lichkeit. Dies gilt es anzuerkennen. Die-ser beachtliche Beweis innerdeutscherSolidarität mit den ostdeutschen Län-dern ist umso höher einzuschätzen, alsWirtschaftsflaute und Steuerausfälle auchin den Kassen der westdeutschen Länderihre Spuren hinterlassen haben. Die poli-tische Auseinandersetzung mit dem

Bund und den anderen Ländern um dieberechtigten Ansprüche des Ostens mussdeshalb gleichermaßen mit Nachdruckwie mit Augenmaß geführt werden. MitNachdruck dort, wo es um die verbindli-che Festschreibung von Leistungen geht,die bislang zwar politisch zugesagt, abernoch nicht gesetzlich verankert sind.Dies betrifft den „Korb 2“ des Solidar-pakts, für den alle ostdeutschen Ländereine gesetzliche Regelung fordern. DiesesThema bleibt auch aus brandenburgi-scher Sicht weiter auf der Tagesordnung.Mit Augenmaß muss die Debatte dortgeführt werden, wo es um die verant-

Solidarpakt II: Neuregelung der Sonderbedarfsergänzungszuweisungen

Mio. €

1.600

1.400

1.200

1.000

800

600

400

200

0

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

Quelle: MdF

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[ rainer speer ]

wortungsvolle Verwendung der Solidar-pakt-Mittel oder um Ansprüche geht,die über den Solidarpakt II hinausgehen.Ich rate sehr dazu, keinen Illusionennachzuhängen. Es wird keinen Solidar-pakt III geben. Das bedeutet: Bis 2020müssen die Ostländer ihre Finanzenkonsolidiert haben und wirtschaftlich aufdie Beine gekommen sein. Gelingt diesnicht, findet hier keine Politik mehrstatt. Dies umreißt – in kurzen Worten –die politische Herausforderung, vor derauch Brandenburg steht.

Es sind insbesondere auch diese Soli-darpakt-Mittel, die dem Land derzeitnoch seine vergleichsweise überdurch-schnittliche Finanzausstattung sichern.Zu wenig bekannt ist dagegen in der Öf-fentlichkeit, dass diese Mittel ab dem Jahr2009 Schritt für Schritt bis zum Auslau-fen des Solidarpakts um durchschnittlichetwa 10 Prozent im Jahr zurückgehenwerden. Erst dann wird Brandenburgtatsächlich weniger Geld zur Verfügunghaben. Die Debatte um den „Sparkurs“spielt sich damit derzeit vor dem Hinter-grund eines Einnahmeniveaus ab, das inabsehbarer Zeit nicht mehr bestehenwird. Die Landespolitik ist gefordert, sichbereits jetzt auf diese Entwicklung voraus-schauend einzustellen.

Auf Normalniveau

Das Abschmelzen des Solidarpakts trägtneben anderen Faktoren dazu bei, dasssich das Haushaltsvolumen des Landes

von heute 10 Milliarden € auf schät-zungsweise nur noch rund 7,5 Milliar-den € im Jahr 2020 reduzieren wird. EinRückgang um ein Viertel, der die Not-wendigkeit, Einnahmen und Ausgabendes Landes dauerhaft in Übereinstim-mung zu bringen, noch einmal unter-streicht. Für Dramatisierungen bietetdiese Entwicklung dennoch keinen An-lass. Ich bin davon überzeugt, dass siesich gestalten lässt. Die Geschäftsgrund-lage der Förderung des Aufbaus Ost warjedem von Anfang an klar: Sie war im-mer als zeitlich befristet und damit alsendlich gedacht. Anders ausgedrückt:Mit dem Auslaufen des Solidarpakts IIkehrt im Osten finanzwirtschaftliche„Normalität“ ein – mit einem Ausstat-tungsniveau der öffentlichen Haushalte,auf dem sich vergleichbare Westländerheute schon befinden. Bis dahin bleibendie Solidarpakt-Gelder eine besondere„Trumpfkarte“ des Ostens, die es klug zuspielen gilt, um den höchsten „Mehr-wert“ an Entwicklung zu realisieren.

EU: Karten neu gemischt

Ähnliches gilt für die Unterstützungdurch die Europäische Union. Über 6Prozent der Einnahmen Brandenburgsbestehen derzeit aus EU-Mitteln. Dieaktuelle Förderperiode, die den ostdeut-schen Ländern bislang die Höchstförde-rung und Brandenburg rund drei Milli-arden € für Strukturpolitik sicherte, wirdmit dem Jahr 2006 auslaufen. Danach

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[ finanzpolitik für brandenburg ]

werden die Karten neu gemischt. Überdie Entscheidung der Landesregierung,das Land fördertechnisch in zwei „För-derperioden“ aufzuteilen, hat es erhitzteDiskussionen gegeben. Derzeit ist nochoffen, welchen Förderstatus das Land inder nächsten Förderperiode erhaltenwird, mit einer entsprechenden Entschei-dung ist möglicherweise erst im kom-menden Jahr zu rechnen. Eine realisti-sche Einschätzung der Förderperspekti-ven kann aber so oder so nur zu demErgebnis kommen, dass die ostdeutschenLänder in den nächsten Jahren mit weni-ger Geld aus Brüssel werden rechnenkönnen – und zwar ganz unabhängigvon dem formalen Förderstatus. Dasheißt: Auch „Ziel 1-Höchstförderung“wird nach dem Jahr 2006 nicht mehrdasselbe bedeuten wie „Ziel 1“ heute.Am 1. Mai 2004 sind zehn neue Staatender EU beigetreten, die meisten davondeutlich wirtschaftsschwächer und damitunterstützungsbedürftiger als es die ost-deutschen Länder heute sind. Der EU-Haushalt wird sich hingegen nicht ent-sprechend dem zusätzlichen Bedarf er-höhen. Allein aus diesem Grund schonist es unrealistisch, auf eine gleichblei-bend hohe Unterstützung durch die EUzu hoffen.

Positive Entwicklungen

Dass die ostdeutschen Länder mitweniger Unterstützung rechnen müs-sen, hat natürlich auch mit den seit

1990 erzielten Entwicklungsfortschrit-ten zu tun. Sie sind nicht so groß wieAnfang der neunziger Jahre erhofft undbislang auch noch nicht ausreichend,um ein selbsttragendes wirtschaftlichesWachstum hervorzubringen. Trotzdemsind unbestreitbar erhebliche Fort-schritte erzielt worden, die die Situa-tion in vielen Bereichen wesentlich ver-bessert haben. Dies muss dann auch alspositive Entwicklung anerkannt wer-den, anstatt darüber Klage zu führen,dass man möglicherweise aus dem Sta-tus der „ärmsten EU-Regionen“ he-rauszufallen „droht“. Dennoch ist klar,dass Brandenburg auch nach 2006noch auf eine angemessene Förderungaus den EU-Strukturfonds angewiesenbleibt. Die Landesregierung setzt sichdeshalb mit Nachdruck dafür ein, dassdie Interessen des Landes im Rahmender Förderkulisse der nächsten EU-Förderperiode ausreichend berücksich-tigt werden.

IV.Nimmt man alle Förderungenund Transferzahlungen zusam-

men, dann gibt es vermutlich weltweitkeine zweite Wirtschaftsregion, die der-art massiv von Unterstützung von au-ßen profitiert hat wie Ostdeutschlandseit 1990. Dies wirft verständlicherwei-se immer wieder die Frage nach demErreichten, nach der Zwischenbilanzdes „Aufbaus Ost“ auf. Dabei fehlt esnicht an schrillen Wortmeldungen –erst jüngst wieder hat es ein Buch mit

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[ rainer speer ]

dem Titel „Supergau Deutsche Einheit“zum Bestseller gebracht. Die Realität inOstdeutschland treffen solch pauschaleEinschätzungen nicht. Tatsächlich fälltdie bisherige Bilanz des „Aufbaus Ost“gespalten und damit differenzierter aus:Erhebliche Fortschritte wurden beimAusbau der Infrastruktur, der Sanie-rung der Städte, der Verbesserung derUmweltqualität und der Entwicklungeiner leistungsfähigen Hochschulland-schaft erzielt. Entgegen beliebten Vor-urteilen, die auch durch beständigeWiederholung nicht richtiger werden,konzentrieren sich diese Entwicklungs-fortschritte keineswegs nur auf dieMetropolen und großen Städte, auchwenn nicht bestritten werden kann,dass die Infrastrukturlücke nach wievor nicht geschlossen ist. Weitere An-strengungen sind also erforderlich.

Aufbau Ost: kein „Supergau“

Man darf auch durchaus daran erin-nern, dass wir heute von manchen Pro-blemen gar nicht mehr reden müssen,die in den neunziger Jahren noch einwichtiges Thema waren – eben weil siegelöst wurden. Die Wohnungsnot ge-hört zum Beispiel dazu. Auch „immate-rielle“ Errungenschaften wie Demokra-tie, Rechtsstaat, kommunale Selbstver-waltung und freie Medien verbieten esaus meiner Sicht, von einem „Super-gau“ zu reden. Auch sie gehören zueiner Zwischenbilanz des „Aufbaus

Ost“ dazu. Derartige Leistungen undErfolge kann nur gering schätzen, wemdie Maßstäbe der Kritik gehörig ver-rutscht sind. In dieser Nacht werdendann alle Katzen grau. Was die bisheri-gen Anstrengungen dagegen nicht er-reicht haben, ist eine selbsttragendewirtschaftliche Entwicklung in Ost-deutschland, eine ausreichend starkeproduktive Basis, um dauerhaft aus„eigener Kraft“ bestehen zu können.Angesichts der massiven finanziellenFörderung des „Aufbaus Ost“ ist wenigeinleuchtend, dass dieses Ziel aus Man-gel an Geld verfehlt worden sein soll.

Mentalitätswechsel nötig

Dieser Befund ist in Brandenburg Aus-gangspunkt für die Diskussion um eineNeuausrichtung der Förderpolitik, derKonzentration der Mittel auf Wachs-tumskerne und Entwicklungsmotoren,die auf die umliegenden Regionen aus-strahlen sollen. „Die Stärken stärken“ –zum Nutzen des gesamten Landes. Esist ein Missverständnis, dass dabei dasBerliner Umland zu Lasten oder sogarauf Kosten der berlinferneren Regionengestärkt werden soll. Worum es geht ist,Entwicklung überall dort konzentriertzu fördern, wo sich entsprechende An-satzpunkte finden – unabhängig davon,wo sich diese regional befinden. Dasbedeutet umgekehrt, dass für eine ent-sprechende Konzentration von Förde-rungen ein regionaler oder lokaler „Re-

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39perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

Brandenburg – Demografische Eckwerte

1990 1990/91:Einsetzen starker Geburtenrückgang

1993/94:Schließung Kitas

1997/98:Beginn Reduzierung Grund-schulstandorte

2003/04: Beginn Reduzierung Sekundar-schulstandorte

2006-2011:ReduzierungSchulabgängerzahlen um 60 %

2014:Zahl der Hochbe-tagten (>80 J.) ggü.2000 verdoppelt

2020/25:Letzte geburtenstarkeJahrgänge (1960-65 vor „Pillenknick“) gehen in Rente

2025/30: Erstes demografisches EchoDie nach 1990 nicht geborenen Kinder fehlen als Eltern – erneuter Rückgang der Geburtenzahlen

2050: Zweites demografisches EchoDie 2025/30 nicht geborenen Kinder fehlen als Eltern – erneuter Rückgang der Geburtenzahlen

2010:Beginn Fach-kräftemangel

2010:Pflegekapazitätenwerden knapp

ca. 2025:Weniger Erwerbstätige undmehr Rentner: Rentensystemakut gefährdet

ca. 2040:Erneuter Anstieg Pflegebedarf

Nach 2040 Schätzung:Bevölkerungszahl wird unter 2Mio. Ew fallen (2003: 2,574 Mio.)

2035/40:Letzte geburtenstarke Jahrgänge (1960-65 vor „Pillenknick“) werden Hochbetagte (> 80 J.)

2000

2010

2020

2030

2040

2050

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40 heft 26 | april 2005

[ rainer speer ]

sonanzboden“ vorhanden sein muss,der mit einiger Wahrscheinlichkeit ver-spricht, mit den eingesetzten Mittelnauch die höchstmöglichen Effekte zuerzielen. Wo dieser „Resonanzboden“aus vernetzter lokaler und regionalerKompetenz hingegen fehlt, wird auchmit hoher finanzieller Förderung vor-aussichtlich kein wirtschaftlicher Ent-wicklungsfortschritt zu erwarten sein.Auch dies ist eine Lehre aus den Erfah-rungen der letzten 15 Jahre. Neben derkonzeptionellen Neuausrichtung derFörderpolitik selbst, an der die Landes-regierung arbeitet, ist deshalb auch einförderpolitischer „Mentalitätswechsel“aller Akteure erforderlich: Von input zuoutput – nicht die Sicherung des höchs-ten Fördermittelanteils ist der Maßstabfür politischen oder wirtschaftlichen„Erfolg“, sondern die damit realisiertenErgebnisse und Entwicklungsfortschrit-te. Über diese Fragen muss im Landeine breite und offene Diskussion ge-führt werden. Sie wird auch die demo-grafische Entwicklung berücksichtigenmüssen, die die Rahmenbedingungenfür Landespolitik grundlegend verän-dern und durch den Einwohnerrück-gang die Einnahmen des Landes ausdem Länderfinanzausgleich verringernwird.

Ausdünnung und Verdichtung

Brandenburg mit der Metropole Berlinin seiner Mitte ist von besonders un-

gleichzeitigen Entwicklungen betroffen.Hier ist es nicht allein und nicht einmalin erster Linie der Bevölkerungsrück-gang selbst, der die Politik vor neueHerausforderungen stellt. Denn andersals andere Regionen ist Brandenburgmassiv von „Ausdünnung“ und „Ver-dichtung“ zugleich betroffen: 1990 leb-ten rund 30 Prozent der Märker imBerliner Umland und rund 70 Prozentin der Peripherie des Landes. Für dasJahr 2020 dagegen wird ein Bevölke-rungsanteil von rund 40 Prozent imBerliner Umland und nur noch knapp60 Prozent in der Peripherie prognosti-ziert. Die Besiedelung in vielen Regio-nen des Landes nähert sich damit„skandinavischen Verhältnissen“. Dievorhandenen Förderinstrumentarienmüssen deshalb auch auf ihre „Demo-grafiefestigkeit“ hin überprüft werden.

Die Chancen nutzen

Dies sind – in groben Zügen – dieHerausforderungen, vor denen Bran-denburg heute steht. Die Landesregie-rung wird ihren Beitrag dazu leisten,die Entwicklung Brandenburgs voran-zubringen, seine Innovationskraft zustärken und den inneren Zusammen-halt des Landes zu sichern. Die Konso-lidierungsanstrengungen dienen dazu,die dafür erforderlichen Mittel freizu-setzen. Das Land hat viele Chancenund es verfügt durch seine Lagegunstüber manche Vorteile, die andere Län-

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41perspektive21

[ finanzpolitik für brandenburg ]

der nicht haben. Damit verfügt Bran-denburg über ausreichend Möglichkei-ten, die Propheten eines „SupergausDeutsche Einheit“ eines Besseren zu

belehren. Brandenburg hat es in derHand – und die Finanzpolitik wirdihren Beitrag dazu leisten. ■

RAINER SPEER

ist Finanzminister des Landes Brandenburg.

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[ matthias platzeck ]

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43perspektive21

„Volkswirtschaftliche Belebung setzt gezwungenermaßen die Konsolidierungder Staatsfinanzen voraus. Es dürfen keine Zweifel an der finanziellen Leis-tungsfähigkeit des Staates aufkommen. Die Verbraucher müssen darauf ver-trauen, dass die Renten bezahlt und das Gesundheitssystem finanziert werdenkönnen. Fehlt ein solches Vertrauen, weigern sich die Verbraucher, Geld auszu-geben – selbst wenn die Exportwirtschaft anzieht, nimmt die Binnennachfragedann nicht zu.“

Paavo Lipponen, finnischer Premierminister von 1995 bis 2003

„Anderthalb Jahrzehnte nach seiner Wiedererrichtung aus dem Geist der frei-heitlichen Revolution von 1989 braucht das Land Brandenburg einenentschlossenen Aufbruch.“

Erster Satz der Präambel des zwischen SPD und CDU geschlossenen Koalitionsvertrages für die 4. Wahlperiode des

Brandenburgischen Landtages 2004-2009

WIE MAN EIN PRODUKT VERKAUFT, DAS EIGENTLICH NIEMAND HABEN WILLVON TOBIAS DÜRR

Sparen mit Speer –und was noch?

I.Die Finanzpolitik ist integralerBestandteil der Landespolitik ins-

gesamt. Auf der einen Seite stellt siedie finanziellen Mittel für jede Fach-politik zur Verfügung, auf der anderenSeite begrenzt sie angesichts der zu-nehmend schwierigen Finanzlage zu-gleich deren Optionen. An der bei-spiellosen Dimension des Finanzpro-blems, vor dem Brandenburg objektivsteht, kann heute kein Zweifel mehrbestehen. Die Landesregierung hat

dies im Grundsatz auch so anerkannt.Zu entscheiden ist allein, wie Bran-denburg mit dieser Situation weiterumgeht.

Ausgangspunkt aller weiteren Über-legungen ist eine ungeschminkte Ana-lyse der finanziellen Situation des Lan-des. Mit dem üblichen Gesundbeten,den Relativierungen und Beschöni-gungen vergangener Jahre muss es vor-bei sein. Namentlich Ministerpräsi-dent Matthias Platzeck und Finanzmi-

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1 Höchst lesens- und bedenkenswert dazu: Wolfgang Kil, Luxus der Leere: Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt, Wup-pertal 2004.

2 Einen besonders düsteren, dabei keineswegs von vornherein abwegigen Überblick bietet neuerdings die Kapitel „In der Schulden-falle“ und „Die demografische Katastrophe“ in: Uwe Müller, Supergau Deutsche Einheit, Berlin 2005, Seiten 95-159.

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nister Rainer Speer haben den neuenKurs der klaren Worte in den vergan-genen Monaten konsequent vorgege-ben. Auch wenn dies den einen oderanderen verstört haben mag, folgtdiese Grundphilosophie völlig demerfolgreichen Leitmotiv auch der SPD-Wahlkampagne vom vergangenen Jahr,mit Ehrlichkeit zu überzeugen undden Menschen reinen Wein einzu-schenken. Das Motto könnte lauten:„Willkommen in der Wirklichkeit“.

Keine Notoperationen

In der brandenburgischen Finanzpolitiksetzt Finanzminister Rainer Speer nichtauf kurzfristige Notoperationen, mitdenen der Haushalt von Jahr zu Jahr –vielleicht – gerade noch einmal so ebenzusammengeflickt werden könnte, son-dern er nimmt die langfristigen demo-grafischen und finanzwirtschaftlichenEntwicklungstrends in den Blick. Das istneu – und es ist richtig. Zu den demo-grafischen Eckpunkten gehören dabeidie schrumpfende Gesamtbevölkerung,die starken Disparitäten zwischen denRegionen innerhalb des Landes sowie dieVerschlechterung der Position Branden-burgs im Länderfinanzausgleich durchden Einwohnerverlust.1 Die wesentli-chen finanzwirtschaftlichen Eckpunktesind das Abschmelzen des Solidarpakts

II, drastisch einsetzend ab 2008, unddessen völliges Auslaufen im Jahr 2019,ferner die absehbare Verringerung derEU-Fördermittel sowie die Einnahme-schwäche infolge der gesamtwirtschaft-lichen Struktur- und Konjunkturkrise.2

Vor diesem schwierigen Hintergrundgeht es für Brandenburg darum, einefinanzpolitische Perspektive über denTag hinaus zu entwickeln. Im Zentrumsteht der Anspruch, die Grundliniender Finanzpolitik nachhaltig mit denabsehbaren Einnahmen in Überein-stimmung zu bringen und auf Dauernicht finanzierbare Ausgabenvorsprün-ge abzubauen. Dieser grundsätzlichangelegte Ansatz genießt Vorrang vordem bloß Effekte erheischenden Ab-brennen konsolidierungspolitischerStrohfeuer – also vor reiner Konsoli-dierungsrhetorik, die zwar schlagzei-lenträchtig ist, aber jede Nachhaltig-keit vermissen lässt.

Konsolidierung im Konsens

Klar muss sein: Das Konsolidierungkann nicht das exklusive „Geschäfts-feld“ des Finanzministeriums bleiben.Die politische Grundsatzentscheidungüber den einzuschlagenden Weg trifftdas gesamte Kabinett, das sie als Kolle-gialorgan damit auch verantwortet. Eskommt deshalb darauf an, die not-

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wendigen Grundsatzentscheidungenüber die künftige Ausrichtung derbrandenburgischen Finanzpolitik inder Gesamtverantwortung des Kabi-netts zu treffen. Erforderlich ist Kon-sens innerhalb der Landesregierungwie auch innerhalb der Koalition. Die-ses Verfahren der „Konsolidierung imKonsens“ ist überhaupt die einzigeChance, die verabredeten Ziele durch-zusetzen. Die Gesundung der Landes-finanzen wird entweder ein politischesGemeinschaftsprojekt der gesamtenLandesregierung sein – oder sie wirdscheitern.3

II.Die Frage ist: Wie kann diesePolitik der nachhaltigen Konsoli-

dierung dauerhaft kommunikativ be-gleitet werden, damit die nötige poli-tische und bürgerschaftliche Akzeptanzwenigstens in dem Maße sichergestelltwird, dass nicht sofort wieder die altenReaktionsmechanismen („Das Landwird kaputt gespart!“, „Immer auf dieKleinen!“) einrasten. Dazu zunächstein Blick auf das, was mit Sicherheitnicht funktionieren wird.

In der Vermittlung von „Konsoli-dierungspolitik“ liegen in Bund undLand reichhaltige Erfahrungen vor. Sielehren vor allem eines: dass „Sparpoli-tik“ für sich allein nicht wirksam odergar „positiv“ verkauft werden kann. Es

gibt keine attraktive „Ästhetik des Ver-zichts“. Nur im Zusammenhang mitder Landespolitik insgesamt („Politikaus einem Guss“) besteht eine Chance,we-nigstens ausreichend Akzeptanz fürnotwendige Maßnahmen zu gewin-nen. Die Koalitionsparteien haben alsoein politisches „Produkt“ im Angebot,das ei-gentlich niemand haben will.Die geringe Halbwertzeit von persön-lich positiven Zuschreibungen („Spar-kommissar“, „eiserner Hans“ Eichelund ähnliches) unterstreicht dies. Der-gleichen bloß personalisierende Attri-bute der Stärke und Entschlossenheitwerden im finanzpolitischen Alltagsge-schäft schnell zerrieben – die Folgenlassen sich am heutigen Zustand HansEichels besichtigen. Insofern ist ausden bisherigen Vermittlungsbemühun-gen vor allem zu lernen, was allesnicht geht. Drei Beispiele:

■ Argument I: Die Rede vom „erfolg-reichen Konsolidierungskurs“. KeinSparkurs verkauft sich von selbst. Esgibt in der Wahrnehmung der Öffent-lichkeit zwar eine „erfolgreiche Wirt-schaftspolitik“ oder eine „erfolgreicheSozialpolitik“, nicht aber eine „erfolg-reiche Sparpolitik“. Man darf sich hiernichts vormachen: Sparen ist nichtsexy, und daran wird sich auch nichtsändern. Zwar weisen Meinungsumfra-

3 Zur grundsätzlichen Notwendigkeit verstärkter Gemeinsamkeit in der deutschen Politik vgl. jetzt sehr eindringlich Frank Decker,Mehr Konsens wagen: Zur Krise des deutschen Parteiensystems, in: Daniel Morat und Undine Ruge (Hg.), Deutschland denken:Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden 2005, Seiten 125-143.

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gen regelmäßig große Mehrheiten da-für aus, die Ausgaben des Staates zubegrenzen, Subventionen zurückzufah-ren und die Verschuldung zu senken.Doch sind diese Bekenntnisse für dieVermittlung praktischer Politik voll-ständig wertlos. Die Bürgerinnen undBürger wünschen sich zwar abstrakt„Reformen“, „Konsolidierung“ undden „schlanken Staat“ – die damit un-weigerlich verbundenen Belastungenund Einbußen hingegen schätzen siemitnichten. Gemeinhin stellt man sicham Stammtisch und auf den Markt-plätzen unter Sparpolitik vor, „die daoben“ sollten auf Diäten und Dienst-wagen verzichten, die Beamten müss-ten bluten, die Besserverdienenden–jedenfalls stets „die anderen“ – würdenendlich zur Kasse gebeten, und imÜbrigen seien irgendwelche nicht nä-her benannten Subventionen abzubau-en. Diese Einstellungen sind Teil desProblems, nicht Teil der Lösung.

Immer auf die Kleinen?

Dieselben Bürgerinnen und Bürgernämlich, denen die hohe Staatsver-schuldung grundsätzlich missfällt,sehen die Dinge oft beträchtlich an-ders, sobald es um konkrete Einspa-rungen geht – ob es sich dabei umKita-Gebühren, höhere Busfahrpreiseoder geringe Förderung für Jugendpro-jekte handelt. Während man üblicher-weise am öffentlichen Dienst kein

gutes Haar lässt, reagieren viele Men-schen ungehalten, wenn etwa wenigerPolizisten vor Ort sind („Innere Sicher-heit!“) oder weniger Lehrer zur Verfü-gung stehen („Lehren aus PISA!“).Konsolidierung gilt als gut und richtig– solange sie rein rhetorisch stattfindet.Aus sich selbst heraus strahlt also keinKonsolidierungskurs so positiv aus,dass er Änderungen von Verhalten undErwartungen bewirken könnte. Staatli-che Sparmaßnahmen werden grund-sätzlich als unvertretbare Anschläge aufsoziale oder politische Besitzständewahrgenommen: „Immer auf die Klei-nen!“

■ Argument II: Die Rede von „unserenKindern und Kindeskindern“. DassDeutschland und auch Brandenburgüber ihre Verhältnisse leben, gehört aus-weislich zahlreicher Meinungsumfragenmittlerweile zum verbreiteten Gemein-gut. Die Bürger erkennen abstrakt sogaran, dass dies auf Dauer nicht gut gehenwird. „Wir dürfen die Zukunft unsererKinder und Kindeskinder nicht durchhohe Schulden aufs Spiel setzen“: Die-ser Hinweis gehört heute zum Grund-bestand jeder finanzpolitischen Rhetorikund findet auch stets viel freundlichenBeifall. Ernst gemeint sind solche Be-kenntnisse jedoch selten. Im Zweifel istden Menschen der Rock noch immernäher als die Hose: Die heute zu ver-kraftenden Einschnitte wiegen in dersubjektiven Betroffenheit allemal schwe-

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rer als die noch so dramatisch an dieWand gemalten Belastungen künftigerGenerationen. Die hohe empirisch vor-findliche Zustimmung zur Argumenta-tion mit den „nachfolgenden Generatio-nen“ gaukelt also Zustimmung zu„nachhaltiger“ Finanzpolitik weitgehendnur vor – verlassen sollten sich sparwil-lige Politiker auf derlei wohlfeileBekenntnisse besser nicht.

■ Argument III: Der Sonst-wird-alles-noch-schlimmer-Diskurs. In seiner Notgreift der Konsolidierungspolitiker gernzu der Redefigur, sofern man jetzt nichtganz energisch gegensteuere, werde es inZukunft nur noch schlimmer. Die Ad-ressaten werden vor die Wahl zwischeneiner „ziemlich schlimmen“ Optionheute und einer „noch viel schlimme-ren“ Alternative in der Zukunft gestellt.Das Argument ist in der Sache absolutzutreffend, wenn man etwa die Konse-quenzen der „Zins-Schulden-Falle“ be-denkt. Erfolgreich für Sparpolitik wer-ben lässt sich auf diese Weise trotzdemnicht. Den Menschen erscheint nämlichdie Alternative insgesamt als reichlichunattraktiv. Und ohnehin: Im Zweifel –siehe „unsere Kinder und Kindeskinder“– wiegen tatsächliche Belastungen heutefür fast alle schwerer als nur theoretischin Aussicht gestellte noch schwerere Be-lastungen in der Zukunft. Hier kommtdie alte Lebensweisheit ins Spiel, dass es„so schlimm“ schon nicht kommen wer-de. Wird die Zukunft dann doch „so

schlimm“, wie zuvor an die Wand ge-malt, ist es freilich zu spät.

Zu bedenken ist, dass diese düsterenArgumentationsmuster allesamt daraufzielen, die Akzeptanz eines Kurses derKonsolidierung dadurch zu bewirken,dass den Menschen ein kräftiger Schreckin die Glieder gejagt wird. Hier istgrundsätzliche Skepsis angebracht. DiePolitik muss sehr aufpassen, vorhandeneÄngste nicht noch zu verstärken. Stattder gewünschten Einsicht in die Not-wendigkeit könnte sie sonst leicht diedefätistische Haltung auslösen, es habe„eh alles keinen Sinn“. Statt verstärktEinsicht zu zeigen, machen die Bürgerin-nen und Bürger dann völlig dicht. Let-hargie aber ist das genaue Gegenteil je-ner Haltung, die für den „Zweiten Auf-bruch“ Brandenburgs benötigt wird,welchen sich die Koalitionsparteien vor-genommen haben.

Was ist falsch am Sparen?

Was also ist falsch an den erörtertenArgumenten für Sparsamkeit und Kon-solidierung? Im Grunde gar nichts. Siesind in der Sache völlig richtig. Nurleiden sie an einem schweren Defekt:Sie entfalten keine kommunikativeWirksamkeit aus sich heraus, sie kön-nen einer Politik der Konsolidierungkeine öffentliche Akzeptanz verschaf-fen. Sie mögen zu einigen wohlmei-nenden Kommentare in der überregio-nalen Qualitätspresse anstiften, aber

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ihre Strahl- und Überzeugungskraft indie Tiefe der brandenburgischen Ge-sellschaft hinein wird gegen Null ten-dieren.

III. Als Zwischenergebnis zu kon-statieren ist demnach ein fun-

damentales Dilemma: Einerseits kannKonsolidierungspolitik allein mit fi-nanzpolitischen Argumenten offen-sichtlich nicht überzeugend „werblich“vermittelt werden. Andererseits aberführt an dieser Politik einer nachhalti-gen und konsequenten Konsolidierungaus den sattsam bekannten zwingendenGründen überhaupt kein Weg vorbei.Alles andere wäre unverantwortlich –übrigens gerade auch denjenigen gegen-über, die diese Notwendigkeit heutenoch nicht erkennen wollen.

Der zentrale strategische Ansatz, dieseEinsicht zu erreichen, liegt deshalb darin,den allein für sich schwer zu vermitteln-den Konsolidierungskurs in untrennba-rem Zusammenhang mit dem Leitmotivdes „Zweiten Aufbruchs“, der Politik ei-ner „Erneuerung aus eigener Kraft“ zubetrachten. Sollte nämlich dieser Ansatzmisslingen, sollte sich also die Stimmungim Land nicht ändern und Brandenburgstattdessen perspektivlos dahindümpeln,dann wird es den Koalitionsparteien imnächsten Wahljahr 2009 auch nichtsnützen, dass sie am Haushalt ein biss-chen herumkonsolidiert und die Neuver-schuldung heruntergefahren haben. Eswird ihnen schlicht niemand danken.

Kommt jedoch Brandenburg umge-kehrt mit dem „Zweiten Aufbruch“tat-sächlich in Bewegung und kanndie Koalition infolgedessen – zunächstmindestens atmosphärisch – spürbareErfolge vorweisen, dann kann mögli-cherweise in der Folge dieser Politikauch die für sich genommen kaum po-pularisierbare Sparpolitik mit „durch-geschleust“ werden. In diesem Fall be-steht sogar zunehmend die Aussicht,für den inneren Zusammenhang zwi-schen gesunden Staatsfinanzen undwirtschaftlicher Gesundung wachsen-des Verständnis zu finden.

Mit Amt und Führungsstärke

Der Erfolg des „großen Ganzen“ istdamit notwendige Bedingung für denErfolg der Konsolidierung – und um-gekehrt. Dieser Grundansatz derWechselwirkung zwischen „ZweitemAufbruch“ und „nachhaltiger Konsoli-dierung“ muss also jeder finanzpoliti-schen Kommunikationsstrategiezugrunde liegen.

Das wichtigste Kapital, über das diebrandenburgische Landespolitik verfügt,ist das hohe Ansehen ihres ersten Amts-und Sympathieträgers Matthias Platzeck.Dies ist in zahlreichen Umfragen belegtund wurde durch das Wahlergebnis vom19. September 2004 beglaubigt. Dieakademische Debatte über die angeblichverderbliche „Personalisierung“ und da-mit „Amerikanisierung“ der deutschen

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und speziell brandenburgischen Politikgeht völlig ins Leere. Es sind in Wirk-lichkeit nie Kollektive wie „die Regie-rung“, „die Parteien“ oder gar „die Poli-tik“, die irgendetwas tun, beginnen undbewegen, sondern ursächlich immerhandelnde Personen. Mit Matthias Plat-zeck besitzt die Politik in Brandenburgqua Amt, Charisma und Führungsstärkeeinen herausragenden und öffentlich amstärksten anerkannten Akteur.

Glaubwürdigkeit erhalten

Platzeck ist damit zugleich der entschei-dende Motor des „Zweiten Aufbruchs“,der „Erneuerung aus eigener Kraft“ –so schwer diese Bürde für ihn persön-lich zuweilen auch sein mag.

Nur in diesem Gesamtkontext kanneine erfolgreiche Politik der Konsolidie-rung betrieben werden. Daraus folgtauch, dass im Kontext der notwendi-gen Haushaltskonsolidierung alles ver-mieden werden sollte, was die Glaub-würdigkeit der Regierungspolitik beein-trächtigen könnte. Aus diesem Grundist es wichtig, dass etwa die Kita-Finan-zierung in der Tat ein politisches Tabubleibt – in keiner anderen Frage hatsich der Ministerpräsident im Wahl-kampf, auf Parteitagen und in seinerRegierungserklärung klarer festgelegt.Der mögliche „Einspareffekt“ stünde inkeinem Verhältnis zum aufgebrauchtenpolitischen Kapital. Jede Politik – auchjede Finanzpolitik – braucht Akzep-

tanz, Matthias Platzeck ist dafür diesicherste Gewähr. Dies sollte bei allenMaßnahmen berücksichtigt werden:Die aus guten Gründen zu politischenPrioritäten der Regierungspolitikerklärten Themen müssen unbedingtals Prioritäten erkennbar bleiben.„Konsolidierungsbeiträge“ könntensonst zu kostspieligen „Pyrrhussiegen“mit verheerenden politischen Konse-quenzen werden. Vertrauen ist einknappes Gut: leicht zu verspielen undextrem schwer wieder zu erlangen.

Die Brandenburger Koalition ausSPD und CDU hat einen klaren Wäh-lerauftrag. Die anfängliche Polemikder PDS gegen die „Koalition der Ver-lierer“ war eine leidlich originellePointe, ging aber von vornherein voll-ständig an den Präferenzen der Bürgervorbei. Die nämlich unterstützen, wieempirische Erhebungen belegen, eineZusammenarbeit eben dieser beidenParteien bei allen Vorbehalten immernoch am stärksten. Aber die Bürgerwerden diese Koalition an ihren Erfol-gen messen.

Gemeinsame Erfolge

Diese Erfolge können nur gemeinsamerrungen werden – keinesfalls gegenein-ander. Und eine andere Koalitionskon-stellation, der man die Bewältigung derProbleme Brandenburgs eher zutrauenwürde als der heute bestehenden, istweit und breit nicht zu erkennen.

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In den kommenden Jahren werdendie Bürger beobachten, was die Regie-rungskoalition insgesamt für das Landund für sie tut. Die Perspektive dernüchternen Märker ist hier zum einenganz utilitaristisch am eigenen Nutzenorientiert. Zum anderen teilen sie dieErwartung, SPD und CDU in Potsdamsollten, da sie schon eine gemeinsameKoalition führen, doch nun bitteschönauch an einem Strang ziehen. Bereitsdas aufgeklärte Eigeninteresse gebietetdaher allen brandenburgischen Sozial-demokraten und Christdemokraten,dieser Großen Koalition zum Erfolg zuverhelfen.

Ohne Kleinkrieg

Leider unterscheidet sich die Sicht etli-cher Parteiaktivisten in Sozial- undChristdemokratie diametral von derPerspektive der Bürger: Diese Heiß-sporne unterstellen nämlich immernoch, SPD und CDU hätten sich zueinem Mannschaftsspiel verabredet, beidem zwei Mannschaften innerhalbeiner Koalition gegeneinander anträten.Und so geht es aus dieser kurzsichtigenParteiperspektive regelmäßig darum,dem vermeintlichen Gegner so richtigeinen „einzuschenken“.

Dieses „Spiel“ wird am Ende nie-mand gewinnen. Nach der Wahl vom19. September 2004 ging der koali-tionsinterne Kleinkrieg zunächst genau-so weiter, wie er in der von beträchtli-

chem Misstrauen innerhalb der Koali-tion gekennzeichneten vergangenenWahlperiode aufgehört hatte. Erst injüngerer Zeit scheint – mehr einstwei-len auf der Ebene des Kabinetts, weni-ger noch zwischen den Landtagsfraktio-nen – Besserung einzutreten. Mankann nur hoffen, dass dieser Trendanhält.

Zweiter Aufbruch

Denn nochmals: Die allermeisten Bür-ger halten völlig zu Recht überhauptnichts davon, die beiden vorgeblichenRegierungspartner ge-geneinander agie-ren zu sehen. Auf dem Spiel steht des-halb immer das Ansehen beider betei-ligten Parteien zugleich.

Wohlgemerkt: Es müssen durchausnicht immer Friede, Freude und Eier-kuchen herrschen – eine Koalition istkeine Einheitspartei. Aber ein gewissesMaß an Vertrauen ist absolut unver-zichtbar, wenn gemeinsame Ziele erfolg-reich durchgesetzt werden sollen. Dazugehört auch die für Brandenburger Ver-hältnisse noch frische Erkenntnis von derNotwendigkeit, dem politischen Partnerauf Zeit auch seine Erfolge zu gönnen –anstatt stets noch auf das kleinste Haarin der Suppe hinzuweisen. Es muss Ab-schied genommen werden von den ver-hängnisvollen Fehlern der Vergangen-heit; ein gewisses Maß an Fairness gehörtin der Großen Koalition ebenso dazuwie der Verzicht auf wechselseitige politi-

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sche Überforderung. Völlig zutreffendhat Matthias Platzeck nach der Wahl da-rauf hingewiesen, nun habe diese Koali-tion ihre „zweite Chance“ bekommen.Dass es keine dritte geben wird, wenndiese zweite nicht genutzt wird, bedarfkeiner näheren Erläuterung.

Also: Kein entschlossener „ZweiterAufbruch“ ohne Platzeck; keine erfolg-reiche Politik für Brandenburg bis 2009ohne diese Große Koalition; keine dritteChance, wenn die zweite vergeben wird– und keine Akzeptanz für Konsolidie-rung ohne diese drei entscheidendenVoraussetzungen: Dies alles muss im Zu-sammenhang gedacht werden, es stehtund fällt alles miteinander. Alle operati-ven Maßnahmen und Ansätze auch derÖffentlichkeitsarbeit leiten sich von die-sen Grundvoraussetzungen her.

IV.Was folgt nun aus alledem? Vorallem dies: Nur im Rahmen ei-

ner integrierten positiven strategischenGesamtvision für das Land Brandenburgwird auch der richtigerweise eingeschla-gene Kurs der Haushaltskonsolidierungmit Erfolg betrieben werden können.Klarheit, Transparenz sowie insgesamtdas eindeutige Bekenntnis zur „Ankunftin der Wirklichkeit“ bleiben entschei-dende legitimatorische Voraussetzungenjeglicher Politik der Konsolidierung. Mitseinem jüngsten demografie- und wirt-schaftspolitischen Impuls hat Matthias

Platzeck den eingeschlagenen Kurs derehrlichen Bestandsaufnahme nochmalsnachdrücklich bekräftigt.4 Das alles istunbedingt notwendig, aber es ist für sichgenommen noch nicht hinreichend zurBegründung einer Politik der nachhalti-gen Haushaltskonsolidierung.

Positive Kernbotschaft

Dauerhafte öffentliche Einsicht in dieNotwendigkeit dieser Politik wird nurentstehen, sofern sie sich als unerlässli-cher Bestandteil einer strategischen Ge-samtbemühung begreifen lässt, Bran-denburg als zukunftsträchtige Regionmitten in Europa gleichsam neu zu ent-werfen. Ohne den engen inneren Zu-sammenhang zu den völlig zutreffendals absolut vorrangig benannten Zielender Landesregierung wird das Projektder Haushaltskonsolidierung unange-bunden in der Luft hängen bleiben. DieBemühungen auf den Feldern der Bil-dung, der Wissenschaft und Forschung,der Wirtschaft, der Demografie, derDemokratie- und Engagementpolitik,der Familienpolitik, der Bekämpfungdes politischen Extremismus jeder Spiel-art et cetera müssen also jederzeit alsaufeinander bezogene Bestandteile dereinen großen gemeinsamen Anstren-gung für Brandenburgs Zukunft wahr-nehmbar und erfahrbar sein – und ineinem geduldigen Prozess des perma-

4 Matthias Platzeck, Das zupackende Land, Beitrag auf der Klausurtagung des SPD-Landesvorstandes am 18. Februar 2005 inMichendorf.

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nent campaigning in Hinterzimmernund Hörsälen, bei Bürgerversammlun-gen und Vereinsabenden auch so erklärtwerden: Das alles hat miteinander zutun! Das alles dient dem einen überge-ordneten Zweck, unter sich weiter dra-matisch verändernden Bedingungen sovielen Brandenburgern wie nur irgendmöglich dennoch eine lebbare Zukunftzu ermöglichen! Dies ungefähr wäre die

– übrigens auch jegliches Ministerial-und Verwaltungshandeln normativ an-leitende – positive Kernbotschaft, diebeim „Zweiten Aufbruch“ für Branden-burg vermittelt werden muss. Gelingtdies, wird das Sparen zwar immer nochnicht besonders viel Spaß machen –aber seinen Sinn werden immer mehrMenschen dann nach und nach immerbesser begreifen. ■

DR. TOBIAS DÜRR

ist Politikwissenschaftler, Publizist und Chefredakteur der Zeitschrift „Berliner Republik“.

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DIE NEUEN LÄNDER BRAUCHEN MUTIGE POLITISCHE ENTSCHEIDUNGENVON NIKOLAUS VOSS

Umbau Ost stattWeiter-so-Aufbau-Ost

I. „Die halbe Wegstrecke ist geschafft“,so Bundeskanzler Gerhard Schröder

bei Auftritten im Bundestagswahlkampf2002 im Osten Deutschlands. Und in derTat gab und gibt es viele Statistiken undUntersuchungen, die diese Aussagebestätigen. Als sich die neuen Länder fürdie Verhandlungen zur Neuordnung desLänderfinanzausgleichs rüsteten, beauf-tragten sie das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung (DIW) mit einerBestandsaufnahme der Infrastrukturaus-stattung der neuen Länder. Das DIWkommt in seinem Gutachten „Infrastruk-turausstattung und Nachholbedarf inOstdeutschland“ (2000) zu dem Schluss,dass die ostdeutschen Länder Ende 1999einen Infrastrukturkapitalbestand (gemes-sen am Brutto-Anlagevermögen jeEinwohner zu Preisen von 1991) in Höhevon 70 Prozent aller westdeutschenFlächenländer und in Höhe von 74 Pro-zent aller finanzschwachen westdeutschenFlächenländer hatten.

Im „Zweiten Fortschrittsberichtwirtschaftswissenschaftlicher Institute

über die Entwicklung in Ostdeutsch-land“ stellen die Institute fest, dassnach wie vor deutliche Mängel in derInfrastrukturausstattung der neuenLänder vorhanden sind. Von einemflächendeckenden Nachholbedarf kön-ne allerdings nicht mehr gesprochenwerden. Im Klartext: Die so genannte„Infrastrukturlücke“ kann sukzessivegeschlossen werden. Es ist Aufgabe der„zweiten Hälfte der Wegstrecke“, diesezu schließen. Vor diesem Hintergrundwar es folgerichtig, 2001 den Solidar-pakt II zu vereinbaren, der im Rah-men des so genannten „Korb I“ zwi-schen 2005 und 2019 noch einmalweitere 105 Milliarden € für die neuenLänder zur Verfügung stellt. Der Bundhat darüber hinaus zugesagt, für denAufbau der neuen Länder in einem„Korb II“ bis zu weiteren rund 51,1Milliarden € für überproportionaleLeistungen zur Verfügung zu stellen.Bislang sind die einzelnen Komponen-ten des „Korbes II“ nicht abschließenddefiniert.

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II.Die Rahmenbedingungen fürden Aufholprozess in den neuen

Ländern sind bis zum Jahr 2020 rela-tiv klar gesetzt. Das heißt, dass dieLandespolitiken bereits heute wichtigeWeichenstellungen treffen können, jamüssen. Die folgenden Rahmenbedin-gungen bilden die wesentlichen Koor-dinaten für einen Prozess, der in Zu-kunft stärker vom „Umbau Ost“ alsvon einem „Weiter-so-Aufbau-Ost“geprägt sein wird:■ Die Bevölkerung entwickelt sich inden neuen Ländern bis zum Jahr 2020negativ. Die neuen Länder verlieren zwi-schen 2003 und 2020 rund 1,449 Mil-lionen Einwohner (also etwa 11 Pro-zent). Das liegt zum Einen an dem dra-stischen Einbruch der Geburten zwi-schen 1991 und 1994, zum Anderennatürlich an den negativen Wanderungs-salden. Noch drastischer ist der Rück-gang des Erwerbstätigenpotenzials (Per-sonen im erwerbsfähigen Alter zwischen15 und 65 Jahren) um 22 Prozent bis2020. Grund hierfür ist, dass in dennächsten Jahren mehr ältere Personenaus dem Erwerbsleben ausscheiden wer-den als junge Personen hinzukommen.■ Der Solidarpakt II ist degressiv aus-gestaltet. Während sich die Zuweisun-gen zwischen 2005 und 2008 mitjährlich ca. 10,4 Milliarden € nahezuauf gleichem Niveau bewegen wie imSolidarpakt I bis zum Jahr 2004, be-ginnt mit dem Jahr 2009 eine deutli-che Zurückführung (2009: 9,5 Milli-

arden €/2019: 2,1 Milliarden €). Dieswird dazu führen, dass die gesamtenPro-Kopf-Einnahmen, die den ost-deutschen Ländern und Gemeindenzur Verfügung stehen, von heute 120Prozent des Niveaus der westdeut-schen finanzschwachen Flächenländerauf Werte unterhalb des Vergleichs-wertes zurückfallen werden. Das wirdzu einer starken Verengung der finanz-politischen Spielräume der ostdeut-schen Länder und Kommunen führen.Folglich müssen die öffentlichenHaushalte frühzeitig angepasst werden.■ Von erheblicher Bedeutung dürfteauch die Ausgestaltung der EU-Förde-rung zwischen 2007 und 2013 sein.Zunächst geht es darum, dass dieneuen Länder – soweit wie möglich –als Ziel-1-Gebiet eingestuft werden,d.h. weiterhin in den Genuss derHöchstförderung kommen. Jedenfallsist davon auszugehen, dass eine Ein-stufung als Ziel-1-Gebiet letztmaligsein wird. Zwar ist derzeit noch nichtabsehbar, mit welchem Volumen dieKohäsionsfonds (EFRE und ESF) so-wie der ELER ausgestattet sein wer-den. Dennoch wird es darauf ankom-men, dass die Förderperiode genutztwird, die Förderung zielgerichtet aufinvestive Zwecke auszurichten.

III.Die öffentlichen Strukturen inden neuen Ländern sind nach

der Wende nicht nur nach westdeut-schen Vorbildern aufgebaut worden (je

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[ umbau ost statt weiter-so-aufbau-ost ? ]

nachdem, aus welchem Bundeslanddie Aufbauhelfer kamen), sie sind vorallem in der Erwartung entwickeltworden, dass die Wirtschaftskraft sichüber einem überschaubaren Zeitrauman die der westdeutschen Flächenlän-der anpassen würde. Diese Erwartunghat sich nicht erfüllt.

Vier Aufgaben für die Länder

Angesichts der Entwicklung der öffent-lichen Haushalte und der Bevölkerungs-zahlen werden alle neuen Länder ge-zwungen sein, ihre öffentlichen Struktu-ren anzupassen. Dazu vier Bespiele:■ In allen neuen Ländern hat ein Pro-zess des Bürokratieabbaus begonnen. Ermuss fortgesetzt und forciert werden, umder Wirtschaft stärkere Entfaltungsmög-lichkeiten zu geben und die öffentlichenVerwaltungen von Aufgaben zu entlas-ten. Auch der Bund ist gefordert, endlichErnst mit wirksamen Beiträgen zur De-regulierung zu machen. Dazu zählt auch,dass die Umsetzung von europäischenRecht auf nationaler Ebene sich auf dietatsächlich notwendigen Regelungsbe-darfe beschränkt und nicht durch zu-sätzliche Standards insbesondere im so-zialen und im Umweltbereich verschärftund damit zu höheren Kosten führenwerden.■ In allen neuen Ländern werden um-fassende Verwaltungs- und Gebietsre-formen auf allen Ebenen notwendigsein, um die öffentlichen Verwaltungen

an die demografische Entwicklung an-zupassen und Kosten zu sparen. Dazuzählen vor allem auch Aufgabenverlage-rungen von der Landes- auf die kom-munale Ebene (Funktionalreform). InMecklenburg-Vorpommern beispiels-weise bereitet die Landesregierung einVerwaltungsmodernisierungsgesetz vor,mit dem u.a. im Ergebnis aus zwölfLandkreisen und sechs kreisfreienStädte vier oder fünf Kreise entstehensollen.■ Mit diesen Reformen ist ein drasti-scher Personalabbau verbunden. So wirddas Land Mecklenburg-Vorpommernüber die nächsten Jahre ca. 10.000 Stel-len im Landesdienst abbauen, um einvergleichbares Niveau pro Kopf gegenü-ber den finanzschwachen westdeutschenFlächenländern zu erreichen. Damiteinher geht eine deutliche Straffung derVerwaltungsstrukturen.■ Notwendig ist es ebenso, deutlicheStraffungen im Schulsystem und in derHochschullandschaft zu erreichen. Bei-de Systeme sind in der Regel zu klein-teilig. Dieses führt dazu, dass insbeson-dere in ländlichen Räumen einzügigeSchulen vorgehalten werden, die denqualitativen Ansprüchen an Bildungnicht entsprechen können und zudemsehr kostenintensiv sind. Die wachsen-de Orientierung auf Ganztagsschulan-gebote und längerem gemeinsamenLernen sind Schritte in die richtigeRichtung. Die Hochschullandschaft inden neuen Ländern ist oft davon ge-

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prägt, dass viele Studiengänge parallelangeboten werden, wobei die Anzahlder vorhandenen Lehrstühle für Lehreund Forschung eine unterkritischeGrenze erreichen. Beispielhaft könnteder Universitätsverbund in der Öresun-dregion (Dänemark/Schweden) Leit-bild für eine Entwicklung sein, die zumehr internationaler Wettbewerbsfä-higkeit der Hochschulen führen kann.

IV. Es wurde schon dargestellt, dassdas Erwerbstätigenpotenzial in

Ostdeutschland drastisch zurückgehenwird. Bis zum Jahr 2020 wird hier miteinem Rückgang von 22 Prozent ausge-gangen. Zwar geht damit auch eine ge-wisse Entlastung auf dem Arbeitsmarkteinher und die Unterbeschäftigung wür-de rechnerisch gesehen dadurch zurück-gehen, weil heutige Erwerbslose (über-proportional viele Langzeitarbeitslose)mit dem Erreichen des Rentenalters ausder Statistik herausfallen. Zugleich aberwird je Einwohner bezogen auch dasBruttoinlandsprodukt sinken. Das be-deutet, dass der Osten gegenüber demWesten mit Blick auf künftige Wachs-tumspotenziale unter weiteren Nachtei-len leiden wird.

Eine weitere Folge der demografi-schen Entwicklung wird ein deutlicherRückgang der Kaufkraft und damitder Binnennachfrage sein. Das heißtaber auch, dass für die auf den Bin-nenmarkt ausgerichtete regionaleWirtschaft mit einem Rückgang von

Arbeitsplätzen zu rechnen ist. Insofernmüsste der Fokus der Wirtschaftspoli-tik stärker auf Herstellern von Güterngerichtet werden, die für ihre Produkteüberregionale bzw. internationale Ab-satzmärkte erschließen können. DerenChancen werden ganz wesentlich vonihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den in-ternationalen Märkten abhängig sein.Ganz wesentliche Faktoren sind dabei,ob der Bedarf an hochqualifiziertenFachkräften gedeckt und ob die Ar-beitskosten begrenzt werden können.

Fachkräftemangel ab 2009

Wie bedeutsam hochqualifizierte Fach-kräfte sein werden, wird spätestens abdem Jahr 2009 erkennbar werden,wenn durch den Geburtenknick dras-tisch weniger junge Leute für den Aus-bildungsmarkt zur Verfügung stehen.Spätestens dann wird ein Prozess ein-setzen, der den Fachkräftebedarf nurdurch entsprechende Zuwanderungoder aber durch freilich sehr kosten-intensive Qualifizierung von Arbeits-losen befriedigen wird können.

Auf diese Entwicklungen muss sichdie Politik in den neuen Ländern ein-stellen. Das bedeutet vor allem, dassdie Mittel aus dem Solidarpakt II unddie in der EU-Förderperiode 2007-2013 zur Verfügung stehenden Geldersehr viel stärker investiv eingesetztwerden müssen. Um die Zukunftsfä-higkeit der neuen Länder zu sichern,

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[ umbau ost statt weiter-so-aufbau-ost ? ]

müssen insbesondere die nachstehen-den vier Politikfelder in den Mittel-punkt gestellt werden:■ Verbesserung der Wettbewerbs-

fähigkeit,■ Schließen noch bestehender Infra-

strukturlücken,■ Forschung und Entwicklung von

Netzwerken,■ Entwicklung der Humanressourcen.

Diese vier Politikfelder stehen imengen Zusammenhang und ergänzensich. Vereinfacht lässt sich sagen, dasseine Verbesserung der Wettbewerbs-fähigkeit unzureichend bleibt, wennsie nicht mit einer adäquaten Infra-strukturausstattung einhergeht unddurch zukunftsorientierte Forschungund Entwicklung flankiert und ange-trieben wird. Alle Initiativen in diesemZusammenhang gehen letztlich vonMenschen aus, und deshalb bleibt dieFörderung des Humanpotenzials un-entbehrlich.

Es ist politisch sicherlich sinnvoll,darauf hinzuweisen, dass sich dieseSchwerpunkte in die gegenwärtige Lis-sabon-Strategie der EU einordnen, diedarauf abzielt, die EU bis zum Jahr2010 zum wettbewerbsfähigsten unddynamischsten Wirtschaftsraum derWelt zu machen. Kernpunkte der Liss-abon-Strategie ist die Schaffung vonneuen und zukunftssicheren Arbeits-plätzen, lebenslanges Lernen undWettbewerbsfähigkeit durch Innova-

tion. Um Innovationen voranzubrin-gen, sollen 3 Prozent des BIP für For-schung und Entwicklung ausgegebenwerden.

Mehr Wirtschaftspolitik

Die vorgenannten Schwerpunkte tra-gen aber auch dem Umstand Rech-nung, dass die Entwicklung in denneuen Ländern im BIP-Durchschnittim Vergleich mit anderen deutschenund europäischen Regionen unbefrie-digend ist. WachstumsstimulierendeImpulse werden sich im wesentlichenaber nur dadurch erreichen lassen, dassproduktive Arbeitsplätze im verarbei-tenden Gewerbe, in Forschung undEntwicklung und im Dienstleistungs-sektor geschaffen werden. Das bedeu-tet aber auch, dass die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit nicht auf sozialpo-litische Maßnahmen, sondern auf dieSchaffung von Arbeitsplätzen ausge-richtet werden muss. Eigene Landesar-beitsprogramme sind daher auch inso-weit nicht zielführend, weil mit derUmsetzung der Reformen am Arbeits-markt durch die Bundesregierung aus-reichend Instrumentarien zur Verfü-gung stehen.

Der Arbeitslosigkeit kann im we-sentlichen nur durch ein entsprechen-des Angebot an nachhaltigen, zukunft-sorientierten Arbeitsplätzen auf demersten Arbeitsmarkt entgegengewirktwerden. Wege dorthin müssen sich

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[ nikolaus voss ]

daran orientieren, in welchen Wirt-schaftssektoren und Regionen solcheArbeitsplätze entstehen können. Siemüssen sich daran ausrichten, wie anvorhandene, wettbewerbsfähige sekto-rale und regionale Wachstumskerneangeknüpft werden kann.

Förderung nicht selbstverständlich

Für die Vorbereitung der EU-Förderpe-riode 2007-2013 bedeutet eine stärkereinvestive Ausrichtung der Förderungauch, dass die Mittelaufteilung zwischendem EFRE und dem ESF zu Gunstendes EFRE neu justiert werden muss.

Die Erfahrung bei der Ansiedlungneuer Unternehmen in den neuen Län-dern zeigt ganz deutlich, dass sich diesevor allem auf Oberzentren und entlangder Hauptverkehrsachsen orientieren, sodass hier bereits regionale Wachstums-kerne entstanden sind. Entsprechendmuss auch die Förderpolitik sich imwesentlichen auf diese Wachstumsker-ne orientieren und mit der Schaffungvon Arbeitsplätzen verbunden sein.Die Zeit der Gießkannenförderungmuss der Vergangenheit angehören.Und zugleich muss dem Gewöhnungs-effekt fortlaufender Förderung entge-gengewirkt werden, um spätestens imZeitraum 2013-2020 zu sich selbsttragenden Branchen und Entwicklun-gen zu gelangen.

Wir haben bereits oben ausgeführt,dass eine adäquate Infrastrukturaus-

stattung eine wesentliche Vorausset-zung für die Wettbewerbsfähigkeit derneuen Länder ist. In den nächsten Jah-ren wird es darauf ankommen, nochbestehende Infrastrukturlücken zuschließen. Dieses bezieht sich zum ei-nen auf die Verkehrs- und gewerblicheInfrastruktur. Bei der Verkehrsinfra-struktur wird es in den nächsten Jah-ren jedoch notwendig sein, wenigerauf Neubau als auf Modernisierungder wichtigen Verkehrsnetze zu setzen.Die demografische Entwicklung wirdes mit sich bringen, insbesondere beimLandes- und Kommunalstraßenbau,genau darauf zu achten, ob die Bedar-fe tatsächlich auch vorhanden sind.Das gleiche trifft zu auf den Schienen-verkehr und die Flughäfen. Hierkommt es im Wesentlichen darauf an,die Erreichbarkeit der wirtschaftlichenZentren zu verbessern.

Demografie fordert Umsteuerung

Im Wohnungsbau ist mit dem Stadt-umbauprogramm Ost bereits eine we-sentliche Umsteuerung erfolgt. DiesesProgramm gilt es fortzusetzen. Zu-gleich sollte die Eigenheimförderungaufgegeben werden, da der Woh-nungsmarkt ausreichend Wohnraumzur Verfügung stellt und zudem so derZersiedlung der Landschaft entgegen-gewirkt werden kann. Wenn über-haupt, sollte sich die Eigenheimförde-rung auf eine Vitalisierung der Innen-

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[ umbau ost statt weiter-so-aufbau-ost ? ]

städte konzentrieren. Das gleiche giltfür die Städtebauförderung.

Angesichts der demografischen Ent-wicklung ist auch im Schul- und Hoch-schulbau eine Umsteuerung notwendig,die sicherstellt, dass die zu tätigen Inves-titionen nur in bestandsfähige Standorteerfolgen. Für den Schulbau bedeutet die-ses, dass vor allem im ländlichen Raumstärker auf Schulzentren mit Ganztags-schulangeboten orientiert werden muss.Bei den Berufsschulen ist zu berücksich-tigen, dass für viele Ausbildungsrichtun-gen angesichts des Rückgangs der Be-rufsschüler oft nur noch ein Angebot inden Ländern vorgehalten werden kann,um überhaupt sinnvolle Klassenstärkenzu erzielen. Bei den Hochschulen – eswurde bereits ausgeführt – müssen dieInvestitionen stärker darauf ausgerichtetwerden, dass die internationale Wettbe-werbsfähigkeit durch Spezialisierung undNetzwerkbildung vorangetrieben wird.

Die demografische Entwicklung wirdan den Hochschulen aber auch immerstärker die Frage aufwerfen, inwieweit sieselbst einen Beitrag dazu leisten, dassjunge Menschen zielgerichtet auf die inden neuen Ländern tatsächlich nachge-fragten Fachberufe hin ausgebildet wer-den. Damit ist keineswegs die Forderungerhoben, dass nur „Landeskinder“ an ih-ren Hochschulen studieren sollen. Aber

zu hinterfragen ist jedenfalls, ob es zeit-gemäß ist, dass Hochschulen oft am tat-sächlichen Bedarf vorbei ausbilden undob es richtig ist, dass die Hochschulen inden neuen Ländern überproportionalden Fachkräftebedarf in den alten Län-dern befriedigen.

V. Bis zum Jahr 2020 stehen denneuen Länder durch den Soli-

darpakt II und dadurch, dass weiteBereiche voraussichtlich weiterhin inden Genuss der Ziel-1-Gebiet-Förde-rung der EU kommen, überproportio-nal Finanzmittel zur Verfügung. Aller-dings ist die Ausstattung der zur Ver-fügung stehenden Finanzmittel degres-siv ausgerichtet. Parallel dazu geht dieBevölkerungszahl und das Erwerbstäti-genpotenzial drastisch zurück. Wenndie neuen Länder dauerhaft ihren Be-stand sichern wollen, dann müssen siebis zum Jahr 2020 auf „eigenen Füßenstehen“. Zukunft aus eigener Kraft ge-stalten zu können, bedeutet, dass diebisherigen Entwicklungsstrategien desAufbau Ost in vielerlei Hinsicht kri-tisch zu hinterfragen sind. Eine neueAusrichtung des Aufbau Ost bedeutet,stärker auf einen systematischen Um-bau Ost zu orientieren. Die Zeit läuft.Mutige politische Entscheidungenwerden notwendig sein. ■

NIKOLAUS VOSS

ist Leiter der Abteilung Koordinierung der Landes- und Bundespolitik in der Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern.

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[ nikolaus voss ]

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MINDESTBESTEUERUNG VON UNTERNEHMENSGEWINNEN IN DER EU?VON OLIVIER HÖBEL

Von Luxembourg lernen,heißt siegen lernen

Immer wieder bestimmen Schlag-worte wie Steuerwettbewerb und

Unternehmensabwanderung die politi-schen Debatten. Auch bei den jüngs-ten Ereignissen, die die Republik wirt-schaftspolitisch in Atem hielten – dieRede von Bundespräsident Horst Köh-ler, die Regierungserklärung von Bun-deskanzler Schröder und der Jobgipfelvon Regierung und Opposition –spielten diese Fragen eine wichtigeRolle. Der Regierungsvorschlag, dieKörperschaftssteuersätze erneut zu sen-ken – von derzeit 25 Prozent auf nurnoch 19 Prozent bei einer Gegenfinan-zierung über eine breitere Bemessungs-grundlage – zielt darauf ab, im inter-nationalen Steuerwettbewerb besseraufgestellt zu sein und damit Investo-ren zu locken.

Seit fast einem Vierteljahrhundertist die politische Agenda in den meis-ten Ländern darauf ausgerichtet, staat-liche Aktivitäten zurückzudrängenund Steuern ausschließlich als Belas-tung anzusehen – und nicht auch alsnotwendige Finanzierung staatlicherAufgaben. Andererseits wurden jegli-

che Beschränkungen des Kapitalver-kehrs aufgegeben. Insgesamt hat durchdiese beiden Entwicklungen ein Wett-lauf nach unten angefangen. DurchSteuererleichterungen für Unterneh-men sollten Investoren angelockt undneue Beschäftigung generiert werden.Gewolltes Ergebnis dieser Politik warsicherlich, dass die gesamtwirtschaftli-che Steuerbelastung (Anteil des Steuer-aufkommens am BIP) in Deutschlandvon 24,6 Prozent im Jahr 1980 auf21,5 Prozent in 2003 gesenkt wurde,obwohl zwischenzeitlich mit der Deut-schen Einheit erhebliche zusätzlicheHerausforderungen zu bewältigen wa-ren. Dass der erhoffte Effekt, mehrWachstum und Arbeitsplätze, zudemausblieb, sei hier nur am Rande er-wähnt.

Agressive Steuerpolitik in Erweiterungsländern

Erheblich an Bedeutung gewonnenhat diese Debatte mit der Erweiterungder Europäischen Union. Die Bei-trittsländer, die einen enormen Bedarf

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an ausländischen Direktinvestitionenzur Modernisierung ihres Kapital-stocks haben, versuchen mit einer ag-gressiven Steuerpolitik (soll heißen,sehr niedrigen Sätzen bei der Unter-nehmensbesteuerung) dieses Kapitalanzuziehen. Spitzenreiter ist Zypern,welches bei der Körperschaftssteuernur noch einen Satz von 10 Prozenterhebt. Allerdings reicht die Spanneauch bis 35 Prozent in Malta, was in-zwischen schon als besonders hoch an-zusehen ist. Das Mittelfeld (von Lett-land bis Tschechien) liegt bei Sätzenzwischen 15 und 25 Prozent. Das istzwar sehr niedrig, angesichts jüngsterSteuersenkungen in anderen Staaten(in Deutschland vielleicht bald 19Prozent) aber auch nicht so aggressiv,wie es auf den ersten Blick scheinenmag. Allerdings ist der Wettlauf nachunten keineswegs an seinem Ende an-gelangt, die Dynamik des Prozesses istungebrochen.

Steuerwettbewerb durchSubventionierung

In der EU gibt es verschiedene Auffas-sungen darüber, wie mit diesem Steu-erwettlauf umzugehen ist. Der briti-sche Schatzkanzler Gordon Brownsieht darin überhaupt kein Problem,im Gegenteil: durch diesen Wettbe-werb würde sich das leistungsfähigsteSystem durchsetzen. Jegliche Formeiner Harmonisierung der Unterneh-

mensbesteuerung wäre nach dieser„marktradikalen“ Position sogar schäd-lich. Anders dagegen der deutscheBundeskanzler: „In den mittel- undosteuropäischen Ländern gibt es dieErwartung: Wir haben niedrige Steu-ersätze und Löhne. Aber für die Infra-struktur, die wir deshalb nicht selberfinanzieren können, stellt uns die EUzur Verfügung. Das geht so nicht.“Die Opposition, beispielsweise in Ge-stalt des Hessischen Ministerpräsiden-ten Roland Koch, sekundiert ihm da-zu. Noch Radikaler ist die Vorstellungdes ehemaligen französischen Wirt-schafts- und Finanzministers NicolasSarkozy, der Ländern mit niedrigerBesteuerung den Zugriff auf die För-dermittel der EU verwehren will.

Vernetzte Waren- undKapitalströme

Europa wächst immer mehr zu einemeinheitlichen Wirtschaftsraum zusam-men. Das Nebeneinander unterschied-licher Sätze und Systeme der Unter-nehmensbesteuerung ist damit einProblem. Allerdings sollte, gerade fürdie Investitionsentscheidungen derUnternehmen, die Besteuerung, dienur ein Faktor unter vielen darstellt,nicht überbewertet werden. Die Wa-ren- und Kapitalströme zeigen einezunehmende Vernetzung, aber per Sal-do keine Verlagerung von Investitio-nen. Das ist der empirische Beleg da-

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[ von luxembourg lernen, heißt siegen lernen ]

für, dass die Unternehmen bei weitemnicht so mobil sind, wie es die Vertre-ter der „Sachzwang Globalisierung“ –Agitation im allgemeinen Glaubenmachen wollen. Die wissenschaftli-chen und die politischen Frontleutedieser Zeitgeistbewegung betreibeneben zuerst und vor allem schlichteIdeologie anstelle von gründlicherAnalyse.

Sie tun das insbesondere dann,wenn sie dem seit jeher bekanntenVerhaltensmuster „Das Klagen ist desKaufmanns Gruß“ – das jeder Positio-nierung und Forderung von DIHK,BDI, BDA etc. zugrunde liegt – be-reits den Erklärungswert an sich zu-schreiben. Während die interessenge-leitete Politik der Wirtschaftsverbändedarauf abzielt, die öffentlichen Güterund Leistungen für immer geringereBeiträge der Unternehmen und derUnternehmer zum Staatshaushalt ver-fügbar zu machen, wird in den Unter-nehmen sehr wohl eine Kosten-Nut-zen-Abwägung zum Verhältnis vonöffentlichen Gütern und Steuern alsderen Preis vollzogen.

Steuern für Infrastruktur und Zusammenhalt

Tatsache ist allerdings: der Staat ist drin-gend auf ausreichende Einnahmen an-gewiesen, um seine Aufgaben zu erfül-len. Wir wollen in einem Land miteiner funktionierenden und leistungs-

fähigen Infrastruktur und einem sozia-len Zusammenhalt leben. Wem daswichtig ist, der muss in der Steuerpoli-tik für zwei Ziele streiten. Erstens mussdie Steuerpolitik dafür sorgen, dass dieStaatsausgaben, die zur Gestaltung einereffizienten, sozial ausgewogenen undökologisch verträglichen Entwicklungerforderlich sind, finanziert werdenkönnen. Zweitens muss sie gewährleis-ten, dass die Lasten dieser Finanzierunggerecht auf die Mitglieder der Gesell-schaft verteilt werden. In der Bundes-republik Deutschland ist in den ver-gangenen Jahren gegen beide Zielemassiv verstoßen worden. Im jüngstenStabilitäts- und Wachstumsprogrammder Bundesregierung wird darauf ver-wiesen, dass in den letzten vier Jahrenin Deutschland die Steuerquote amBruttoinlandsprodukt um 2 Prozentvermindert wurde. Doch gerade das istwahrlich keine Errungenschaft.

Staatsverschuldung ist nicht links

Dieses Ergebnis wurde mit der deut-lichen Einschränkung öffentlicherAufgaben erkauft. Es ist verantwort-lich für massive Steuerausfälle und hatzu erheblichen Finanzierungsproble-men geführt. Beantwortet wurden dieso verursachten Probleme mit ökono-misch wie sozial kontraproduktivenKürzungen der öffentlichen Ausgabensowie der Ausweitung der öffentlichen

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[ ol iv ier höbel ]

Kreditaufnahme. Im Lichte der sozia-len Realität im Lande zeigt sich dabeisehr klar, dass Staatsverschuldung keinErgebnis linker Politik ist. Die ge-wachsene und noch wachsende öffent-liche Verschuldung ist einzig das Er-gebnis einer Politik, die einseitig dieoberen Einkommensgruppen und dieUnternehmen durch die verschiedenenSteuerreformen des letzten Jahrzehntsbegünstigt hat. Spiegelbildlich dazu istder Anteil der Lohn- und Konsum-steuern am Gesamtsteueraufkommenmassiv angestiegen.

Zur Finanzierung der Staatsaufga-ben werden also immer mehr diejeni-gen herangezogen, die keine Standort-wahl für sich behaupten können. Ar-beitnehmer und Verbraucher sind dieVerlierer der Steuerpolitik. Diese Poli-tik ist ungerecht und senkt die Le-bensqualität. Das ist Politik gegenMassenkaufkraft und Binnennach-frage, womit wir beim eigentlichenProblem von wirtschaftlicher Stagna-tion, von Massenarbeitslosigkeit undgesellschaftlicher Krise sind.

Mindestbesteuerung als erster Schritt

Wäre die deutsche Steuerquote desJahres 2004 so hoch gewesen wie imJahre 2000, hätten die öffentlichenHaushalte gut 60 Milliarden €. mehrzur Verfügung gehabt. Es ist nicht nursinnvoll, sondern wie ein Blick zu

wichtigen europäischen Nachbarnzeigt auch ohne Schaden für die Ge-samtwirtschaft machbar, dass die Fi-nanzierungsgrundlage des Staates ins-gesamt durch höhere Steuereinnahmenverbessert wird. Im Jahre 2003 betru-gen die Steuerquoten in Frankreich27,5 Prozent, in Österreich 28,4 Pro-zent und im Vereinigten Königreich28,9 Prozent.

25 Länder mit25 Regeln

Ein europäischer Steuerwettlauf nachunten wird die Finanzierungsbasis desStaates nur noch weiter aushöhlen.Wettbewerb ist deshalb auf diesemGebiet schädlich. Dadurch entstehteine Situation, wo es (fast) nur Verlie-rer gibt. Eine europaweite Harmoni-sierung der Besteuerung ist deshalbnotwendig und zu begrüßen, eineMindestbesteuerung wäre ein wichti-ger Schritt auf diesem Weg.

Bleibt die Frage, wie eine solcheHarmonisierung aussehen könnte. ImFokus der öffentlichen Debatte stehenin der Regel die Steuersätze. Doch ein-heitliche Steuersätze sagen so langenichts über tatsächlich gezahlte Steu-ern aus, wie unterschiedliche Ausnah-men, Abschreibungsregeln und sons-tige Feinheiten die Basis, von der Steu-ern abgeführt werden, unterschiedlichgestalten. In den 25 Ländern der EUexistieren gegenwärtig auch 25 ver-

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[ von luxembourg lernen, heißt siegen lernen ]

schiedene Regelwerke, um die Bemes-sungsgrundlage der Unternehmensbe-steuerung zu bestimmen. Deshalb istes ausdrücklich zu begrüßen, dass derEuropäische Rat die Kommission be-auftragt hat, gemeinsam mit den Mit-gliedsstaaten Regeln für eine einheitli-che Bemessungsgrundlage bei der Un-ternehmensbesteuerung zu entwickeln.Erst auf dieser Basis ließe sich sinnvollüber Mindeststeuersätze reden.

Zu bedenken ist allerdings, dass Ent-scheidungen über Steuern in der EUeinstimmig getroffen werden müssen.Jedes Mitgliedsland hat also faktisch einVetorecht. Ob tatsächlich praktikableErgebnisse herauskommen oder dieganze Debatte nicht nur eine Luftnum-mer bleibt, ist deshalb völlig offen. Zubedenken ist ferner, wie hoch die effek-tive Besteuerung der Unternehmen inden EU-Ländern derzeit tatsächlich aus-fällt. Da es sich bei grenzüberschreiten-den Investitionen in der Regel umgroße Unternehmen handelt, ist dieKörperschaftssteuer dafür der richtige

Maßstab. Und hier kommt man zu ver-blüffenden Ergebnissen. Im Jahre 2002(neuere internationale Vergleichszahlenliegen noch nicht vor) betrug nach denAngaben von EUROSTAT der Anteilder Körperschaftssteuer am BIP inDeutschland 0,6 Prozent. Das war derniedrigste Wert, der nur noch von Li-tauen erreicht, aber von keinem unter-boten wurde. Der Durchschnittswertunter den 25 EU-Staaten betrug 2,4Prozent, den größten Steuerbeitrag lei-steten die Unternehmen in Luxem-bourg mit 8,6 Prozent.

Die (aggressive) Steuerpolitik inDeutschland wäre demnach ursächlichfür die Einführung einer Mindestbe-steuerung in der Europäischen Union.Mit manchem Steuergeschenk an dieUnternehmen ist man hier zu Landewohl weit über das Ziel einer interna-tionalen Wettbewerbsfähigkeit hinaus-geschossen.

Und übrigens: danken tun es dieVerbände Frau Merkel und HerrnWesterwelle. ■

OLIVIER HÖBEL

ist Sozialwirt und Bezirksleiter der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen.

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[ matthias platzeck ]

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WARUM DIE AKTUELLE DISKUSSION UM DEN SOLIDARPAKT ZUR RICHTIGEN ZEIT KOMMT VON TINA FISCHER

Grips statt Beton

J eder hat es gehört. Der Osten habedie in ihn geflossenen Gelder nicht

richtig investiert. Die Mittel aus demSolidarpakt I seien falsch ausgegebenworden und entsprechen nicht demvereinbarten Berechnungsschema mitden Ländern. Die Fehlverwendungs-quote liegt dabei teilweise über 70Prozent. Statt die teilungsbedingtenSonderlasten abzubauen und die Fi-nanzschwächen ihrer Kommunen aus-zugleichen, sollen die neuen Bundes-länder die Sonderbedarfs-Bundeser-gänzungszuweisungen (SoBEZ) ausdem Solidarpakt I verwendet haben,um Haushaltslöcher zu stopfen.

Die Diskussion um den Aufbau Osthat mit diesen Äußerungen des Bun-des neue Aktualität bekommen. DerEindruck in der Öffentlichkeit ist ver-heerend.

Grob irreführend ist in diesem Zu-sammenhang, die Summe von 1.250Milliarden € zu nennen, die seit derWende nach Ostdeutschland geflossensind. Dies ist wohl eher als Ausdruckhärter werdender Verteilungskämpfe

zu werten: Der Osten soll als Fass oh-ne Boden erscheinen. Der Protest derLänder ist deshalb verständlich. Auchin einem Land wie Brandenburg, ver-schuldet mit über 17,5 Milliarden €und einer Arbeitslosenquote von über20 Prozent, hört man solche Tönenicht gern.

Missbrauchte Solidarität

Und zur Erinnerung: Ursächlich fürdie mangelhafte Leistungsfähigkeit derostdeutschen Wirtschaft ist die ausdem Krieg resultierende TeilungDeutschlands. Auch standen die gro-ßen Aufbauhilfen nach dem Krieg nurdem Westen zur Verfügung. Es lagnicht in der Entscheidungsgewalt derOstdeutschen, 40 Jahre länger auf De-mokratie und Marktwirtschaft wartenzu müssen. Sie hatten für die Nieder-lage Deutschlands doppelt zu zahlen.

Zieht man von den in Rede stehen-den 1.250 Milliarden € die Ausgabenab, die normale Staatsaufgaben darstel-len, wie z.B. die Ausgaben für die öf-

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1 In § 11 III 3,4 FAG heißt es: „Die Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin-gen berichten dem Finanzplanungsrat jährlich im Rahmen von Fortschrittsberichten über ihre jeweiligen Fortschritte bei derSchließung der Infrastrukturlücke, die Verwendung der erhaltenen Mittel aus den SoBEZ und die finanzwirtschaftliche Entwicklungder Länder- und Kommunalhaushalte einschließlich der Begrenzung der Nettoneuverschuldung. Die Berichte werden bis Ende Sep-tember des dem Berichtjahr folgenden Jahres vorgelegt und mit einer Stellungnahme der Bundesregierung im Finanzplanungsraterörtert.“

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fentlichen Bediensteten des Bundes inden neuen Ländern, und die Ausgabenfür Leistungen wie Arbeitslosengeldund Renten, wird die Summe realisti-scher. Wirtschaftsforschungsinstitutenennen lediglich Beträge zwischen 250und 350 Milliarden €, die zwischen1990 und 2003 als „reine Aufbauhil-fen“ nach Ostdeutschland geflossensind.

15 Milliarden für Brandenburg

Brandenburg hat aus dem Solidarpakt I,der bis Ende 2004 die Zuweisungendes Bundes an die ostdeutschen Län-der für die letzten zehn Jahre regelte,knapp 15 Milliarden € erhalten. Dabeihandelte es sich ganz überwiegend umdie Sonderbedarfs-Bundesergänzungs-zuweisungen, bei denen es sich um allgemeine Haushaltsmittel ohne Zweck-bindung handelt, da der Bund Ergän-zungszuweisungen gem. Art. 107 GGnur zur Deckung des allgemeinen Fi-nanzbedarfs leistungsschwacher Län-der gewähren darf. Allerdings habendie Länder politisch die Verantwor-tung für den zweckentsprechendenEinsatz der SoBEZ übernommen. DieVerwendungsauflage ist in § 11 IVFinanzausgleichsgesetz a.F. normiert,wonach die SoBEZ zum Abbau tei-

lungsbedingter Sonderlasten und zumAusgleich der unterproportionalenFinanzkraft eingesetzt werden sollen;Sanktionsmöglichkeiten sind nichtvorgesehen. Seit 2002 haben die Län-der im Rahmen von sog. „Fortschritts-berichten Aufbau Ost“ die Mittelver-wendung nachzuweisen. Inhalt undVerfahren sind im Finanzausgleichs-gesetz festgeschrieben.1 Auch Branden-burg gehört zu den Ländern, die kei-nen vollständigen Nachweis derSoBEZ erbringen konnte. Was liefschief?

„Einheitliche“ Lebensverhältnisse

Im Rahmen des Vereinigungsprozessessprachen sich Politiker parteiübergrei-fend dafür aus, den Osten mit hohenfinanziellen Transferleistungen zu un-terstützen; zu nennen sind der FondsDeutscher Einheit, das Investitionsför-derungsgesetz Aufbau Ost und der So-lidarpakt I und II. Heute fragen wiruns, ob diese Zahlungen tatsächlichzur gewünschten finanziellen Selbst-ständigkeit der neuen Länder führen -oder ob der Osten mehr den je vomWesten abhängt und die Kluft zwi-schen beiden noch wächst?

Auch wenn die wechselnden För-derstrategien des Landes in den letzten

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[ grips statt beton ]

15 Jahren, statt „Leuchttürmen“ spre-chen wir jetzt von „Ankerstädten“,nicht immer erfolgreich waren – dieInvestitionen in Infrastruktur scheinensich bezahlt gemacht zu haben.

Stammsitze im Westen

Quer durch alle Branchen haben Un-ternehmen mit Stammsitz in West-deutschland Tochterunternehmen inBrandenburg gegründet – BASF,Bosch-Siemens, Daimler Chrysler,Heidel-berger Druckmaschinen, INASchaeffler, MTU, Rolls Royce, Vatten-fall und VEBA, und viele weitere. Al-lerdings: Handelt es sich dabei nichtum rechtlich selbstständige juristischePersonen, sondern nur um Betriebs-stätten, erhält Brandenburg bei eini-gen Steuerarten nur Zerlegungsanteile.Bei der Gewerbe- oder Körperschafts-steuer fallen diese Anteile in der Regelwesentlich niedriger aus. Nur ein klei-nes Beispiel dafür, wie viele Stolper-steine es auf dem Weg zur finanziellenSelbstständigkeit gibt.

Der Wunsch nach einem sicherenArbeitsplatz, nach Wohlstand undWachstum ist auch 15 Jahre nach derWiedervereinigung in Brandenburgungebrochen. Doch die Tatsachensehen anders aus.

Der Konvergenzprozess stockt seiteinigen Jahren. Die Phasen hoher Zu-wächse des Bruttoinlandproduktes(BIP) sind vorbei. Lag das BIP je Ein-

wohner im Verhältnis neue Bundeslän-der – alte Bundesländer 1997 bei 61Prozent, stagniert es seitdem: Im Jahr2003, d.h. sechs Jahre später, lag eserst bei 62 Prozent. Nicht viel besserdas BIP je Erwerbstätigkeit im o.g.Verhältnis: Im Jahr 1997 bei 67 Pro-zent, ist es im Jahr 2003 auf magere71 Prozent angewachsen. Ungeachtetdessen, ob man anhand dieser Zahlennoch vom „Aufbau Ost“ oder realisti-scher vom „Ausbau Ost“ spricht – von„einheitlichen“ Lebensverhältnissen inOst und West kann keine Rede sein.

Nur die Hälfte über Steuern

Das jährliche Wirtschaftswachstumreicht nicht aus, um einen selbsttra-genden Aufschwung zu initiieren. Diesist aber Voraussetzung, um die Ar-beitslosigkeit wirksam zu verringern.Für Deutschland halbierte die EU-Kommission gerade ihre Wachstums-prognose auf 0,8 Prozent. Mit deneigenen Steuereinnahmen können dieostdeutschen Länder gegenwärtignicht einmal 50 Prozent ihrer Haus-halte finanzieren. Brandenburg miteinem Haushaltsvolumen von knapp10 Milliarden € kann dies nur zu 40Prozent. Wen wundert es, dass dieEinnahmenseite einiger Länder dervon 1995 gleicht.

Gründe dafür gibt es etliche – allenvoran die schwache Konjunktur. Auchdie mehrstufige Steuerreform des Bun-

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[ t ina f ischer ]

des, mit denen Private und Unterneh-men in Milliardenhöhe entlasten wur-den, führte bei den Ländern zu weni-ger Einnahmen.

Credo der Gleichwertigkeit

Verschärft wird die Situation durch diedemografische Entwicklung Branden-burgs, also die Überalterungs- undAbwanderungsprozesse sowie den Ge-burtenrückgang. Das Land könnte ins-gesamt in den nächsten 15 Jahrenmehr als 6 Prozent seiner Bevölkerungverlieren, die peripheren Regionen so-gar bis 15 Prozent. Hieraus sehenHaushaltspolitiker nicht nur Problemebei der künftigen Versorgung einzelnerRegionen, sondern auch bei den Zu-weisungen aus dem Länderfinanzaus-gleich. Diese sind an die Einwohner-zahlen gekoppelt und die gerade beschriebene demografische Entwick-lung in Brandenburg lässt weitere Ein-nahmeverluste vermuten.

Es war sicher nicht richtig, denOstdeutschen „einheitliche“ Lebens-verhältnisse zu versprechen: Die gabund gibt es auch im Westen nicht. Sowar die Arbeitslosenquote in Lübeckimmer höher als in Regensburg. Rich-tiger ist es, von „gleichwertigen“ Le-bensverhältnissen zu reden. Es gibtallerdings zu denken, dass sich bisheran einer Konkretisierung dieses Begrif-fes noch niemand versucht und schlüs-sig darin eingebunden hat, dass z.B.

Tarifverträge und Leistungen ausHartz IV für die Ostdeutschen niedri-ger als für die Westdeutschen festge-schrieben sind.

Also: Spätester Zeitpunkt für eineselbsttragende Wirtschaft ist das Jahr2019. In diesem Jahr läuft der Solidar-pakt II aus, auf den sich Bund undLänder am 23. Juni 2001 geeinigt ha-ben. Dann muss Brandenburg auf ei-genen Beinen stehen. Den Kopf inden märkischen Sand zu stecken, hilftwenig. Ressourcenknappheit, steigen-der Konkurrenz- und Veränderungs-druck und Globalisierung zwingenuns, nach vorne zu schauen. Doch wieschaffen wir es, spätestens in 15 Jahren„gleichwertige“ Lebensverhältnisse zuschaffen?

Blick nach vorne richten

Es gibt bereits erstaunliche Erfolgsbi-lanzen. Auf der Habenseite stehenattraktive, restaurierte Städte, wiePotsdam, Rheinsberg, Luckenwaldeoder Luckau. „Schöner Wohnen undLeben“ in Brandenburg ist eine wert-haltige Investition, um zu bleiben oderherzukommen – in eine Forschungs-landschaft mit drei Universitäten inPotsdam, Frankfurt/Oder und Cott-bus, fünf Fachhochschulen, der Hoch-schule für Film und Fernsehen in Ba-belsberg sowie den zahlreichen außer-universitären Forschungseinrichtun-gen. Dabei kann sich eine solide Infra-

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[ grips statt beton ]

struktur, hohes gewerbliches Wachs-tum und eine Investitionsquote vonüber 20 Prozent sehen lassen.

Stärken stärken!

Auch die Devise „Stärken stärken!“ giltfür Brandenburg. „Was könnt ihr gutin der Region?“ „Was könnt ihr beson-deres bieten, was sind euere Produkte?“„Was wollt ihr verkaufen?“

Von den Antworten hängt die Zu-kunft Brandenburgs ab. Diese kannnur das Land und nicht der Bund be-antworten. Die vom Bund in diesemJahr geplanten Branchenkonferenzenin den Bereichen Automobil-, Luft-und Raumfahrtindustrie, Chemiein-dustrie, Tourismus, Ernährungswirt-schaft und Unternehmensfinanzierungkönnen dabei nicht mehr als ein Im-puls sein.

Neben der Diskussion, die das vomWirtschaftsministerium vorgelegte Pa-pier über die Neuausrichtung derWirtschaftsförderung im Land ent-facht, besteht der Glaubensstreit zwi-schen Infrastruktur- und Wissen-schaftspolitikern.2

„Wir brauchen mehr Straßen undBrücken, dann kommt auch die Wirt-schaft, siedelt sich an und bringt Ar-beitsplätze“, erläutern Abgeordneteparteiübergreifend aus dem BereichInfrastruktur. „Falsch“, halten die Bil-

dungs- und Wissenschaftsleute entge-gen. „Wir brauchen Grips statt Beton.Wir müssen in die Köpfe investieren.Wir brauchen unternehmerische undinnovative Talente. Leute, die so unserLand voranbringen.“

Innovation schafft Wachstum:Durch die Förderung und Entwick-lung zukunftsorientierter Technologienin Brandenburg können die Wettbe-werbsfähigkeit unseres Landes langfri-stig gesichert, dauerhafte Arbeitsplätzegeschaffen und der Wegzug junger,qualifizierter Menschen verhindertwerden.

Chefsache F + E

Junge Betriebe sind für Brandenburgals Jobmotor von herausragenderBedeutung. Die in den letzten Jahrengegründeten Betriebe in den neuenLändern beschäftigen 11 Prozent allerArbeitnehmer. Ein Beispiel dafür istdie im Jahr 2000 gegründete Firmaaircom Druckluft GmbH in Wildaumit ihren 18 Mitarbeitern.

Chefsache „Forschung und Ent-wicklung“. Der richtige Zeitpunkt,Fachhochschulen, Technologie- undGründungszentren und Wirtschafts-förderungsgesellschaften zu besuchen,genauer hinzuhören, warum Branden-burg bei Bundesprogrammen wieInnoregio, aber auch wie beim Pilot-

2 Das Papier „Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung“ mit Arbeitsstand vom 2. März 2005 sowie eine Präsentation samt Karte sindauf der Internetseite des Wirtschaftsministerium unter der Rubrik „Wirtschaftspolitik aktuell“ zu finden.

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projekt „Erleichterung von Existenz-gründungen aus Forschungseinrich-tungen“ bisher verhältnismäßigschlecht abschneidet.

Rasches Handeln ist gefragt, zumaldie Zeit kommen wird, wo spezifischeFuE-Förderung für Ostdeutschlandeingestellt werden wird. Erste Studienbelegen, dass das FuE-Gefälle zwischenOst und West niedriger ist als inner-halb Westdeutschlands das Gefälle zwi-schen Nordwest und Süd. Umso mehrmuss auf die Produktivität und nichtnur auf die Intensität bei Innovations-förderung geachtet werden.

Nur dort, wo Wissenschaft mit Wirt-schaft, Industrie und Dienstleistung zu-sammenkommt, entstehen Innovation,Produkte und weitere Arbeit. Innovati-onspolitik muss daher dort ansetzen, wodie entsprechende kritische Masse hier-für bereits vorhanden ist oder herbeige-führt werden kann.

Mit der Schwerpunktsetzung „Bil-dung, Wissenschaft, Wirtschaft undTechnologie“ im Doppelhaushalt2005/06 weist die Landesregierungbereits eine Richtung, die in dieser Le-gislatur mit weiteren Handlungen un-terlegt werden will.

Woher kommt das Geld?

Nicht nur die Wirtschaft will wissen,woran sie die nächsten Jahre ist. Vordem Hintergrund der oben aufgezeig-ten absehbaren Einnahmesituation des

Landes existiert bei Regierung undParlament ein natürliches Bedürfnisnach Planungssicherheit. Die „Haus-haltsnotlage“ ist bis jetzt nur gedacht.Wer wie Brandenburg knapp 10 Pro-zent seines Haushaltsvolumens voninsgesamt 10 Milliarden € allein fürSchuldendienste ausgibt, das Risikosteigender Zinsen nur am Randeerwähnt, muss nicht nur genau überle-gen, in was investiert wird, sondernwoher die Mittel dafür kommen.

Solidarpakt II bis 2019

Wichtige Planungsgrundlage ist dabeider Solidarpakt II, der seit diesem Jahrnunmehr die Zuweisungen des Bun-des an die ostdeutschen Länder regelt.Der Korb I enthält Sonderbedarfser-gänzungszuweisungen über 105 Milli-arden €, die bis 2019 befristet an dieLänder in Jahresscheiben ausgereichtwerden. Der Korb II enthält überpro-portionale Zuweisungen des Bundesund der EU an die Länder über 51Milliarden €. Neben den Gemein-schaftsaufgaben und den Investitions-zulagen rechnet der Bund bislang hierals dritte Ausgabensäule auch seine Fi-nanzhilfen hinzu, die er z.B. beimWohnungs- oder Städtebau gewährt.

Dabei müssen Besonderheiten be-achtet werden: Erhielten die ostdeut-schen Länder die SoBEZ bis zum Aus-laufen des Solidarpakts I „zum Abbauteilungsbedingter Sonderlasten sowie

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zum Ausgleich unterproportionalerkommunaler Finanzkraft“, wird dieVerwendung ab 2005 eingeschränkt.Nach § 11 II FAG werden ab diesemJahr die SoBEZ nur noch „zurDeckung teilungsbedingter Sonderla-sten aus dem starken infrastrukturellenNachholbedarf und zum Ausgleichunterproportionaler kommunalerFinanzkraft“ gewährt.

Die explizite Festlegung auf den in-frastrukturellen Nachholbedarf machtes Brandenburg nicht einfacher, künf-tig die Verwendung der SoBEZ in denFortschrittsberichten besser nachzu-weisen. Denn Brandenburg hat fürAufwendungen für die Zusatz- undSonderversorgungssysteme der DDRaus dem Anspruchs- und Anwart-schaftsüberführungsgesetz alleine inden Jahren 2002, 2003 und 2004 je-weils über 400 Millionen € aufbringenmüssen.3 Zahlungsverpflichtungen,auf die die Länder keinen Einflusshaben, da sie auf Entscheidungen desBundesverfassungsgerichts und desBundessozialgerichts basieren.

Weniger SoBEZ

Außerdem werden die SoBEZ ab 2006beschleunigt abgebaut. Erhält Branden-burg im Jahr 2005 noch 1.509 Millio-nen € und im Jahr 2006 immerhinnoch 1.502 Millionen €, schrumpft

dieser Betrag bei der letztmaligen Zah-lung für das Jahr 2019 auf magere 300Millionen €.

Hinsichtlich der 51 Milliarden €aus Korb II ist es Begehren der neuenLänder, zur Planungssicherheit ihreAnteile sowie die Termine und Teilbe-trägen festzuschreiben. Der Bund zö-gert hierbei vernehmlich und mahntzunächst eine erkennbar bessere Ver-wendung der Mittel aus Korb I an.Der Grund ist bekannt: Die Länderhätten die Mittel aus dem SolidarpaktI in den vergangenen Jahren fehl ver-wendet – einige Länder in hohemUmfang. Diese Länder werden nichtumhinkommen, an die laufende Ver-wendung der Mittel aus Korb I stren-gere Maßstäbe anzulegen, um die Aus-zahlungen ihres Anteiles aus Korb IInicht zu erschweren.

Jährliche Überprüfung

Die neu entfachte Debatte um denAufbau Ost, die sich mit dem Vorlie-gen der Fortschrittsberichte jährlichwiederholen wird, ist insofern hilfreich,als der Konsolidierungsdruck auf dieLänder aufrechterhalten wird. Schäd-lich ist, wenn dabei wegen hoher Fehl-verwendungsquoten der Verdacht derUnfähigkeit jährlich neu geschürt wird.

Denn dieser Verdacht ist in weitenTeilen unbegründet. Denn das Berech-

3 Die jeweils geleistete Zahlungen seit 1992 und die prognostizierten Aufwendungen bis 2019 sind getrennt nach Zusatz- und Sonder-versorgungssystemen in der Drucksache 4/354 nachzulesen.

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nungsschema, auf das sich die Ländermit dem Bund geeinigt haben, siehtvor, dass von den eigenfinanzierten In-vestitionen die anteilige Nettokredit-aufnahme subtrahiert wird. Nur dieDifferenz wird als aus SoBEZ finan-zierte Investitionen anerkannt. Die ne-gative Entwicklung der Steuereinnah-men und die damit einhergehendeansteigende Nettokreditaufnahmeführten im Ergebnis dazu, dass derSoBEZ-Nachweis schwieriger wird.

Bundesfinanzminister Hans Eichelsollte nach seinen erfolgreichen Ver-handlungen in Brüssel über Neudefi-nition der EU-Stabilitätskriterien ent-sprechendes Verständnis für die Son-dersituation in Brandenburg und denneuen Bundesländern haben können,denn er kennt die Situation: Überstiegauf Bundesebene im Jahr 2003 dieNettokreditaufnahme die Investitio-nen um knapp 13 Milliarden €, warfür das Jahr 2004 ein Zuwachs auf ca.17 Milliarden € zu verzeichnen.

Nichts desto trotz stellt sich dieFrage, ob alles beim Alten bleiben soll-te? Die Antwort ist nein!

Erweiterter Investitionsbegriff

Denn der Solidarpakt II hat eine Ge-schichte. Der zugrundeliegende Kern-vertrag ging davon aus, dass die Ge-währung von SoBEZ dazu dienen soll-te, die Infrastrukturlücke zu schließen,die den Entwicklungsprozess und die

Angleichung zu Westdeutschland be-hindert.

In allen ostdeutschen Ländern gibtes mittlerweile Standorte, die für Inve-storen in dieser Hinsicht genauso at-traktiv sind wie vergleichbare in West-deutschland. Ob weitere Investitionenin Infrastruktur helfen, wirtschaftlicheEntwicklung zu fördern, ist unwahr-scheinlich. Daher muss die Frage nachdem Kernvertrag neu gestellt werden.

Bildung statt Beton

Die gesamtdeutsche Solidarität ver-langt von den neuen Ländern, die zurVerfügung gestellten Solidarpaktmitteldort einzusetzen, wo sie den höchstenErtrag in Form von Wachstum undArbeitsplätzen bringen. Blicken wir indie Zukunft Brandenburgs, kann dieLösung nicht Beton sein. Statt Umge-hungsstraßen ist eine Investitionspoli-tik für Wachstum und Beschäftigungnotwenig. Da in Brandenburg tradi-tionelle Wirtschaftszweige und Indu-strieforschung kaum noch vorhandensind, brauchen wir stärkeres Engage-ment in Bildung und Forschung.

Diese Erkenntnis ist auch beimBund vorhanden. Ergebnis der Inno-vationskonferenz „Aufbau Ost“ am 31.März 2005 in Berlin war kein Sonder-programm für Infrastruktur. EdelgardBulmahn, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung, hat vielmehr an-gekündigt, ein Nachwuchsforschungs-

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programm aufzulegen, in das ab Mittediesen Jahres bis 2012 rund 150 Mil-lionen € fließen soll. Ziel des Sonder-programms „InnoProfile“ ist es, wirt-schaftliche und technologische Stärkeneinzelner Regionen in den neuen Län-dern gezielt auszubauen. Und auchWolfgang Clement, Bundeswirt-schaftsminister, will einen High-TechGründerfonds auflegen, um damit dieFinanzierungs- und Eigenkapitalbasisder jungen High-Tech Betriebe in denneuen Bundesländern zu stärken; imGespräch ist eine Gesamtsumme vonbis zu 240 Millionen €.

Mit dem Auflegen dieser Innova-tionsprogramme für die neuen Länderbestätigt der Bund den Weg Branden-burgs, statt in Umgehungsstraßen inWissenschaft und Forschung zu inve-stieren. Konsequenterweise müssendann auch unsere Ausgaben für For-schung und Entwicklung, ob nun anHochschulen, außeruniversitären For-

schungseinrichtungen oder Unterneh-men, für diese Sonderprogramme vomInvestitionsbegriff gedeckt sein.

Aus Sicht der Länder wäre deswe-gen eine Erweiterung bzw. eine weitergefasste Auslegung des Investitionsbe-griffs der SoBEZ sinnvoll. Diese Ver-handlungen mit dem Bund wären je-doch behutsam zu führen. Keinesfallsdarf dies in einer sich ausweitendenund dann ergebnisoffenen Debatteschließlich dazu führen, dass der Soli-darpakt II der Höhe nach insgesamtgekürzt wird.

Doch auch dem Bund muss es da-ran gelegen sein, dass die neuen Län-der wirtschaftlich gesund aufgestelltsind – zeigt er doch selbst mit seinenInnovations- und Branchenkonferen-zen die Wege auf. Deswegen sollte erbei den Verhandlungen mit den Län-dern ein offenes Ohr haben: Innova-tion schafft Wachstum – und deswe-gen Grips statt Beton! ■

TINA FISCHER

ist Rechtsanwältin und seit 2004 Landtagsabgeordnete für die SPD in Brandenburg.

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ALEXANDER GAULAND

ist promovierter Jurist und Herausgeber der „Märkischen Zeitung“ in Potsdam.

Zuletzt erschien von ihm die „Anleitung zum Konservativsein“,Deutsche Verlagsanstalt 2002

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ANWENDUNGSFREUNDLICHE RECHTSSETZUNG STATT FLUCHT VOR GEMEINWOHLPFLICHTENVON CARSTEN STENDER

Bürokratieabbau für Brandenburg

D ie Brandenburgerinnen und Bran-denburger haben verstanden. Die

Nachwendezeit ist ein für alle mal vor-bei. Damit ist auch der bisweilen reich-lich paternalistischen Stil des Umbausvon Staat, Gesellschaft und Ökonomiean sein Ende gekommen. Das Landsteht an einem Wendepunkt. Die unre-flektierte Übernahme von Regelungenund Strukturen der alten Bundesrepu-blik führt nicht mehr weiter. In weni-gen Jahren wird auch die Inanspruch-nahme finanzieller Transfers, denenkeine eigene Wertschöpfung gegenüber-steht, enden. Brandenburg ist keine„kleine DDR“ mehr. Das Land willund muss sich deshalb als zupackendeRegion neu erfinden.

Ob dies gelingt ist offen, aber esgibt Grund zur Hoffnung, weil sichein Mentalitätswechsel abzeichnet: Be-reits heute ist ein gewisser Trend zurEigeninitiative, zu mehr Optimismusund berechtigtem Selbstvertrauen derBrandenburgerinnen und Brandenbur-ger spürbar. Warum sollte den Mär-kern misslingen, was den Oberbayern

gelang? Brandenburg scheint jedenfallszu diesem zweiten Aufbruch bereitund dabei kommt es auf eigene Krea-tivität, eigene Mühe und eigene Kom-petenz an.

Die Aufgabe der sozialdemokratischgeführten Landesregierung besteht indieser Phase darin, die Barrieren fürdie Entfaltung der eigenen Kräfte weg-zuräumen. Der Staat wird das Landnicht ewig mit fremden Ressourcensegnen können. Er kann aber jedenund jede in die Lage versetzen, seineStärken auszubilden und sich selbstWohlstand und Zukunft zu erarbeiten.Er sorgt für Chancengerechtigkeit unddafür, dass niemand zurückgelassenwird. In diesem Sinne gilt für dieBrandenburger die Feststellung Ger-hard Schröders: Sie wollen den Staatan ihrer Seite wissen; sie wollen ihnnicht vor die Nase gesetzt bekommen.

Bliebe die „Erneuerung aus eigenerKraft“ nur ein ideenpolitisches Kon-strukt und das „zupackende Land“ nurein modisches Label, so würde sich fürdie Lebenslagen der Menschen nichts

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1 Vgl. Hans-Wilhelm Baumann, Vom Bürokratieabbau zur Bürokratieabbaubürokratie?, in: Das Rathaus 1-2/2005, Seite 11 ff.

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ändern. Die sozialdemokratisch geführteLandesregierung würde an öffentlicherZustimmung verlieren: Stillstand delegi-timiert.

Selbstvertrauen und Wagemut

An der Veränderung der Mentalitäten imBezug auf das Selbstvertrauen und denWagemut der Bürgerinnen und Bürgereinerseits und die Gewährleistungsver-antwortung des Staates andererseits hän-gen Erfolg und Misserfolg einer Politikfür Wachstum, Beschäftigung undWohlstand. Eine Landespolitik, die nurals technisches Projekt der Eliten despolitisch-administrativen Systems daher-kommt, muss scheitern. Eine Landespo-litik aber, die die Menschen für eine Kul-tur der ökonomischen und sozialen Er-neuerung im Vertrauen auf die eigenenMöglichkeiten begeistert, hilft Lebens-chancen zu eröffnen.

Diese Politik des Wegräumens vonBarrieren, des Eröffnens von Spielräu-men für Eigenverantwortung und dieEntfaltung kultureller, wirtschaftlicherund persönlicher Freiheit muss ihrenNiederschlag auch in praktischem,kleinteiligem Regierungshandeln fin-den, und zwar ohne dass das politischeProjekt selbst dadurch kleinteilig unduninspiriert erscheinen dürfte. Dies giltbeispielhaft auf dem Feld des Bürokra-

tieabbaus. Kaum ein anderes Feld eig-net sich so sehr als Lackmustest darauf,ob es dem Land mit mehr Freiheit undVerantwortung für den Einzelnen ei-nerseits und den Umbau einer rudern-den Bürokratie zur steuernden Landes-verwaltung ernst ist. Brandenburgbraucht dazu ein ressortübergreifendesKonzept der Entbürokratisierung, dasshandwerkliche (d.h. insbesondere juris-tische) Solidität mit einer politischenIdee von individueller Entfaltung, wirt-schaftlichem Erfolg und gerechten Rah-menbedingungen verbindet.

Bürokratieabbau als Wunderseife

Dem Potsdamer Verwaltungswissen-schaftler Werner Jann verdanken wirdie Einsicht, dass Deregulierung(nicht anders als Regulierung) einpolitischer und kein bürokratischerProzess ist. Das Bürokratieproblem istdaher nicht durch irgendwelche admi-nistrativen Maßnahmen zu bewälti-gen. „Es gibt keine technokratische(oder bürokratische) Lösung für Dere-gulierung.“ Viel weniger ist eine „Bü-rokratieabbaubürokratie“1 die Wun-derseife, mit der man der Landesver-waltung nur den filzigen Pelz waschenmuss. Es wäre eine fatale Fehlvorstel-lung, wenn man die Ursache des ho-hen Determinierungsgrades darin

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sehen würde, dass „wild gewordene,hyperaktive Beamte in den Ministe-rien außer Kontrolle geraten sind.“Vielmehr liegen unseren Systemen derWirtschaftsaufsicht, der Abgaben- undInformationspflichten, der Genehmi-gungs- und Anzeigeverfahren politi-sche Wertungen und Entscheidungenzu Grunde, die sich nicht einfach weg-wischen lassen.

Die Geschichte vom Sack und vom Esel

In den meisten politisch relevanten Be-reichen von „Bürokratieabbau“ geht esum materielle Konflikte zwischen di-vergierenden Interessen, z.B. zwischenunternehmerischer Entscheidungsfrei-heit und Anforderungen des Umwelt-schutzes und der sozialen Sicherungoder dem Bedarf der Verwaltung anInformationen über Tatbestände undDaten (Haftungsbestimmungen, Mit-bestimmung, Steuern, Abgaben, Stati-stiken, Abrechnungs- oder Auskunfts-pflichten). Diese Regelungen, vondenen Betroffene gelegentlich behaup-ten, sie seien überflüssig, begründen inder Regel Gemeinlasten, d.h. Pflichten,die dem Einzelnen oder einem Unter-nehmen im Interesse der Gemeinschaftauferlegt wurden. Wird die Diskussion

auf solche Konflikte konzentriert, so er-scheint die Überschrift „Bürokratieab-bau“ fragwürdig, trifft dies doch nureinen Randaspekt des eigentlichen Pro-blems. Wir sind dann in Wahrheit miteiner Art Tarnkappenstrategie des Neo-liberalismus konfrontiert, die daraufabzielt, gewisse Konsequenzen der Ge-meinpflichtigkeit des Eigentums mitdem berechtigten Anliegen der Büro-kratiekritik soweit zu vermengen, dassman sich anschließend leichter aus derVerantwortung stehlen kann. DieseForm des „Bürokratieabbaus“ kann derBrandenburger Weg nicht sein. „Hierwird der Sack Bürokratie geschlagenund eigentlich der Esel sozialer Rechts-staat in seinen vielfältigen Ausprägun-gen gemeint.“2

Reglementierung in Breite und Tiefe

Im Übrigen darf man eine Entbüro-kratisierungsstrategie nicht auf der Le-benslüge aufbauen, der Normenhungerliege sich mit den Mitteln der Verwal-tungsmodernisierung gewissermaßen„wegoperieren“. Alles Klagen ändertnichts daran, dass die Aufgabe der Ge-setzgebung eine unentrinnbare undständige ist.3 Die Reglementierungbreitet sich sowohl in die Breite wie

2 Werner Jann, „Bürokratieabbau. Thesen zur Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages“, BT-Innenausschuss A-Drucksache 15(4)121, Berlin, 28.06.2004

3 Heinz Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtssetzung, in: derselbe, Theorie der Rechts-setzung, Wien 1988, Seite 24

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4 Dazu ausführlich: Werner Jann et al (Hg.), Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft. Festschriftfür Carl Böhret zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 1998, Seite 357 ff.,

5 Peter Noll, Die Normativität als rechtsanthropologisches Grundphänomen, in: Paul Bockelmann, Arthur Kaufmann und UlrichKlug (Hg.), Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 1969, Seite 125 ff.

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auch in die Tiefe hin aus. D.h., dassimmer neue Bereiche des Gesellschaftzum Objekt regulativer Politik werden,während die Verrechtlichung zugleichauch in ihrer Intensität zunimmt.

Gesetztesstaat miteigener Dynamik

Die Ursachen sind vielfältig: Der formaleRechtstaat mit seinem strengen Vorbe-halt des Gesetzes, mit Bestimmtheits-grundsatz und »Wesentlichkeitstheorie«erzeugt ernorme Determinierungsanfor-derungen. Es wird zum normenhungri-gen Gesetzesstaat, der sich anscheinendunaufhaltsam mit großer Eigengesetz-lichkeit und Dynamik entwickelt.4

Die Modernisierung und Ausdifferen-zierung der Gesellschaft, die rasante Ent-wicklung von Technik, Wissenschaft undZivilisationsrisiken steigert die Komple-xität der zu regulierenden Sachlagen,und damit auch die Komplexität desdazu formulierten Rechts. Die Kritik ander Vermehrung und Komplizierung derGesetze ist daher jedenfalls insoweitunberechtigt, als sie sich auf die unver-meidlichen Folgen gesellschaftlicher Ent-wicklungen bezieht. „Die offene undpluralistische Gesellschaft ist grundsätz-lich instabil; sie kann höchstens in einembeweglichen Gleichgewicht leben. NeueZustände bedürfen neuer Normen …“ 5

Die Judikate der Rechtsprechungdifferenzieren sich immer weiter aus,was den Gesetzgeber veranlasst, dieJudikatur auf einen ähnlich hohenSpezialisierungsgrad zu korrigierenbzw. zu bestätigen. Kasuistik undkleinteilige Detailierung sind die Fol-ge. Auch die liberale Forderung nachEntbürokratisierung und »wenigerStaat« zieht häufig nicht Deregulie-rung, sondern Reregulierung nachsich. Auch wer staatliches Handeln aufdas »Kerngeschäft« beschränken will,und die andere Aufgaben von externenPrivaten erledigen lassen will, kannsich nämlich seiner Gewährleistungs-verantwortung nicht entziehen. Mitjeder Aufgabenprivatisierung müssenneue Vorschriften zur Steuerung undÜberwachung geschaffen werden.

Größere Spezialisierung durch Europäisierung

So sind z.B. im Zuge der Privatisie-rungen von Post und Bahn umfangrei-che neue Regelwerke erforderlich ge-worden, die ihrerseits den ganz neuenVerwaltungszweig der Regulierungsbe-hörden begründet haben.

Landes- und Bundesgesetzgebungwird im Übrigen durch den Prozess dereuropäischen Einigung angetrieben.Brüsseler Verordnungen und Richtli-

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nien weisen häufig einen größeren Spe-zialisierungsgrad auf als nationale Rege-lungen, weil im Prozess der dahinterstehenden Konsensbildung mehrereMitgliedsstaaten ihre jeweils eigenenSonder- und Spezialfälle einbringen, diesich im Ergebnis summieren.

Das alte Lied vom Bürokratieabbau

Im Übrigen gibt es offenbar einenZusammenhang zwischen der Instabi-lität der politischen, wirtschaftlichenund sozialen Lage und dem Ausmaßder Normenflut: „In Krisenzeiten läuftder Gesetzgeber Gefahr, die Rechts-staatlichkeit durch Massenausstoß vonVorschriften umzubringen.“6 DerStaat stößt in der Krise Vorschriftenaus, wie ein infizierter Körper weißeBlutkörperchen. Der Erfolg ist freilichweit weniger sicher.

Trotz der ganz fundamentalen Ursa-chen der wachsenden Regulierungfehlt es auch zwischen Wittstock undElsterwerda nicht an Rufen nach „De-regulierung“. Der Gesetzgeber legteseine guten Vorsätze sogar im Landes-recht ausdrücklich nieder: So sieht §11 des Gesetzes über Ziele und Vorga-ben zur Modernisierung der Landes-verwaltung (VerwModG) vor, dassvorhandene Normen und Standardsauf ihre Qualität und auf ihre Not-

wendigkeit mit dem Ziel einer deutli-chen Verringerung zu überprüfen sind.§ 5 Abs. 5 des Gesetzes zur Neurege-lung des Landesorganisationsrechts(Landesorganisationsgesetz – LOG)schreibt vor, dass Normen und Stan-dards auf ihre Erforderlichkeit zuüberprüfen und, soweit möglich, abzu-bauen, zu vereinfachen oder anzupas-sen sind. Eine effektive Kontrolle derNotwendigkeit des Erlasses von Vor-schriften fand jedoch in Brandenburgbisher kaum statt. Die Fachabteilun-gen bemühen sich „ihre“ Vorschriftendurchzusetzen. Die Z-Abteilungen derLandesministerien wirkten kaum alsKorrektiv. Sie interessieren sich allen-falls dafür, ob ausreichend Geld undPersonal vorhanden bzw. einzuwerbenist, um die Vollziehung neuer Normenerledigen zu können.

Wenig Wirkung vonNormprüfungsstellen

Die Stabsstelle für Verwaltungsmoder-nisierung versuchte Fehlentwicklungenzu verhindern, scheiterte aber zumeistam schieren Umfang der Normenpro-duktion des „motorisierten Gesetzge-bers“. Die inzwischen eingerichtetenNormprüfungsstellen in den Ressortshaben ebenfalls wenig Wirkung entfal-tet: Sie haben im Gesamtgefüge desMinisteriums ein Interesse sich mit

6 Hans Schneider, Gesetzgebung. Ein Lehrbuch, Heidelberg 2002, Seite 270

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7 Joachim Jens Hesse, Staatsreform in Deutschland – das Beispiel der Länder, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften(ZSE), I/2003, Seite 579

8 Ortlieb Fliedner, Gute Gesetzgebung. Welche Möglichkeiten gibt es, bessere Gesetze zu machen? FES-Analyse Verwaltungspolitik(hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung), Bonn 2001, Seite 6

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den Fachabteilungen gut zu stellenund Konflikten weiträumig aus demWege zu gehen. Überflüssige Vor-schriften ähneln eben sehr den über-flüssigen Subventionen: Solange manim Grundsätzlichen diskutiert, sindsich alle einig: Es gibt eine beinaheunüberschaubare Menge überflüssigerRegulierung. Wenn man allerdingseinzelnen Tatbeständen näher tritt,gibt es erbitterte Widerstände der be-troffenen Partikularinteressen. DiesesDilemma scheint unauflöslich. So istdas Missverhältnis von „Ankündigungund Ertrag“7 leider ein all zu häufiganzutreffendes Charakteristikum derBemühungen um eine Modernisierungdes Staates.

Ausdifferenzierung derGesellschaft nicht zu stoppen

Die Landesregierung ist gut beraten,ihre Strategie der Entbürokratisierungnicht als den heldenhaften (aber un-tauglichen) Versuch zu inszenieren,sich dem Anwachsen des Normenbe-standes entgegen stellen zu wollen.Das gliche dem Bemühen, die Ausdif-ferenzierung der Gesellschaft zu stop-pen. Die Wahrheit ist: Im demokrati-schen Rechtsstaat gibt es für die ge-wählte Regierung und die sie tragende

parlamentarische Mehrheit zum Ge-setz wenig Handlungsalternativen.Wer sich, zumal als Sozialdemokrat, zugesellschaftliche Fortschritt (d.i. Aus-differenzierung) und zum parlamenta-risch-demokratischen Rechtsstaat be-kennt, kann schlecht zugleich fordern,die Gesetzproduktion möge gewisser-maßen einschlafen. Das eine ist ohnedas andere nicht zu haben.

Wider die Tonnenideologie

Eine spezifisch sozialdemokratischeEntbürokratisierungsstrategie verfolgtein anderes Ziel: Sie will alles daransetzen, dass das Handlungsinstrument»Gesetz« unter den Bedingungen undGesetzmäßigkeiten einer dynamischenund demokratisch-rechtsstaatlich ver-fassten Gesellschaft so gut wie ebenmöglich einsetzbar ist.8 Entbürokrati-sierung erscheint – von diesem Stand-punkt aus – zunächst als Problem derRegelungsqualität und erst in zweiterLinie der Quantität.

Das Gegenkonzept läuft auf eine ge-fährliche Tonnenideologie hinaus, diedie Güte einer Entbürokratisierungs-strategie an der Zahl der gestrichenenVorschriften messen will. Ausdruckeiner solchen verfehlten Sichtweise ist

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es z.B., wenn die Landes-CDU groß-spurig mit den Zahlen der vom Innen-minister aufgehobenen Vorschriftenwirbt. Jörg Schönbohm selbst scheintinsoweit viel weiter zu sein: Auf einerVorstandsklausur der Sozialdemokrati-schen Gemeinschaft für Kommunalpo-litik (SGK) Brandenburg sagte erunlängst: „Soweit es den Abbau beste-hender Vorschriften betrifft, hat dieVergangenheit gelehrt, dass nicht alleinauf dessen Quantität abgestellt werdendarf. Zwar sorgt ein zahlenmäßigerAbbau für die notwendige Transparenzund bessere Überschaubarkeit des Vor-schriftendschungels. Über die Qualitätder Vorschriften, ob und in welchemMaße sie unnötigen Aufwand – und indessen Folge Kosten – bedingen – unddas dürfte das Entscheidende sein –,vermag er jedoch nichts zu sagen.“Eben. Forderungen nach Streichungvon 40 Prozent des Normenbestandes,wie sie von der Mittelstandsvereinigungder CDU erhoben werden, sind – je-denfalls bezogen auf das BrandenburgerLandesrecht – völlig unrealistisch.

Deregulierung mit Augenmaß angehen

Eine Lockerung der rechtlichen Ein-bindung, eine Vereinfachung des Ver-fahrens oder eine Herabsetzung be-stimmter Anforderungen (Standards)ist gleichwohl in vielen Fällen möglichund wünschenswert. Bisher fehlt es zu

oft an rechtstatsächlicher Vorbereitung,an rechtswissenschaftlicher Durchar-beitung der Gesetzentwürfe und amsorgfältigen Vergleich mit alternativenGesetzeskonzeptionen und Gesetzesfor-mulierungen. Dies ist wohl auch dieFolge eines Mangels an wissenschaftlichvorgebildeten Gesetzgebungsexperten.

Unerwünschte Risiken und Nebenwirkungen

Insbesondere Gesetzesvorhaben, dieAuswirkungen auf die Wirtschaft desLandes, v.a. auf kleine und mittlereBetriebe haben, sollten nur im Dialogmit den betroffenen privatwirtschaftli-chen Akteuren entwickelt werden. Umdas Korrektiv der wirtschaftlichen Pra-xis frühzeitig nutzen zu können, solltenexemplarische Unternehmen ausge-wählt werden, die an einem solchenDialog über Bürokratiekosten und un-erwünschte „Risiken- und Nebenwir-kungen“ Interesse haben. ExterneDurchführungskosten sollten nichtohne methodische Basis geschätzt wer-den, sondern durch Umfragen bei denbetroffenen Unternehmen (BusinessTest Panels) systematisch erhoben wer-den. Es gilt die Gesetzesfolgenabschät-zung stärker zu institutionalisierenund zu professionalisieren. Anstatteines Wildwuchses in der Ressortfor-schung bedarf es einheitlicher Stan-dards für die wissenschaftliche Vorbe-reitung, Begleitung und Evaluation

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landespolitischer Programme und ihrerrechtlichen Grundlagen.

Erwägenswert ist auch die Einfüh-rung einer Beschwerdestelle, ähnlich des„unabhängigen Landesbeauftragten fürBürokratieabbau, Deregulierung undAufgabenabbau“ in Baden-Württem-berg. Es braucht eine Stelle mit Om-budsmannfunktion, an die sich jederund jede mit Kritik und Vorschlägenwenden kann, wie die Landesverwaltungihre Leistungen bürgerfreundlicher, kos-tengünstiger und einfacher erbringenkann. All das würde helfen, das Bewusst-sein für die externen Folgekosten gesetz-geberischer Aktivität zu steigern.

Ein „zahnloser Tiger“ hilft nicht

Die Erfahrungen in anderen Bundes-ländern zeigen, dass zentrale Normprü-fungsstellen einen wichtigen Beitragzum Bürokratieabbau leisten können.Es ist daher zu begrüßen, dass jetzt inder Staatskanzlei eine Stabsstelle einge-richtet wird. Ihr soll nunmehr dieÜberprüfung des bestehenden sowiedes künftig zu setzenden Rechts oblie-gen. Wenn dies mehr als ein Symbolsein soll, bedarf es einer abgemessenenpersonellen Ausstattung dieser Arbeit-seinheit. Im Übrigen steckt der Teufelauch hier im Detail der Ausgestaltung: ■ Es bedarf zunächst eines breitenZuständigkeitsbereichs der zentralenNormprüfung. Neben Gesetzen und

Rechtsverordnungen sollten auch in-terne Vorschriften der Fachministerienin den Zuständigkeitsbereich der zen-tralen Normprüfung fallen. Insoweitist eine gewisse Durchbrechung desRessortprinzips in Kauf zu nehmen. ■ Die Normprüfungsstelle muss früh-zeitig beteiligt sein. Deshalb sollte dasjeweils federführende Ressort unmittel-bar nach der ressortinternen Abstim-mung, aber möglichst noch vor Schluss-zeichnung durch die Ministerin oder denMinister, dem Normenprüfungsreferatden Entwurf des Gesetzes, der Verord-nung etc. zur Kenntnisnahme zuleiten.■ Die Normprüfstelle prüft die Not-wendigkeit, Wirksamkeit, Wirtschaft-lichkeit, Verständlichkeit und Anwen-dungs- und Vollzugsfreundlichkeit sowieGender-Gesichtspunkte von Rechtsvor-schriften. Die Normprüfung erfolgtschwerpunktmäßig unter dem Gesichts-punkt der Bürokratiekritik. Sie ersetztnicht die Rechtsförmlichkeitskontrolledurch das Ministerium der Justiz (MdJ)nach der Geschäftsordnung der Landes-regierung Brandenburg. Die sichersteMethode eine effektive Arbeit der Norm-prüfungsstelle zu torpedieren, bestündedarin, sie mit der Expertise über Fragender Rechtssetzungskompetenz, der mate-riellen Verfassungsmäßigkeit und derEU-Konformität zu beschäftigen. DieNormprüfstelle darf kein Neben-Justiz-ministerium werden. ■ Die Normprüfung sollte die Mög-lichkeit haben, in Bezug auf einzelne

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Handlungsfelder des Bürokratieabbausexternen Sachverstand der Wissen-schaft, der Sozialpartner, der Unter-nehmen und der zivilgesellschaftlichenAkteure im Übrigen zu mobilisieren.Die Landesregierung steht im Wortalle Anregungen im Bezug auf hem-mende Bürokratie sorgfältig und zügigauszuwerten und Konsequenzen zuziehen, wo immer das sinnvoll ist.■ Die Normprüfung muss, soweit dieAbstimmung mit den Ressorts ergeb-nislos bleiben, verfahrensmäßige Rech-te haben. Ablehnende Voten gehörenin die Kabinettsvorlagen.

Qualitätsoffensive für das Steuerungsmedium „Recht“

Wer fordert, dass das Brandenburg bes-ser regiert werde müsse, fordert – verwal-tungswissenschaftlich gesprochen –, dasssich die Problemverarbeitungskapazitätdes politisch-adminis-trativen Systemserhöhen müsse. Dies aber ist gleichbe-deutend mit der Forderung, die Qualitätdes zentralen Steuerungsmediums„Recht“ zu erhöhen. Ohne eine Vorstel-lung von den Anforderungen an guteGesetzgebung ist mithin „kein Staat zumachen“: Verständlichkeit des Aus-drucks, Einfachheit der Regelung, Präzi-sion, und Transparenz. Legt man diese

Maßstäbe an, so ist der Befund einiger-maßen ernüchternd: Es beginnen beiunzu-treffenden bzw. irreführenden Ge-setzestiteln, setzt sich fort über unüber-sichtliche Sammelgesetze, lästige Ketten-verweisungen bis hin zur Mangelhaftig-keit des sprachlichen Ausdrucks.9

Was wir bräuchten ist ein Entbürokrati-sierungsansatz, der von der Einsicht aus-geht, dass verständliche Gesetze dienächstliegende und billigste Methodesind, um einen erleichterten Zugangzum Recht zu verwirklichen.10

Es ist zu wünschen, dass in der Öf-fentlichkeit und bei den im Gesetzge-bungsprozess Verantwortlichen das Be-wusstsein dafür steigt, dass die juris-tisch-legistische Umsetzung von politi-schen Gestaltungsanliegen kein bloßerFormalismus ist.

Sprachpolizei für Juristeneinführen

Es geht um weit mehr, als „um einSteckenpferd einiger Juristen; es gehthier nicht um Ordnungsspleen oderSprachpolizei. Es geht um ganz hand-festes. Es geht um die Frage, ob mansich in der Rechtsordnung auskennenkann oder ob sie auch für den Fach-mann unübersichlichtlich bleibt; esgeht um Kosten in enormer Höhe –

9 Heinz Schäffer, Über Möglichkeit, Notwendigkeit und Aufgaben einer Theorie der Rechtssetzung, in: derselbe, Theorie der Rechts-setzung, Wien 1988, Seite 26

10 Fritz Schönherr, Sprache und Technik der Gesetze, in: Schambeck, Herbert (Hrsg.), Österreichs Parlamentarismus, Werden undSystem, Berlin 1986, Seiten 833 ff, 851

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für den Rechtssuchenden und für dieVollziehung, also für die Allgemein-heit. Der Zeitaufwand, der den Recht-sunterworfenen, der Vollziehung undder Kontrolle durch schlechte Gesetzeentsteht, ist unglaublich hoch.“11 Ge-länge es in Brandenburg in SachenQualität der Landesgesetzgebung, inPunkto Anwendungs- und Vollzugs-freundlichkeit des Rechts und bei der

Streichung hemmender und ineffekti-ver Vorschriften besser zu sein als an-dere Länder, so wäre dies ein wichtigerBeitrag für die Erneuerung aus eigenerKraft. Dieses Land hat das Potenzial,sich als zupackendes Land neu zu er-finden. Ohne die Veränderung vonStrukturen und Mentalitäten in derLandeswaltung wird das freilich nichtgehen. ■

DR. CARSTEN STENDER

ist Justitiar der SPD. Er promovierte über „Gesetzgebungstechnik. Zur Abfassung anwendungs- und vollzugsfreundlicher Vorschriften.“

11 Karl Korinek, Die Qualität der Gesetze – staatsrechtliche und legistische Verantwortlichkeiten im Gesetzgebungsprozeß, in: MichaelHoloubek/Georg Lienbacher (Hg.), Rechtspolitik der Zukunft – Zukunft der Rechtspolitik (Texte zur Rechtspolitik; 3), Wien/NewYork 1999, Seite 21 ff.

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DAS SYMBOL FÜR DIE NATIONALE IDENTITÄT DER DEUTSCHENVON ERARDO CRISTOFORO RAUTENBERG

Schwarz-Rot-Gold

D ie Frage nach der nationalenIdentität ist zehn Jahre nach der

deutschen Wiedervereinigung plötz-lich aktuell geworden und seitdemhält das öffentliche Interesse mit ge-wissen Schwankungen an. Die allge-meine Diskussion über diese Thematikbegann Ende des Jahres 2000 mit um-strittenen Äußerungen von zweiCDU-Politikern. So kannte man denvom damaligen CDU-GeneralsekretärLaurenz Meyer aufgegriffenen Spruch„Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!“zuvor nur von Aufnähern auf den Ja-cken der so genannten Nazi-Skin-heads. Der vom damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merzkreierte Begriff deutsche Leitkultur,mit dem dieser den vom GöttingerIslamwissenschaftler Bassam Tibi 1996geprägten Begriff europäische Leitkul-tur in einer von Tibi als „gefährlich“abgelehnten Weise abgewandelt hat,assoziiert ebenfalls nationalistischesGedankengut. Die beiden genanntenPolitiker wollten ihre missverständli-chen Aussprüche allerdings keinesfallsals Ausdruck nationalistischer Über-

heblichkeit verstanden wissen. Diesändert aber nichts daran, dass sie vonden Rechtsextremen gleichwohl ebenso verstanden werden. Deren Interpre-tation des Ausspruchs von LaurenzMeyer, den sich immerhin auch 30Prozent der Befragten einer im März2001 durchgeführten Emnid-Umfragezu eigen gemacht haben, hat sogar denCharme, den sprachwissenschaftlichenErkenntnissen mehr zu entsprechen.So kommt dem Substantiv Stolz lautDuden auch die Bedeutung „übertrie-benes Selbstbewusstsein“ oder „Über-heblichkeit“ zu und in diesem Sinnhaben die Deutschen die anderen Na-tionen während des wilhelminischenKaiserreichs und des so genanntenDritten Reichs zu übertreffen ver-sucht.

Die Deutschen sangen leider nichtnur „Deutschland, Deutschland überalles, über alles in der Welt!“, sondernschändeten diesen bereits 1841 ent-standenen Text, indem sie durch ihrVerhalten den Eindruck erweckten,dass – wie es der sozialdemokratischeReichstagsabgeordnete Philipp Schei-

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demann in einer Rede am 24. Juni1924 formulierte – „Deutschland überalle und alles zu beherrschen bestrebtsei: ‚An deutschem Wesen soll dieWelt genesen!‘ Was haben derartig tö-richte Worte dazu beigetragen, alleWelt gegen Deutschland aufzuhetzen!Nationalistische Gesinnung ist Intole-ranz, Überheblichkeit ist Streit, istKrieg oder doch dauernde Rüstungzum Krieg.“

Heute gehört die missverständlicheerste Strophe des Deutschlandliedes zuRecht nicht mehr zu unserer National-hymne und es hat sich in ganz Europabei den verantwortlichen Politikerndie Einsicht durchgesetzt, dass der Na-tionalismus in die Sackgasse führt. Diefortschreitende europäische Einigungstößt in der europäischen Bevölkerungaber auch auf Ablehnung, weil einenicht zu unterschätzende Minderheitden Verlust ihrer nationalen Identitätbefürchtet. Dies wiederum ist Wasserauf die Mühlen aller derer, die natio-nalistische Positionen vertreten – undzwar in ganz Europa.

Ohne „deutsche Nation“

Die Deutschen sind bisher in ihremVerhältnis zur Nation von einem Ex-trem ins andere gependelt. Nach demnationalistischen Exzess der Hitler-Diktatur wurde der Begriff der Nation– durchaus verständlich – in beidendeutschen Staaten vielfach verdrängt.

In der DDR gipfelte dies darin, dassdie Worte „deutsche Nation“ 1974 ausder Präambel der Verfassung getilgtund die DDR-Hymne mit der Text-zeile „Deutschland, einig Vaterland!“nicht mehr gesungen, sondern nurnoch gespielt wurde.

Gegenreaktion auf Tabus

In der Bundesrepublik entwickelte sichals Reaktion auf die mangelnde gesell-schaftliche Aufarbeitung der Jahrhun-dertbarbarei der Vernichtungslager beivielen Angehörigen der so genannten68er-Generation ein negativer Natio-nalismus, wonach alle anderen Natio-nen besser als die eigene bewertet wur-den.

Ich erkläre mir den Anstieg des na-tionalistischen Rechtsextremismus nachder Wiedervereinigung auch als eine Ge-genreaktion auf die vorangegangene Ta-buisierung und Ächtung jeder Erschei-nungsform eines nationalen Bewusstseinsin Deutschland. Man verstand sich ebenals Europäer und die ganz Feinen sogarals Weltbürger. Führende Sozialdemo-kraten, wie etwa Helmut Schmidt, derwährend seiner Regierungszeit des Öfte-ren vor einer Verdrängung des Gedan-kens der nationalen Identität warnte,und Willy Brandt, der nach dem Fall derMauer am 10. November 1989 davonsprach, dass jetzt zusammenwachse, waszusammen gehöre, muss man allerdingsvon dieser Kritik ausnehmen. Jüngst

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sprach sich der nordrhein-westfälischeMinisterpräsident Peer Steinbrück dafüraus, „dass die SPD den Begriff Patriotis-mus nicht anderen überlässt.“

Es wäre ein verhängnisvoller Fehler,auf den neuen Nationalismus wiede-rum mit einer Tabuisierung oder garÄchtung jeder Erscheinungsform einesnationalen Bewusstseins zu reagierenund damit den Rechtsextremen letzt-lich die inhaltliche Gestaltung der na-tionalen Identität zu überlassen. Demneuen deutschen Nationalismus mussein zu entwickelnder deutscher Patrio-tismus entgegengehalten werden, dem– vom Gedanken der europäischenEinigung beseelt – eine Geringschät-zung anderer Nationen wesensfremdist und der auch das Bekenntnis zureigenen verfassungsmäßigen Ordnungbeinhaltet.

Der 3. Oktober

Ende 2004 flammte die öffentlicheDiskussion über die „nationale Iden-tität“ wieder auf, nachdem Bundes-finanzminister Hans Eichel AnfangNovember den Vorschlag unterbreitethatte, den Tag der Deutschen Einheitaus Kostengründen nicht mehr am 3.Oktober, sondern am ersten Sonntagdieses Monats zu begehen. Er scheiter-te damit am Widerstand derer, die denNationalfeiertag in seiner erst durchden Einigungsvertrag (Art. 2 Abs.2)geschaffenen Gestalt bereits als Teil der

nationalen Identität begreifen, woge-gen sich durchaus einiges anführenlässt.

Nationalist nein, Patriot ja

Die Auseinandersetzung ist sodann alsPatriotismusdebatte unter dem Ge-sichtspunkt der Integration von Aus-ländern und der Bekämpfung des Isla-mismus fortgeführt worden. Paralleldazu hatten Günter Buchstab undJörg-Dieter Gauger von der Konrad-Adenauer-Stiftung ihr dreiundvierzigSeiten umfassendes Plädoyer für einenmodernen Patriotismus vorgelegt undwar sowohl vom bayerischen CSU-Innenminister Günter Beckstein alsauch vom brandenburgischen CDU-Innenminister Jörg Schönbohm erneutdie deutsche Leitkultur ins Feld geführtworden. Daraufhin hatte der führendeCDU-Politiker Wolfgang Schäubleseine Partei vergeblich vor einer „De-batte über den missverständlichen Be-griff der Leitkultur“ gewarnt, die – wieMatthias Platzeck konstatierte – „nurReflexe hervorruft und niemandemnützt“.

Weiter hilft allerdings eine Äuße-rung von Johannes Rau, die dieserbereits unmittelbar nach seiner Wahlzum Bundespräsidenten machte undder ich nur zustimmen kann: „Ich willnie Nationalist sein, aber ein Patriotwohl. Ein Patriot ist jemand, der seinVaterland liebt, ein Nationalist ist je-

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mand, der die Vaterländer der anderenverachtet“. Seine Liebe zu Deutschlandhat auch Bundespräsident Horst Köh-ler seit seinem Amtsantritt bereits zumehreren Anlässen bekannt.

Mit dem Bekenntnis zum Patriotis-mus ist somit die Grenze gefunden, diebei der Ausprägung nationaler Identitätnicht überschritten werden sollte. DieProblematik besteht nun darin, dass dieBildung von Identität nicht ohne Ab-grenzung auskommt. Sie bedarf zwarnicht der Überheblichkeit, doch liegteine derartige Grenzüberschreitung na-he. Daher konstatiert der Chefredak-teur der Zeit in der Ausgabe vom 9. Dezember 2004 zu Recht: „Über dieTrennlinie zwischen (gewünschtem) Pa-triotismus und (verwünschtem) Natio-nalismus streiten selbst Historiker“.

Wofür steht Schwarz-Rot-Gold?

Was sollten danach die Inhalte unserernationalen Identität, eines deutschenPatriotismus sein? Eine Antwort istmeines Erachtens in der Farbkombina-tion Schwarz-Rot-Gold zu finden, dieunser einziges Staatssymbol mit Verfas-sungsrang darstellt. Art. 22 unseresGrundgesetzes lautet nämlich: „DieBundesflagge ist schwarz-rot-gold“. Ichwage nun zu behaupten, dass unsereBundesflagge auch alle die Werte sym-bolisiert, die den Kernbereich unserernationalen Identität ausmachen sollten.Um diese These zu belegen, ist es erfor-

derlich, die Ursprünge der schwarz-rot-goldenen Flagge zu ergründen, aberauch darzulegen, wofür die FarbenSchwarz-Weiß-Rot stehen, die von denRechtsextremen bevorzugt werden.

Vor einiger Zeit noch sah man beirechtextremistischen Aufmärschen regel-mäßig die Kriegsflagge des Norddeut-schen Bundes und des nachfolgendenDeutschen Reichs bis 1921. Dabei han-delt es sich um eine weiße Fahne mitschwarzem Kreuz und den FarbenSchwarz-Weiß-Rot mit dem EisernenKreuz in der oberen inneren Ecke. DieseFlagge ist inzwischen zu einem Symbolfür neonazistische und ausländerfeindli-che Anschauungen geworden, so dassihre Verwendung in der Öffentlichkeitvon der Polizei in den meisten Bundes-ländern regelmäßig wegen Störung deröffentlichen Ordnung unterbundenwird. Da das Zeigen der ebenfalls in denFarben Schwarz-Weiß-Rot gehaltenenHakenkreuzflagge des Dritten Reichs inder Öffentlichkeit als Straftat verfolgtwird und daher schon aus diesem Grundals Sammlungssymbol ausscheidet, ver-wenden die Neonazis inzwischen die ein-fache schwarz-weiß-rote Flagge.

Röcke, Knöpfe und Aufschläge

Die Farbkombination Schwarz-Rot-Gold hat eine längere Tradition als dieschwarz-weiß-rote Flagge. Vor allem im19. Jahrhundert war weit verbreitet, die-se Farbzusammenstellung auf das kaiser-

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liche Wappen des am 6. August 1806aufgelösten Heiligen Römischen Rei-ches Deutscher Nation zurückzuführen.Sie findet sich dann jedenfalls bei denUniformen des 1813 mit Billigung despreußischen Königs aufgestellten Lützo-wschen Freikorps, in dem sich Freiwil-lige aus ganz Deutschland zum Kampfgegen das Napoleonische Frankreichsammelten: Schwarz umgefärbte Zivil-röcke mit goldfarbenen Knöpfen sowieroten Vorstößen und Aufschlägen. Ma-jor Adolf Freiherr von Lützow erbat vonFriedrich Wilhelm III., dass das Frei-korps, das seine Uniform selbst stellenmusste, „schwarze Montierung tragendürfe, weil nur bei dieser Farbe die Klei-dungsstücke, welche sie schon haben,durch Färben benutzt werdenkönnten.“

Einheitssehnsuchtsfarben

Offenbar haben aber bei der Farben-wahl nicht nur Zweckmä-ßigkeitsüberlegungen eine Rolle ge-spielt, denn bei der Aufstellung desKorps war von Lützow der schrulligeFriedrich Ludwig Jahn behilflich, derschon zuvor mit Blick auf das unterge-gangene alte Reich seine „Einheits-sehnsuchtsfarben“ Schwarz-Rot-Goldbei den Turnern propagiert hatte undder 1848 in der Frankfurter Paulskir-che äußerte: „Noch immer trage ichdie deutschen Farben, so ich im Be-freiungskriege aufgebracht habe.“

Obwohl Lützows wilde verwegene Jagd– so das von Carl Maria von Weber ver-tonte Gedicht Theodor Körners – denFranzosen militärisch nur wenig Sorge zubereiten vermochte, und die „SchwarzeSchar“ von ihnen schließlich fast völligaufgerieben wurde, nahm die nationaleVerehrung nach dem Ende des Feldzugsgegen Napoleon weiter zu. Eleonore Pro-haska, die bei den Lützower Jägern alsMann verkleidet unter dem NamenAugust Renz diente und am 16. Septem-ber 1813 bei Dannenberg im Kampfgegen französische Truppen tödlich ver-wundet wurde, erlangte als PotsdamerJeanne d‘Arc sogar den Status einer Sym-bolfigur der Freiheitskriege; 1889 wurdeder „Heldenjungfrau“ im Mittelpunktdes Potsdamer Alten Friedhofs einDenkmal errichtet.

So verwundert nicht, dass am 12. Ju-ni 1815 bei der Gründung der JenaerBurschenschaft, an der ehemalige „Lüt-zower“ wesentlich beteiligt waren, derenKleidung zur Festtracht erwählt wurde.Als Burschenschaftsbanner soll zunächsteine zweibahnige rot-schwarze Fahne mitgoldenem Rand geführt worden sein.

Wartburgfest 1817

Am 31. März 1816 erhielt die Bur-schenschaft dann eine dreibahnige rot-schwarz-rote Fahne mit einem goldenenEichenzweig in der Mitte, die am 18.Oktober 1817 zum Wartburgfest mitge-führt wurde. Dort trugen bereits viele

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Teilnehmer schwarz-rot-goldene Kokar-den und der Kieler Student August vonBinzer trug zum Fest ein Lied bei, dasdiese Farben verherrlichte und alsbald inaller Munde war.

Neue Farben für die Freiheit

Als sich am 17. Oktober 1818 in Jenadie Vertreter der deutschen Burschen-schaften versammelten, die am folgen-den Tag die Allgemeine Deutsche Bur-schenschaft gründeten, beschloss manfür diese als einheitliches Banner die„ehemaligen deutschen Farben“, undzwar in der seitdem üblichen FolgeSchwarz, Rot und Gold in drei gleichbreiten, horizontalen Streifen.

Wofür stand nun damals die neueFahne? Vor allem für ein geeintes, vonFremdherrschaft befreites Deutschland,das in der Gestalt eines Volkskaisertumsden Deutschen Bund ablösen sollte, denfünfunddreißig souveräne Fürsten undvier freie Städte als nationalen Minimal-konsens am 8. Juni 1815 gegründet hat-ten.

Die Fürsten hatten sich der nationa-len Begeisterung, gerade unter der aka-demischen Jugend, während der Be-freiungskriege zwar gern bedient undsie sogar geschürt, dachten aber nachBeseitigung der napoleonischen Gefahrgar nicht mehr daran, den beim Bür-gertum geweckten Erwartungen zuentsprechen und ihre Machtbefugnissezugunsten einer staatlichen Einigung

der Nation, aber auch von mehr bür-gerlichen Freiheiten zu beschränken.

Als Reaktion verbrannten die Stu-denten auf dem Wartburgfest unteranderem einen Perückenzopf undeinen Korporalstab als Symbole derverhassten Fürstenherrschaft. Nachdemdann auch noch der Jenaer Theologie-student Karl Ludwig Sand am 23.März 1819 den Dramatiker Augustvon Kotzebue als Gegner der Ideale derBurschenschaften erdolcht hatte, fürch-teten die Fürsten ernsthaft um ihreMacht. Auf maßgebliches Betreibendes österreichischen StaatskanzlersFürst Metternich wurden im August1819 die so genannten KarlsbaderBeschlüsse gefasst. Diese nahm derBundestag – die Versammlung der Be-vollmächtigten der Staaten des Deut-schen Bundes – am 20. September1819 einstimmig an. Dadurch wurdendie Burschenschaften verboten und allediejenigen der Verfolgung ausgesetzt,die für nationale und liberale Ideeneintraten.

Hambacherfest 1832

Als aber im Juli 1830 die Franzosenihren König stürzten und einen Bür-gerkönig auf den Thron setzten, erfas-ste die Begeisterung für diese De-monstration der Macht des Volkesauch Deutschland. Höhepunkt derVolksbewegung war das Hambacher-fest am 27. Mai 1832, das ganz unter

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dem Zeichen von Schwarz-Rot-Goldstand und an dem nach vorsichtigenSchätzungen 25.000 Menschen ausallen Gesellschaftsschichtenteilnahmen. Nun wurden mit gleicherIntensität ein vereinigtes Deutschland,Meinungs-, Versammlungs- und Pres-sefreiheit sowie demokratische Mitbe-stimmung gefordert. Auch war derNationalismus der Freiheitskriegeeinem neuen Patriotismus gewichen.

Geburtstag der Nationalität

Der Hauptredner Johann Georg Au-gust Wirth sprach von dem Fest als„Geburtstag der deutschen Nationali-tät und der europäischen Gesamtfrei-heit“ und führte aus:

„Die Natur der Herrschenden ist Un-terdrückung, der Völker Streben ist dieFreiheit! Hinwegräumung der Throne istdas dringendste Bedürfnis des Jahrhun-derts. Ohne Beseitigung der Fürsten-throne gibt es kein Heil für unser Vater-land, kein Heil für Europa, kein Heil fürdie Menschheit.“ Wirth schloss seineRede mit einem „Hoch auf das conföde-rierte, republikanische Europa.“

Die Reaktion folgte umgehend: DerBundestag erließ im Sommer 1832 De-krete, die eine Verschärfung der Karlsba-der Beschlüsse bedeuteten. Besondersschwer sollte das Tragen der schwarz-rot-goldenen Farben geahndet werden, weildies ein „Attentat gegen die Sicherheitund die Verfassung des Bundes“ sei.

Hoffmann von Fallersleben verlor1842 sein Amt als Professor an derUniversität Breslau und wurde wegen„politischer Gefährlichkeit“ aus meh-reren deutschen Städten ausgewiesen.Auf der damals noch britischen InselHelgoland dichtete er am 26. August1841 sein Lied der Deutschen, mit des-sen erster Strophe er nicht die anderenNationen herabwürdigen, sondern dieFürsten der Staaten des DeutschenBundes treffen wollte, die der nationa-len Einigung entgegenstanden. Aucher war „ein Schwarz-Rot-Goldener“,worauf hinzuweisen BundespräsidentTheodor Heuss am 2. Mai 1952 anläs-slich der Wiedereinführung – der drit-ten Strophe – des Deutschlandliedesals Nationalhymne Anlass sah.

Die Revolution von 1848

Trotz aller Repression waren die Gedan-ken von Einheit und Freiheit und ihrSymbol Schwarz-Rot-Gold aus dem Be-wusstsein des Volkes nicht mehr zu til-gen, was auch einigen Fürsten dämmer-te. So schlug König Ludwig I. von Bay-ern dem Bundestag 1846 ohne Erfolgvor, Schwarz-Rot-Gold zur Bundesfah-ne zu wählen, um damit „der revolutio-nären Partei eine Waffe zu entreißen.“

Dieser kam jedoch wiederum Frank-reich mit der Februarrevolution von1848 zur Hilfe, die zur Abdankung desBürgerkönigs Louis Philippe am 24. Fe-bruar führte. Die Unruhen griffen er-

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neut auf Deutschland über und den Für-sten wurden demokratische Zugeständ-nisse abgetrotzt. Am 9. März 1848 hobdie Bundesversammlung alle Ausnahme-gesetze auf und erklärte Schwarz-Rot-Gold zu den Farben des Deutschen Bun-des. Wenige Tage später wurde angeord-net, dass schwarz-rot-goldene Farben inallen Bundesfestungen angebracht, vonden Bundestruppen getragen und in denBundessiegeln geführt werden sollten.Am 13. März 1848 wurde Metternichgestürzt. Kaiser Ferdinand I. erschienmit der schwarz-rot-goldenen Fahne amFenster der Wiener Hofburg.

Preußen mit Schwarz-Rot-Gold

In Preußen reagiert Friedrich WilhelmIV. zu zögerlich, wodurch sich in der Be-völkerung Aggressionen anstauen. Am18. März 1848 kommt es in Berlin aufdem Schlossplatz zu einem Übergriff desMilitärs auf dort versammelte Bürger, diesich zur Wehr setzen. Die Kämpfe, dieauf das weitere Stadtgebiet übergreifenund bis in die frühen Morgenstundendes 19. März andauern, kosten über 200Barrikadenkämpfern das Leben. Der Kö-nig lenkt nun gegen den Widerstand sei-nes Bruders und späteren Thronfolgers,des Prinzen Wilhelms, ein und zieht sei-ne Truppen zurück.

Am 21. März 1848 lässt sich derKönig auf dem Schlossplatz eineschwarz-rot-goldene Fahne bringenund erklärt, dass er diese nun als sein

Panier tragen wolle, obwohl er noch inder blutigen Nacht zum 19. März1848 ausgerufen hatte: „Schafft mirdiese Fahne aus den Augen!“ Nach-dem der König nun seine neue Fahnean einen Bürgerschützen als Trägerübergeben hat, reitet er mit einerschwarz-rot-goldenen Armbinde untergroßem Jubel der Bevölkerung durchBerlin und erlässt am Abend einenAufruf „An mein Volk und an diedeutsche Nation“, in dem er unteranderem erklärt: „Ich habe heute diealten deutschen Farben angenommenund mich und mein Volk unter dasehrwürdige Banner des DeutschenReichs gestellt. Preußen geht fortan inDeutschland auf!“ Anschließend wirdauf dem Berliner Schloss die schwarz-rot-goldene Fahne aufgezogen. An dasKriegsministerium ergeht die Order,dass die Soldaten neben der preußi-schen die deutsche Kokarde anzuste-cken haben.

Paulskirche bestimmt neue Flagge

Zunächst nahmen die weiteren Ereig-nisse einen günstigen Verlauf. Am 18.Mai 1848 zog in die Frankfurter Pauls-kirche die erste frei gewählte gesamt-deutsche Volksvertretung ein, um einefreiheitliche Reichsverfassung zu erarbei-ten. Bereits am 31. Juli 1848 bestimmtedie Deutsche NationalversammlungSchwarz-Rot-Gold zur Kriegs- undHandelsflagge des neuen Reiches.

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Doch zur Gründung eines demo-kratisch legitimierten DeutschenReichs kam es bekanntlich nicht: Zwarwurde am 27. März 1849 König Frie-drich Wilhelm IV. von der National-versammlung zum Kaiser der Deut-schen gewählt, aber der preußischeKönig, der sich noch ein Jahr zuvor andie Spitze der nationalen Bewegungsetzen wollte, lehnte am 3. April 1849ab und erklärte später: „Die Kaiser-krone aus der Hand des Volkes ist einimaginärer Reif aus Dreck und Letten(Lehm, Anm.) gebacken, an dem derModergeruch der Revolution klebt,die von Volkssouveränität und Parla-mentarismus sprach.“

„Gegen Demokraten – Soldaten“

Die Träger der Farben Schwarz-Rot-Gold, zu denen er selbst gehört hatte,waren für ihn nun „mehrheitsanbeten-de Schöpse, Mitglieder der europäi-schen Schuftenschaft.“

Das Ende des Traumes von einem de-mokratischen deutschen Reich war da-mit eingeleitet. Am 28. April 1849 lehn-te Preußen auch die Reichsverfassung ab,die zuvor bereits 28 deutsche Staaten an-genommen hatten und in der erstmals inder deutschen Geschichte Grundrechteniedergelegt worden waren.

Die Ablehnung der Reichsverfas-sung durch Preußen hat den Ausbruchvon Volksaufständen im Rheinland, inder Pfalz, in Baden und Sachsen zur

Folge. Friedrich Wilhelm IV. handeltnun entsprechend einem seiner weite-ren Aussprüche: „Gegen Demokratenhelfen nur Soldaten!“ und entsendetpreußische Truppen zur Niederschla-gung der Aufstände. Mit der Übergabeder Festung durch die Reste der ba-disch-pfälzischen Revolutionsarmee andas unter dem Oberbefehl des Kron-prinzen Wilhelm, des späteren deut-schen Kaisers Wilhelm I., stehendepreußische Militär endet am 23. Juli1849 die Reichsverfassungskampagne.

Am 2. September 1850 wird dersymbolische Schlusspunkt gesetzt unddie schwarz-rot-goldene Fahne vomTurm der Paulskirche in Frankfurt amMain niedergeholt. Es folgt die Ab-nahme der schwarz-rot-goldenen Fah-ne vom Bundespalais am 15. August1852, wenngleich der Beschluss desBundestages vom 9. März 1848 überdie schwarz-rot-goldenen Bundesfar-ben bis zur Auflösung des DeutschenBundes im Jahre 1866 förmlich inKraft blieb.

Gefährdung der alten Ordnung

Mit der Ernennung des erzkonservati-ven Otto von Bismarck zum preußi-schen Ministerpräsidenten setzt 1862eine neue Entwicklung ein, die nachdrei so genannten Einigungskriegen1871 zur Reichsgründung unterSchwarz-Weiß-Rot durch die Fürstenführt. Bismarck erkannte, dass der

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Wunsch nach nationaler Einheit nichtmehr aus dem Bewusstsein der Bevöl-kerung zu beseitigen war und dies eineständige Gefährdung der alten Ord-nung bedeuten würde, falls die Obrig-keit sich nicht selbst der Frage der na-tionalen Einheit annehmen würde.Durch seine auf die Herstellung dernationalen Einheit unter preußischerVorherrschaft und unter Ausschlussdes alten Rivalen Österreichs gerich-tete Kriegsführungspolitik gelingt esihm, die nationale Idee von der demo-kratischen abzukoppeln, damit dasliberale Bürgertum in Nationale undDemokraten zu spalten und so denObrigkeitsstaat zu bewahren, der erst1918 untergeht.

Kaiserreich mit schwarz-weiß-rot

Das 1871 gegründete Deutsche Reichübernahm die von Bismarck kreierteschwarz-weiß-rote Handelsflagge desNorddeutschen Bundes. Allerdings gabes eine Vielzahl an Fürsprechern fürSchwarz-Rot-Gold. Insbesondere diesüddeutschen Staaten fühlten sichdurch diese Fahne besser vertreten, dieauch im Bewusstsein der Bevölkerungnoch tief verwurzelt war. Alle Vorstößescheiterten indes am Widerstand vonWilhelm I., für den diese Flagge end-gültig diskreditiert war, nachdem unterihr 1848/49 Revolutionäre für ein ein-heitliches demokratisches Deutschlandund 1866 Einheiten des Bundesheers

auf der Seite Österreichs gegen preußi-sche Truppen mit schwarz-rot-golde-nen Armbinden gekämpft hatten. Fürdiesen vom Gottesgnadentum über-zeugten Herrscher war Schwarz-Rot-Gold „aus dem Straßendreck erstie-gen“, für seinen Kanzler Bismarckwaren dies „Farben des Aufruhrs undder Barrikaden“.

Revolution und Republik

Als das Wilhelminische Kaiserreich1918 unterging, hatte sich erfüllt, wasAugust Bebel nach seiner Gründungprophezeit hatte: „Das mit ‚Blut undEisen‘ zusammengeschweißte Reich istkein Boden für die bürgerliche Freiheit,geschweige für die soziale Gleichheit.“

Während die November-Revolutionvon 1918 noch unter roten Fahnenerfolgte, bestand alsbald bei der Mehr-heit der sozialdemokratisch organisier-ten Arbeiterschaft Einigkeit darüber,dass eine Parteifahne nicht die derneuen Republik werden könne. Eben-so war großen Teilen des Bürgertumszunächst wohl noch bewusst, dassman der Arbeiterschaft nicht zumutenkonnte, wieder die Flagge des Wilhel-minischen Obrigkeitsstaates, der So-zialistengesetze und der Demokraten-verfolgung anzunehmen.

Als die Reichsregierung am 21. Fe-bruar 1919 der Nationalversammlungden Verfassungsentwurf für die neueRepublik zur Beratung vorlegt, heißt es

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darin: „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold“. Dies entsprach übrigens auchdem ausdrücklichen Wunsch des Ge-sandten Österreichs, dessen damaligeRegierung den dann von den Sieger-mächten verwehrten Anschluss der Re-publik Österreich an das DeutscheReich erstrebte und für die das die preu-ßische Hegemonie symbolisierendeSchwarz-Weiß-Rot im Falle eines Bei-tritts nicht akzeptabel gewesen wäre.

Die unterschiedlichen Positionender Parteien prallen in der entschei-denden Sitzung des Verfassungsaus-schusses vom 3. Juni 1919 aufeinan-der. Während der Vertreter der USPDmit seinem Plädoyer für die rote Fah-ne allein bleibt und die Mehrheitssozi-aldemokraten (SPD) den Entwurf ver-teidigen, treten die Vertreter der neugebildeten Deutschen Volkspartei(DVP) und der Deutsch-NationalenVolkspartei (DNVP), deren Vorläuferdie Eliten des Kaiserreiches repräsen-tierten, für die Beibehaltung vonSchwarz-Weiß-Rot ein. Sie begründendies mit zwei Argumenten: ■ die geplante Beseitigung vonSchwarz-Weiß-Rot sei ein Verstoßgegen die „nationale Würde“, weil dasdeutsche Volk unter diesen Farbeneinen „großartigen Aufschwung“erlebt habe■ zum anderen wiesen Schifffahrts-und Handelskreise auf die schlechteSichtbarkeit von Schwarz-Rot-Goldauf See hin.

Am 2. und 3. Juli 1919 folgt dieBeratung und endgültige Beschlussfas-sung des Flaggenartikels der Verfassungin der Nationalversammlung. Es wirdschließlich ein vom SPD-AbgeordnetenQuarck und vom Zentrumsabgeordne-ten Gröber zu Beginn der Beratungeneingebrachter Vermittlungsantrag mit213 gegen 90 Stimmen angenommen.Danach lautete Art.3 der Reichsverfas-sung: „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge istschwarz-weiß-rot mit den Reichsfarbenin der oberen Ecke.“

Achtung vor Kriegsopfern

In der vorangegangenen hitzigenDebatte hatte der DVP-AbgeordneteWilhelm Kahl alle wesentlichen Be-denken zusammengefasst und ausge-führt, dass er „nicht in erster Liniegegen Schwarz-Rot-Gold, sondern ge-gen den Farbenwechsel als solchen“sei. Dieser sei unzweckmäßig, weil erdie deutschen Handelsinteressen ver-letze, denn das Ausland habe sichschon auf Schwarz-Weiß-Rot einge-stellt. Auch sei unter diesen Farbenund nicht unter Schwarz-Rot-Gold dienationale Einheit verwirklicht worden.Des Weiteren erfordere die Achtungvor den Opfern des Weltkrieges, dassdie Flagge, unter der „unsere Helden“gefallen seien, nicht gewechselt werde:„Vor allem aber fordert es die Selbst-achtung vor uns als Deutsche. In den

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Augen unserer Feinde würde derWechsel eine Selbstentwertung sein,die uns geradezu verächtlich macht.“

Ablösung der Parteifahnen

Zuvor hatte der Reichsminister des In-neren, Eduard David (SPD), in einerbegeisternden Rede im Namen derReichsregierung dem später dann auchangenommenen parteiübergreifendenKompromissvorschlag zugestimmt undunter anderem ausgeführt:

„Wir müssen nach einem Symbolsuchen, das über alle Parteigegensätzeund alle Parteifahnen hinaus von mög-lichst allen Parteien als der Ausdruckder Zusammengehörigkeit zur Volks-gemeinschaft, die höher ist als alle Par-teien, angesehen und empfundenwird. Das ist die Aufgabe. Als Symbolfür diese innere Einheit, für dieses na-tionale Gemeinschaftsgefühl, glaubeich, ist das Schwarz-Rot-Gold durchseine eigene Geschichte gegeben …“

Die gleiche Motivation ist dem Auf-ruf des sozialdemokratischen Reichsprä-sidenten Friedrich Ebert zum Verfas-sungstag am 11. August 1922 zu ent-nehmen, in dem er die Bestimmungdes Deutschlandliedes zur National-hymne ankündigte und dabei insbeson-dere auf die dritte Strophe einging:

„Einigkeit und Recht und Freiheit!Dieser Dreiklang aus dem Liede desDichters gab in Zeiten innerer Zer-splitterung und Unterdrückung der

Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck;es soll auch jetzt unseren harten Wegzu einer besseren Zukunft begleiten.Sein Lied, gesungen gegen Zwietrachtund Willkür, soll nicht Missbrauchfinden im Parteikampf, es soll nichtder Kampfgesang derer werden, gegendie er gerichtet war; es soll auch nichtdienen als Ausdruck nationalistischerÜberhebung. Aber so, wie einst derDichter, so lieben wir heute ‚Deutsch-land über alles‘. In Erfüllung seinerSehnsucht soll unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen der Sang von Einig-keit und Recht und Freiheit der festli-che Ausdruck unserer vaterländischenGefühle sein.“

Flaggenstreit in Weimar

Alle diese Hoffnungen erfüllten sichindes nicht. Schwarz-Rot-Gold wurdealsbald für die rechts gerichteten Geg-ner der demokratischen Weimarer Re-publik deren verhasstes Symbol unddaher flaggten sie zu öffentlichen Feier-lichkeiten demonstrativ Schwarz-Weiß-Rot. Diese Ablehnung der Reichsfarbenerfuhr noch eine Steigerung, als im Fe-bruar 1924 in Magdeburg der republi-kanische Frontkämpferverband „Reichs-banner Schwarz-Rot-Gold“ gegründetwurde. Damit sollte zwar ein überpar-teiliches Bekenntnis zum demokrati-schen Nationalstaat und zur Republiksymbolisiert werden. Doch dem Ver-band gehörten fast ausschließlich Mit-

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glieder der so genannten WeimarerKoalition, d.h. der SPD, DDP und desZentrums an, und er wurde von denSozialdemokraten dominiert, die stetsden Bundesvorsitzenden stellten. Füreinen großen Teil der Bevölkerungwurde das Reichsbanner daher als eineArt sozialdemokratischer Kriegerver-band und Schwarz-Rot-Gold dement-sprechend auch als eine Parteifahnewahrgenommen, was die Väter derWeimarer Verfassung gerade hatten ver-meiden wollen.

Spott und Verunglimpfung

Dies führte nun zu den schlimmstenVerunglimpfungen der Reichsfarben.Nationalsozialisten pflegten von derJudenfahne zu reden und machten sichinsbesondere über den goldenen Strei-fen lustig, den sie etwa als hühnereigelboder schlicht als Scheiße bezeichneten.

Trotz seines bis 1933 formal verfas-sungstreuen Verhaltens ließ Reichsprä-sident Paul von Hindenburg so gut wiekeine Gelegenheit aus, seine verdeckteObstruktion gegen die republikani-schen Farben zu zeigen. So verspotteteauch er das Nationalsymbol, indem erdemonstrativ von Schwarz-Rot-Gelbsprach. Bereits eine Woche nach demknappen Wahlsieg der Nationalsozialis-ten erließ Reichspräsident Hindenburgdann am 12. März 1933 eine entlar-vende, von Reichskanzler Hitler gegen-gezeichnete vorläufige Regelung der

Flaggenhissung, die einen klaren Ver-stoß gegen den Flaggenartikel derReichsverfassung bedeutete. Der ErlassHindenburgs sah vor, „dass vom mor-gigen Tage bis zur endgültigen Rege-lung der Reichsfarben die schwarz-weiß-rote Fahne und die Hakenkreuz-fahne gemeinsam zu hissen sind. DieFlaggen verbinden die ruhmreiche Ver-gangenheit des Deutschen Reichs unddie kraftvolle Wiedergeburt der Deut-schen Nation. Vereint sollen sie dieMacht des Staates und die innere Ver-bundenheit aller nationalen Kreise desdeutschen Volkes verkörpern!“

Mit der von hämischen Kommenta-ren der antirepublikanischen Presse undöffentlichen Fahnenverbrennungen be-gleiteten Niederholung von Schwarz-Rot-Gold wurde der erste Verfassungs-bruch unter dem legal an die Macht ge-kommenen Reichskanzler Hitler umge-setzt. Die rechtliche Grundlage folgtedann allerdings wenige Tage später mitdem Ermächtigungsgesetz vom 24.März 1933.

Ablösung durch Hakenkreuz

Die Anhänger der kaiserlichenschwarz-weiß-roten Fahne konnte sichallerdings nur kurze Zeit freuen. DerDualismus mit der Hakenkreuzfahnewurde bereits durch das Reichsflaggenge-setz vom 15. September 1935 beendet.

Dieses erste der drei berüchtigtenNürnberger Gesetze bestimmte:

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Artikel 1: Die Reichsfarben sindschwarz-weiß-rot.

Artikel 2: Reichs- und Nationalflaggeist die Hakenkreuzfahne.Sie ist zugleichHandelsflagge.

Flagge als „elementarer Akt“

Nach dem Ende der Nazidiktatur wardie Frage der künftigen Nationalfarbenverständlicherweise zunächst nicht vongroßem Interesse. So bestand im Her-renchiemseer Verfassungskonvernt Ei-nigkeit, dass diese Flagge die FarbenSchwarz-Rot-Gold aufweisen sollte undein Flaggenstreit im neuen Deutschlandauf jeden Fall vermieden werden müsse.Diese Einigkeit setzte sich auch im Par-lamentarischen Rat fort. Die Verhand-lungen in den Ausschüssen führtenschließlich zu dem Ergebnis, dass nureine Einigung über die Farben, nichtaber über die Gestaltung der Bundes-flagge zu erreichen war.

Daraufhin beschloss der Hauptaus-schuss auf Anregung seines Vorsitzen-den Carlo Schmid (SPD), dass die Ab-stimmung über den entsprechendenVerfassungsartikel, die nach seiner Auf-fassung „ein elementarer Akt“ sei, beider letzten Lesung des Grundgesetzesim Plenum des Parlamentarischen Ra-tes erfolgen solle. Die entscheidendeSitzung, bei der zwei Anträge zur Ab-stimmung gestellt waren, fand demge-mäß am 8. Mai 1949 statt. Der Antrag

Lehr (CDU) lautete: „Die Bundesfar-ben sind schwarz-rot-gold. Über dieGestaltung der Flagge entscheidet einBundesgesetz“. Nach dem AntragSchmid (SPD) sollte Artikel 22 desGrundgesetzes folgende Fassung erhal-ten: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“.

Zur Begründung dieses Antragesbrachte der Abgeordnete Ludwig Berg-strässer den Wunsch der SPD zumAusdruck, dass der Bund die Flaggeführen solle, „die in Weimar gesetzlichfestgelegt wurde“ und „die zum erstenMale vor 100 Jahren durch das Frank-furter Parlament in die Gesetzgebungeinging“.

Neue Flagge im Grundgesetz

Als Symbol für das neue Staatswesenenthalte sie die beiden wesentlichenElemente einer Flagge: das Symbol derTradition und eine innere Willenserklä-rung. Diese innere Willenserklärung seidas Bekenntnis zur „Einheit in der Frei-heit“. Die Entscheidung über die Flag-ge einem Bundesgesetz vorzubehalten,bedeute, den Wahlkampf zum erstenBundesparlament zu einem großen Teilzu einem Flaggenstreit und damit zueiner Angelegenheit des Gefühls zu ma-chen. Bei der anschließenden Abstim-mung wurde zunächst der Antrag Lehrmit 34 zu 23 Stimmen abgelehnt unddann der Antrag Schmid mit 49 gegeneine Stimme angenommen.

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[ schwarz-rot-gold ]

In der Anfangszeit der Bundesrepu-blik Deutschland kam es dann wieder-holt zu Verunglimpfungen der schwarz-rot-goldenen Flagge, die aber nachdrück-licher verfolgt wurden als während derWeimarer Republik. Später ereignetensich derartigen Straftaten nur noch sel-ten, weil die heranwachsende Generationsich kaum noch für die Nationalfarbeninteressierte. Die von den Vätern desGrundgesetzes noch befürchte Neuauf-lage des erbitterten Flaggenstreites in derWeimarer Republik blieb daher aus.

„Spalterflagge“ mit Wappen

Auch die DDR entschied sich in ihrerVerfassung von 1949 für eine schwarz-rot-goldene Staatsflagge (Art. 2 Abs.1).Das überrascht auf den ersten Blick,weil die Kommunisten während derWeimarer Republik noch für eine roteReichsflagge gekämpft hatten, erklärtsich aber aus der Einsicht der verant-wortlichen kommunistischen Funktio-näre, dass die noch angestrebte gesamt-deutsche Republik jedenfalls nicht unterihrer Parteifahne zu realisieren sein wer-de. Nachdem beide deutsche Staatenzehn Jahre die gleiche Flagge verwendethatten, wurde in der DDR mit Wir-kung vom 1. Oktober 1959 das Staats-wappen in die Staatsfahne eingefügt.Dieses bestand bekanntlich aus einemgoldenen Ährenkranz, um den sich einschwarz-rot-goldenes Tuch schlang undin dem sich ein geöffneter Zirkel und

ein Hammer befanden. Die drei Sym-bole sollten für das Bündnis von Bau-ern, Arbeitern und wissenschaftlicherIntelligenz stehen. Da die neue Staats-flagge die von der DDR nun propa-gierte Zwei-Staaten-Theorie untermau-ern sollte, wurde sie in der Bundesrepu-blik auch als Spalterflagge tituliert.

Da sich die Staatsflagge der DDRaber gleichwohl aus denselben Farbenzusammensetzte wie die der Bundesre-publik, wurde durch sie auch dannnoch ein Beitrag geleistet, das Bewus-stsein von der Einheit der deutschenNation wach zu halten, als sich dieStaats- und Parteiführung der DDRdavon schon längst zugunsten einereigenen sozialistischen Nation verab-schiedet hatten. So brauchten die Bür-ger der DDR während der Wende le-diglich das Staatswappen aus dem Fah-nentuch herauszuschneiden, um ihremWunsch nach Überwindung der deut-schen Teilung Ausdruck zu verleihen.

Revolution von 1989

Die friedliche Revolution von 1989war daher wie die blutige von 1848/49auf das engste mit den Farben Schwarz-Rot-Gold verknüpft. In beiden Fällenhaben die Bürger letztlich für dieselbenWerte gekämpft. Aber die Revolutionvon 1989 war zudem erfolgreich undauch die parlamentarische Demokratieder Bundesrepublik hat sich anders alsdie der Weimarer Republik bewährt. So

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[ erardo cr istoforo rautenberg ]

kann unserem wichtigsten Staatssymbolheute auch nicht mehr entgegengehal-ten werden, was sowohl bei den Bera-tungen der Weimarer Verfassung alsauch des Grundgesetzes mit einer ge-wissen Berechtigung eingewandt wor-den war: Dass es unter diesem Symbolin der deutschen Geschichte nur zuMisserfolgen gekommen sei.

Flagge von Demokratie und Freiheit

Die schwarz-rot-goldene Bundesflaggeverkörpert über ihre Repräsentations-funktion hinaus alle die Werte, die denKernbereich unserer nationalen Identi-tät ausmachen sollten: Freiheit, Einheitund Demokratie. Sie fügen sich zu ei-nem deutschen Patriotismus zusam-men, vor dem sich keine andere Nationzu fürchten braucht und der sich in dieEuropäische Union problemlos einfügt.

Mir ist allerdings bewusst, dassmanch deutscher Politiker ein Problemmit Nationalsymbolen hat, weil damitin der deutschen Geschichte viel Mis-sbrauch getrieben worden ist. Bei un-serer Nationalflagge ist das unzweifel-haft nicht der Fall, denn sie steht ebennicht für nationalistische Verirrungen,sondern für einen demokratischendeutschen Rechtsstaat. Auch darfnicht vergessen werden, dass für dieMehrheit der europäischen Bevölke-rung die Nationalfahne als Identifika-tionssymbol trotz und wahrscheinlichsogar gerade wegen der fortschreiten-

den europäischen Einigung als unver-zichtbar empfunden wird.

Darüber hinaus ist unsere National-flagge mit ihrer freiheitlich demokrati-schen Tradition vorzüglich geeignet,sich darunter heutzutage gegenüber denrechtsextremistischen Gegnern unsererVerfassung zu versammeln. Ein Erfolgdes Kampfes gegen den Rechtsextremis-mus setzt aber voraus, dass die Politikerder demokratischen Parteien sich be-wusst sind, dass der durch die FarbenSchwarz-Rot-Gold symbolisierte Kern-bereich unserer nationalen Identitätzum demokratischen Grundkonsens ge-hört, der mir ohnehin zurzeit zu weniggepflegt zu werden scheint. Sie solltensich daher davor hüten, die nationaleIdentität in einer diesen Kernbereichverletzenden Weise parteiisch überzuin-terpretieren und bei der Bekämpfungeines innerhalb des demokratischenSpektrums befindlichen politischenGegners zur Polarisierung der Bevölke-rung zu instrumentalisieren. Andern-falls würden davon letztlich nur dieRechtsextremen profitieren. Dies würdeeine Schwächung des gemeinsamenKampfes aller Demokraten gegen denRechtsextremismus bedeuten. Wir dür-fen es als deutsche Patrioten nicht zu-lassen, dass sich solch eine unmensch-liche Geisteshaltung bei uns wiederbreit macht und das Ansehen Deutsch-lands in der Welt schwer schädigt –und auch dafür stehen die FarbenSchwarz-Rot-Gold. ■

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[ schwarz-rot-gold ]

Literatur:

Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identität, Bonn 2001

Günter Buchstab/Jörg D. Gaugner, Was die Gesellschaft zusammenhält. Plädoyerfür einen modernen Patriotismus, Sankt Augustin 2004

Otto Busch/Anton Schernitzky, Schwarz-Rot-Gold, Offenbach 1952

Eduard David, Um die Fahne der Deutschen Republik. Stuttgart, Berlin 1921

Wilhelm Erman, Schwarzrotgold und Schwarzweißrot, Frankfurt am Main 1925

Berndt Guben, Schwarz, Rot und Gold. Biographie einer Fahne, Berlin/Frankfurtam Main 1991

Hans Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, Köln 1998

Axel Stelzner/Christoph Stelzner, Die deutsche Trikolore und die Jenaer Urfahnen,in: „Blätter zur Landeskunde“ der Landeszentrale für politische Bildung Thürin-gen, Erfurt 1999

Johannes Thiele (Hg.), Das Buch der Deutschen, Bergisch Gladbach 2004

Veit Valentin/Ottfried Neubecker, Die deutschen Farben, Leipzig 1929

Dorothea Weidinger (Hg.), Nation, Nationalismus, Nationale Identität, in: Schrif-tenreihe „Kontrovers“ der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998

Paul Wentzke, Die deutschen Farben, Heidelberg 1927

Wilhelm Zechlin, Schwarz Rot Gold und Schwarz Weiß Rot in Geschichte undGegenwart, Berlin 1926

DR. ERARDO CRISTOFORO RAUTENBERG

ist Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg.

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