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pflichtlektüre Studentenmagazin für Dortmund 012015 Was sind die Folgen von Gewalt? Kurz bevor die Russen kamen ÜBERS EISMEER Von Menschenhändlern verschleppt AUF DER FLUCHT DAS LEID DAUERT AN ALBTRAUM NEUSTART

pflichtlektüre 01/2015

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Spannende, außergewöhnliche und berührende Geschichten zum Thema Flucht & Vertreibung.

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pflichtlektüreStudentenmagazin für Dortmund 012015

Was sind die Folgen von Gewalt? Kurz bevor die Russen kamenÜbers eismeer

Von Menschenhändlern verschleppt

auf Der flucht

das leid dauert analbtraum neustart

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Aus der redAktion

Interviews zählen Journalisten gern zu den Königsdisziplinen ihres Berufes. Dem kann ich als pflichtlektüre-Autor nur zu-

stimmen: Aber nicht, weil es mir schwerfällt, ein solches vor-zu-bereiten. Viel schwieriger ist, es bei manchen Interviewpartnern einen Termin zu finden. Nimmt man sich ein Streitgespräch vor mit Menschen, deren Kalender wahrscheinlich vor Terminen nur so strotzt, sollte man damit rechnen, dass das Gespräch mehrmals abgesagt wird. Ärgerlich ist das trotzdem. Dann heißt es, den Frust runterschlucken und sich was ausdenken: Vielleicht sollte man Improvisation zur Königsklasse im Journalismus küren?!

Die vorliegende pflichtlektüre ist erst die zweite mit mir im Layout. Da bisher keine Beschwerdebriefe zur vorigen

Ausgabe eingegangen sind, habe ich mich offensichtlich ganz gut ins Team eingefügt. Solange noch ein bisschen Unvorein-genommenheit da ist, ein kurzes Resümee meinerseits: 1. Meinem vorherigen Wirkungsfeld, dem Wissenschaftsressort, geht es auch ohne mich gut. 2. Layouter können doch mehr, als in den Redaktionskonferenzen blöde Kommentare geben. 3. Glühwein trinken zum Beispiel. 4. Im Ernst: Wenn die Autoren die Schauspieler sind, dann sind wir die Regisseure.

Journalismus geht einher mit Zeitdruck, davon bleiben auch wir vom Fotoressort nicht verschont. Brav fahren wir mit zu allen Terminen, sitzen während der Inter-

views stumm da und warten artig, bis die Autoren alle Fragen gestellt haben. Dann ist die verabredete Zeit um, der interviewte Protagonist atmet erleichtert auf – und wir verderben die Stimmung: „Äh, das Foto …?“ Wenn wir Glück haben, folgt ein freund-liches Lächeln und uns wird warm ums Fotografenherz. Also, Protagonisten vor eine möglichst neutrale Wand stellen und Fotos machen. Dabei ist stets zu hoffen, dass wir länger als eine Minute gewähren dürfen. Ist ja schließlich „nur“ für eine Unizeitschrift – aber erklärt das mal den Foto- und Layout-Chefs!

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Ein Studentenmagazin so ganz ohne Wohnungstipps oder Berichte

über Bafög-Änderungen? Ja, das ist ungewöhnlich.

Die erste Ausgabe des neuen Jahres ist ein reines Themenheft. Intensiv haben wir uns hierfür mit dem Thema Flucht und Vertreibung beschäftigt, das aktueller denn je ist: 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und inmitten einer Zeit, in der immer mehr Flüchtlinge von weit her nach Deutschland kommen. Rund 200.000 Asylanträge gab es im Jahr 2014 – Tendenz steigend.

Deshalb haben wir uns auf die Suche nach den noch nicht erzählten Geschichten gemacht – solchen aus der Vergangenheit, aber auch neuen über die momentane Flüchtlingswelle. Bei der Omnipräsenz in anderen Medien war das gar nicht so leicht.

Um verschiedene Sichtweisen zu beleuchten, haben unsere Autoren quer durch Deutschland Geschichten gesam-melt über Vergangenheit, Traumata und die ersten Erlebnisse der Flüchtlinge in

größerer Freiheit und Sicherheit. Es gibt fünf Kurzportraits, in denen Flüchtlinge jeweils auf einer Seite ihre Geschichte erzählen. Wir haben Menschen bei ihrer Arbeit mit Flüchtlingen begleitet. Und eine Zeitzeugin berichtet ausführlich über ihre Flucht während des Zweiten Weltkrieges.

Für uns Reporter gab es also viel zu entdecken und zu hinterfragen – für 40 Seiten Lesestoff, der euch vielleicht zum Nachdenken anregt und hoffent-lich gefällt. Wenn dem so ist, lasst es uns wissen. Gleiches gilt, wenn ihr von einem Campusmagazin etwas ganz anderes erwartet.

Viel Spaß beim Lesen wünscht

EINS VORAB VON PHILIPP RENTSCH

FLUCHT IM WINTER 1944/45

Als die Russen kamen

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HINGESCHAUTFotoausstellung „Nirgendwo ist hier“ 04APROPOSDiesmal: Deutsche Flüchtlingsgeschichte

ZUKUNFTSMACHERZahnarzt und ehrenamtlicher Vormund

SAG MAL PROFWie wird man Sozialarbeiter?

„WIE IM HIMMEL“Durch die halbe Welt nach Bochum

ALBTRAUM NEUSTARTVon Menschenhändlern verschleppt

UNSICHTBARE HÄSCHERDiagnose: Paranoide Schizophrenie

JA, ABER ...Flüchtlingsfrage stellt Bund und Land vor Probleme

IRRE LIEBEWenn der Richter Schluss machen muss

DAS LEID DAUERT ANEin Traumapsychologe erklärt die Folgen von Gewalt

WIRTSCHAFTSFLUCHTAna (26) aus Spanien wird Hotelfachfrau in Höxter

DUNKLE ERINNERUNGIm Bunker war jeder Bombeneinschlag zu hören

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10141516192628303435

DIE GIPFELSTÜRMERMusik aus dem Flüchtlingsheim 36MITGEHOLFENFünf Flüchtlingsorganisationen aus der Umgebung 38

MOMENTESyrische Flüchtlingsfamilie 06

inHALt

Viel Spaß beim Lesen wünscht

SAG MAL PROFWie wird man Sozialarbeiter?

DAS LEID DAUERT ANEin Traumapsychologe erklärt die Folgen von Gewalt

DUNKLE ERINNERUNGIm Bunker war jeder Bombeneinschlag zu hören

DIE GIPFELSTÜRMERMusik aus dem Flüchtlingsheim

MITGEHOLFENFünf Flüchtlingsorganisationen aus der Umgebung

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04rein

Was haben Streichhölzer, Maiskörner und Zuckerwürfel mit Flucht zu tun? Für die Fotoausstellung „Nirgendwo ist hier“ haben Studenten aus Dortmund, Bielefeld und Köln sehr persönliche und originelle Blickwinkel auf das Thema Flucht gefunden.

TEXTRicaRda dieckmann FoToFLÜcHTLinGSReTTUnG nRW

Der junge Mann hat die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.

Er steht auf einer Rasenfläche, zwischen kahlen Bäumen, am Rand ein Plattenbau. Doch seine Gestalt verblasst. Er wirkt einsam. Gefangen in einer Zwischen-welt, in der er nicht weiß, woran er ist. Diese beklemmende Momentaufnahme hat Carl Moritz Meyer, gleichzeitig Fotograf und Fotografierter, durch eine Langzeitbelichtung erzeugt. „Die erste Hälfte der Belichtungszeit befinde ich mich in starrer Haltung und stelle einen Aufenthalt dar. Mit Beginn der zweiten Hälfte ändert sich mein Zustand und ich ‚flüchte‘ aus dem Fokus“, beschreibt er. Carl Moritz Meyer ist einer von 13 jungen Künstlern, die für die Ausstellung „Nirgendwo ist hier“ einen sehr persön-lichen Zugang zum Thema Flucht und Asyl entwickelt haben.

Im Februar ist die Wanderausstellung in Köln zu sehen. „Unser Ziel war es, das oft sehr abstrakte Thema für eine breite Masse aufzubereiten“, erklärt Antonia Kreul. Sie ist Referentin des Flücht-lingsrates Nordrhein-Westfalen, der die Ausstellung initiiert hat. Urheber der Arbeiten sind Kunst- und Designstuden-ten aus Dortmund, Bielefeld und Köln.

HingescHaut

Fotoausstellung: Nirgendwo ist hier

Wie teuer? Der Eintritt ist freiWo und Wann? Köln im FebruarWo genau? Da sind sich die Veranstalter selbst noch nicht sicher. Sobald sie es wissen, könnt ihr es hier lesen: www.nirgendwoisthier.de

aus der Menge fällt auf, weil es einen anderen Zustand hat. Ein Streichholz ist abgebrannt, ein Maiskorn zum Popcorn-krümel geworden, ein Zuckerwürfel zerbröselt. Auf diese Weise wollen die Künstler kritisch hinterfragen, wie die Gesellschaft mit Flüchtlingen umgeht.

Nicht nur bei „Denaturierung“ offenbart sich der Bezug zur Flucht erst beim zwei-ten Blick. So zeigt die Arbeit von Laura Nagel alltägliche Gegenstände vor weißem Hintergrund: ein Atlas, ein Kissen, eine Gitarre. „Was nimmt man mit, wenn man nicht weiß, wohin man geht?“, hat die Fotografin verschiedene Menschen gefragt. Erhalten hat sie sehr persönliche Antworten, die den Gesamt-eindruck der Ausstellung passend er-gänzen: Flucht hat so viele Facetten, dass sich ein zweiter Blick lohnt – und zwar einer vollkommen frei von Vorurteilen.

„Uns kam die Idee, Studenten miteinzu-beziehen, weil diese im Alltag meist nicht viele Berührungspunkte mit Flüchtlingen haben“, sagt Kreul. Die meisten hätten sich so erstmals intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Andere hingegen hätten sich von Fluchtgeschichten aus der Familie oder von der eigenen Migrations-erfahrung inspirieren lassen.

Entstanden sind 112 Fotografien, die das Thema Flucht auf ganz unterschiedliche Weise in den Fokus rücken. Fotorepor-tagen über junge Afghanen und den Alltag im Asylbewerberheim sind ebenso zu sehen wie abstrakte Arbeiten: Unter dem Titel „Denaturierung“ haben Mona Schulzek und Adrian Ballosch gleich-mäßige Muster aus Streichhölzern, Mais-körnern und Zuckerwürfeln fotografiert. Die Besonderheit: Jeweils ein Element

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apropos ... gescHicHteFlüchtlinge eint die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit – früher wie heute.

Warum wir gerade jetzt unsere Skepsis vor Fremden überwinden müssen.

TEXTJoHanneS HÜLSTRUnG FoTomiRiam WendLand

Geschichte wird meist als etwas wahr-genommen, das passiert ist, und

nicht als etwas, das gerade passiert. Das führt dazu, dass aktuelle Ereignisse oder Entwicklungen oft als weniger bedeutsam empfunden werden als vergangene. Es gibt derzeit so viele Flüchtlinge wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren nicht mehr. Laut UNHCR, dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, sind es weltweit mehr als 50 Millionen. Die Zahl der Flüchtlinge ist von historischem Ausmaß.

Der Zweite Weltkrieg hat Europa, wie wir es heute kennen, entscheidend geprägt. Zu diesem Stück grausamer Geschichte gehören auch die Ströme von Flüchtlingen, die aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches vor der Roten Armee in den Westen flohen. Wo sie ankamen, stießen sie auf Unbehagen. Die Deutschen empfingen die Flüchtlinge mit Skepsis – Flüchtlinge aus ihrem eigenen Land, wohlgemerkt. Das ist erstaunlich und liefert zugleich eine Erklärung für die Skepsis, die auch heute vielen Flücht-

Die Schicksale der Menschen, die nach 1945 aus den deutschen Ostgebieten oder Ende der 1980er Jahre aus der DDR geflohen sind, lassen sich schwer vergleichen. Sie sind getrennt in der Zeit, getrennt im Ort, getrennt in den Umständen ihrer Flucht. Was sie eint, ist die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Beide Ereignisse stehen für zwei völlig unterschiedlich verlaufene Wellen einer deutsch-deutschen Flucht, für zwei verschiedene Arten einer deutsch-deutschen Integration. Nun kommen Flüchtlinge aus Syrien, Afgha-nistan, dem Irak, aus den Balkanländern. Nun gilt es, eine europäische, ja eine glo-bale Flucht in den Griff zu bekommen. Nun müssen Millionen von Menschen integriert werden in ein Europa, das bereits viele Krisen gemeistert hat. Nun muss jeder auf dem Weg zu historischen Momenten Stolpersteine wie die eigene Skepsis aus dem Weg räumen.

Weil wir nun die seltene Gelegenheit haben, Geschichte zu schreiben. Geschichte, die gerade passiert.

lingen entgegenschlägt. Diese Skepsis ist nicht dem Zeitgeist geschuldet, sondern dem Wesen des Menschen. Und sie ist ein Stolperstein für historische Momente.

Doch dass es auch anders geht, zeigt ein weiteres einschneidendes Ereignis im Europa des 20. Jahrhunderts. Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist nicht der einzige Jahrestag in diesem Jahr. Am 3. Oktober feiern wir 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Dieses Jubiläum bringt unweigerlich bewegende Bilder aus dem Jahr 1989, als der Grundstein für die deutsche Einheit gelegt wurde, zurück in die Köpfe der Menschen und auf die Fernsehbildschirme.

Bilder von Menschen, die Grenzzäune durchschnitten, Botschaften besetzten und in Zügen durch die gefürchtete Heimat in den Westen flüchteten. Und schließlich Bilder von der Nacht des Mauerfalls, in der ein deutsches Volk das andere aufnahm. Beide sind heute entgegen aller Skepsis zu einem Volk zusammengewachsen.

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ich packe meinen koffer

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Fünf Monate lebte die syrische Familie Baro in Kaldenkirchen nahe Krefeld – in einer kleinen Woh-nung, die sie mit einem Flüchtling aus China teilte. Saad und Maha Baro waren mit ihren Kindern Sirwan, Silva und Muhammed aus der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens geflohen. Der IS hatte gedroht, die Kinder zu entführen. Unsere Fotografin besuchte die Famile vor ihrem Umzug in eine eigene Wohnung in Lobberich. FotosChristiane reinert

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Angekommen! Das erste Familienfoto in der neuen Wohnung – und das erste in Deutschland überhaupt. Ältere Bilder konnten die Baros nicht mit auf die Flucht nehmen, die sie – zu Fuß und per Auto – über die Türkei und Bulgarien vor acht Monaten nach Deutschland führte. Beim Umzug von Kaldenkirchen nach Lobberich halfen der Flüchtlingsrat NRW, die örtliche Kirchengemeinde und andere Flüchtlinge aus der Nachbarschaft.

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TEXTLisa Bents ILLUSTRATIONanja Knast

zukunftsmacherSie sind aus ihrer Heimat geflohen und oft wochenlang ohne Bezugspersonen unterwegs gewesen.

Sie sind angekommen in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstehen. Für diese minderjährigen Flüchtlinge können ehrenamtliche Vormunde wie Till Kötter eine wertvolle Stütze sein.

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Herr Kötter, Sie sind Zahnarzt in Dortmund. Wie kommt man da

zu einem Ehrenamt bei dem Projekt „Do It“?Ich habe zufällig einen Artikel gelesen über einen Informationsabend, den die Diakonie veranstaltete. Darin wurde über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge berichtet. Ich selbst hatte das Gefühl, dass ich ein bisschen Kapazitäten frei habe, so dass ich gedacht habe: „Tu doch mal was Gutes und kümmere dich darum.“ Und da nahm das Schicksal seinen Lauf. Dann habe ich noch mein qualifi ziertes polizeiliches Führungszeugnis eingereicht beim Amtsgericht und eines Tages rief dann die Richterin an und sagte, sie habe da was für mich.

Vor wie vielen Jahren war das?Zweieinhalb Jahre. Ich bekam direkt zwei, ein albanisches Geschwisterpaar.

Wie ging es dann weiter?Bei den beiden albanischen Brüdern ist die Mutter mit den Geschwistern nach-gereist, so dass ich die Vormundschaft an das Gericht zurückgegeben habe. Die Kinder wurden dann in die Obhut der Mutter gegeben. Ich habe immer noch Kontakt zu der Familie und bin sogar Patenonkel eines in der Zwischenzeit geborenen Mädchens. Danach kam wie-der dieselbe Richterin auf mich zu und hatte zwei syrische Jungen für mich – damals 16 und 14 Jahre alt. Mittlerweile ist Hussein 18 geworden, damit erlischt die Vormundschaft. Der Jüngere ist 15 und spielt bei Borussia Dortmund in der U15-Mannschaft. Gestern habe ich noch mit seinem Trainer telefoniert, der mir sagte, dass der Junge sich dort wirklich prima entwickelt.

Mündel sind minderjährige Jugend-liche, die unter der Obhut eines Vormundes stehen. Wie viele Mündel betreuen Sie aktuell?Da Hussein volljährig geworden ist, bin ich momentan bei drei Mündeln. Ich habe durch die Mündel einen guten Kontakt zu den ganzen Junioren-Unter-künften, den Einrichtungen, in denen die Jugendlichen untergebracht sind. So werde ich als Zahnarzt empfohlen und komme in der Praxis mit neuen potentiellen Mündeln in Kontakt.

Neben dem Praxisalltag genug Zeit für drei Jugendliche zu fi nden, klingt nach einer schwierigen Aufgabe. Hier in der Praxis habe ich eigentlich meinen Lebensschwerpunkt. Hier bin ich also meistens von acht bis acht – außer mittwochs und freitags, da gehe ich dann schon einmal etwas eher nach Hause. Das ist dann der Zeitpunkt, wo man sich dann auch mal um die Mündel und ihre Angelegenheiten kümmern muss. Im Moment verbringe ich meine Mittwoch-nachmittage oft beim Rechtsanwalt.

Das heißt konkret?Es fängt immer an mit der Duldung, dann kommt die Gestattung und dann der Aufenthaltstitel. Die Ausländer-behörde sperrt sich gegen die Ausstellung dieser Aufenthaltstitel, solange da irgendwelche strafrechtlichen Ermittlun-gen laufen. Meistens werden die Ver-fahren eingestellt, aber da muss man erst mal hinkommen, was für die Jungen natürlich Probleme macht. Solange sie nur geduldet werden, müssen sie mit der Angst vor Abschiebung leben.

Warum das?Leider hatten wir bei allen Dreien Prob-leme, dass es Schlägereien gab, bei denen sie aber nicht Beschuldigte, sondern Beteiligte waren. Trotzdem laufen gegen sie Strafverfahren. Die syrischen Jungen sind aus der Straßenbahn ausgestiegen und mit deutschen, wahrscheinlich etwas rechtsradikal orientierten, Jungen in einen Konfl ikt geraten und beschimpft worden. Der eine ist geschlagen worden, hat sich gewehrt und zurückgehauen. Daraufhin haben die anderen Jungen die Polizei gerufen und gesagt, dass meine Jungen sie angegriffen hätten. Da wird natürlich Täter- und Opferrolle direkt umgedreht. Das Verfahren läuft und sie stehen unter der Anschuldigung der gefährlichen Körperverletzung. Das Problem ist, dass sie, solange diese Er-mittlungsverfahren laufen, ihren elektro-nischen Aufenthaltstitel nicht kriegen.

Man hört ja immer wieder, dass sich die Asylanträge in den Büros der zuständigen Behörden stapeln und die Bearbeitung nur schleppend vorangeht. Wie lange braucht ein erfolgreiches Asylverfahren?Mit meinen beiden Syrern ging es relativ schnell. Da waren wir, glaube ich, nach sechs, sieben Monaten „schon“ durch, obwohl die bevorzugt abgefertigt werden sollten. Das ist natürlich ein Witz, wenn man bedenkt, in welcher Situation die sich befi nden. Die Eltern sind zurückge-lassen mit kleinen Kindern. Jetzt sind die beiden als Flüchtlinge anerkannt. Der Jüngste, der unter 18 ist, dürfte einen Antrag stellen, dass seine Eltern nachreisen.

Ist das problemlos möglich?Da muss man erst eine Vorab-Zustim-mungserklärung bei der Ausländer-

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behörde beantragen und die schickt das an die bearbeitende Botschaft. In Syrien gibt es aber keine Botschaft mehr – die ist geschlossen. Die Eltern müssen also von dem Land, in dem der Krieg tobt, in die nächstgelegene Botschaft in Ankara. Jetzt brechen Sie mal mit einer 70-jährigen Großmutter, mit einem neugeborenen Baby und drei anderen kleinen Kindern auf. Zu dem Termin muss die gesamte Mannschaft dort erscheinen. Das ganze Verfahren dauert dann aber zwei bis drei Monate. Dann kriegt die Familie irgend-wann Bescheid – aber nicht über die Post. Denn wie soll das gehen? In Syrien kommt ja kein Postbote mehr vorbei. Dann dürfen sie also wieder in Ankara erscheinen, kriegen von der deutschen Botschaft das Visum und dürfen von dort einreisen. Die meisten kommen illegal, das kostet dann 4.000 bis 6.000 Euro, es geht aber viel schneller.

Was sind die Aufgaben, die Vormunde erfüllen müssen?Meine primäre Aufgabe ist es zu gucken, ob es ihnen gut geht. Ich muss mich um den Gesundheitszustand der Jungs küm-mern. Ich muss gucken, dass sie in der Unterkunft gut untergebracht sind, dass das Bett in Ordnung ist, dass dort keine kaputten Matrat-zen sind oder sonst irgendetwas ist. Und ich muss mich natürlich auch um die Ausbildung kümmern – um die Schule. Klar machen wir darü-ber hinaus auch privat etwas. Wir treffen uns mal in der Stadt auf einen Kaffee, wir fahren Kart oder bowlen, alles was Jungs in dem Alter eben gerne machen. Ich habe selbst einen 22-jährigen Sohn – ich weiß, wie die so ticken.

Das hört sich ein bisschen so an, als würden Sie in eine Art Vater-rolle schlüpfen?Man macht schon viel in der Frei-zeit – aber auch nicht zu viel. Also, man sollte sie nicht zu sich nach Hause holen und zu sehr in die Fami-lie einbinden. Ich bin natürlich schon so etwas wie der „Ersatz-Vater“ – ich will ihnen auch die Möglichkeit geben, Trauer rauszulassen. Denn wo können sie das sonst machen? Ich hatte mit meinen

Jungen bis jetzt immer viel Glück. Die sind engagiert in der Schule, haben ihren Sport, Kumpels. Da brauche ich mich in der Freizeit eigentlich gar nicht die ganze Zeit drum zu kümmern. Mit 17 versuchen wir sie dann aus den Heimen rauszuholen und in eigene Wohnungen zu bringen.

Wünschen sich viele Jugendliche, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, sobald dort Ruhe eingekehrt ist?Ich denke, da sie ja noch nicht vor so langer Zeit gefl ohen sind und meistens familiäre Anbindung zu Hause besteht, ja. Wenn man manche Bilder sieht, kann man sich gar nicht vorstellen, dass da überhaupt jemand zurückgeht. Aber wenn wir mal 70 Jahre zurück-denken, hier in Deutschland 1945, wie Dortmund da

ausgesehen hat, könnte man sich heute auch nicht vorstellen, dass man hier leben möchte. Dazu braucht man junge Menschen mit Know-how, das sie dem Land zur Verfügung stellen können, um es wieder mit aufzubauen.

Man merkt, dass Sie über die Zeit eine emotionale Beziehung zu Ihren Mün-deln aufgebaut haben.Auf jeden Fall. Wir halten den Kontakt auch nach dem 18. Geburtstag. Das sind herrliche Kerle und man muss sich vor-stellen, in welchem Dilemma die stecken. Auf der einen Seite sind es noch kleine Jungs – müssen hier aber den wilden Max und den Macho spielen, weil so ja alle sind auf der Straße. Und trotzdem müssen sie auch die Gelegenheit haben, mal eine Träne zu verdrücken. Da biete ich ihnen gerne meine Schulter an.

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Till Kötter, Monika Neise

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Vormund zu sein scheint zeitaufwän-dig, nicht immer einfach und sehr bewegend zu sein. Was motiviert Sie, dieses Ehrenamt auszufüllen?In jedem von uns steckt dieses Potenzial, etwas zu tun, da muss man keine Angst haben, sondern im Gegenteil: Man wird wirklich dafür belohnt. Man trifft Menschen, mit denen man sonst nie in Kontakt kommen würde und bewegt sich in Regionen seiner Stadt, wo man sonst nicht hinkommen würde. Es macht wirk-lich Spaß, da Einblicke zu gewinnen und man kriegt sehr viel Gutes zurück.

Till Kötter ist einer von circa 60 Vor-munden, die ehrenamtlich für das Projekt in Dortmund arbeiten. Eine bunte Mischung aus Lehrern, Anwälten, Ärzten, Selbstständigen, Studenten – sie alle haben sich entschlossen die jungen Menschen auf ihrem neuen Lebens-abschnitt zu begleiten. Sie sind Ehren-amtliche des Projekts „Do It“ der Diakonie Dortmund und Lünen.

Wenn bei Monika Neise im Büro in Dortmund das Telefon klingelt, kann das für einen minderjährigen Flüchtling die Chance auf eine Vertrauensperson sein. Neise ist nicht nur Beraterin bei Asylverfahren, sondern betreut auch das EU-Projekt „Do It“. In Abendveranstal-tungen werden Ehrenamtliche geschult, um Vormundschaften für jugendliche Flüchtlinge übernehmen zu können. Sie nehmen sich der Jugendlichen an und sollen ihnen einen guten Start in Deutschland ermöglichen.

Die durchschnittlich 15- bis 17-Jährigen sind meistens männlich, sagt Neise. Es würden zwar etwa gleich viele Mädchen und Jungen ihre Heimatländer verlassen, aber die Mädchen schafften es aufgrund von Prostitution und Menschenhandel meist leider nicht bis nach Deutschland, sagt Neise. Die unbegleiteten Flüchtlinge bekommen bei ihrer Ankunft oftmals einen Amtsvormund vom Jugendamt an die Seite gestellt. Durch die hohe Zahl der Flüchtlinge kommen auf einen Amts-vormund bis zu 50 Vormundschaften – manchmal auch mehr. Intensive, indivi-duelle und persönliche Betreuung ist deshalb kaum möglich, sagt Neise. An-ders sei das bei den ehrenamtlichen Vor-munden, die meist nur ein bis vier Mün-del gleichzeitig betreuen und so mehr auf den Einzelnen eingehen können.

Sobald das Amtsgericht dem Antrag auf Vormundschaft zugestimmt hat und die sogenannte „Bestallungsurkunde“ ausgestellt hat, ist der Ehrenamtliche die rechtliche Vertretung des minderjährigen Flüchtlings. Er muss dafür sorgen, dass dieser medizinisch versorgt ist, in den Jugendhilfeeinrichtungen gut betreut wird und die schulische Ausbildung vor-angeht. Außerdem muss er „Elternunter-schriften“ leisten, also all das unterschrei-ben, wofür sonst die Eltern zuständig sind. Zweimal im Jahr fi ndet zusammen mit dem Jugendamt und der jeweiligen Unterkunft des Jugendlichen ein „Hil-feplangespräch“ statt, in dem die Ziele und Perspektiven der jungen Menschen formuliert und festgehalten werden.

Ziel des Projektes sei es, den Mündeln eine Vertrauensperson an die Seite zu stellen und einen längerfristigen Auf-enthalt in Deutschland zu ermöglichen, erzählt Neise. Dies soll den Kindern und Jugendlichen neben guter Versorgung vor allem Orientierung bieten. Als Vormund ist man zwar zum Teil Elternersatz, eine gewisse Distanz müsse aber sein, sagt Monika Neise. „‚Mein Mündel ist meine neue beste Freundin‘, solche Aussagen lösen Unbehagen in mir aus“, berich-tet sie von einem Negativbeispiel. Die meisten der rund 60 Vormunde, so Neise, würden allerdings die richtige Balance fi nden und seien den Jugendlichen somit eine große Hilfe bei ihrem Neustart.

JA, ICH WILLVORMUND WERDEN

Ein bis vier Mündel betreuen Ehrenämtler im Schnitt. Wie du „Do It“ unterstützen kannst, erfährst du hier.

TEXTLisa Bents FOTOSstina BeRGHaUs/DiaKOnie DORtMUnD

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„WIE IM HIMMEL“Samuel Iddrisu hatte eine glückliche Kindheit und eine gute Ausbildung. Dem

Ghanaer ging es gut in seiner Heimat. Doch dann habe ihm das Gefängnis gedroht. Aus Furcht vor der Justiz sei er nach Deutschland gefl ohen.

TEXTLUISA HESS FOTOCHRISTIANE REINERT

die Flüchtlinge retten und nach Lampedusa bringen kön-nen. Von dort sei Samuel nach Agrigento gefl ogen worden.

Mit Gewalt hätten die Beamten dort Samuels Finger-abdrücke genommen. „They kicked me and twisted my wrists“, erzählt der Ghanaer und ballt wütend seine Fäuste. Aus Furcht vor den Behörden habe er illegal sechs Mo-nate in Rozzano verbracht. Doch sein Ziel sei ein anderes gewesen: „I wanted to go to Germany. Life should be good there.“ Ein italienischer Freund habe ihm ein Zugticket von Mailand nach München fi nanziert. Dort sei er am 27. September 2014 im Zug von einer Polizeikontrolle entdeckt und in ein Erstaufnahmelager gebracht worden. Warum er dort nicht bleiben konnte, wisse der 22-Jährige nicht. Statt-dessen sei es weiter nach Dortmund in die Erstversorgungs-einrichtung Hacheney und später nach Bochum-Linden gegangen.

Samuel vermisst seine Familie. Trotzdem möchte er nicht zu-rück nach Ghana. Zu groß sei die Furcht vor dem Gefäng-nis. Ob der 22-Jährige jedoch in Deutschland bleiben kann, ist fraglich. Ghana gilt als siche-res Herkunftsland – die Ursache für seine Furcht vor den ghanaischen Behörden wird Samuel nur schwer bewei-sen können.

Samuel wirkt ausgezehrt. Gekrümmt sitzt der 22-Jährige auf einer Mauer vor dem vorübergehenden Flüchtlings-

heim in Bochum-Linden. Seit zwei Jahren ist er auf der Flucht. Auch in Bochum kann der Ghanaer nicht bleiben. Er muss bald dauerhaft in ein anderes Flüchtlingsheim. Darüber denkt Samuel jedoch wenig nach. Was zählt, ist sein Asylantrag. In Deutschland fühlt er sich nämlich „like in heaven“.

Stockend und in gebrochenem Englisch erzählt Samuel von seiner Flucht. Er sei in Tumu, einer Kleinstadt im Norden Ghanas, aufgewachsen. Dort habe er ein Internat und eine Wirtschaftshochschule besucht. Als er 17 war, sei sein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Samuels Stimme bricht, als er davon erzählt: „I didn’t know how to stand on my feet.” Auch seine Mutter habe den Verlust nicht verkraftet. Seit einem Herzinfarkt sei sie auf teure Medikamente angewiesen. Das Geld dafür habe Samuel als neues Familienoberhaupt allein verdienen müssen.

Wie genau er das getan habe, möchte der Ghanaer nicht erzählen. Er schäme sich und sagt nur so viel: Er sei mit dem Gesetz in Konfl ikt geraten und von der Polizei gesucht worden. Zehn Jahre Gefängnis hätten ihm gedroht – eine Bestrafung, die in Samuel Panik ausgelöst habe. Schon oft habe er von grausamen Foltermethoden in den ghanaischen Haftanstalten gehört. „Before I go to prison I would rather die“, sagt Samuel entschlossen.

Anfang 2012 sei er auf einem Truck nach Libyen aufge-brochen. Drei eisige Nächte habe die Fahrt durch die Wüste Nigers gedauert. Als er davon erzählt, schlingt Samuel seine Arme eng um seinen schmalen Oberkörper. In Libyen habe er rund ein halbes Jahr auf einer Baustelle in Sabah gelebt. Doch der libysche Bürgerkrieg habe das Leben dort immer gefährlicher gemacht. „Only once a week I’ve left the house to buy some food”, schildert der 22-Jährige sein Leben dort. Er sei weiter nach Tripolis und von dort mit einem Schlep-perboot nach Europa gefl ohen. Rund 200 Menschen hätten sich auf dem für 50 Personen gebauten Kahn befunden. Nach drei Tagen ohne Essen und Trinken habe das Boot zudem zu sinken gedroht. Doch die italienische Polizei habe

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Tumu Bochum

Scheinwelt Realität

Angst Schutz

Kabul Holzwickede

Höxter Murcia

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* Namen von der Redaktion geändert

Tumu Bochum

Scheinwelt Realität

Angst Schutz

Kabul Holzwickede

Höxter Murcia

IRRE LIEBEDrohungen, Verfolgungen und Anrufe: Wie ist es, wenn ein vertrauter Mensch

zur Gefahr wird und man vor ihm die Flucht ergreifen möchte? Die 19-jährige Nina* erzählt von dem furchtbaren Ende einer Beziehung.

TEXTALINA FURHMANN FOTOMIRIAM WENDLAND

am Arm gepackt, „um mir wehzutun“. Nina sagt: „Eigentlich hatte ich keine Angst vor ihm, wir waren schließlich zwei Jahre zusammen. Das kam mir erst alles normal vor, doch als er mir dann wirklich wehtat, wusste ich, dass es das nicht ist.“

„Zuerst war es für mich keine Option, zur Polizei zu gehen.“ Weil Tim immer dreister geworden sei, habe sie ihre Mei-nung geändert. „Ich habe eine Freundin zum Bahnhof gefahren. Tim ist dann in seinem Auto hinter uns aufgetaucht und hat uns den Weg versperrt: Er hat sich mitten auf der Straße mit dem Auto quer gestellt, wir haben sofort die Türen verriegelt.“ Bis heute sei es ihr ein Rätsel, woher Tim wusste, wo sie sich befand.

Die Polizei erließ gegen Tim eine einstweilige Verfügung, gegen die er aber Widerspruch einlegt hat, erzählt Nina. „Ich hätte wohl nie gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll.“ Erst der Gerichtstermin im Frühjahr 2014 habe Ruhe gebracht. „Die Richterin entschied, dass Tim sich mir nicht mehr als 20 Meter nähern und nicht an meinen gewohnten Auf-enthaltsorten auftauchen darf. Trotzdem habe ich weitere Vorsichtsmaßnahmen getrof-fen.“ Sie habe ihre Handynummer geändert und gehe vorsichtiger mit per-sönlichen Informationen um. Nina wirkt entschlossen, Tim aus ihrem Leben zu streichen: „Für mich ist nur wichtig, dass er mich nicht mehr kontaktiert, dass ich ihn endlich los bin.“

Ein Jahr lang konnte Nina kein selbst-bestimmtes Leben führen. „Ich gucke

jetzt immer noch, ob jemand hinter mir ist“, sagt sie. Nina erzählt, wie sie gestalkt wurde: Ihr Ex-Freund habe sie verfolgt und mit Nachrichten bombardiert. Schon in der Beziehung habe Tim* Regeln gehabt, ihr den Kontakt zu Männern un-tersagt. Sie habe auch nicht feiern gehen dürfen. „Anfangs war das schon komisch, ich musste den Kontakt zu vielen Leuten abbrechen. Richtig gestört hat es mich aber nicht“, erinnert sich Nina.

Im Mai 2013 habe der 20-Jährige mit ihr Schluss gemacht – per SMS. „Er hat geschrieben, dass er das nicht mehr will, es würde ihm zu ernst. Aber schon am nächsten Morgen wollte er mich wieder zurück.“ Weil Nina das alles zu schnell ging, habe sie Abstand gewollt. „An meinem Geburtstag, ein paar Tage später, fi ng dann alles an: Er hat angerufen, um sich zu entschuldigen und wollte wissen, wo ich bin.“ Wenn Nina in den folgen-den Wochen raus ging, sei Tim immer wieder in seinem Auto hinter ihr aufge-taucht, habe vor der Schule, bei ihrem Nebenjob oder vor ihrer Haustür gewartet. Ihr Handy sei voll mit Nach-richten von ihm gewesen, sodass sie seine Nummer blockiert habe.

Auch Ninas Freundinnen hätten ihn bei WhatsApp und Facebook gesperrt. Trotzdem habe Tim von einem Treffen erfahren und Nina und eine Freundin an einem Abend beobachtet, wie sie von zwei Männern zur Bahnhaltestelle gebracht wurden. „Plötzlich ist er aus dem Auto ausgestiegen und hat mich an-geschrien, warum ich jetzt schon andere Jungs treffe.“ Das Gespräch sei außer Kontrolle geraten, Tim habe Nina fest

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16flucht und vertreibung

TEXT&FoToSteffi Luthe symbolFoTosChriStiane reinert/Stina BerghauS/MiriaM WendLand

Vergewaltigungen.

Demütigungen.

Zwangsprostitution. Die Frauen, die zu Regine Reinalda von der Dortmunder Mitternachtsmission kommen, mussten fliehen – denn sie sind Opfer von Menschenhändlern geworden.

Maimuna hatte Hoffnungen, als sie nach Deutschland kam. Sie stammt aus einem Dorf in

Gambia und wurde verstoßen, nachdem sie vergewaltigt und schwanger geworden war. Ein netter deutscher Arzt nahm die Abtreibung in Gambia vor, er kümmerte sich um sie und bot ihr an, sie mit nach Deutschland zu nehmen. Er wolle sie adoptieren, sie könne zur Schule gehen und eine Ausbildung machen. Doch als Maimuna nach Deutschland kam, war alles anders: Der Arzt war nicht mehr nett. Stattdessen vergewaltigte er sie und zwang sie, für Geld Sex mit anderen Männern zu haben. Nach einigen Wochen in Gefangenschaft schaffte sie es, zu fliehen. Maimuna wurde zur Dort-munder Mitternachtsmission gebracht.

Diese Geschichte erzählt Regine Reinalda oft, wenn sie nach einem Beispiel gefragt wird. Die 51-Jährige ist Sozialarbeiterin bei der Mitternachtsmission und arbei-tet in der Abteilung „Hilfen für Opfer

von Menschenhandel“. Maimuna gibt es nicht, ihr Martyrium ist ausgedacht, passiert jedoch so oder so ähnlich immer wieder tatsächlich. Echte Geschichten möchte Reinalda nicht veröffentlichen, um die Frauen zu schützen. Die Mitternachtsmission ist eine Bera-tungsstelle für Prostituierte und Opfer von Menschenhandel. In der ersten Hälf-te 2014 kümmerten sich die Mitarbei-terinnen um 140 Frauen, die unter falschen Versprechungen nach Deutsch-land gelockt und dann zur Prostitution gezwungen worden waren. „Seit fünf Jahren kommen immer mehr Opfer aus Afrika, vor allem aus Nigeria. Früher waren es dagegen mehr Bulgarinnen“, berichtet Reinalda.

Zwangsprostitution statt besseres LebenDie Frauen und Mädchen wollten in Deutschland eine Ausbildung machen, einen guten Job bekommen oder

heiraten. Stattdessen warte auf sie die Zwangsprostitution, sagt Reinalda. Sie würden mit Drogen, Alkohol und Medi-kamenten gefügig gemacht, bedroht und sexuell misshandelt. „Frauen aus westafri-kanischen Ländern werden auch mit Voo-doo unter Druck gesetzt. Vor ihrer Abreise werden sie zu einem Voo-doo-Priester gebracht, der ihnen einredet, dass ihren Familien schlimme Dinge pas-sieren werden, sollten sie jemandem von ihrer Situation erzählen. Diese Frauen fühlen sich stark daran gebun-den“, sagt Reinalda. Ein kleiner Teil der Frauen habe vorher schon als Prostituier-te gearbeitet. Sie seien nach Deutschland gekommen, um mehr Geld zu verdienen. „Aber das ist ja kein Freifahrtschein, um sie auszubeuten. Die Täter zwingen sie, Sexualpraktiken anzubieten, die sie nor-malerweise nicht ausüben würden, und nehmen ihnen das verdiente Geld ab“, erzählt Reinalda. Früher sei es vor Ge-richt schwerer gewesen, die Täter zu ver-urteilen, wenn die Frauen schon wussten,

ALBTRAUM VON EINER BESSEREN ZUKUNFT

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dass sie als Prostituierte arbeiten würden. „Heute ist es da zum Glück zu einem Umdenken gekommen“, sagt Reinalda.Normalerweise stoßen die Mitarbeiterin-nen der Mitternachtsmission entweder direkt bei der Arbeit in Bordellen, Clubs oder auf dem Straßenstrich auf Frauen, die nicht freiwillig als Prostituierte arbei-ten. Oder sie werden durch andere Prostituierte oder Freier auf jene aufmerksam gemacht. Auch durch die Polizei oder Krankenhäuser wird häufig ein Kontakt vermittelt. Ein paar Frauen melden sich selbst.

Seit dem ersten April ist die Mitter-nachtsmission außerdem Mitglied in dem durch den Europäischen Flüchtlingsfond geförderten Projekt „Identifizierung und Schutz von Opfern von Menschen-handel und sexueller Ausbeutung im Auf-nahmeverfahren Nordrhein-Westfalen“ (ISOM). Dabei geht es darum, Frauen zu erkennen, die als Flüchtlinge an Menschenhändler geraten sind. „Wenn den Sozialarbeitern in den Erstaufnahme-einrichtungen, zum Beispiel in Hacheney, auffällt, dass bei den Geschichten der

Frauen irgendetwas nicht stimmt, können sie sich jetzt leichter an uns wen-den“, sagt Reinalda. Vorher waren die Bereiche „Asyl und Flucht“ und „Men-schenhandel“ nicht miteinander verbun-den. „Der Zustand, in dem die Frauen hier ankommen, ist manchmal sehr erbärmlich“, sagt Reinalda. So stehen einige morgens vor der Eingangstür, bar-fuß, übernächtigt und vergewaltigt, und bitten um Hilfe. Dann ginge es zunächst mal um das Offensichtliche: den Frauen die Möglichkeit zum Duschen, Essen und Schlafen und Kleidung zu geben.

Seelische und organisatorische HilfeSobald klar ist, dass eine Frau Opfer von organisierter Kriminalität geworden ist, steht zunächst neben der ärztlichen Versorgung die sichere Unterbringung im Vordergrund. „Es muss sichergestellt sein, dass die Frauen nicht von den Tätern ge-funden werden können“, erklärt Reinalda. Die Mitternachtsmission bringe die Frauen dazu dezentral an verschiedenen Orten unter. Genauer

möchte Rein-alda nicht wer-den, um keine Anhaltspunkte zu liefern.

Für jede Frau gibt es eine Be-zugsperson, die im besten Fall deren Mutter-sprache spricht.

Diese Aufgabe übernehmen Honorarkräf-te, häufig Studentinnen mit Migrations-hintergrund. „Zwei meiner Kolleginnen kommen aus Afrika. Mit ihnen können wir schon sechs unter-schiedliche afrikanische Sprachen abdecken.“ Es sei wichtig, für die oftmals schwer traumatisierten Frauen, jemanden zu haben, der ihre Sprache spricht. So könnten sie schneller Vertrauen aufbauen. Auch aus diesem Grund arbeiten bei der Mitternachtsmission nur Frauen.Nach den ersten Schritten kümmern sich die Sozialarbeiterinnen um den weiteren Aufenthalt in Deutschland. Sie helfen bei der Beantragung von Sozialleistungen

ALBTRAUM VON EINER BESSEREN ZUKUNFT

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und prüfen, ob die Opfer Papiere und Pässe haben. Den Frauen stehen rechtlich drei Monate „Bedenk- und Orientie-rungsfrist“ zu. In dieser Zeit wird entschieden, wie es weitergeht: Können sie in Deutschland bleiben? Trauen sie sich, die Täter anzuzeigen?

Erwartet eine Frau ein Kind von einem deutschen Mann, darf sie in Deutschland bleiben. Auch wenn sie sich entscheidet, die Täter anzuzeigen, darf sie während der Dauer des Prozesses, bei dem sie von den Sozialarbeiterinnen begleitet wird, hierbleiben. „Bis zum Ende des Prozesses können zwei Jahre vergehen. Manchmal haben sich die Frauen in dieser Zeit integriert – haben geheiratet, ein Kind bekommen, einen Job. Dann können sie dauerhaft hier bleiben“, erklärt Reinalda.

Zwischen Routine und BelastungWährend ihrer Arbeit werden die Sozi-alarbeiterinnen der Mitternachtsmission immer wieder mit schlimmen Schicksalen konfrontiert. Mit diesen Erfahrungen umzugehen, sei manchmal nicht leicht. Die Kolleginnen haben sich deswegen ein Versprechen gegeben: Wenn sie bei ihrer Arbeit etwas belastet, rufen sie sich an, egal zu welcher Uhrzeit. „Es schleicht sich schon eine Art Routine ein. Aber ein paar Dinge gehen mir natürlich immer noch unter die Haut“, sagt Reinalda. Zum Beispiel, als sie eine junge Frau betreut habe, die im gleichen Jahr wie ihre Tochter geboren worden sei.

Zu sehen, wie gut sich die Frauen nach ihrer Flucht in die Freiheit entwickeln, berührt Regine Reinalda nach 19 Jahren Sozialarbeit immer noch. „Ich habe Frau-en schon oft bei späteren Treffen nicht mehr erkannt, weil sie sich in kurzer Zeit so sehr verändert haben“, erzählt sie. „Das ist wirklich schön zu sehen.“

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„SIE HABEN MICH MARKIERT“Auf der Flucht ist er schon fast sein ganzes Leben. Seine Verfolger sind nicht greif-bar, denn es gibt sie nur in seiner Vorstellung – und der kann er nicht entkommen. Jörg leidet an einer paranoiden Psychose. Er erzählt von seinem Leben in Angst.

TEXTBERNHARD FLEISCHER SYMBOLFOTOSTINA BERGHAUS

Seine Mutter starb, als er 15 war, mit dem Vater habe er sich nie verstanden. Mit Anfang 20 sei das Gefühl, verfolgt und bespitzelt – die Ängste davor entführt zu werden – übermächtig geworden. Seine Ausbildung zum Industriemechaniker brach er nach einem Jahr ab. Die per-manente Anspannung habe ihn ausgebrannt. Es folgten Depressionen.

Was würde passieren, wenn seine Verfolger ihn erwischten? „Totale Vernichtung“, stammelt Jörg knapp. Wochenlang habe er sich zurückgezogen, auf dem Boden gekauert, verschanzt hinter abgedunkelten Fenstern. Zum Arzt sei er erst Jahre später gegangen. Irgendwann habe er sich nicht mehr vor seinen Verfolgern schützen können, ihre Gedan-ken seien durch die Jalousien in seinen Kopf gedrungen und hätten von ihm Besitz ergriffen. Sein Vater habe ihn schließlich in die psychiatrische Ambulanz gebracht, die Diagnose: Paranoide Schizophrenie. Es folgte ein Jahr psychiat-rische Klinik. Ein Cocktail aus Neuroleptika und Beruhigungs-mitteln nehme ihm die Panik, lasse ihn zur Ruhe kommen. Nach zwei Jahren Arbeits-therapie verdient er sich nun regelmäßig ein Taschengeld in der Werkstatt für angepass-te Arbeit, erledigt kleinere Reparaturarbeiten auf dem Klinikgelände.

Seine Verfolger werden ihn nicht einholen, denn es gibt sie nicht. In guten Phasen ahnt Jörg das, aber endgültig los wird er sie wohl nie. Sie sind in seinem Kopf.

Die Eingangstür hinter ihm steht offen, mit einem Holzkeil festgeklemmt. Es ist ein kalter Morgen.

Herein bittet Jörg (39) so leicht niemanden, auch jetzt nicht, schon gar nicht in sein Zimmer. Eingerichtet hat er sich dort ohnehin nicht. Die meisten seiner Sachen stehen in Umzugskartons, griffbereit für den Fall, dass sie ihn hier aufspüren, er verschwinden muss. Jörg redet leise in Rich-tung Boden: „So lange wie hier war ich noch nie sicher.“ Das Haus auf dem Gelände der Kaiserswerther Diakonie im Norden Düsseldorfs ist seine Zufl ucht, seit nun fast fünf Jahren. Wer ihn verfolgt, kann er nicht sagen: „Ich weiß nicht, wer dazugehört.“

Angefangen habe es in der achten Klasse. Damals habe er mit seinen Eltern bei Brüggen, in der Nähe von Mönchen-gladbach, gewohnt, in einem kleinen Haus am Waldesrand, nicht weit von einem Militärfl ughafen entfernt. „Ich saß oft am Fenster und schaute mir die Flugzeuge an. Die fl ogen oft direkt über unser Haus.“ Irgendwann habe er im Schreibtisch seines Vaters einen Laserpointer entdeckt und regelmäßig gen Himmel gerichtet, um die Kampfjets zu treffen. „Einmal kam ein grüner Strahl zurück, direkt in mein Gesicht.“ Dieser Moment, erzählt er, habe sein Leben verändert: „Sie haben mich markiert und seitdem suchen sie mich.“

Zunächst sei es nur das Gefühl gewesen, beobachtet zu werden, bei der Busfahrt in die Schule oder aus der Menge gegenüber, wenn er mit Freunden in der Nordkurve beim Heimspiel der Borussia in Mönchengladbach gestanden habe. In der Decke des Klassenraums habe er irgendwann ein verdächtiges Loch entdeckt. „Dahinter war eine Art Kamera, sie haben alles aufgenommen.“ Anvertraut habe er seine Ängste damals niemandem. Schon lange habe er das Gefühl gehabt, dass seine Mitschüler hinter seinem Rücken über ihn redeten. In dieser Zeit seien seine Gedanken immer drängender geworden und außer Kontrolle geraten. Seitdem habe er Angst, sich selbst zu verraten; dass wer ihn anschaut, seine Gedanken lesen könne. Seine Kappe helfe, sie schirme die Gedanken ab, manchmal jedenfalls. Er trage sie seit Jahren, immer tief ins Gesicht gezogen.

19fl ucht und vertreibung

Tumu Bochum

Scheinwelt Realität

Angst Schutz

Kabul Holzwickede

Höxter Murcia

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Auch 70 Jahre später weiß Christa Knübel noch fast jedes Detail ihrer Flucht aus dem ehemaligen Ostpreußen. Sie möchte nicht vergessen, sondern sich erinnern. An ihre Flucht im Jahr 1945 – zum Ende des Zweiten Weltkriegs. TEXTLUISA HESS FOTOSCHRISTIANE REINERT/PRIVAT

„Die anGsT haT Uns GeschOBen“

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LegendeFischhausen - Geburtsort von Christa Knübel (1934)

Braunsberg - Wohnort und Beginn der Flucht (1945)

Karlberg - Bis hier zu Fuß über das gefrorene Haff

Gdingen - Von hier mit der „Deutschland“ nach Sassnitz

Flucht mit Wagen und zu Fuß

Flucht mit dem Schiff

Karte: Georg-Westermann-Verlag, Braunschweig, 1958

Fluchtrichtung

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Akribisch beschriftete Foto-alben, Geschichtsbücher und alte Landkarten stapeln sich in Christa

Knübels Wohnzimmer im nieder-sächsischen Hameln. Die Unterlagen helfen ihr, besonders frühe Erinnerungen greifbar zu machen.

Um ihre Geschichte nachvollziehen zu können, muss man sich das Europa vor 1945 vor Augen führen: Ostpreußen war Teil des Deutschen Reiches. Heute gehört es zu Polen. Entsprechend wurden auch die damaligen Städtenamen umbenannt. So heißt Fischhausen heute Primorsk. Das ist der Ort, an dem Christa Knübel, geborene Wendel, 1934 als ältestes von drei Geschwistern zur Welt kam. Ihre Mutter Käthe Wendel war Kindergärtnerin. Ihr Vater Alfred arbei-tete als selbstständiger Ofenbauer. Schon früh zog die Familie nach Braunsberg, heute Braniewo.

Dort lebten die Wendels mit den Groß-eltern väterlicherseits in einem mehr-stöckigen Wohnhaus auf dem Gelände der eigenen Ofen- und Tonwarenfabrik. Die Geschäfte liefen gut. Käthe und

Alfred Wendel konnten sich eine Waschfrau, einen Gärtner und eine Haushälterin leisten. Nach der Volksschule besuchte Christa das Gymnasium.

„Den Verwundeten faulten Gliedmaßen ab“Als dann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde Alfred Wendel als Soldat bei der Wehrmacht eingezogen. Seitdem musste sich Käthe Wendel plötzlich nicht nur allein um ihre Kinder kümmern, sondern wurde auch zum Dienst für die NSDAP verpfl ichtet. „Memmi musste das Kommissbrot abfeilen und verpacken. Das war das Brot für die Soldaten. Es durfte keine scharfen Kanten haben, sonst wären die Tüten kaputt gegangen“, erzählt die heute 80-Jährige liebevoll von ihrer Mutter. Braunsberg wurde zunächst kaum bombardiert. Ziel der russischen Fliegersoldaten war vielmehr das nördlich gelegene Königsberg, heute Kalinin-grad, erinnert sich Christa Knübel. Nur selten musste sich die Familie Wendel

bei Fliegeralarm im Keller ihres Hauses verstecken. Doch mit jedem weiteren Jahr rückte der Krieg näher. Schulen wurden zu Notlazaretten umfunktioniert und Kinder wie Christa mussten den Verletzten Gesellschaft leisten. „Das war wirklich grausam. Viele Verwundete hatten Erfrierungen, sodass ihnen die Glieder abfaulten“, erinnert sie sich. Den stechenden Verwesungsgestank könne sie noch immer nachempfi nden. Ihren Vater Alfred sah die damals Zehnjährige nur einmal pro Jahr während seines Heimat-urlaubes – kurze Treffen, bei denen nur wenig Zeit für die Familie blieb.

Vorne rechts: das ehemalige Wohnhaus der Wendels. Bei einem Bombenangriff wurde es zerstört.

Heimaturlaub 1939: Wiedersehen der Eheleute Käthe und Alfred Wendel.

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Schließlich ging die Arbeit in der Ofen-fabrik vor. 1944 begegnete Christa Knü-bel ihrem Vater dann das letzte Mal. Wie und wo genau er zu Tode kam, weiß sie bis heute nicht.

Hühner in der HauswandGegen Ende des Jahres wurde Braunsberg immer häufi ger Ziel von Flieger-angriffen. Zwei der Bomben verfehlten nur knapp das Wohnhaus der Familie. Christa Knübel erinnert sich genau wie es war, als eine Bombe im Hinterhof des Hauses einschlug: „Die Hühner meiner Großmutter steckten dann alle in der Hauswand.“ Doch die Familie Wendel hatte Glück. „Wenn das jetzt eine Bombe vom Amerikaner oder Engländer gewesen wäre, dann wäre das ganze Haus zerstört worden. Die hatten doch wesentlich schärfere Bomben als die Russen.“ Trotzdem ließ die Angst vor Angriffen die damals Zehnjährige nicht mehr los. „Die Sirene in unserer Nachbarschaft ging fast immer.“ Von einem Cousin bei der Flakabwehr erhielt ihre Mutter geheime Informationen über den Kriegsverlauf. Er drängte seine Verwandten zur Flucht. Dafür ist ihm Christa Knübel noch heute dankbar: „Im Grunde hatten wir es noch gut. Meine Mutter hat keinen Russen erlebt. Und auch mir hätte das mit elf Jahren schon schlecht bekommen können.“ Zuvor hatte die Rote Armee der Sowjetunion bereits im Oktober 1944 erstmals ostpreußischen Boden betreten. Der Einmarsch war von der deutschen Wehrmacht zurückgedrängt worden. Trotzdem war es schon hier zu Ermordungen und Vergewaltigungen der deutschen Zivilbevölkerung gekommen. Im Januar 1945 war es dann so weit: Käthe Wendel und ihre drei Kinder brachen zur Flucht in den Westen des Deutschen Reiches auf. Verstehen konnte Christa Knübel das nicht. „Das musste man einfach so hinnehmen. Aber die Angst hat uns geschoben.“

Zudem musste sich die Familie Wendel für eine getrennte Flucht von den Großeltern entscheiden. Die mussten länger in Braunsberg ausharren. Der Schutz der Kinder hatte erste Priorität. Nur das Nötigste durfte Christa Knübel

einpacken: „Für Spielzeug war da kein Platz. Nur Unterwäsche, Zahnpasta und Seife kamen mit.“ Ihre Mutter nahm zusätzlich noch etwas Speck und einen Flachmann mit Korn als Proviant mit. Auf dem Planwagen eines Bauern ging es dann über das zugefrorene Frische Haff, einem abgetrennten Teil der Ostsee hinter der Landzunge Frische Nehrung. Doch das Haff taute bereits. Nach zwei Dritteln der Strecke brach der Treck ins Eis ein. So blieb Käthe Wendel und ihren Kinder nichts anderes übrig, als zurück nach Braunsberg zu marschieren. Dabei wurden sie von russischen Tieffl iegern beschossen. „Die kamen so tief runter, dass man die Soldaten in den Fliegern sehen konnte. Den Krieg hörte man überall“, schildert Christa Knübel die ersten Stunden ihrer Flucht. Zurück in Braunsberg bat der Cousin der Familie einen bekannten Soldaten, die Wendels mit seinem Auto über das Eis zu bringen. „Der war sturzbetrunken. Bei der Fahrt hat er immer mehr auf das Gaspedal gedrückt.“ Ein glücklicher Zufall, denn so sei das Fahrzeug nicht in den Tau-löchern stecken geblieben.

Endlich auf der Frischen Nehrung an-gekommen, mussten sich Käthe Wendel und ihre Kinder mit 30 weiteren Flücht-lingen ein kleines Zimmer im Haus eines Fischers teilen. Die stickige Luft in diesem Raum sei unerträglich ge-

wesen, erinnert sich Christa Knübel. Nach dem kurzen Zwischenstopp mussten die Flüchtlinge dann mehrere Stunden zu Fuß bis nach Karlberg, heute Wjötkowizna, laufen.

Im Schatten der Wilhelm Gustloff Hier drohte die Flucht erneut zu schei-tern. Käthe Wendels Bitte um eine Fahrt nach Gdingen, heute Gdynia, wurde von den völlig betrunkenen Soldaten in der Geschäftsstelle der NSDAP abgelehnt. Doch die junge Mutter gab nicht auf und griff zu einer Notlüge. Sie erzählte den Marinesoldaten, die Wehrmachts-Offi ziere hätten der Fahrt zugestimmt. So konnte die Familie Wendel ihre Flucht im Inneren des Torpedobootes T28 in der Nacht fortsetzen. Noch immer kann sich Christa Knübel daran erinnern, wie die Marinesoldaten während der Fahrt die Stadt Elbing – heute Elblag – beschossen. „Das war so ein eigenartiges, klapperndes Geräusch, als die leeren Patronenhülsen auf das Deck fi elen.“

In der Nacht wurden die Flüchtlinge schließlich in Gdingen mit kleineren Booten in Richtung Festland geschifft. Dort verbrachte die Familie Wendel dann etwa zehn Tage in einer verlassenen Wohnung eines ehemaligen Marine-soldaten. Während der gesamten Flucht

1944: Samstags durfte Christa mit ihren Geschwistern im Hof der Ofenfabrik spielen.

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bekamen Christa Knübel und ihre Geschwister nur ab und zu ein Stück Speck und einen kleinen Schluck Korn als Verpfl egung. „Das hat uns das Leben gerettet, denn dadurch sind wir nicht krank geworden. Das einzige, was ich mir eingehandelt habe, waren Läuse.“ Schließlich hatte sie keinerlei Mög-lichkeit, sich zu waschen.

Wiedersehen mit der FamilieNach Tagen des Wartens erhielt Käthe Wendel endlich die Nachricht, sie könne mit ihren Kindern auf der „Deutschland“ nach Sassnitz reisen. Doch die Freude über ein baldiges Ende der Flucht wurde getrübt. Denn nur kurze Zeit zuvor war das Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 von russischen Torpedos angegriffen worden und gesun-ken. Rund 9000 Flüchtlinge waren dabei ums Leben gekommen. Christa Knübel erinnert sich: „Das war ein furchtbares Gefühl, dann auf die „Deutschland“ zu müssen. Vor allem weil das Schiff ja völlig

überladen war. Aber wir hatten nun mal keine andere Möglichkeit.“ Also ging die junge Familie in der Nacht gemeinsam mit rund 10.000 weiteren Flüchtlingen an Bord der „Deutschland“ – einem Dampfschiff, das für nur knapp ein Fünftel dieser Passagiere konzipiert war. Dementsprechend katastrophal waren auch die hygienischen Bedingungen an Bord, erinnert sich Christa Knübel. Nach der nächtlichen Ausbootung in Sassnitz auf Rügen ging es für die Familie Wendel per Zug weiter in Richtung Dänemark. „Meine Mutter war ja aber immer sehr couragiert. Sie hat einfach gefragt, ob wir in Bad Oldesloe aussteigen dürfen.“ Ihrer Bitte wurde stattgegeben. So ging es für die Familie von dort zunächst weiter nach Hamburg in eine Flüchtlingsauffang-stelle, in der sie frische Unterwäsche und Kleidung bekamen. Ende Februar 1945 fl oh die Familie dann nach einem kurzen Zwischenstopp in Hannover weiter nach Rinteln. Rund 14 Tage hatte die Flucht gedauert. „Wo kommt ihr denn her?“, fragte Elisabeth Krischl, Christa Knübels Großmutter, erstaunt ihre Tochter und

Enkelkinder. Eine raue Begrüßung, die die junge Familie nach all den Wochen voller Entbehrungen und Angst hart traf. Heute bringt Christa Knübel Verständ-nis für den unterkühlten Empfang auf.

Urlaub auf der Landzunge Frische Nehrung: Später mussten die Wendels über genau diesen Strand fl üchten.

Nach dem Krieg: Christa im Alter von 14 Jahren.

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Laut der Bundeszentrale für politische Bildung mussten mehr als 14 Millionen sogenannte Reichsdeutsche aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches nach Kriegsende in den Westen fliehen. Davon kamen:

etwa 12,5 Millionen Flüchtlinge aus •heute polnischen und russischen Staatsgebieten und davon wiederum knapp sieben Millionen aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich von Oder und Neißeknapp drei Millionen Flüchtlinge aus •der ehemaligen Tschechoslowakei (Tschechien, Slowakei und Teile der Ukraine) knapp 2,4 Millionen Menschen aus •Österreich, Danzig, Ungarn, Rumänien und Teilen des ehemali-gen Jugoslawiens

Aufgeteilt wurden die Flüchtlinge auf die vier Besatzungszonen, wobei die Zu-teilung keinen bestimmten Regeln folgte. Grundsätzlich nahm der Osten Deutsch-lands jedoch deutlich mehr Flüchtlinge auf als der Westen. So betrug der Anteil der Flüchtlinge in den jeweiligen Be-satzungszonen:

24,3 Prozent in der sowjetischen•17,7 Prozent in der amerikanischen•14,5 Prozent in der britischen•und nur rund ein Prozent in •der französischen Zone.

Schließlich hätten die Großeltern nichts von der Flucht gewusst. Die darauf-folgende Zeit im großelterlichen Haus sei angenehm gewesen. So organisierte Christa Knübels Großvater, Matthias Krischl, kurzerhand Stockbetten, damit die sechsköpfige Familie mehr Platz in den zwei kleinen Zimmern und der Küche hatte.

Keine Anerkennung für FlüchtlingeVom Kriegsende am 8. Mai 1945 erfuh-ren sie dann im Radio – ein Ereignis, das den Alltag der Familie jedoch kaum veränderte. So bekamen die Wendels die amerikanische Besatzung in Rinteln nur wenig zu spüren. Eine größere Um-stellung war die neue Begrüßungsform: Statt „Heil Hitler“ sagte man von nun an wieder „Guten Tag“. Das Leben fernab der Heimat machte der Familie schwer zu schaffen. „Wir haben keine Anerkennung gekriegt.“ Verständnislos schüttelt Christa Knübel den Kopf. Ihr Ehemann Horst nickt ihr zustimmend zu: „Die Flücht-linge wurden hier in Rinteln nicht akzep-tiert.“ Schließlich mussten die Vertrie-benen bei Privatpersonen untergebracht werden, die jedoch selbst nur wenig zum Leben hatten. Käthe Wendel musste putzen gehen, denn ohne ihre in Braunsberg zurückgelassenen Zeugnis-se durfte sie nicht als Kindergärtnerin arbeiten. Angesichts ihres früheren Le-bensstandards war die neue Arbeit für sie

besonders hart. Doch darüber habe sich ihre Mutter nie beklagt, betont Christa Knübel. Viel schlimmer traf die Krieger-witwe der Verlust ihres Ehemannes. Um ihre Rente erhalten zu können, musste sie Alfred nach Kriegsende für tot erklären lassen. Und das obwohl sie stets daran ge-glaubt hatte, ihn noch einmal wiederzu-sehen. „Das waren dann so stille Dramen, die in den Wohnzimmern passiert sind. Davon hat nach außen hin niemand et-was mitbekommen“, sagt Christa Knübel.

Die Gedanken an die Flucht aus ihrer Heimat haben sie nie losgelassen. So schlossen sie und ihr Mann sich in den frühen 1980er Jahren einer Fahrt ins ehemalige Ostpreußen an. Organisiert hatte die Reise der damalige Pastor der Stadt Hameln. Vom ehemals prächtigen Wohnhaus der Familie Wendel war nichts übrig geblieben. Nur die Ofenfabrik existierte noch. Trotzdem hegt Christa Knübel bis heute keinen Groll gegenüber den Beteiligten des Krieges. Die Flucht aus ihrer Heimat sei den Umständen der Zeit verschuldet gewesen: „Ich finde, das war der Krieg und wir gehörten dazu.“

Kein einzelschicKsalChrista und Horst Knübel im Wohnzimmer ihres Hauses in Hameln.

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26flucht und vertreibung

TEXTMoritz Makulla FoTosPrivat IllusTraTIonEnPierre PauMa | www.caricactus.canalblog.coM

Schuld Sind immer

die anderenWie geht die Landesregierung mit den steigenden Flüchtlingszahlen um? Moritz Makulla hat

die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, Monika Düker, und die Fraktionssprecherin des NRW-Arbeitskreises Integration, Serap Güler (CDU), befragt.

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Mit Politikern einen Inter-viewtermin auszumachen, kann kompliziert werden.

Schließlich haben die meistens viel zu tun und bekommen zudem jede Menge Anfragen von Journalisten. Politiker dann auch noch gleichzeitig an einem Termin zusammenzubringen, ist nahezu unmög-lich. Geplant war ein Streitgespräch: Ein Vertreter der Regierungspartei und einer der Opposition aus NRW sollten sich nacheinander zur Flüchtlingspolitik äußern und aufeinander Bezug nehmen. Das hat leider nicht geklappt: Termin-schwierigkeiten. Stattdessen konnten wir Monika Düker am Telefon sprechen. Serap Güler dagegen hat unsere Fragen schriftlich beantwortet.

Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, wird jedes Jahr größer. Im vorigen Jahr haben über 200.000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl gestellt. Vor welche Heraus-forderungen stellt das die Flüchtlings-politik in Nordrhein-Westfalen?Monika Düker: Das Land trägt die Verantwortung, eine Erstaufnahme von Flüchtlingen zu gewährleisten. Das größte Problem im Moment ist, dass wir dafür angesichts der hohen Flücht-lingszahlen nicht genügend Kapazitäten haben. Das liegt vor allem daran, dass sich in diesem Jahr die Flüchtlingszahlen verdoppelt haben und wir deshalb jetzt Einrichtungen wie alte Krankenhäuser sehr schnell umbauen müssen. Es ist ein Ausbauprogramm für weitere 5000 Plätze geplant, aber es wird noch dauern, bis wir das alles gewährleistet haben.

Serap Güler: Im bundesweiten Länder-vergleich hinken wir bei unserer Flücht-lingspolitik komplett hinterher, indem wir beispielsweise die Kommunen mit der Bewältigung dieser Aufgabe allein lassen – vor allem finanziell. Neben wirklich Schutzbedürftigen ist es auch Fakt, dass

aus den Balkanländern Menschen zu uns kommen, die zum Beispiel nur überwin-tern wollen. Deshalb finden wir es gut, dass der Bundesinnenminister die drei Balkanstaaten Serbien, Bosnien-Herze-gowina und Mazedonien als sichere Her-kunftsstaaten gekennzeichnet hat. Das wird künftig für Entlastungen sorgen.

Wachleute in Asylbewerberheimen in NRW haben Flüchtlinge misshandelt. Wie konnte es soweit kommen? Düker: Die Misshandlungen in Burbach haben ihre Ursache in einer Fehleinschät-zung einer angespannten Lage, in der wir nicht mehr mit der Unterbringung zurechtkamen, so dass es an den ent-sprechenden Kontrollen gefehlt hat. Das ist völlig inakzeptabel und darf sich nicht wiederholen. Kurzfristig brauchen wir viel mehr Kontrollen der Unternehmen. Das ist bereits passiert. Es gibt mehr unangekündigte Tests, ob alle Standards eingehalten werden. Zum anderen brauchen wir die langfristige Strategie, qualitativ gute Plätze für alle zu schaffen.

Güler: Der Misshandlungsskandal in NRW war etwas, was hätte vermieden werden können. Die Kommunen haben rechtzeitig und mehrmals Hinweise

gegeben. Eine sensible Landesregierung hätte auf die Weckrufe reagieren müssen. Stattdessen sind die Kommunen bei dem Innenminister auf taube Ohren gestoßen.

Wo müssten Sie ansetzen, um die Flüchtlingspolitik zu verbessern? Düker: Wir haben diesen Verteilmo-dus, dass NRW gut ein Fünftel aller Flüchtlinge bundesweit aufnimmt nach dem sogenannten „Königsteiner Schlüs-sel“. Diesen Schlüssel zu ändern halte ich nicht für nötig. Denn nach einem Schlüssel müssen die Flüchtlinge verteilt werden, und letztlich ist Nordrhein-Westfalen auch das Bundesland mit den meisten Einwohnern. Das Problem sind die hohen Flüchtlingszahlen und dass die Einrichtungen in den Kommunen nicht schnell genug gebaut oder umgebaut werden können. Zudem hat man es vor Ort oft mit Widerständen zu tun. Etwa in Unna, wo man die Erstaufnahmesta-tion reaktiviert hat. Dort klagt die Kom-mune gegen das Land, da viele Bewohner solche Einrichtungen nicht bei sich in der Nähe haben wollen. Das andere Problem ist die Kostenverteilung. Die Unterbrin-gung allein zahlen die Kommunen und Länder. Nur die Antragsstellung läuft über das Bundesamt für Immigration

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und Flucht. Aber angesichts der steigen-den Zahlen kann der Bund sich da nicht aus der Verantwortung ziehen und das komplett auf Länder und Kommunen abwälzen.

Güler: Vielmehr muss die Verteilung in die Kommunen noch mal überprüft werden. Diese ist veraltet und überholt. Der Bund hat jetzt eine Milliarde Euro für die Länder bei der Flüchtlingshilfe zugesagt. Dieses Geld muss komplett an die Kommunen fließen, damit dürfen keine Haushaltslöcher gestopft werden. Zudem müssen wir Menschen, die hierhin kommen, Perspektiven bieten. Wir brauchen eine vorausschauende Inte-grationspolitik, beispielsweise indem wir diesen Menschen frühzeitig Sprachkurse anbieten, damit sie auch frühzeitig ein Arbeitsverhältnis aufnehmen können, was der beste Ansatz für ihre Integration ist. Der Bund hat sich jetzt seiner Verant-wortung gestellt. So viel Verantwortung würde ich mir auch von der Landes-regierung wünschen, die immer nach dem Bund schreit.

Sehen Sie ein Problem beim Asylantrag und dem damit verbundenen Bürokra-tieaufwand?

Düker: Das Ganze dauert viel zu lange. Der Bund stellt zu wenig Personal für die Asyl-Antragsstellen zur Verfügung. Das ist eine Bundesangelegenheit. Und es ist unerträglich, wenn Menschen monatelang auf eine Anhörung warten und dann noch ein Jahr oder länger auf einen Bescheid. Für kranke und trau-matisierte Menschen ist ein Gefühl der Sicherheit wichtig. Sie wollen überhaupt wieder gesund werden. Außerdem ist es wichtig, dass die Flüchtlinge schnell eine Rechtsstellung haben, um ent-sprechend integriert zu sein. Also eine Arbeitserlaubnis und eine Möglichkeit, hier Arbeit zu finden. Dafür brauchen sie aber den entsprechenden Status. So ist es in rechtlicher und psychischer Hinsicht für die Menschen ein großes Problem, solange auf ihre Verfahren zu warten. Es ist so, dass der Bund sich komplett aus der Verantwortung zieht, nicht nur, was die Geldverteilung angeht, auch für die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Ein Flüchtling, der hier ankommt, hat keinen rechtlichen Anspruch auf Integrations-leistungen. Er kann nicht einfach einen Deutschkurs belegen und Fördermaß-nahmen in Anspruch nehmen. Und er hat keinen Anspruch auf eine ausreichen-de Gesundheitsversorgung, sondern nur

eine Notversorgung. Man kann ihm auch seine Maßnahmen kürzen, wenn die Aus-länderzentrale meint, er würde sich nicht genügend an seinem Verfahren beteiligen. Die Grünen setzen sich dafür ein, diese rechtliche Sonderregelung, das Asyl-bewerberleistungsgesetz, abzuschaffen und die Menschen in unser norma-les Gesetz zu überführen. Das hat die Vorteile, dass sie eine richtige Gesund-heitsversorgung bekommen und direkt SGB2-Leistungen (Grundsicherung für Arbeitssuchende / Anm. d. Red.) und die damit verbunden Integrations-leistungen erhalten.

Güler: Der Bund wird das Asyl-bewerberleistungsgesetz nicht ohne Weiteres abschaffen. Sprachkurse und die Vermittlung in ein Arbeitsverhältnis, da können sich die Länder noch stärker engagieren. Einige Bundesländer haben hier auch sehr gute Ansätze, wie beispiels-weise Bayern bei den Sprachkursen oder die Initiative in Hamburg, wo sich Arbeitgeber bereit erklärt haben, Flücht-lingen eine Ausbildungsstelle anzubieten.

Steckbriefe: Monika Düker unD Serap Güler

Monika Düker ist seit 2000 Mit-glied des Landtages von NRW. Sie ist flüchtlingspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Von 2010 bis 2014 bildete sie als Landesvorsitzende ge-meinsam mit Sven Lehmann die Doppelspitze der Grünen. Auf dem Landesparteitag 2014 kandidierte Monika Düker nicht erneut. Sie wurde verabschiedet und von Mona Neubaur im Amt ersetzt.

Serap Güler wuchs als Kind tür-kischer Einwanderer in Deutschland auf. Seit 2010 ist sie deutsche Staats-bürgerin. Bei der Landtagswahl in NRW 2012 errang sie über die Lan-desliste ihrer Partei ein Mandat. Im Landtag ist sie u.a. Fraktionsspreche-rin für den Arbeitskreis Integration. 2014 wurde Serap Güler mit dem besten Ergebnis zur stellvertreten-den Vorsitzenden der CDU Köln gewählt.

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HOFFNUNG IN HÖXTERDie Heimat verlassen, um in der Fremde eine Zukunft zu haben: Ana Cristina

Albarracín ist Wirtschaftsfl üchtling. Die Spanierin macht hier ihre Ausbildung. „Die richtige Entscheidung“ – obwohl sie Familie und Freund zurückließ.

TEXT&FOTOMICHAEL SCHEPPE

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S ie zeigt den Gästen den Weg zum Hotelzimmer und sorgt dafür, dass die Kopfkissen faltenfrei auf dem

Bett liegen. Ganz wichtig dabei: immer lächeln. Für Ana Cristina Albarracín ist das kein Problem. Die lebensfrohe Spanierin lässt sich zur Hotelfachfrau ausbilden, 2000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Im Mai hat sie ihr Leben von der spanischen Südküste in die ostwestfälische Provinz verlegt. Von Murcia in der Nähe von Alicante nach Höxter, 60 Kilometer östlich von Paderborn.

Diesen Entschluss traf die 26-Jährige nur mehr oder minder freiwillig. In ihrer Heimat habe sie keinen Job gefunden. Nach Angaben der Europäischen Statistikbehörde geht das jedem zweiten Spanier in Ana Cristinas Alter so. „100 Bewerbungen habe ich geschrieben. Immer wieder kam eine Absage“, erinnert sich Ana Cristina. „Dabei habe ich ein Tourismus-Studium und einen Auslandsaufenthalt in England absolviert.“

Ana Cristinas Rettung: das deutsche Förderprogramm „MobiPro“. Das initiierte die Bundesregierung Anfang 2013, um Jugendlichen aus krisengebeutelten EU-Staaten in Deutschland eine Ausbildung zu ermöglichen. Auch die hiesigen Firmen sollen profi tieren: Diese suchen vor allem Mitarbeiter für die Gastronomie. Denn viele deutsche Jugendliche wollen in dieser Branche nicht arbeiten, wie die Zahl der offenen Lehrstellen im Hotel- und Gaststätten-gewerbe zeigt. 20 von 100 „MobiPro“-Bewerbern beka-men Anfang des Jahres eine Zusage, Ana Cristina war eine davon. „Das hat mich sehr, sehr glücklich gemacht.“

An ihrem Entschluss, nach Deutschland zu ziehen, zweifl e sie keine Sekunde: „Was sollte ich in Spanien denn machen? Dort hatte ich keine Zukunft.“ Der Umzug bedeutet aber auch, ihrer Heimat, ihrer Familie und ihrem Freund „adiós“ zu sagen. „Meine Mama hat gesagt, es ist das Beste, was ich machen kann. Auch mein Freund sah das so.“ Nur die Oma habe es nicht wirklich verstehen wollen. „Kleine, warum? Du musst doch bei uns bleiben“, habe sie damals gesagt.

Anfang August 2014: Ana Cristina begann im „Hotel Niedersachsen“ gemeinsam mit fünf weiteren Spaniern ihre Ausbildung. Alle haben eine ähnliche Geschichte – und wohnen in einem

Haus. Der Umzug nach Deutschland war für Ana Cristina nicht nur in sprachlicher Hinsicht eine Umstellung: Die Mentalität und der Tagesrhythmus der Deutschen seien anders. In Spanien habe sie nie vor 14 Uhr Mittag ge-gessen, in Höxter seien die ersten Gäste schon vor 12 Uhr da. Selbst die Kaffeemaschinen funktionierten hier anders.

Drei Mal pro Woche arbeitet Ana Cristina im Hotel, zwei Mal ist sie in der Berufsschule. Und in ihrer Freizeit besucht die Spanierin zusätzlich einen Sprachkurs. „Das alles ist viel mehr als nur eine Ausbildung zu machen“, sagt Hotelchefi n Marlene Sievers. „Ich bin richtig stolz auf meine Azubis.“ Sie seien auch eine Bereicherung für das Team: „Alle sind immer so fröhlich und positiv.“

Die Hotelchefi n hat selbst spanische Wurzeln und spricht daher die Sprache. So kann sie ihre Schützlinge auch bei alltäglichen Problemen, etwa bei Behördengängen, unter-stützen. „Sie ist wie eine Mama für uns“, sagt Ana Cristina. Ein Satz, der zeigt, wie wohl sich die 26-Jährige hier fühlt. „Ich denke, dass ich nach der Ausbildung hier bleiben werde. Obwohl ich erst gesagt habe, dass ich nur drei Jahre weg bin.“ In Deutschland sei das Leben einfach besser. „Zwei Mal pro Jahr fl iege ich zurück in meine Heimat, fast täglich telefoniere ich mit meinem Freund.“ Auch er plant nach Deutschland zu ziehen, um hier zu arbeiten.

Ana Cristina ist ein Wirt-schaftsfl üchtling. Doch wie ein Flüchtling fühlt sie sich nicht. „Ich habe mein Land nicht aus Angst vor dem Tod verlassen.“ Sie hat aber ihre Heimat hinter sich gelassen, um eine Perspektive zu haben. Bereut habe sie diesen Schritt nie. Nur eines stört die 26-Jährige: das Wetter. „Hier ist es viel zu kalt.“

Tumu Bochum

Scheinwelt Realität

Angst Schutz

Kabul Holzwickede

Höxter Murcia

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Herr Seidler, die Medien kon-frontieren uns verstärkt mit den schrecklichen Auswir-

kungen der Kriegsgeschehen in Syrien und dem Irak. Viele Überlebende sind durch ihre schrecklichen Erlebnisse traumatisiert. Was genau ist darunter zu verstehen?Eine psychische Traumatisierung ist die Folge einer extremen Stress-Situation, in der die Verarbeitungsmöglichkeiten des Organismus überfordert sind, meist durch Todesangst. Erst 1980 wurde die

TEXTBERNHARD FLEISCHER ILLUSTRATIONENNANA ZIMMERMANN

„DIE MENSCHEN WERDEN ÜBER GENERATIONEN LEIDEN“

Krieg, Gräueltaten und Flucht – die schrecklichen Nachrichten, mit denen wir täglich konfrontiert werden, wecken bei vielen Älteren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Der

Psychotraumatologe Günter H. Seidler erklärt, welche Folgen extreme Gewalt für den Einzelnen und die Gesellschaft hat und wie sie überwunden werden kann.

Diagnose offi ziell vorgestellt, in Folge des Vietnamkrieges. Bis dahin galt die Meinung, der Mensch sei unbegrenzt belastbar. Über die Soldaten, die nach schlimmen Ereignissen seelisch ange-schlagen waren, wurde gesagt, sie seien schon vorher krank gewesen. Aber die US-Soldaten waren damals, bevor sie in den Vietnamkrieg geschickt wurden, alle psychiatrisch gründlich untersucht, die Befunde dokumentiert worden. Viele, die vorher gesund waren, kamen seelisch schwer angeschlagen zurück. „Sie standen

neben sich“, das heißt, sie spalteten ihre Emotionen ab oder durchlebten die schrecklichen Ereignisse immer wieder in so genannten Flashbacks. Viele fanden nie mehr in ihr gewohntes Leben zurück, fi elen völlig aus dem sozialen Umfeld heraus, verwahrlosten oder nahmen sich das Leben. Das führte zu der Erkenntnis: Zu viel Gewalt ist ungesund und verur-sacht psychische Störungen.

Wie ist die Entstehung von Traumafol-gestörungen physiologisch zu erklären?

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Physiologisch gesehen stellen Psycho-traumata „Auslöschungserfahrungen“ dar. Unter starkem Stress richtet sich der Körper durch ausgeschüttete Stresshor-mone – Adrenalin und Cortisol – auf Kampf oder Flucht ein. Diese beeinträch-tigen auch die Funktion zentralnervöser Strukturen, die für die Gedächtnis-bildung zuständig sind, insbesondere den Hippocampus. Er ist für die Speicherung unserer Wahrnehmungen zuständig und versieht sie – ähnlich wie eine Digital-kamera mit GPS-Funktion – jeweils mit einem Orts- und Zeitstempel. Diese Kontextualisierung von Erlebtem wird offenbar durch Cortisol abgeschaltet. Als Folge werden die Wahrnehmungen in der lebensgefährlichen Situation so abgespeichert, dass sie später nicht mehr einzuordnen sind.

Welche Folgen hat dies für die Betroffenen?Das hat schwerwiegende Konsequenzen für das weitere Leben. Tritt erneut starker Stress auf oder ein bestimmter Reiz, durchleben die Betroffenen die lebens-gefährlichen Situationen erneut, ohne dass sie das Geschehen als bereits Vergangenes einordnen können. Es ist ihnen plötzlich wieder präsent. Ein weiterer wichtiger Einfl uss des

Stresshormons Cortisol ist die Blockade der sprachlichen Erinnerung. Üblicher-weise werden bei der Erinnerungsbildung verschiedene Sinneskanäle zusammen-geführt und das Ganze wird an Sprache gebunden, nur so können wir später – mehr oder weniger zutreffend – einen Bericht darüber abgeben, was wir erlebt haben. Diese Kopplung an Sprache ist in der traumatischen Situation blockiert. Wenn jemand von den traumatischen Ereignissen berichten will, hört er meist sehr schnell wieder auf zu reden. Statt-dessen reagiert er körperlich, wird rot oder kreidebleich, kommt ins Schwitzen oder kollabiert sogar. Dies muss man unbedingt berücksichtigen, wenn Opfer von schweren Straftaten vor Gericht aussagen oder Flüchtlinge von ihrem Schicksal berichten sollen.

Im kommenden Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Die meisten Überlebenden waren damals noch Kinder, als sie von Verfol-gung, Hunger, Kriegsverbrechen und Bombenangriffen betroffen waren. Wie haben sich diese extremen Erfahrun-gen auf die Betroffenen im Laufe ihres Lebens ausgewirkt? Nach der aktuellen Forschungslage wird davon ausgegangen, dass das menschliche Gehirn vor dem zehnten Lebensjahr noch nicht reif genug ist, eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auszubilden. Stattdessen reagieren die betroffenen Kinder in der Situation selbst und in ihrem späteren Leben unter psychischen Belastungen mit einer schweren Depressi-on. Die Erkenntnis, dass viele Depres-sionen eigentlich auf Traumatisierungen in der Kindheit zurückzuführen sind, setzt sich unter Psychotherapeuten aber erst langsam durch. Man spricht dann nicht von einfacher, sondern von kom-plexer PTBS. Aber offi ziell gibt es eine Traumafolgestörung aufgrund eines Er-eignisses, das in der Kindheit liegt, noch gar nicht. Da wird Gewalt, auch von Seiten der Psychotherapeuten, sozusagen noch geleugnet, nicht wahrgenommen.

Werden die Auswirkungen von Gewalt in der Kindheit wirklich geleugnet?Ich denke, dass nicht nur die Auswirkun-gen von Gewalt in der Kindheit, sondern sogar die Gewalt selbst systematisch geleugnet wird. Stattdessen werden in der Psychotherapie eher vermeintliche innere Konfl ikte bearbeitet. Die Gewaltereig-nisse, die jemanden zerbrochen haben, bleiben meist unberücksichtigt. Das ist in vielen Fällen zynisch.

Welche Folgen hat das für die Genera-tion der Kinder, deren Eltern im Zwei-ten Weltkrieg psychisch traumatisiert wurden? Gibt es Untersuchungen dazu, ob die Traumatisierungen weitergege-ben werden können?Dieses Phänomen nennt man „Trans-generationale Traumatisierung“. Man weiß, dass auch in der Kindergeneration bestimmte Hormonparameter verändert sind, wenn die Eltern im Krieg trauma-tisiert wurden. Ähnliches wurde auch in Tierversuchen nachgewiesen. Wenn die Eltern vom Krieg betroffen waren, dann

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haben ihre Kinder ein signifi kant höheres Risiko, eine Traumafolgestörung zu ent-wickeln. Angstsignale oder Angstschwel-len werden offenbar von den Eltern an die Kinder weitergegeben – durch Vererbung, aber natürlich auch durch das Verhalten. Ich persönlich beschäftige mich vor allem mit der Frage, wie ein Trauma durch Letzteres weiter-gegeben wird. Dabei spielt Hyperarou-

sal, also die ständige Übererregtheit von Traumatisierten, eine große Rolle. Wenn man sich vorstellt, dass ein Elternteil wegen eines unverarbeiteten Traumas latent in Alarmbereitschaft ist und bei der kleinsten Anspannung durchdreht, wird dies natürlich unbewusst an die Kinder weitergegeben. Dazu reicht zum Beispiel ein Bericht im Fernsehen oder sogar ein Geräusch oder ein Geruch,

der an die damalige Situation erinnert. Plötzlich reagiert das betroffene Elternteil scheinbar grundlos und für die Kinder völlig unerklärlich mit einem Wutanfall oder erstarrt und ist für das Kind nicht mehr erreichbar. Unter diesem Einfl uss entstehen im Heranwachsenden unmerk-lich Verknüpfungen, die sich auf sein Wahrnehmungs- und Verhaltens-repertoire dysfunktional auswirken.

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Es gibt viele Berichte, dass Betroffene des Zweiten Weltkrieges ihr Leben lang nicht von den Auswirkungen ihrer Kriegserlebnisse beeinträchtigt waren, sich aber im hohen Alter zunehmend damit beschäftigen und darunter leiden.Das ist ein Befund, der ganz oft erhoben worden ist. Angeblich sind die Betroffe-nen in der Zwischenzeit 40 bis 50 Jahre lang symptomfrei gewesen. Ich persönlich glaube das nicht. Vielleicht hatten sie nur schwache Symptome, vielleicht sind die Betroffenen immer leicht abgeschaltet gewesen, waren nie ganz da, aber das ist meine Meinung. Ich bezweifl e, dass sie jemals gesund gewesen sind. Die vor-herrschende Meinung der Hirnforschung ist, dass dafür hirnorganische Abbaupro-zesse verantwortlich sind, die dazu füh-ren, dass dann im Alter die Symptomatik durchschlägt. Man hat das im Altenheim oft beobachtet: Jemand berichtet erst auf dem Sterbebett immer wieder albtrau-martig von Kriegserlebnissen, Ver-schüttungen oder Vergewaltigungen.

Aktuell werden wir wieder mit schreck-lichem Kriegsgeschehen, Flucht und Verfolgung, insbesondere im Norden des Iraks, aber auch in Palästina und Afghanistan konfrontiert. Welche Aus-wirkungen hat das für die Betroffenen und wie können dort die schlimmsten Folgen für die seelische Gesundheit der Menschen verhindert werden? Schon vor IS war meine Albtraumfantasie immer Afghanistan oder Palästina, also

solche Regionen, in denen bereits über Generationen hinweg Krieg herrscht. Ich bezweifl e stark, dass es in Syrien, Palästina oder im Irak jemals wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft geben kann. Das fängt ja schon mit dem Ernährungszustand an: Die Gehirne sind durch Mangelernährung schon vorge-burtlich geschädigt. Die Erwachsenen sind traumatisiert. Die Kinder wachsen in Angst und Schrecken auf. Generatio-nen von Menschen wachsen heran, die über lange Zeit geschädigt sein werden. Gegenwärtig macht sich darüber kaum jemand Gedanken. Mir ist lediglich ein Plan der deutsch-arabischen Gesellschaft bekannt, ein psychotraumatologisches Zentrum in Gaza einzurichten. Das wäre aber ein Tropfen auf den heißen Stein. Individuelle Psychotherapie wäre gar nicht umsetzbar, sondern mir würde vorschweben, spezielle Gruppentherapie-verfahren zu entwickeln. Ähnliches haben wir nach der Tsunamie-Katastrophe in Sri Lanka verwirklicht. Wir haben damals mit den betroffenen Kindern und Ju-gendlichen Theaterstücke – insbesondere für Puppentheater – entwickelt. Unser Ziel war es, die traumatischen Erfahrun-gen nachzuempfi nden und stellvertretend abzubauen. Wenn die Betroffenen die Erfahrung machen, dass zum Beispiel das Kasperle dem Krokodil nicht hilfl os ausgeliefert ist, sondern es mit einem Knüppel vertreiben und besiegen kann, hilft ihnen das, ihre Ängste zu thema-tisieren und abzubauen. Anstelle des Krokodils setzt man dann behutsam eine

Professor Dr. med. Günter H. Seidler ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Seit 2006 leitet er die Sektion für Psychotrauma-tologie an der Universität Heidelberg. Er forscht seit mehr als 20 Jahren auf dem Gebiet der historischen Trauma-forschung, der Traumafolgestörungen und der Traumatherapie. Im Jahre 2007 gründete er die Zeitschrift „Trauma und Gewalt. Forschung und Praxisfelder“, deren Mitherausgeber er ist.

STECKBRIEF: GÜNTER H. SEIDLER

Figur ein, die der realen traumatischen Situation entspricht. Bei den Tsunami-opfern war das ein Wassergeist, man könnte aber auch eine Puppe nehmen, die Soldaten oder IS-Kämpfern ähnelt. Dann kann stellvertretend in der Iden-tifi kation mit dem Kasperle erlebt und durchgespielt werden, dass man nicht nur hilfl os, sondern auch stark sein kann.

Wie können wir den Flüchtlingen in Deutschland helfen?Wichtige Voraussetzungen, ein Trauma zu überstehen, sind vor allem stabile Sozialstrukturen, die das Gefühl von Sicherheit vermitteln: Treffpunkte, Sport oder kulturelle Aktivitäten. Das ist in Flüchtlingsunterkünften schwer zu verwirklichen. Die Menschen werden durch den Krieg aus ihrem sozialen und kulturellen Umfeld herausgerissen und leben in einem fremden Land in Mas-senunterkünften, werden nicht selten angefeindet und erleben sogar erneut Gewalt. Es wäre auch notwendig, Infor-mationen und Erfahrungen mit solchen Ereignissen zu sammeln und auszuwer-ten. Deswegen plädiere ich seit Jahren für die Einrichtung eines Trauma-Instituts, ähnlich eines Landesamtes. Bisher gibt es so etwas nicht. Wir beschränkten uns immer wieder auf Ad-hoc-Maßnahmen. Wir brauchen eine zentrale Einrichtung, doch das will keiner wahrhaben und keiner wissen.

Ich bezweifl e stark, dass es in Syrien,

Palästina oder im Irak jemals wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft geben kann.

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SAG MAL, PROF Wie bildet die FH Dortmund Sozialarbeiter mit dem Schwerpunkt Migration aus?

TEXT&FOTOMIRIAM WENDLAND

Dazu gehöre unter anderem ein angemessenes Gehalt, das mit den Kooperationspartnern lange diskutiert worden sei. „Wir wissen, dass es ganz viele Studierende gibt, die sowieso arbeiten müssen. Die Besonderheit bei uns ist, dass wir sie

in ihrer Praxis begleiten“, sagt Kosmann.

Die Idee für den Studiengang sei in einem Gespräch mit dem Sozialdezernat der Stadt Dortmund entstanden, erzählt Kosmann. Un-terstützt von der Kommune und den Wohl-fahrtsverbänden haben sie und ihre Kollegen das Konzept entwickelt und die Finanzierung der Arbeitsplätze auf den Weg gebracht.

An die Doppelbelastung durch Job und Stu-dium müssten sich viele Studierende erst einmal

gewöhnen, sagt die Professorin. Doch das lohne sich: „Wir denken, dass unsere Absolventen hervorragende

Arbeitsmöglichkeiten haben werden. Das haben wir von der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge gehört, bei der es entsprechende Stellen gibt. Außerdem haben unsere Abgänger dann vier Jahre bei einem Träger im öffentli-

chen oder karitativen Bereich gearbeitet, auch da ist der Bedarf groß.“ Die FH plant, den Studiengang auch zum Wintersemester 2015/16 anzubieten.

Prof. Dr. Marianne Kosmann leitet den neuen Stu-diengang an der FH Dortmund.

Wir wollen die Probleme von Flüchtlingen in Deutsch-land in unserem Fachbereich zu einem Thema

machen“, sagt Prof. Dr. Marianne Kosmann von den Angewandten Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. Die FH hat daher zum Wintersemester 2014/2015 einen dualen Bachelorstudien-gang in ihr Programm aufgenommen: Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Armut und (Flüchtlings-)Migra-tion. Acht Semester lang pendeln die Studierenden zwischen den Seminarräumen an der Emil-Figge-Straße und ihrem jeweiligen Arbeitsplatz bei einem Träger der Sozialen Arbeit.

„Migrationsbewegung in der EU“ und „Rechtliche Rahmenbedin-gungen zur Zuwanderung“ stehen unter anderem auf dem Lehrplan, wenn die angehenden Sozial-arbeiter von Mittwochnachmittag bis Freitag an der FH studieren. Dort lernen sie, Probleme von Flüchtlingen in Deutschland zu bewältigen und ihnen vorzubeugen. Zudem besuchen die Stu-dierenden Seminare in den Fächern Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften. Von Montag bis Mittwochmittag arbeiten die Studierenden bei einem Kooperationspartner der FH. Das sind unter anderem Einrichtun-gen der Stadt sowie der Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Diakonie. Der Arbeitsvertrag über eine halbe Stelle ist eine Voraus-setzung für das Studium. Mehr als 400 Bewerbungen waren bei der FH eingegangen. „Doch nur 34 Bewer-ber wurden letztlich angenommen, weil sie einen solchen Arbeitsver-trag nachweisen konnten“, erzählt Kosmann. Die Professorin legt Wert darauf, dass die Fachochschüler einen regulären Arbeitsvertrag haben, der bestimmte Kriterien einhält.

trag nachweisen konnten“, erzählt

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DUNKLE ERINNERUNGSie haben es geschafft: Zuhrah Roshan-Appel und ihre Familie fl üchteten vor 30

Jahren aus Afghanistan und bauten sich in Deutschland ein neues Leben auf. Sie fühlen sich wohl – werden die Bilder aus der Vergangenheit aber nicht los.

TEXTLAURA BETHKE FOTOCHRISTIANE REINERT

ten wieder jede Nacht die Bomben einschlagen“, erinnert sich Roshan-Appel. Denn im Iran angekommen, war die Familie erneut gezwungen, in einem Kriegsgebiet, dem des Iran-Irak-Konfl iktes, auszuharren. In einem unterirdischen Bunker, den Iraner gegen Geld an Flüchtlinge vermieteten, musste die Familie einen Monat ausharren und war nur durch einen kleinen Schacht mit der Außenwelt verbun-den. „Ich kriege noch heute Panik, wenn ich mich an diese Zeit zurückerinnere. Das ist wohl auch der Grund, dass ich Türen meistens offen halte und große, helle Räume liebe“, sagt Roshan-Appel.

Die 30 Tage voller Hoffen auf den Befehl der Schlepper zum Aufbruch wurden belohnt, als die Reise eines Nachts zunächst in die Türkei führte. Mit gefälschten Papieren von der Verwandtschaft fl ogen Zuhrah Roshan-Appel und ihre Familie nach 90 Tagen Flucht weiter nach Deutschland. Sie bekamen schnell Asyl und eine eigene Wohnung. Die Ungewissheit und Unruhe als ständigen Begleiter konnte Roshan-Appel jedoch erst mithilfe einer Therapie ablegen. Heute kann sie offen und ohne Angst über das Erlebte reden. „Ich bin dankbar, dass es so gekommen ist und ich jetzt meine Tochter ohne Krieg aufwachsen sehen kann“, schließt Roshan-Appel ihre Erzählungen.

Heute arbeitet die 44-Jährige als Sozialpädagogin in einem Gymnasium. Sie verbringt viel Zeit mit ihrem Mann und ihrer Tochter Marie, die bald in die Schule kommt. Demnächst, erzählt sie, will sie mit einer ihrer Schwestern die Geschichte ihrer Flucht aufschreiben – und sie so für ihre Kinder und Enkel erhalten.

Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust – eines für Deutschland und das andere für Afghanistan”, sagt

Zuhrah Rosha-Appel. Obwohl sie nur die ersten zehn Jahre ihres Lebens in der afghanischen Hauptstadt Kabul verbracht hat und seit 34 Jahren in Deutschland lebt, fühlt sie sich ihrem Heimatland stark verbunden. Denn der Umzug von Roshan-Appel, ihren drei Schwestern und Eltern war kein gewöhnlicher Umzug, sondern eine dreimonatige Flucht.

Zuhrah Roshan-Appel erzählt, wie nach dem Einmarsch der Russen im Dezember 1979 die dunkelste Zeit ihres Lebens begann: „Es standen Panzer vor meinem Zimmer-fenster, Bombennächte hielten uns wach und wir haben die Angst im Gesicht unserer Eltern gesehen.“ Dass nur noch eine Flucht ihr Leben retten könne, habe für die Eltern der fünfköpfi gen Familie festgestanden, als ein Freund der Familie den Vater verriet. Roshan-Appels Vater war Regisseur. „Er hat sich geweigert, einen Propagandafi lm für das russische Militär zu produzieren.“ Daraufhin sei er verhaftet worden. Sie erzählt: „Unsere Eltern haben uns erst Jahre später eingeweiht, dass er während seiner mehrwöchi-gen Haftstrafe gefoltert wurde. Das war schockierend.“

Im Sommer 1980 nahm Roshan-Appels Vater Kontakt mit Schleppern auf, die die Flucht aus Afghanistan organisieren sollten. Die Mutter der sechsköpfi gen Familie erklärte ihren Kindern, dass sie durch eine Flucht eine fünfzigprozentige Überlebenschance hätten. „Die Flucht war sehr gefährlich und ungewiss.“ In Afghanistan indes sei es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihnen etwas zugestoßen wäre. Eine dramatische Aussicht, deren Bedeutung Zuhrah Roshan-Appel erst Jahre später verstand und die ihr noch heute Tränen in die Augen treibt.

In Nomadenkleidung und ohne jegliche Habseligkeiten fl og die Familie über Nacht nach Kandahar im Süden Afghanistans. Dort begann ein kräftezehrender Weg über abgeschiedene Gebirgszüge, den die Fünf zu Fuß und mit einem Geländewagen zurücklegten. Doch die schwerste Zeit der Flucht stand der Familie noch bevor. „Wir sind von dem einen in den anderen Krieg gefl ohen und hör-

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Scheinwelt Realität

Angst Schutz

Kabul Holzwickede

Höxter Murcia

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TEXTKRISTINA GERSTENMAIER FOTOSTHE REFUGEES

Im Frühjahr 2012 ging mit „The Refugees“ eine Band auf Tour, die Flüchtlinge aus ihrer Isolation holen und sie vor Abschiebung bewahren sollte. Zwei Jahre war sie unterwegs.

Wie geht es den Musikern heute? Wir haben bei zwei Bandmitgliedern nachgefragt.

Nuradil Ismailov und Abdolho-sain Amini können heute das tun, was für Millionen Deut-

sche ganz normal ist. Wenn sie unterwegs sind, können sie sich auf ihre eigene Mietwohnung freuen, arbeiten und mit ihrem eigenen Geld einkaufen gehen. Sie können spontan quer durch die Republik fahren, zum Beispiel, um sich gegensei-tig zu besuchen. Vor allem aber können sie in die Zukunft blicken: „Ich will ein neues Rap-Video drehen, das wird ein Riesending“, kündigt Nuradil Ismailov an. „Ich will auf jeden Fall auch deutsch rappen und ein Album aufnehmen“, sagt Abdolhosain Amini. Auch über gemein-same Musikprojekte tauschen sie sich aus.

Im Moment sei sein Leben wie eine Berg-tour, erzählt Amini. „Wenn ich meine Aufenthaltsgenehmigung habe, meine Ausbildung habe, meinen Führerschein habe, dann bin ich oben am Berg und dann … zuiii“, sagt er lachend und lässt seine Hand nach vorne schnellen. Die

DIE GIPFELSTÜRMER

Entscheidung eines Hamburger Gerichts vor wenigen Monaten, ihm eine unbefri-stete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, sei die erste Bergetappe gewesen. Der 20-jäh-rige gebürtige Afghane wuchs im Iran auf und beschloss mit 15 Jahren, der Diskri-minierung, mit der er konfrontiert war, zu entkommen. Vor vier Jahren fl oh er über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Hier beantragte er Asyl.

Zehn Jahre Ungewissheit im FlüchtlingsheimAuch der 22-jährige Ismailov, der 2001 als Zehnjähriger mit seinen Eltern und seiner Schwester vor den Unruhen aus der russischen Republik Dagestan fl oh, hat neue Pläne: Seit er vor Kurzem eine unbefristete Stelle als Wachmann begann, ist das uneingeschränkte Bleiberecht für ihn in greifbare Nähe gerückt. „Das fühlt sich an wie ein Schlüssel, der deine Handschellen öffnet“, sagt er.

Noch vor drei Jahren sah die Welt für die beiden jungen Rapper ganz anders aus. Abdolhosain Amini sah auf seiner Über-fahrt von der Türkei nach Griechenland, wie Schwangere und Kinder ertranken. In Griechenland lebte er auf der Straße. Nach zweijähriger Flucht in einem Ham-burger Asylbewerberheim angekommen, plagte ihn die Ungewissheit. Wie soll-te es weitergehen?

Und Nuradil Ismailov lebte, seit er 2002 gefl ohen war, in einem Asylbewerberheim außerhalb von Gifhorn. Jeden Monat habe er Gutscheine im Wert von 109 Euro und 1,49 Euro Bargeld bekommen. Die Stadt habe er nicht verlassen dürfen. Jeden dritten Tag mussten er und seine Familie 15 Kilometer bis zur Ausländer-behörde mit dem Fahrrad zurücklegen, um ihre Duldung zu verlängern.

Ein Zimmernachbar habe nachts manch-mal so laut seine Verzweifl ung heraus-geschrien, dass Ismailov nicht schlafen konnte. Ab und zu seien in der Nacht Bewohner abgeholt und zum Flughafen gefahren worden. Und immer habe auch ihm und seiner Familie die Abschie-bung gedroht. Zehn Jahre lang. „Das ist schlimmer als im Knast“, sagt er. „Weil du im Asylheim nicht weißt, wann du rauskommst. Dieser Gedanke zerreißt ei-nen.“ Deswegen mache er Musik. Damit diese Sachen an die Öffentlichkeit kom-men. 2011 schrieb er seinen ersten Text:

Und dann ... zuiii: Nuradil Ismailov träumt vom Führerschein.

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37flucht und vertreibung

„Wenn du gefangen bist, im Asylantenheim,dann wünschst du dir nur eins, ein freier Mensch zu sein. Es gibt Menschen, die mei-nen, dass du nichts bist, Ich sag: Das ist nur Papier, doch sie versteh’n es nicht.“

Doch dann kam das Jahr 2012 und der Anruf von Heinz Ratz, Kopf der Band „Strom & Wasser“. Seit 20 Jahren steht sie für tiefgründige deutsche Texte und politische Aktionen. Ein Jahr zuvor war die Band zu ihrer „Tour der 1000 Brücken aufgebrochen. Tagsüber hat-te Ratz 80 Flüchtlingsheime besucht, abends gab die Band Konzerte. Eine Aktion, mit der sie auf die deutsche Asyl-politik hinweisen wollte.

Tourneen, CDs und ein KinofilmWeil am Ende so wenig Hoffnung im Leben der Flüchtlinge gewesen sei und Ratz in den Heimen so viele tolle Musi-ker getroffen habe, „wollte ich noch was Schönes schaffen und kam dann eben auf die Idee, mit diesen Musikern die ganze vergessene Musik aus diesen Lagern zu befreien und in die Öffentlichkeit zu bringen,“ sagte Ratz 2012 in einem Inter-view mit dem NDR.

Also lud er im Frühjahr 2012 zwanzig Musiker – unter anderem aus Kenia, der Elfenbeinküste, dem Kosovo und Afghanistan – ein, eine CD aufzuneh-men. „Strom und Wasser feat. The Re-fugees“ nannte sich das Projekt. Nuradil Ismailov und Abdolhosain Amini steuer-ten ihre Raps als MC Nuri und Hosain MC Trelos bei. Und sie waren mit dabei, als anschließend eine kleine Gruppe

Flüchtlinge mit „Strom & Wasser“ auf Tour ging. Nach einem Jahr erschien eine zweite CD, eine zweite Tour und der dokumentarische Kinofilm „Can´t Be Silent“, dessen Macher das Projekt einen Sommer lang begleiteten. Für die zweite CD rappte MC Nuri:

„Wir wollen Frieden, ich mach einen Anfang, Ausländer und Deutsche leben miteinander. Leute guckt euch an, Leute guckt uns an. Das ist Deutschland, das ist Deutschland.“

Das Projekt machte Schlagzeilen, – etli-che große Medien berichteten – war für die Band allerdings mit großem Aufwand verbunden. „Für jede Reise mussten wir eine Sondergenehmigung beantragen, die den Flüchtlingen nur eine genau vorge-gebene Reiseroute gestattete“, schreibt Heinz Ratz auf der „Strom & Wasser“-Homepage. Hunderte unbezahlter Ar-beitsstunden investierte die Band für die Organisation. Gemeinsam mit Julia Oel-kers, der Regisseurin des Films, schrieb sie unzählige Behördenbriefe. Fahrtkosten und Hotels zahlte „Strom & Wasser“ aus eigener Tasche oder finanzierte sie durch Spenden. Im Ergebnis hat all das, neben professionellem rechtlichen Beistand, da-für gesorgt, dass die Abschiebebescheide, die Nuradil Ismailov und Abdolhosain Amini bekamen, folgenlos blieben.

Und trotzdem sind Ismailov und Amini unzufrieden. Sie fühlen sich seit dem Ende des Projekts allein gelassen. Wollen weiter an ihrer Karriere feilen, wollen CDs aufnehmen und Konzerte geben. „Wir haben keine Homepage und kein Management“, sagt Amini. „Und die

CDs mit unseren Songs müssen wir Heinz abkaufen. Dieses Geld haben wir nicht.“ Heinz Ratz erklärt: „Das ist leider immer so eine Sache mit der Solidarität, den Forderungen und den kleinen Ego-ismen in der Welt“ und verweist auf eine eigene Pressemitteilung. Dort schreibt er unter anderem: „Was Kunst politisch bewirken kann – das haben wir erreicht.“ Man habe über die Konzerte und Medien Millionen erreicht und Menschen, die in der Gesellschaft keine Stimme haben, eine Bühne gegeben. Jede Steigerung sei nur in kommerziellen Bahnen denkbar. „Aber ‚Strom & Wasser‘ ist nicht auf den Karrierestraßen unterwegs, sondern dort zu Hause, wo man die Menschen und Missstände vergisst.“ Auch die eigene Kunst habe man zwei Jahre lang vernachlässigt.

„Strom & Wasser“ war im Herbst mit neuer eigener CD auf Tour. Und Nuradil Ismailov und Abdolhosain Amini? Durch Kinofilm, Konzerte und Medien sind sie inzwischen so bekannt, dass sie häufig irgendwo angesprochen werden. Man werde noch viel von ihnen hören, sagen sie. In diesem Jahr. Nur noch ein kleines Stück liege zwischen ihnen und der Musikerkarriere. Nur wie sie das Stück zum Gipfel überwinden sollen, das wissen sie noch nicht.

Abdolhosain Amini kam über die Türkei und Griechenland nach Deutschland.Strom & Wasser featuring The Refugees - s/tTraumton Records (Indigo) / 18. Mai 2012

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TEXTJohannes hülstrung FoToMiriaM Wendland

MitHelfen!Über das Thema Flucht und Vertreibung seid ihr jetzt gut informiert. Für alle, die sich fragen,

wie sie aktiv werden können, stellen wir fünf Organisationen vor, die sich für Flüchtlinge einsetzen – und die mit eurer Hilfe noch mehr erreichen können.

Der weltweit tätige UNHCR, das Flüchtlings-kommissariat der Vereinten Nationen, ist für

den Rechtsschutz von Asylbewerbern und anerkann-ten Flüchtlingen zuständig. Helfen kann man der UN-Behörde zum Beispiel über das UN-Freiwilli-genprogramm, durch ein Praktikum in den Büros in Berlin und Nürnberg oder bei einem der lokalen Partner der Flüchtlingshilfe. Mehr Infos: www.unhcr.de

Vereinte nationen

Das Netzwerk Aufbruch PortIn plus mit Trägern aus Dortmund, Hagen und dem Märkischen

Kreis will Bleibeberechtigte und Flüchtlinge nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren. Die Flüchtlinge wer-den unter anderem bei Behördengängen begleitet, über Berufsmöglichkeiten informiert und erhalten Alphabe-tisierungs- und berufsbezogene Deutsch-Kurse. Mehr Infos: www.bleiberecht-aufbruch-portin.de

aufbrucH Port in Plus flücHtlingsrat nrw

Alle deutschen Bundesländer haben einen Flüchtlingsrat. Der Flüchtlingsrat NRW mit

Sitz in Bochum vertritt die Interessen von Flücht-lingen auf Landesebene. Er bietet ein Netzwerk für Personen und Organisationen, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, und organisiert Schu-lungen zu asyl- und sozialrechtlichen Fragen. Mehr Infos: www.frnrw.de

Eine Flucht führt nicht immer über Landes-grenzen, auch aus den eigenen vier Wänden

kann man fliehen. Frauen, die häuslicher Gewalt zum Opfer fallen, finden Zuflucht beim Verein Frauen helfen Frauen. Der Dortmunder Verein betreibt das Frauenhaus und die Frauenbera-tungsstelle. Mehr Infos: www.frauenhaus-dortmund.de

frauen Helfen frauen

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Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund

Projektleitung Dr. phil. Marco Dohle (ViSdP)

Redaktionsleitung Sigrun Rottmann

Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund

Tel.: 0231/755-7473, [email protected]

Redaktionsassistent Nils Bickenbach

Chefin vom DienstJulia Knübel

Textchef

Victor Fritzen

Fotoredaktion Stina Berghaus, Christiane Reinert, Miriam Wendland

Illustrationen & ZeichnungenAnja Knast, Pierre Pauma, Nanna Zimmermann

Layout & Grafik Sarah Breidenstein, Mareike Fangmann, Tobias Kreutzer, Martin Schmitz,

Philipp Ziser

Redakteure und Reporter Lisa Bents, Laura Bethke, Ricarda Dieckmann, Jana Fischer, Bernhard Fleischer, Anni-ka Frank, Alina Fuhrmann, Kristina Gerstenmaier, Lucas Gunkel, Rebecca Hameister, Luisa Heß, Johannes Hülstrung, Julia Körner, Tobias Kreutzer, Anna-Christin Kunz, Stefanie Luthe, Moritz Makulla, Lara Malberger, Christoph Peters, Philipp Rentsch,

Michael Scheppe, Helene Seidenstücker

Das Grafikteam dankt ... ... Claudia & Uli, Peter Neururer,

Lars Kressmann, Thomas Borgböhmer (Fotochef der Herzen), DO1.tv, die uns Asyl gewährt haben

und den Männern, die uns aus der Redaktion geschmissen haben.

Druck Hitzegrad Print Medien & Service GmbH

Auf dem Brümmer 944149 Dortmund

Impressumsudoku

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Page 40: pflichtlektüre 01/2015

Flucht & Vertreibung in unserer themenwoche gibt’s auch bei eldoradio* und do1 spannende beiträge. reinhören und reingucken! und zwar vom

19. bis zum 23. Januar.