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TEXTJONAS FEHLING FOTOCHRISTIANE REINERT I ch hätte längst die knackigste These für die nächste Hausarbeit gefunden. Ich hätte alle Personaler dies Studentenmagazin für die Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen 012013 pflichtlektüre Die TU Dortmund soll umweltbewusster gestaltet werden. Soso. Viele Paare lernen sich beim Job kennen – und lieben. Kann das klappen? Lieber Selbermachen als fertig kaufen. #selfmade #diy #yeah GRÜNER CAMPUS LIEBE AUF DER ARBEIT DO IT YOURSELF www.pflichtlektuere.com EIN LOCH IST IM HAUSHALT Der Ruhr-Uni Bochum fehlen 9,5 Millionen Euro.

pflichtlektüre 01/2013

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Studentenmagazin für die Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen

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TEXTJONAS FEHLING FOTOCHRISTIANE REINERT

Ich hätte längst die knackigste These für die nächste Hausarbeit gefunden. Ich hätte alle Personaler dies

TEXTJONAS FEHLING FOTOCHRISTIANE REINERT

Ich hätte längst die knackigste These für die nächste Hausarbeit gefunden. Ich hätte alle Personaler dies

Studentenmagazin für die Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen

012013

pfl ichtlektüre

Die TU Dortmund soll umweltbewusster gestaltet werden. Soso.

Viele Paare lernen sich beim Job kennen– und lieben. Kann das klappen?

Lieber Selbermachen als fertig kaufen.#selfmade #diy #yeah

GRÜNER CAMPUS LIEBE AUF DER ARBEIT DO IT YOURSELF

www.pfl ichtlektuere.com

EIN LOCH IST IM HAUSHALTDer Ruhr-Uni Bochum fehlen 9,5 Millionen Euro.

EIN LOCH IST IM HAUSHALTEIN LOCH IST IM HAUSHALTEIN LOCH IST IM HAUSHALT

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Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund

Projektleitung Dr. des. Annika Sehl (ViSdP)

Redaktionsleitung Sigrun Rottmann

Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund

Tel.: 0231/755-7473, [email protected]

Chef vom Dienst Nils Bickenbach

Textchefinnen

Kerstin Börß, Melanie Meyer

Fotoredaktion Katharina Kirchhoff, Christiane Reinert, Moritz Tschermak

IllustrationenLuzie Hecking

Layout & Grafik Mats Schönauer, Philipp Schulte, Manuel Solde

Redakteure und Reporter Elena Bernard, Maike Dedering, Kornelius Dittmer, Susann Eberlein,

Katrin Ewert, Mareike Fangmann, Jonas Fehling, Jana Fischer, Anna Friedrich, Ann-Kathrin Gumpert, Luzie Hecking, Natalie Klein,

Olga Kourova, Marie Lanfermann, Mareike Maack, Judith Merkelt, Julia Viktoria Neumann, Alexandra Ossadnik, Helene Seidenstücker,

Lena Seiferlin, Dominik Speck, Julia Stollenwerk, Linda Zuber

Druck Data 2000 GmbH

Kaiser-Wilhelm-Str. 9320355 Hamburg

pflichtlektuere @ [email protected] .com/pflichtlektuere 0231 / 755 - 7473*

Impressum

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Eins vorab

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Ich hätte längst die knackigste These für die nächste Hausar-beit gefunden. Ich hätte alle Personaler dieser Welt mit der originellsten Bewerbung frappiert. Auch die spektakulärste

Investigativrecherche à la Günther Wallraff hätte ich schon gestar-tet. Kämen mir die Ideen dazu bloß nicht immer in den blödesten Situationen.

Gerade ist es wieder passiert: Von der U-Bahn zum Zug hetzend, mich durch Menschenmassen schlängelnd – hier einen angerem-pelt, dort durch eine Lücke gequetscht – beginnen plötzlich die Gehirnsynapsen zu glühen: Eine Idee bahnt sich an. Doch die Situation ist so unpassend wie selbst das feinste Kobe-Rindfleisch für einen Vegetarier. Ich habe keine Chance den Einfall zu notie-ren – wenig später habe ich ihn vergessen. Geschieht das nur alle paar Wochen, ist das keine große Sache. Wohl aber, wenn solche Momente zu einem Clausthaler-Dilemma werden und einen „nicht immer, aber immer öfter“ plagen.

Zum Beispiel nachts. Irgendein Idiot hupt und ich wache auf. Fast wieder im Halbschlaf schleicht sie sich in meinen Kopf, die Idee für den perfekten Einstieg in mein nächstes Referat. Klar, genug Zeit und Gelegenheit habe ich. Aber aufstehen? Im Dunkeln herumtapsen? Zum Schreibtisch tasten? Viel zu aufwendig! Also schlafe ich seit Jahren mit Zettel und Stift neben mir auf dem Nachttisch. Das Smartphone würde es auch tun? Denkste!

Gegen das grelle Display rebellieren meine durch die Dunkelheit geweiteten Pupillen. Im richtigen Moment eingesetzt ist Technik aber nützlich: Stehplatz in Bus oder Bahn, eingequetscht zwischen Buggy und Rollator. Gerade schnuppert die Nase beängstigend nah an einer fremden Achselhöhle, da kommt schon wieder eine Idee. Knifflig, da mit Stift und Zettel zu hantieren. Wer es versucht, dem kann man gleich zum Ideen-Tod kondolieren. Das geht schief! Besser: Handy raus und Memo eingetippt. Noch schneller geht es mit einer Tonaufnahme. Okay – es klingt komisch, wenn man mit sich selbst spricht. Aber die Sprachnotiz muss ja nicht gleich wie bei Cruella de Ville in 101 Dalmatiner beginnen: „Memo an mich selbst“.

Der gemeinste Ideen-Abfluss befindet sich aber unter der Dusche. Beim Massieren der Kopfhaut sprießen die Ideen schneller, als die alten Haare ausfallen. Doch klatschnass und mit Schaum auf der Matte hat man keine Chance. Oder doch? Vielleicht den beschla-genen Spiegel beschmieren? Mit dem Finger ist dort schnell etwas notiert. Nur muss es im Wettlauf gegen die Zeit mit dem Abtrock-nen schnell gehen, will man etwas zum Abschreiben holen. Sonst macht der Spiegel tabula rasa.

TEXTjonas fehling FOTOChristiane reinert

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STUDIUM

08 GRÜNER CAMPUSWie steht‘s an der TU Dortmund um Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein?

REIN

SCHLUSS MIT KLISCHEESNeulich in Deutschland: Vincent Carmona aus Spanien. 05

06ZIMMERKONTROLLEMomente: Vier Studentenbuden und die dazugehörigen Bewohner.

RAUS

36‘ROUND ‘ROUND GET AROUNDKulturgebiet: Ein netter Kreisverkehr, abgehobener Deutsch-Rock und Britney Spears.

V-TIPPSChristo bläst in Oberhausen, Seeed sind im Pott und Dortmund sucht den Suppenkasper. 38

04inhalt

LEHRERIN AUF ZEITHochgelobte Akademikerin unterrichtet lieber an einer Problemschule

EINE WAHRE LEUCHTE IN DER DISKOSpecial Operations: Lichtjockey im Klub.

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JOB

LIEBE AM ARBEITSPLATZAffären im Büro sind keine Seltenheit, ganz im Gegenteil.

29LEBEN

ICH HÄNG AN DER NADELStricken, Häkeln, Selbermachen – Do-it-yourself ist wieder da. 30DIESE LEERE IM KOPFSag mal, Prof: Wieso haben...ähm...ja, also mmh...Blackout?33DER PILLENMANNCarl Djerassi, heimatloser Lebemann und Erfi nder der Anti-Baby-Pille.34

18 EXZELLENZ, ELITE, LEISTUNGSDRUCK Vor zwei Jahren wurde das Deutschlandstipendium eingeführt. Eine Bilanz.

12 BOCHUM MUSS SPARENDie Ruhr-Uni Bochum geht das Geld aus. Für das Personal wird‘s richtig bitter.

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Für Vincente Carmona lassen sich viel zu viele Menschen viel zu häufi g von Klischees leiten.

In unserer Sicht auf Andere sind wir beeinfl usst von unseren Gedanken, unserer Geschichte, unserer Regierung und unserem System. Außerdem leben wir in einer Welt, in der es nicht einfach ist, ein Individuum zu sein. Vielmehr betrachten wir uns eher als ein Teil einer großen Gesellschaft und eben nicht als eine besondere und einzigartige Persönlichkeit. Wir nehmen uns dabei eher in einer Gruppe wahr, zu der wir uns zugehörig fühlen, weil wir bestimmte Wesensarten teilen. Das führt dazu, dass wir uns von anderen Grup-pen abgrenzen und Stereotypen erschaffen, die sich mit der Zeit festigen und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Gemeinsamkeiten, die wir in unserer Gruppe teilen, defi nieren uns, unsere Herkunft und unsere Wurzeln und unsere Kultur.

Ich habe allerdings in allen Ländern, die ich bereist habe, Menschen getroffen, mit denen ich auf einer Wellenlänge war. Oft habe ich in ihnen Freunde gefunden. Deshalb fi nde ich, dass jeder die Chance nutzen sollte, Auslandserfahrungen zu machen. Es ist sicherlich nützlich, mal aus festgefahrenen Gewohnheiten und Strukturen herauszukommen. Erfahrungen die wir mit anderen Menschen ma-chen, helfen uns, andere nicht nach ihrer Nationalität, Ethnie oder Religion zu beurteilen.

Wenn ich das nächste Mal gefragt werde „Was denkst du über die Deutschen?“, „Wie fi ndest du Franzosen?“, oder „Was ist besser Spanien oder Italien?“, werde ich an meine Erfahrungen denken und wissen, was mein Motto ist: One Love.

05rein

Seit meiner Ankunft in Deutschland bin ich oft gefragt wor-den, was ich von dem Land und den Deutschen halte. Ich antworte dann immer, dass wir alle gleich sind - und zwar auf

der ganzen Welt.

Ich glaube, dass sich viele Menschen immer eher auf das konzent-rieren, was sie unterscheidet und nicht so sehr auf ihre Gemeinsam-keiten. Das passiert noch häufi ger, wenn wir reisen, denn natürlich unterscheiden sich Menschen von Ort zu Ort durch ihre Sprache und Kultur. Außerdem gibt es auch innerhalb jeder Gesellschaft die verschiedensten Persönlichkeiten: Ernste und lustige Menschen, faule und hart arbeitende, positiv eingestellte und solche mit einem pessimistischen Standpunkt. Allerdings vergessen wir oft, dass alle Menschen hungrig sind, wenn sie nicht essen. Dass alle frieren, wenn sie keinen Schutz fi nden und dass sie ihre Freunde und ihre Familie vermissen, wenn sie unterwegs sind. Oberfl ächlich gibt es also Unterschiede, im Kern sind wir aber gleich.

Durch bestehende Klischees haben wir oft ein falsches Bild von unseren Mitmenschen. Deutsche sind genauso wenig ernst und kalt, wie alle Spanier laut sind und ständig Flamenco tanzen. Leider lassen wir uns aber zu oft von Klischees leiten und setzen bestimmte Dinge als gegeben voraus, die wir aber lieber selbst herausfi nden sollten. Die Sprache ist eine große Barriere, die es zu überwinden gilt, wenn wir kommunizieren wollen. Ich fi nde aber, dass Vorurtei-le eine noch größere Hürde sind. Es ist schließlich auch einfacher, die Dinge zu glauben und hinzunehmen, die man schon immer geglaubt hat, anstatt eigene Erfahrungen zu machen.

NEULICH IN DEUTSCHLAND

TEXTVINCENTE CARMONA PROTOKOLLLUZIE HECKING FOTOKATHARINA KIRCHHOFF

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Home, sweet Home

06momente

FotosJannis Wiebusch / JannisWiebuschfotografie.blogspot.de

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Home, sweet Home

07momente

Dein Zimmer ist nicht nur Dein ganz eigener Rückzugsort und Spielplatz; es ist auch immer ein Spiegel Deiner selbst. Unser Fotograf zeigt vier Lebensräume – von akkurat bis chaotisch.

Martin, 24

Mona, 23

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TEXTJULIA STOLLWERK FOTOSMORITZ TSCHERMAK

WIE GRÜN IST UNSERE UNI?An Forschern und Ideen rund ums Thema Nachhaltigkeit mangelt es an der

TU Dortmund nicht – aber wie geht Klimaschutz in der Praxis?

Eine Spurensuche auf dem Campus.

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Ein grünes Logo hat die TU ja schon. Aber wenn es nach Christoph Baron geht, könnte das große TU-Zeichen auf dem Mathe-Tower (immerhin mit LED-Leuchten

betrieben) mit mehr ökologischem Bewusstsein untermauert werden. Der 25-jährige Student des Wirtschaftsingenieurwesens hat für seine Bachelorarbeit ausgerechnet, wie viel Strom gewon-nen werden könnte, wenn man die Südseite des Mathe-Turms mit Solarzellen ausstatten würde. Das Ergebnis: Rund 540 000 Kilowattstunden pro Jahr könnten so erzeugt werden – das ent-spricht dem Stromverbrauch von circa 160 Haushalten. Neben dem Ertrag geht es Christoph aber noch um etwas anderes: „Das hätte auch eine Signalwirkung für die Öffentlichkeit“, fi ndet er. Denn: Wo könnten besser Impulse und Vorbilder in Sachen Nachhaltigkeit gegeben werden, als hier, an einer technischen Universität?

Schaut man auf die Lehrpläne, sind Themen wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit schon längst auf dem Campus angekommen. An der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik zum Beispiel baut man schon seit längerer Zeit Elektroautos und forscht, wie Geräte energiesparend ans Stromnetz geschlossen und erneuerbare Energien integriert werden können. Nur: Wie wird dieses ökologische Denken in der Praxis umgesetzt? Johan-na Myrzik, Professorin für das Arbeitsgebiet Energieeffi zienz, sieht auf dem Unigelände einige Defi zite – angefangen etwa bei schlechter Gebäudetechnik. „Nachhaltigkeit wurde bisher ein-fach nicht für besonders relevant gehalten“, erklärt sie. So wurde in diesem Bereich an der Uni zwar schon viel geforscht und dis-kutiert – aber nur wenig auf dem Campus selbst angewandt. Um das Potenzial der vielen klugen Köpfe auch vor Ort zu nutzen, sei deshalb ein wichtiger Schritt nötig: „Zwischen Forschung und Verwaltung muss ein Link gelegt werden.“

Arbeitskreis Nachhaltigkeit

Nun soll sich etwas tun. Im vergangenen Juni hat sich unter der Leitung von TU-Kanzler Albrecht Ehlers der „Arbeitskreis Nachhaltigkeit“ gegründet. Das Ziel: „eine nachhaltige Entwick-lung in verschiedenen Bereichen der TU Dortmund zu sichern und das Bewusstsein aller Studierenden und Mitarbeiter für das Thema Nachhaltigkeit zu schärfen.“ An dem Arbeitskreis sind neben Personen aus der Universitätserwaltung, Asta und Studentenwerk auch Fachkräfte aus der Forschung, wie Johan-na Myrzik, beteiligt. „Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung“, fi ndet sie und ist optimistisch, dass nun gemeinsam Sachen angegangen werden. Zunächst wurden Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themenbereichen gegründet, wie etwa zu Energie oder zum Papiereinsatz.

Herbert Lüftner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, ist ebenfalls Mitglied des neuen Arbeitskreises und schon seit langem im Bereich Umweltschutz engagiert. In seinem Büro stapelt sich Literatur über den Klimawandel und daneben fi ndet sich auch alles über ein Projekt, das er vor Jahren in die Wege geleitet hatte: Eine Regenwasserversickerungsanlage. Ein Modell, die Urkunde, Fotos – angefangen hatte es 1999, als sich Studierende aus verschiedenen Fachbereichen gemeinsam Gedanken machten, über eine ökologisch und wirtschaftlich sinnvolle Regenwasserentsorgung am Gebäude Emil-Figge-Straße 50. Denn bereits damals lief unter dem Titel „Nachhaltige UniDO“ ein fachübergreifendes Leuchtturm-Projekt, bei dem Studenten Umweltschutz in die Praxis umsetzen sollten. Am Ende sorgte vor allem Lüftners langer Atem für die Verwirkli-chung seines Projekts, während andere Ideen früher oder später im Sand verliefen. Das Regenwasser wird seitdem vom Dach in den Teich zwischen EF 50, Sonnendeck und Bibliothek gelei-tet. „Man glaubt gar nicht, wie viel Aufwand hinter so einem Projekt steckt,“ sagt Lüftner heute und erzählt von unzähligen Gesprächen und Gutachten, die damit verbunden waren. Diese vielen Hürden sind wohl auch der Grund, warum seitdem in Sachen Umweltschutzprojekten auf dem Campus nicht mehr viel passiert ist. Immerhin: Im Arbeitskreis Nachhaltigkeit plant man nun, das Regenwasserprojekt auch auf andere Gebäude zu übertragen.

Effi ziente Energieverschwendung

Wie steht es sonst um die Klimabilanz auf dem Campus? Um zum Beispiel auf Solaranlagen zu stoßen, wie etwa Christoph sie in seiner Arbeit geplant hat, muss man auf dem Campus genauer hinsehen. Erstes Fundstück: An dem Gebäude des Hochschul-sports sind Solarzellen installiert, mit denen das Duschwasser in den Umkleidekabinen erwärmt wird. Zweites Fundstück: Eine kleine Anlage auf dem Dach der Leitwarte. Die Leitwarte ist auch der Ort, an dem alle Fäden der uniweiten Stromver-sorgung zusammenlaufen – und dabei setzt die TU bisher nicht auf erneuerbare Energien. Hinter den Mauern steht hier seit

Grünes Logo = grünes Bewusstsein?

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1994 ein Heizwerk, mit dem die Uni einen Teil der benötig-ten Energie selbst erzeugt. Statt Wind- und Sonnenkraft also Gasmotoren: „Das ist bei der Größe unserer Uni ökologisch sinnvoller, als vereinzelt Solaranlagen aufzustellen“, sagt Fredy Schad, zuständiger Meister für die Energieerzeugung, und führt an den rumpelnden Maschinen und Motoren vorbei. Denn in dieser so genannten Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlage wird nicht nur Strom erzeugt, sondern auch die dabei entstehende Wärme genutzt – zum Beispiel beim Heizen der Gebäude. „Damit ist sie deutlich effi zienter als herkömmliche Kraftwerke“, so Schad.

Die Anlage deckt aktuell 40 Prozent des Strombe-darfs der TU, der restliche Strom wird

von externen Anbietern dazugekauft. In diesem Jahr soll voraussichtlich ein zweites kleines Kraftwerk

auf dem Süd-Campus gebaut werden, mithilfe dessen die

Hälfte des benötigten Stroms produziert wer-

den kann. Aber wie viel verbraucht

denn die Uni eigentlich?

Dass bei all den Maschinen, Laboren, Hörsälen und techni-schen Geräten auf dem Campus eine Menge Saft durch die Leitungen fl ießt, liegt auf der Hand. An einem Wintertag, an dem viel beleuchtet und geheizt werden muss, kann der Strom-verbrauch zur Mittagszeit sogar auf 6500 bis 7000 Kilowatt die Stunde steigen, zeigt die Statistik in der Leitwarte – so viel verbrauchen zwei Durchschnittshaushalte in einem ganzen Jahr.

Apropos Wintertag und Heizen: Da wären noch die Gebäude. Die meisten von ihnen wurden in den 1970er Jahren gebaut. Und damals war es mit Standards zur Gebäudeisolierung nicht weit her. Heißt: Ein großer Teil der Heizenergie verschwindet wieder durch schlecht abgedichtete Fenster und Fassaden. Ein Problem, das auch Myrzik, Professor des Lehrstuhls für Energie-effi zienz, bemängelt. Dass die Sanierung der Bauten allerdings ein langwieriger Prozess ist, weiß sie auch. Denn: „Alles was an den Gebäuden gemacht werden soll, muss erst mit dem Bau- und Liegenschaftsbetrieb abgesprochen werden“ – der ist nämlich der Eigentümer. Alle Neubauten müssen heute aber hohen Anforderungen an den Wärmeschutz gerecht werden, ein Beispiel ist das neue Seminarraumgebäude I. Geplant ist derzeit unter anderem noch eine Kernsanierung der Chemie/Physik, dem größten Komplex auf dem Campus.

Kleine Änderungen, großer Nutzen

Umweltschutz an der Uni fängt schon im Kleinen an. Etwa beim Anbringen von Bewegungsmeldern, die automatisch das Licht an- und ausschalten, oder beim Papierverbrauch. Holger Kanschik, Absolvent der Fakultät Raumplanung, hat sich immer gefragt, warum manche Dozenten auf ein-seitig bedruckte Abschlussarbeiten bestehen. Dabei kann ein doppelseitiger Druck erhebliche ökologische Effekte haben, wie er beispielhaft für seine Fakultät vorrechnet: „Bei 135 Abschlussarbeiten im Jahr mit durchschnitt-lich 80 Seiten können jährlich 5400 Blatt Papier ge-spart werden.“ Zudem würden Zellstoff, Chemikalien, Wasser und elektrischer Energie eingespart, die bei der Herstellung von Papier benötigt werden.

XXressort

sie deutlich effi zienter als herkömmliche Kraftwerke“, so Schad. Die Anlage deckt aktuell 40 Prozent des Strombe-

darfs der TU, der restliche Strom wird von externen Anbietern dazugekauft.

In diesem Jahr soll voraussichtlich ein zweites kleines Kraftwerk

auf dem Süd-Campuswerden, mithilfe dessen die

Hälfte des benötigten Stroms produziert wer-

den kann. Aber wie viel verbraucht

denn die Uni eigentlich?

Kleine Änderungen, großer Nutzen

Umweltschutz an der Uni fängt schon im Kleinen an. Etwa beim Anbringen von Bewegungsmeldern, die automatisch das Licht an- und ausschalten, oder beim Papierverbrauch. Holger Kanschik, Absolvent der Fakultät Raumplanung, hat sich immer gefragt, warum manche Dozenten auf ein-seitig bedruckte Abschlussarbeiten bestehen. Dabei kann ein doppelseitiger Druck erhebliche ökologische Effekte haben, wie er beispielhaft für seine Fakultät vorrechnet: „Bei 135 Abschlussarbeiten im Jahr mit durchschnitt-lich 80 Seiten können jährlich 5400 Blatt Papier ge-spart werden.“ Zudem würden Zellstoff, Chemikalien, Wasser und elektrischer Energie eingespart, die bei der Herstellung von Papier benötigt werden.

spart werden.“ Zudem würden Zellstoff, Chemikalien, Wasser und elektrischer Energie eingespart, die bei der Herstellung von Papier benötigt werden.

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XXressort

Dass es genügend Ideen und Potenzial für einen grüneren Campus gibt, weiß auch Svetlina Illieva. Im vergangenen Sommersemester hatte sie als Asta-Referentin für Ökologie und Nachhaltigkeit geholfen, einen Ökologiewettbewerb in die Wege zu leiten. „Auch Studenten sollten sich über den Umgang mit Ressourcen Gedanken machen“, fi ndet sie – und war von den eingegangenen Vorschlägen positiv überrascht. Die beschäftigten sich unter anderem mit Stromsparen, Bio-Essen in der Mensa und dem öffentlichen Verkehrsnetz an der Uni. Auch Christoph und Holger haben ihre Ideen eingereicht. Mittlerweile sitzt Svetlina im Arbeitskreis Nachhaltigkeit und will dafür sorgen, dass ein Teil der Anregungen realisiert wird. Der doppelseitige Papierdruck wurde bereits angestoßen.

Einen ganz speziellen Vorschlag hat noch Jan Moritz Behnken parat: Wie wäre es, wenn die Studenten auf alternative Art selbst einen Teil des Stroms erzeugen könnten – durch Strampeln auf umgebauten Fahrrädern im Fitnessstudio. Die Idee ist ihm durch eine Fernsehreportage gekommen, bei der auf diese Weise ein Haushalt betrieben werden sollte. Auch wenn dies hauptsächlich eine symbolische Geste wäre, geht es dem Physikstudenten ums Prinzip: „Die Uni muss in dem Bereich auch Sachen ausprobie-ren und das, was Studenten in den Hörsälen lernen, auch auf dem Campus anwenden.“

Öfter mal was neues auf den Teller. Vegetari-sche Ernährung schont das Klima, da Emissionen

eingespart werden, die bei der Viehhaltung, dem Anbau von Viehfutter und der Verarbeitung und

Kühlung von Fleisch anfallen. Außerdem wird für die Produktion pfl anzlicher Nahrungsmittel weitaus weniger Land und Wasser benötigt. In der Mensa richtet sich das vegeta-rische Angebot nach der Nachfrage der Studenten. Häufi ger mal einen fl eischlosen Tag einlegen bringt also nicht nur etwas für die Klimabilanz, sondern bewirkt auch etwas auf dem gesamten Speiseplan der Mensa. Zur Zeit steigt die Nachfrage für veganes und vegetarisches Essen.

Die eigene Tasse mitbringen. Das Studentenwerk kauft jedes Jahr 500 000 Pappbecher ein – eine Menge Müll, der unnötig und leicht vermeidbar ist.

Wenn man den Kaffee in den Cafeterien des Stu-dentenwerks nämlich in die eigene Tasse zapft, wird nicht nur der Papierbecher-Verbrauch heruntergeschraubt, man spart pro Getränk auch noch 15 Cent.

Recyclingpapier benutzen. Auch wenn man das Herstellungsverfahren für Recyclingpapier mit in die Klimabilanz einrechnet, bleibt es gegenüber Frischfaserpapier deutlich umwelt-

schonender. Durch den Gebrauch von Recyclingpapier werden nicht nur Ressourcen geschont, sondern auch Wasserverbrauch und Abwasserbelastung eingeschränkt.

Besser Wohnen. Eigentlich ist es selbsterklärend, dass die Kombination von gekipptem Fenster und auf-

gedrehter Heizung völlig sinnlos ist. Trotzdem wird es in den Studentenwohnheimen praktiziert, wodurch die Hälfte der Heizenergie ungenutzt

verloren geht. Dazu wird eine Menge Energie verschwendet, indem elektronische Geräte nicht abgeschaltet werden, wenn sie nicht genutzt werden. Würden alle Bewohner der Wohnheime diese Verschwendung einschränken, könnte das Studentenwerk fünf bis sieben Prozent der gesamten Energiekosten einsparen. Das Studentenwerk gibt außerdem 300 000 Euro jährlich für Müllentsorgung aus. Den Müll richtig zu trennen kann dabei die Kosten senken. Steigende Kosten für Abfallentsorgung und Energie hingegen könnten längerfristig zu einer Mietkostener-höhung in den Studentenwohnheimen führen.

Fit bleiben. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Uni kommen ist nicht immer spaßig, etwa wenn die S1 zu spät kommt oder man im Bus zwischen seinen Mitstudenten einge-

quetscht wird. Mit dem Auto zur Uni zu kommen, sollte man sich jedoch trotzdem überlegen. Als Alternative bleibt schließ-lich immer noch ein Null-Emissionen-Fortbewegungsmittel: das Fahrrad. Wissenschaftler raten, dreimal in der Woche Sport zu treiben - dreimal in der Woche mit dem Fahrrad zur Uni fahren bedeutet also nicht nur Umweltschutz, sondern dient auch der eigenen Gesundheit. TEXTLUZIE HECKING

TIPPS FÜR STUDENTENAuch die Studierenden können die Uni umweltfreundlicher gestalten.

Hier sind ein paar Tipps, wie das machbar ist.

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TEXTDominik Speck & JuDith merkelt ILLUSTRATIONluzie hecking

AbgebrAnntDie Ruhr-Universität Bochum muss sparen: Im aktuellen Haushalt fehlen rund 9,5 Millionen

Euro. An kleineren Fakultäten wie der Philosophie wird die Lehre darunter leiden. Denn die Uni

spart vor allem beim Personal. Eine Spurensuche im Dickicht der Hochschulfinanzierung.

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Es ist der 15. Juni 2012. Mehrere hundert Menschen verfolgen im Audimax der Ruhr-Universität Bochum (RUB) die End-runde der Exzellenzinitiative. Sie sind Zeugen, wie der Traum

vom Titel Elite-Universität zerplatzt – und damit die Hoffnung auf dringend benötigte zusätzliche Gelder. Denn im Haushalt der RUB klafft ein Loch: 9,5 Millionen Euro fehlten allein im Haushalt 2012. Ein Sparplan liegt bereits vor. Niemand soll entlassen werden, doch einige Professoren, die in den Ruhestand gehen, sollen keinen Nachfol-ger mehr bekommen. „Das Rektorat der Ruhr-Universität hat in der Vergangenheit versucht, dieses Defi zit aus Rücklagen auszugleichen und die Fakultäten dabei zu verschonen“, sagt Uni-Sprecher Josef König. Diese Rücklagen sind jetzt erschöpft. Der RUB droht die Zahlungsunfähigkeit.

Der Wirtschaftsplan 2012 sieht vor, in den nächsten Jahren 179,5 Stellen einzusparen. Die Entscheidung im Senat, dem Uni-Parla-ment, fi el schon Anfang Februar 2012. Gerade mal elf Senatoren stimmten für den Plan, zehn dagegen. Alle vier studentischen Vertreter votierten mit Nein – und fühlten sich schlecht informiert. Helena Patané, damals Mitglied im Senat, heute AStA-Referentin: „Die Bitte der damaligen AStA-Vorsitzenden, die Abstimmung zu vertagen, wurde ignoriert.“ Obwohl alle Fakultäten außer der Medizin von den Sparmaßnahmen betroffen sind, erfuhr zunächst kaum ein Student an der RUB davon. Lennart Stoy, Mitglied des Fachschaftsrates bei den Ostasienwissenschaften, sagt: „Studierende, die nicht mit Gremienarbeit beschäftigt sind, bekommen von der Finanzlage wenig mit und können sich damit auch kein Bild über die Zustände an der RUB abseits des Exzellenzgehabes machen.“ Erst gegen Ende des Sommersemesters drangen Informationen über die Haushaltsprobleme an die Öffentlichkeit – durch Medienbe-richte. Im Wintersemester richtete sich das Rektorat dann an alle Studierenden: mit einem Infobrief zur Finanzlage.

„Wir sind nicht weiter belastbar”

Die Suche nach den Ursachen des Schlamassels führt in die Welt der Hochschulfi nanzierung. Die ist ein bürokratisches Monstrum, das in den letzten Jahren immer verworrener geworden ist. RUB-Sprecher König sagt: „Die Haushaltsführung von Universitäten ist wegen der Vielzahl der Finanzierungssysteme und Töpfe sowie der einzelnen Programme der Politik so unübersichtlich geworden, dass selbst Fachleute beklagen, es sei schwer, den Überblick zu behalten und Details korrekt einzuordnen”. Des Weiteren sagt König: „Die Mittel der Grundausstattung durch das Land sind seit Jahren nicht auskömm-lich erhöht worden.“ Tatsächlich fehlen der RUB wichtige Gelder. Die Energiekosten steigen. 2012 zum Beispiel, so König, habe das Land der Uni 22,5 Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt. Die laufenden Bewirtschaftungskosten lägen aber bei 26,7 Millionen Euro. Eine weitere Ursache für den Rücklagenmangel: 2008 und 2011 wurden die Gehälter an den Universitäten erhöht. Die Hochschulen mussten einen Teil der Gehaltssteigerungen aller Mitarbeiter selbst tragen. Laut König waren das an der RUB 3,6 Millionen Euro: „Da gleichzeitig die

Mittel der Grundausstattung nicht gestiegen sind, hat sich das Defi zit dadurch noch einmal vergrößert.“ Einige Fachschaften wehren sich gegen die Sparmaßnahmen, zum Beispiel die Philosophie-Studenten. Seit Jahren, so die Fachschaftsräte, leide ihr Studiengang an Unterfi -nanzierung. Jetzt komme alles noch schlimmer. Bis 2015 sollen bei den Philosophen 82 000 Euro eingespart werden – im Jahr. „Dabei sind wir nicht weiter belastbar“, sagt Andre Hümbs vom Fachschaftsrat. Schon jetzt spüren die Philosophie-Studenten die Auswirkungen: Die besolde-ten Lehraufträge, also Lehrende, die nicht festangestellt sind, werden an der Fakultät entweder gestrichen oder notdürftig aus anderen Töpfen fi nanziert. Besonders die Erstsemester leiden unter den Einsparungen: Sie müssen ein verpfl ichtendes und klausurrelevantes Einführungstu-torium besuchen. Im letzten Semester wurden 13 Tutoren fi nanziert.

14studium

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15studium

Jetzt sind es nur noch fünf. Das Tutorium kann nur noch alle zwei Wochen angeboten werden und ist wesentlich voller als bislang. „Es ist ein Teufelskreis. Gibt es weniger Geld, wird die Lehre schlechter und das Angebot knapper. Damit sinkt aber auch die Zahl der Studierenden, die in Regelstudienzeit abschließen können. Und je weniger Studierende das tun können, desto weniger leistungsorientierte Mittel gibt es – und damit wieder weniger Geld“, erklärt AStA-Referentin Patané.

Die leistungsorientierten Mittel (LOM) berechnen sich unter anderem nach der Anzahl der Studenten in Regelstudienzeit, nach der Anzahl der Doktoranden und der Anzahl der Erstsemester. Uni-Sprecher König beklagt: „Die Ruhr-Uni zählt bei der Vergabe der LOM seit Jahren zu den Verlierern“. Hätte die RUB bei der Exzellenzinitiative besser abge-

schnitten, hätte sie auch mehr leistungsorientierte Mittel bekommen. Insgesamt ging es um 1,9 Millionen Euro. Damit sich am Sparzwang etwas ändert, hat der Fachschaftsrat der Philosophen einen offenen Brief an das Düsseldorfer Wissenschaftsministerium geschrieben. Darin beklagen die Studierendenvertreter unter anderem die „realitätsfremde Berechnung“ der Zuschüsse: Die Regelstudienzeit empfi nden sie als das falsche Maß. Die Antwort aus dem Ministerium fi el ernüchternd aus. Der zuständige Abteilungsleiter schreibt darin: „Die Hochschulen des Landes NRW erhalten ihre Grundfi nanzierung in einem Globalhaus-halt. Damit sind sie in der Lage, die hochschulinternen Finanzieruns-ströme jederzeit den Bedürfnissen vor Ort anzupassen.“ Ein symptoma-tischer Satz. Niemand will so recht für die kritische Finanzlage an der Universität gerade stehen. Die betroffene Universität und das zuständige Ministerium schieben die Verantwortung hin und her.

Die RUB hat erste Notmaßnahmen ergriffen. „Die zentrale Qualitäts-verbesserungskommission hat als Reaktion auf den Sparzwang einen Topf in Höhe von 500 000 Euro geschaffen für Fakultäten, die ihre Personalkosten nicht voll decken können und nicht anders an Geld kommen können. Dieses Geld darf zusätzlich nur zur Verbesserung der Lehre benutzt werden. Der Topf wurde bereits ausgeschöpft“, sagt Patané. Qualitätsverbesserungsmittel (QVM) sollen den Wegfall der Studiengebühren in NRW ausgleichen und die Lehre verbessern. Vie-lerorts, sagen Studenten, würden sie in Wahrheit aber dafür gebraucht, die Lehre aufrechtzuerhalten. „Wenn Professoren durch Qualitätsver-besserungsmittel fi nanziert werden, dann ist das zumindest moralisch bedenkenswert“, sagt Andre Hümbs. Die Ruhr-Universität weist diesen Vorwurf auf Anfrage zurück. Die Mittel könnten gar nicht zweckent-fremdet werden, weil dem Ministerium regelmäßig über ihre Verwen-dung berichtet werden müsse, sagt König.

Studiengänge auf der Kippe

Eine weitere wichtige Geldquelle für Hochschulen sind die Drittmittel. Auch an der RUB steigt ihr Anteil. Doch die Fördergelder, die unter anderem von Unternehmen kommen, fl ießen viel zu selten in die Lehre. Investiert werden sie vor allem in prestigeträchtige Forschungsprojekte. Gleichzeitig steigt die Zahl der Studierenden – und damit die Anforde-rungen an die Lehre. „Vor allem kleinere Studiengänge und Studiengän-ge mit älterem Personal sind von den Sparmaßnahmen betroffen“, sagt Patané. „In den Gender Studies gehen zwei von fünf Kernlehrenden in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Wenn diese Stellen dann nicht wieder besetzt werden, wird es eng“. Auch für andere Studiengänge könnte es eng werden. Dem Studiengang Sprachlehrforschung droht sogar das Aus. Die Uni-Verwaltung hält sich bedeckt: Falls Studiengänge aufgelöst werden sollten, sei dies zunächst eine Entscheidung der jewei-ligen Fakultät, heißt es auf Anfrage. „Wer ein Orchideenfach studiert, gerät zunehmend unter Rechtfertigungsdruck“, sagt Lateinstudent Den-nis Surau. Und das, wo doch gerade die Vielfalt an Orchideenfächern den Reiz der RUB ausmacht. Nur an wenigen deutschen Universitäten kann man Orientalistik, Wirtschafts- und Rohstoffarchäologie oder Biodiversität studieren.

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16studium

Glücksspiel Haushaltsplanung

Die langfristige Haushaltsplanung wird für Universitäten immer mehr zum Glücksspiel. Verantwortlich dafür sind unter anderem Regierungswechsel auf Landesebene. Kaum führte Schwarz-Gelb die Studiengebühren ein, schaffte Rot-Grün sie wieder ab. Die als Er-satz gedachten Qualitästverbesserungsmittel reichen nicht aus. „Der QVM-Anteil an der RUB ist inzwischen sechs bis acht Prozent geringer als die ursprünglichen Studienbeiträge“, sagt Josef König. Im Hinblick auf den doppelten Abiturjahrgang 2013 eine gefährliche Ausgangslage. Denn auch wenn die Unis für den G8-Ansturm im nächsten Herbst Ausgleichs-zahlungen erhalten werden: Das Haushaltsproblem wird dadurch nicht gelöst, geschweige denn die grundsätzlichen Probleme bei der Hochschulfinanzierung.

Zu diesen gehört auch Deutschlands föde-ralistisches Bildungssystem: Bund und Län-dern ist es nicht gestattet, bei der Hochschul-finanzierung langfristig zusammenarbeiten. So steht es im Grundgesetz. Programme, wie die vom Bund ausgelobte Exzellenzinitiative, sind auf einen kurzen Zeitraum angelegt und umschiffen damit das Verbot. Haushaltsschwache Länder wie Nordrhein-Westfalen haben deshalb zunehmend Schwierigkeiten, ihre Hochschulen zu finanzieren. Die meisten Universitäten im Land klagen über ähnliche Probleme wie die Ruhr-Uni Bochum – mal mehr, mal weniger drastisch. Auch an der TU Dortmund ist die Finanzlage „angespannt“, bestätigt Sprecherin Angelika Mikus. Auch die TU klagt über steigende Energiekosten, für die das Land nicht aufkommt. Ein Haushaltsloch, so Mikus, gebe es an der Dortmunder Uni aber nicht. Hochschulpolitik und Hochschulbürokratie sind schwerfällige Kolosse. An der Ruhr-Uni indes müssen schnell effiziente Lösungen her: Der AStA setzt sich zum Beispiel dafür ein, akademisches und staatliches Prüfungsamt zusammenzulegen. Ein Drittel der Anträge könnten dann schneller als drei bis fünf Monate bearbeitet werden, meint Patané. Damit würden mehr Studierende in der Regelstudienzeit abschließen können. „Wenn nur 270 Studierende campusweit in der Regelstudi-enzeit fertig werden würden, würde die Uni schon eine Million Euro mehr vom Land erhalten“, sagt Patané. Anfang November haben sich AStA-Vertreter mit Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD) ge-troffen, um die Probleme zu erörtern. „Bald soll ein weiterer Workshop mit Rektorat und Ministeriumsvertretern stattfinden“, sagt Patané. Die Ministerin wolle erst wiederkommen, wenn sie auch andere Termine an der RUB habe. „Wir haben signalisiert, dass wir auch mal im Ministeri-um vorbeikommen können“, sagt die AStA-Referentin. Daraufhin habe Schulze, einst selbst AStA-Vorsitzende in Bochum, auf E-Mail-Verkehr bestanden und abgewiegelt: Das Ministerium sei hässlich. Und so war-ten die Studierenden weiter auf eine Lösung ihrer Probleme.

QVM: Qualitätsverbesserungsmittel werden den Hochschulen vom Land NRW zur Verfügung gestellt. Sie sollen die Stu-diengebühren ersetzten und helfen die Qualität der Lehre zu verbessern.

Orchideenfach: Bezeichnet ein ausgefallenes Fach, dass man nur an wenigen Hochschulen studieren kann. Oft handelt es sich um kleine, hoch spezialisierte Studiengänge.

Drittmittel: Drittmittel sind all jene Geldleistungen, die nicht von einem zuständigen Ministerium kommen. Es kann sich um Förderung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aus der Industrie oder von Privatpersonen handeln.

Globalhaushalt: Die Hochschule erhält ihre finanziellen Mittel nicht mehr streng zweckgebunden. Sie kann selbst entscheiden, wie viel Geld wofür ausgegeben wird und ist so autonomer.

LOM: Für die Leistungsorientierte Mittelverteilung zahlen die Unis einen Teil ihres Haushaltes in einen landesweiten Topf. Die Gelder gehen dann vor allem an diejenigen Hochschulen zurück, die bei den Faktoren Absolventen in Regelstudienzeit, Drittmitteleinnahmen und Gleichstellung besonders gut abschneiden. Unter Umständen bekommt eine Uni dabei weniger Mittel zurück, als sie eingezahlt hat.

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17studium

CAMPUSKOPFAls Fahrdienstleiter der H-Bahn ist Florian Blumgard, 24, der Mann vor den Monitoren.

Die Bahnen fahren zwar automatisch, doch ohne ständige Überwachung geht nichts.

In der Leitwarte laufen die Fäden zusammen.

TEXTJULIA STOLLENWERK FOTO KATHARINA KIRCHHOFF

Treten Störungen auf oder verspätet sich eine Bahn,

greift der Fahrdienstleiter von hier aus ein. Zum Beispiel kann er die Türen früher schließen lassen, damit die Bahn im Zeitplan bleibt. Über die Sprechanlage nimmt er im Notfall Anrufe entgegen oder macht Ansagen.

Im Durchschnitt fährt die H-Bahn 45 km/h. In einer

Woche legt sie rund 2000 Kilometer zurück. Ein maximales Personengewicht gibt es übrigens nicht – es können so viele Leute mitfahren wie reinpassen.

25 Kameras zeigen dem Fahrdienstleiter, wie

viele Fahrgäste an den einzelnen Stationen warten. Außerdem kann er so sehen, wenn es Probleme mit den Türen gibt – oder jemand im Winter auf dem glatten Boden im Wartebereich ausrutscht.

Florians Frühschicht startet um 5 Uhr. Per Knopfdruck

werden die Fahrzeuge gestartet. Dann fährt er mit einer H-Bahn die gesamte Strecke ab und prüft, ob technisch alles in Ordnung ist und keine Hindernisse die Durchfahrt stören. Ab 6.21 Uhr steht die H-Bahn für Fährgäste bereit.

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TEXTJANA FISCHER FOTOCHRISTIANE REINERT

GESTATTEN, ELITE „Leistung muss sich wieder lohnen“, fanden deutsche

Bildungspolitiker und setzten mit dem Deutschlandstipen-

dium vor zwei Jahren zum großen Förderungs-Wurf an. Ob

dieser gelingen wird, ist noch immer umstritten. pfl icht-

lektüre hat an den Ruhr-Universitäten nachgefragt:

Funktioniert das neue Stipendium?

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19studium

So feierlich geht es im Bochumer Mensagebäude selten zu: Im Veranstaltungszentrum der Ruhr-Universität stehen Sekt und Schnittchen bereit, ein Duo intoniert eine dezen-

te Version von „What a wonderful world“. Die Stipendienfeier der Uni ist eine Würdigung für „die Leistungsträger unter unse-ren Studenten“, wie Rektor Elmar Weiler sie in seiner Ansprache nennt: Rund 250 Studierende kann er heute Abend mit dem Deutschlandstipendium auszeichnen.

Patrick Botzet ist einer von ihnen: Seit zwei Jahren erhält er das Deutschlandstipendium, das Kontakte zwischen Wirtschaft und Nachwuchsakademikern knüpfen soll. Patrick, der im dritten Mastersemester Bauingenieurwesen studiert, wird von der Her-renknecht AG unterstützt – einem Unternehmen, das in Baden-Württemberg Maschinen für den Tunnelbau produziert. Das Konzept des neuen Stipendienmodells: Für jeden Stipendia-ten gibt es 300 Euro monat-lich. Eine Hälfte davon zahlt der Bund, die andere ein privater Förderer, meist ein Unternehmen. Diese Spender für das neue Stipendium zu gewinnen, scheint nach zwei Jahren schwieriger als gedacht: Die für 2012 bereitgestellten Gelder sollten 1 Prozent aller Studierenden fördern. Wie Haushaltspläne des Bundes zeigen, blieb aber fast die Hälfte der Mittel liegen, weil sich nicht genug Förderer fanden. Dass das Deutschland-stipendium bis 2015 wie geplant 8 Prozent der Studierenden unterstützen wird, will selbst das Bundesbildungsministerium inzwischen nicht mehr versprechen: „Die Höchstförderquote pro Hochschule wird Jahr für Jahr festgelegt.“ Auch die zögernde Resonanz der Wirtschaft relativiert man im Ministerium: „Das Deutschlandstipendium ist ein neuartiges Förderinstrument, das sich an den Hochschulen zunächst einmal etablieren musste. Ob eine Hochschule erfolgreich bei der Mittelakquise ist, hängt un-ter anderem auch sehr stark von dem Engagement der jeweiligen Hochschulleitung für das Stipendium ab.“ Kein Wunder, dass die Studenten bei der RUB-Stipendienfeier nicht die einzigen Stars des Abends sind. Für die feierliche Ur-kundenübergabe bittet Elmar Weiler nicht die Stipendiaten nach vorne, sondern deren Förderer. Sie, so die Idee des Deutsch-landstipendiums, sollen für die Studierenden zugleich eine Art Mentor sein und mit Kontakten, Ansprechpartnern oder Prakti-ka die Anbindung an die Wirtschaft erleichtern. Patrick Botzets Förderer allerdings ist heute Abend nicht anwesend. Auch sonst, erzählt der Stipendiat, habe sich über die finanzielle Förderung hinaus nicht allzu viel an seinem Studium verändert. „Bei der Herrenknecht AG sind intensiverer Austausch oder Praktika durch die räumliche Distanz etwas schwierig. Man hält halt ein bisschen Briefkontakt.“

Dass es auch anders geht, weiß Sara Schmidt, die an der TU Dortmund Wirtschaftsmathematik studiert. Seit einem guten

Jahr wird sie von der Telekom unterstützt, dem mit bundesweit 360 Stipendiaten größten Förderer. „Ich habe das Gefühl, dass man sich dort sehr um uns bemüht“, erzählt sie. Zunächst habe das Unternehmen alle Stipendiaten nach Bonn eingeladen und unter dem Motto „Meet the Company“ eine Führung angebo-ten. „Da konnte man sich auch gleich über Praktika informieren. Ich finde, ich hatte Glück mit der Telekom“, sagt sie. Im Mai hat Sara außerdem an dem Workshop-Wochenende „Talents in Touch“ teilgenommen, das die Telekom in Berlin veranstaltete.Wie lange Sara sich über diese Angebote freuen darf, ist unge-wiss. Vergeben wird das Deutschlandstipendium stets nur für ein Jahr, jede Verlängerung muss Sara von Neuem beantragen. Ob die erfolgreich ist, entscheidet sich erst, wenn der Förder-zeitraum bereits begonnen hat. Auch wenn die Chancen auf Verlängerung gut stehen, ist diese fehlende Planungssicherheit problematisch für diejenigen, die finanziell auf ihr Stipendium angewiesen sind – das ist einer der Kritikpunkte, der immer wieder an das Bildungsministerium gerichtet wird. Saras Kon-sequenz: Sie hat sich im Sommer auch um ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung beworben. „Ich wusste ja nicht, wie es mit dem Deutschlandstipendium weitergeht.“

Die SPD-nahe Ebert-Stiftung gehört zu den zwölf Begabten-förderungswerken des Bundes, die in Deutschland bisher erste Ansprechpartner in Sachen Stipendien waren. Abgesehen von der unabhängigen Studienstiftung des deutschen Volkes werden die Werke von Parteien oder Kirchen getragen und vergeben ihre Stipendien für einen längeren Zeitraum. Ob und wie viel Geld ein Stipendiat über die 150 Euro Büchergeld hinaus erhält, hängt von seinem finanziellen Bedarf ab. Besonderen Wert legen alle zwölf Stiftungen auf die ideelle Förderung: Die Stipendiaten lernen sich über Hochschulgruppen kennen, können Sommeru-niversitäten und Vorträge besuchen oder sich Auslandsaufenthal-te zusätzlich fördern lassen.

Begeisterung bei den Förderern

Was viele abschreckt: Es dauert, bis man in den Genuss dieser Angebote kommt. Wer sich etwa um ein Stipendium beim evangelischen Studienwerk Villigst bewirbt, muss seine Motivati-on zunächst in umfangreichen Bewerbungsunterlagen erläutern, wird dann zu einem Vorauswahlgespräch eingeladen, um sich abschließend bei einem Auswahlwochenende in Gruppendiskus-sionen und weiteren Gesprächen zu beweisen. Das Deutschland-stipendium ist da unkomplizierter: „Die einzigen Unterlagen, die ich brauchte, waren die Übersicht über meine Studienleistungen und das ausgefüllte Online-Formular“, erzählt Sara.

Was den zahlenmäßigen Erfolg des Deutschlandstipendiums angeht, konnten die drei Ruhr-Universitäten die hohe Unter-nehmensdichte im Ruhrgebiet zunächst vergleichsweise gut nutzen. 2011 konnten alle drei Unis die vom Bund vergebenen Stipendienkontingente ausschöpfen, 2012 allerdings taucht nur noch Duisburg-Essen auf der entsprechenden Liste des Ministe-riums auf. RektorUlrich Radtke wurde für seine eifrige Akquise

„Alle Stipendien haben eine soziale Schieflage. Quoten sollten für einen Ausgleich sorgen.“

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sogar mit dem Deutschen Fundraising-Preis ausgezeichnet und zählt zu den vehementesten Verteidigern des Deutschlandsti-pendiums. „Für die Universitäten erschließt dieses Stipendium Teile der Gesellschaft, die bisher eher „UDE-fern“ waren – zum Beispiel neue Unternehmen oder Privatpersonen. Und die sind begeistert davon“, sagt Radtke.

Wer von den so eingeworbenen Geldern profi tieren möchte, braucht zuallererst eins: gute Noten. Gesellschaftliches Engage-ment oder soziale Faktoren laufen etwa in den Bewerbungsun-terlagen in Duisburg-Essen als „sonstige Angaben auf freiwilli-ger Basis“, die sich „eventuell positiv auswirken“ können. Wenn Unis, wie RUB-Rektor Elmar Weiler in seiner Rede auf der Stipendienfeier betont, besonderen Wert auf das Engagement der Stipendiaten legen, folgen sie damit keinen zwingenden Vorgaben. Zudem gibt es einen zweiten Faktor, der die Chancen auf ein Stipendium beeinfl usst: Nicht nur die richtigen Noten, auch das richtige Studienfach kann entscheidend sein. Die meis-ten Deutschlandstipendien werden fakultätsgebunden vergeben, also an Studenten bestimmter Fachrichtungen. Naturgemäß interessieren sich die Förderer hierbei vor allem für die Studie-renden, die auch auf dem Arbeitsmarkt am begehrtesten sind. In Duisburg-Essen gingen im Zeitraum 2011/12 die meisten Stipendien an Ingenieure. In Bochum lagen Chemiker, Maschi-nenbauer und Wirtschaftswissenschaftler vorne.

Michael Hartmann fi ndet das ungerecht. Der Soziologe der TU Darmstadt hat sich auf Eliteforschung spezialisiert und argumentiert: „Wenn ein Stipendium sich an Leistungsstarke richtet, dann kann ‚leistungsstark‘ nicht fachspezifi sch defi niert sein. Wer die Wirtschaft mit ins Boot holt, muss sich das vorher überlegen.“ Ohnehin steht Hartmann dem Privatförderer-Kon-zept skeptisch gegenüber und fürchtet, dass die Wirtschaft mit vergleichsweise geringem Aufwand indirekten Einfl uss darauf bekommen könnte, wer gefördert wird.

Elite oder nicht?

Ein anderes Problem, das Hartmann sieht, ist die soziale Verteilung des Stipendiums. Seiner Meinung nach landet das Geld sehr oft nicht da, wo es am nötigsten wäre: „Das Deutschlandstipendium fördert eine so-genannte Elite, die vor allem aus denen besteht, die es fi nanziell sowieso schon leichter haben. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Breitenförderung.“Ulrich Radtke widerspricht: „Mit Elite im Sinne von Leuten, die aus begütertem Umfeld stammen, hat das Deutschlandstipendium nichts zu tun.“ Unter den Stipendiaten gebe es gerade im Ruhrge-biet viele, die aus einem nichtakademischen Umfeld stammen.

Christian Heggen, der von Evonik Industries gefördert wird, ist einer dieser Bildungsaufsteiger. Dass er bei der Bewerbung deshalb schlechtere Chancen hatte, glaubt der Duisburger

BWL-Student nicht – im Gegenteil: „Mein Problem war im-mer, dass ich schon während der Schulzeit arbeiten musste, um mir später auch das Studium fi nanzieren zu können. Da blieb keine Zeit für ehrenamtliches Engagement. Und das ist bei den klassischen Förderungswerken eben unumgänglich. Sport war mir immer wichtig, aber eine Jugendmannschaft, die ich trai-nieren sollte, kam dann doch nicht zustande.“ Für ihn sei das Deutschlandstipendium deshalb die Chance gewesen, dennoch gefördert zu werden.

An anderer Stelle hat sich die Lage von fi nanziell schlechter ge-stellten Studierenden verschärft: Der bisherige Bafög-Nachlass, der den besten 30 Prozent aller Bafög-Empfänger einen guten Teil seiner Schulden erließ, entfällt seit diesem Jahr. Reine Begabtenförderung kann das nicht ausgleichen, glaubt Michael Hartmann: „Alle Stipendiensysteme haben eine soziale Schief-lage. Wenn man sie einrichtet, sollte man Quoten festlegen, die für einen sozialen Ausgleich sorgen.“

Christian Heggen ist trotz aller Kritikpunkte sehr zufrieden mit dem Deutschlandstipendium. Auch im Master möchte er sich wieder bewerben. „Leistung wird in Deutschland bisher zu wenig belohnt. Ich bin nicht der größte Befürworter von Eliten, aber das Deutschlandstipendium bietet eine Möglichkeit, Leute individuell wegen ihrer Leistung zu belohnen. Das fi nde ich gut.“ Für ihn hat die Förderung ihren Zweck erfüllt. Dennoch: Wenn das Deutschlandstipendium seinem großen Namen gerecht werden möchte, müssen deutlich mehr Studierende von ihm profi tieren.

20studium

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er dagegen ist, dass bessere Studenten ausgezeichnet wer-den, muss auch gegen das Deutschlandstipendium sein“,

sagt Ulrich Radtke, Rektor der Universität Duisburg-Essen. Und nimmt damit den Gegnern des Förderprogramms den Wind aus den Segeln. Zumindest scheinbar. Bessere Studenten? Das klingt nach dem „Leistung muss sich wieder lohnen“-Prinzip. Doch was verstehen die Mütter und Väter des Deutschlandstipendiums unter Leistung? Wer entscheidet, was ein besserer Student ist?

Leistung, Exzellenz, Spitze, Top, Elite: Schlagwörter einer Entwick-lung in der deutschen Hochschulkultur. Das System wandelt sich rapide. Das Deutschlandstipendium ist nur ein Beispiel von vielen. Politik und Wirtschaft greifen zunehmend in die Autonomie der Universitäten ein. Wettbewerb und Konkurrenz werden härter. Erst kam die Bologna-Reform. Bachelor und Master haben das Studium

verschult. Eine fundierte Allgemeinbildung wurde zu-gunsten der bestmöglichen Optimierung von Studium und Karriere geopfert. Dann dachten sich Politiker die Exzellenzinitiative aus – und die Universitäten begannen, sich um ein paar zusätzliche Millionen zu streiten. Höher, schneller, besser soll plötzlich alles sein. Wer nicht genug Drittmittel eintreibt,gilt als Versager.

Unter diesem Leistungsdruck krankt die gesamte Hochschullandschaft. Das Deutschlandstipen-dium liegt voll in diesem Trend. Die Unis zanken sich untereinander und intern, wer am meisten Förderer gewinnen kann. Und nach unten hin wird der Leistungsdruck an

die Studenten weiter gegeben. Je größer die Löcher in den Uni-Kassen werden, desto härter wird

die Konkurrenz. Dabei bleibt eine Fachrichtung besonders auf der Strecke: Die Geisteswissenschaften. Vielerorts pfei-

fen die Institute der Philologen, Historiker, Philosophen und Kulturwissenschaftler aus dem letzten Loch. Auch unter den Deutschlandstipendiaten sind Vertreter dieser wichtigen Disziplin rar gesät. Unternehmen fördern eher

Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure.

Bieten Geisteswissenschaften wirklich keinen Mehrwert für die Wirt-schaft? Das Deutschlandstipendium ist eine weitere staatliche Maß-nahme, die diese Disziplin ausbluten lässt. Dabei ist es doch gerade die Aufgabe des Staates, allen Studenten eine qualtitativ hochwertige Lehre zu ermöglichen.

Die herkömmlichen Förderprogramme setzen einen angenehmen Kontrapunkt zum Deutschlandstipendium. Sie erwarten mal mehr, mal weniger Engagement und Mitdenken von ihren Stipendiaten – und mehr als nur die Bereitschaft, nächtelang auswendig zu lernen und dann in der Klausur alles in gewünschter Form wiederzukäuen. Eine Leistung, die sich eindeutig nicht lohnt.

KOMMENTAR

von Dominik Speck

W

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TEXTJulia neumann FoTosChristiane reinert

„Gib die Flosse, Frau WaGner“Ausbildung, Abitur, Studium – Verena Wagner hat alles, was man für ein gutes Gehalt braucht.

Sie könnte das Vierfache verdienen. Stattdessen unterrichtet sie

an einer Schule in der Dortmunder Nordstadt.

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bayerischen Akzent. Eigentlich wollte sie in einer politischen Stiftung arbeiten oder in die Entwicklungszusammenarbeit gehen, ein paar Jahre ins Ausland. Sie hat ihren Realschulab-schluss gemacht, eine Ausbildung zur Bankkauffrau, vier Jahre bei der Bank gearbeitet. Das Abitur nachgeholt und in Passau interkulturelle Wirtschaft studiert. Dann erzählte ein Bekannter von Teach First. Das Projekt schickt überdurchschnittlich gute Akademiker für zwei Jahre an Problemschulen, um den Schülern dort zu helfen. Haben die Freiwilligen die Aufnahmeprüfung geschafft, sind sie Fellow. Dann übernehmen sie Verantwor-tung im Unterricht, leiten Projekte, machen Lernreisen, führen Elterngespräche. Fellows sind aber keine Lehrer: Sie geben keine Noten, unterrichten nicht immer alleine. Verena Wagner hat sich beworben, ist für zwei Jahre freiwillig an der Anne-Frank Gesamtschule. Die Schule hat sich den Fellow ausgesucht, nicht umgekehrt. Die Hochschulabsolventin könnte die Bosse beraten, doch stattdessen steht sie im Klassenzimmer– vor ihr steigt ein Junge über den Tisch, zwei andere nehmen sich aus Spaß in den Schwitzkasten. 1750 Euro bekommt die Fellow im Monat, finanziert durch das Land NRW. Trotzdem ist es ihr Traumjob.

Filmprojekt und Gangnam Style

Donnerstag, 10.45 Uhr. Zwölf Schüler der 6. Klasse haben Sprachförderung. „Es wird jetzt sehr laut“, warnt Frau Wagner. Dann läutet die Schulklingel. Die Schüler stürmen in die Klasse, reden durcheinander. „Eeeeey Babyyyyy“, „bist du behindert“, „schwör“, „was willst du, du Kuh“. „Wir ziehen unsere Jacken aus“, mahnt Frau Wagner. Ein Mädchen rennt in die Klasse, umarmt sie. Die Schüler kichern, lachen, einer schlürft sein Trinkpäckchen. Die Hochschulabsolventin hat die Stunde genau vorbereitet, sie macht ein Filmprojekt. Den Verlauf der Stunde, die Merkmale der Klasse, alles steht auf ihrem Zettel: „Klasse: Mehrzahl Jungs, vier Schüler mit besonderem Förderbedarf “ steht darauf. Die Stunde startet mit einer Preisverleihung: Wer sich letzte Woche gut verhalten hat, bekommt etwas Süßes. Frau Wagner verleiht Oreo-Kekse. Dann macht sie Mut, dass jede Stunde eine neue Chance ist, Fleißpunkte zu sammeln. Die Schüler wollen mit Handkameras einen Film drehen, heute wird verkündet, welches Drehbuch umgesetzt wird: Ein Piratenfilm. Ein Junge ruft: „Ich bin Voldemort!“ Und dann reden alle wild durcheinander. „Kinderfilm“ „Die beleidigt mich“ „Können wir das in 3D machen?“ Die Schüler sind lebhaft, sie mögen Frau Wagner und ihren Unterricht. Keiner sitzt gelangweilt in der Ecke, ausnahmslos alle arbeiten mit. Die Rollen werden verteilt, Frau Wagner hat gute Laune. Die Piratenbraut zeigt Fotos von sich im Kleid auf ihrem Handy. Der Kameramann surft auf Youtube, um sich Anregungen zu holen. Verena Wagner erklärt, im Hintergrund ärgern Jungs die Mädchen mit Laserpointern, feuern Papier. Aber als es darum geht, die Schiffe Black Pearl und Gangnam Style zu besetzen, arbeiten alle mit. Jeder denkt sich einen kreativen Namen für seine Rolle aus und sie planen den Film: Auf jeden Fall soll getanzt werden: „Heeey sexy Lady, op op op“, ein Mädchen wackelt mit den Armen. Frau Wagner ist zufrieden mit der Stunde, am Anfang des Schuljahres hätten die Schüler nur gerangelt.

„Gib die Flosse, Frau WaGner“ Von Nonnen hat sie gelernt, jetzt lehrt sie im sozialen Brennpunkt. Verena Wagner kommt aus dem ober-bayerischen Eichstätt, ist dort auf eine katholische

Mädchenschule für Schwestern gegangen. Heute unterrichtet sie selbst - an einer Gesamtschule, in deren Umgebung sie sich nachts nicht alleine auf die Straße traut. In der Dortmunder Nordstadt. An einer Schule umringt von Problemen: Drogen, Prostitution, Schlägereien. Frau Wagner hat ihr braunes Haar zum Zopf gebunden, dick und wellig ist es. Ihre braunen Augen leuchten, auch wenn sie böse guckt. Eine große Debatte ist, wo sie herkommt. Polen oder Slowakei. „Sie sieht nicht Deutsch aus“, sagen die Schüler. Und: „Frau Wagner kann ja auch nicht richtig Deutsch sprechen“, denn Frau Wagner hat einen leicht

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13 Uhr, Leseclub, ein Wahlpflichtfach. Zwei Schüler hassen das Lesen. Die Bücherei hat Frau Wagner neu gemacht: Die Sofas mit Stoffen bezogen, mit Tapetenkleister und schönem Papier Hocker beklebt, Bücher sortiert, Kissen genäht. Die Schüler fläzen auf der Couch. Gelesen wird „der kleine Werwolf“. Jeder bekommt ein Buch, Mahmut bekommt einen Lachflash. Er muss von ganz oben die Treppe herunterlaufen – und wieder zu-rück. Der erste soll lesen. „Ich hasse lesen, lesen macht dumm.“ Doch als das Mädchen neben ihm liest, gucken alle gespannt in ihr Buch, auch die Schüler, die eigentlich nicht lesen wollten. Die Jungs lachen. Frau Wagner baut sich auf, ein böser Blick, Mahmut weiß, was zu tun ist. Treppe rauf, Treppe runter. Alle schauen vertieft in ihre Bücher. Dann dürfen die Schüler eine Szene spielen: Die, in der ein Junge vom Werwolf gebissen wird. Einer setzt sich auf alle viere, der Wolf nimmt seine Hand, „oh sexy Finger“. Ein anderer Wolf jagt krabbelnd zwei Jungs durch den Raum. „Junge was ist los, ich bin Werwolf und beiße dich, rawwwwr.“ Die Mädchen üben derweil, mit Büchern auf dem Kopf, das Laufen. Wie bei Germanys next Topmodel. Beim Vorführen kabbeln sich der Wolf und der gebissene Junge im Stuhlkreis, das Publikum will mehr: „Gib ihm, du Pussy, ich habe Geld dafür bezahlt.“ Am Ende haben alle Gruppen die Szene gespielt, Spaß gehabt. Jeder hat gelesen und das Gelesene spielerisch umgesetzt. „Die haben gemeinsam gelesen, getobt, Literatur lebendig gemacht“, wird Frau Wagner später erzählen.

„Fame nach dem Tod“

Der allererste Tag für Verena Wagner an der Schule war laut. Gerade in den Pausen werde viel geschrien. Die Schule hat 777 Schüler, der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund liegt bei über 80 Prozent – auch bei denen, die in die Oberstufe gehen. Frau Wagner gefällt die bunte Schülerschaft. Jeder ihrer Tage ist anders, sie hat viel zu tun: Sie unterstützt die Lehrer in Deutsch, Mathe, Darstellen und Gestalten, je nachdem, wo sie gebraucht wird. Dann setzt sie sich zu jedem einzelnen Schüler, hilft beim Suchen nach Bildern im Internet, erklärt

Groß- und Kleinschreibung oder die Maßeinheiten. Sie unter-richtet Sprachförderung und leitet den Leseclub. Am Mittag betreut Verena Wagner die Graffiti AG oder tanzt Hip-Hop. Ihr eigenes Büro hat sie als Lernbüro eingerichtet. Dort gibt die Fellow Nachhilfe und Schüler helfen sich untereinander. Türkisch-Deutsche Wörterbücher stehen da, Mathe, Chemie und Deutschbücher, ein grün-goldener Wecker in Form einer Moschee. Plakate von Schülern hängen an der Wand: Was möchte ich später erreicht haben? „Geld und Style“, „Religiös leben, Familienbetrieb“, „Fame nach dem Tod“. So ziemlich alle wollen berühmt werden, Star als Beruf. „Sie wissen nicht, was sie werden sollen, deshalb sagen sie: Berühmt oder Hartz-IV-Empfänger“, sagt Verena Wagner. So, wie es Nachbarn vielleicht auch sind: Laut Jahresbericht über die Bevölkerung 2010 der Stadt Dortmund bekommen 33 Prozent der Nord-städter Hartz IV.

Überall in der Schule hängen Bastelarbeiten, um die Wände zu verschönern. Die Ausstattung sei katastrophal, sagt Frau Wagner. Keine Beamer, keine Smartboards. Dafür gibt es einen Klassenraum mit Bastelwerkstatt, eine eigene Turnhalle und täglich warmes Essen in der Mensa. Die Schüler kämen gerne, die Schule sei ein Bezugspunkt. „Das Problem“, weiß Frau Wagner, „ist nicht die Schule an sich, sondern das schwierige so-ziale Umfeld“. Deshalb seien viele Lehrer als Sozialarbeiter eine Anlaufstelle für die Schüler. Auch sie selbst ist Bezugsperson, Ansprechpartnerin, eine Art Freundin. „Sie kann mit uns reden, über unsere Gefühle und so“, sagt Yasemin, aus der 5. Klasse. Und Semiha, zehn Jahre: „Sie ist für mich wie eine Bekannte. Man kann ihr vieles anvertrauen, über Freunde, Probleme in der Schule oder zuhause.“ Beispielsweise wenn einer gemobbt wird oder von Freunden ausgeschlossen. Frau Wagner bekommt viel mit. Familiengeschichten. Auch die traurigen. „Das muss ich erst einmal verdauen“, sagt sie. Sie muss abwägen: „Verrate ich es, sage es dem Schulsozialarbeiter, oder nicht?“ Jeder ihrer Schüler hat sein Päckchen zu tragen, das weiß sie. Hart aber herzlich, so beschreibt sich die gelernte Bankkauffrau. So sind auch die Schüler: „Ich dachte, dass sie respektlos sind, aber das

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Betrieb von innen. Bei der Einstellung schauen sie dann auf die Persönlichkeit und nicht auf die Rechtschreibfehler in der Bewerbung“. Fellows lernen, was für die berufliche Karriere viel wichtiger ist als der Abschluss: Wie man mit Menschen umgeht. Mittlerweile möchte Verena Wagner sogar lieber im Bildungsbe-reich bleiben, dort arbeiten, helfen.

Frau Wagner ist den Schülern näher, als man denkt. Sie ist Vorbild, weil sie auch erst die Ausbildung gemacht hat und dann das Abitur. Als Christin mit muslimischem Freund bekommt sie viele Fragen – wie das denn gehe, ob es nicht verboten sei. Denn ein muslimisches Mädchen, das keinen muslimischen Freund hat, das sei für viele unvorstellbar. Frau Wagner wird aber auch gefragt, wo sie zum Friseur geht, ob ein Mädchen ihr nicht mal die Haare frisieren dürfe. „Die Schüler haben das Distanzgefühl nicht“. Sie merken, wenn Frau Wagner böse ist, weil sie etwas angestellt haben. „Dann kommen sie und sagen: Sind wir wieder Freunde?“. Dass alle so lieb sind, habe sie „total geflasht“. Viele bieten an, in der Bücherei zu helfen. Sie sind freundlich, warten beim Mittagessen in der Mensa bis die anderen fertig sind, räumen ab. „Wenn man ‚Brennpunkt‘ hört, denkt man echt an ganz was anderes. Die Schüler hauen sich nicht brutal die Köpfe ein. Weil viele gläubig sind, trinken sie keinen Alkohol, gibt es keine Drogenprobleme.“ Das einzige Problem sei, dass Schüler der 3. Generation kein perfektes Deutsch können. Wenn Verena Wagner geht, wird sie die Schüler sehr vermissen. Sie hat sie lieb gewonnen. 2011 hat ein Schüler, der geradeso seinen Abschluss bestanden hat, einen Rap geschrieben. Mit Frau Wagner im Refrain: „Das geht an alle, die nie an mich geglaubt haben, danke Frau Wagner, dass sie an mich geglaubt haben“, heißt es in dem Lied. „Das war sehr schön und traurig, da habe ich auch geweint.“ Deshalb ist es Frau Wagners Traumjob: Die Schüler sind sehr herzlich, geben ihr viel zurück. „Die kommen auf dich zu und sagen: ‚Frau Wagner, ich hab Sie lieb‘.“

stimmt nicht. Sie sind untereinander sehr offen, kreativ was die Wortwahl angeht, beschimpfen sich ab und an, aber im-mer mit einem Lächeln“. Verena Wagner hat Mittagsaufsicht. Ein Junge kommt ihr entgegen, „gib die Flosse, Frau Wagner“. Frau Wagner gibt den Check. In der Halle kommt der elfjähri-ge Emir vorbei. „Schäm dich, gibst mir nicht die Hand“, sagt er lachend zu Frau Wagner. Die gibt den Check. Sie hat den Coolness-Faktor. Ist jung, tanzt Hiphop, analysiert Texte von Bushido im Unterricht. Mit Rapper Cros‘ Hilfe erklärt sie der 10. Klasse Paarreim und fünfhebigen Jambus. Emir mag, dass sie „abchillen“ sagt. Und Frau Wagner hat einen Facebook-Account, da heißt sie: Frau Wagner. Die Schüler zeigen ihr den Rapper Nate 57 und wie man afrikanisch tanzt. Und sie zeigen das Lied „Ehrenmord“. Dann sagt Frau Wagner: „Die Melodie ist ja ganz okay, aber was hältst du von dem Text, findest du den gut?“

Keine zwei Welten

Viele der Schüler sind streng muslimisch erzogen. Frau Wagner hat ihr Vertrauen und Respekt - weil auch sie respektvoll ist. Die Katholikin findet, der Islam sei eine schöne Religion. Und sie weiß, dass das erste Wort im Koran „lies“ ist. Damit motiviert sie die Schüler. „Boah Frau Wagner, woher wissen sie das?“ Es sind keine zwei Welten, die aufeinanderprallen und Frau Wagner von ihren Schülern trennen. „Was sind zwei Welten? Es gibt verschiedene Welten, es gibt tausende von verschiedenen Positi-onen, die man hat“ sagt Verena Wagner. Leute könne man nicht in Schubladen stecken. Sie kommt aus einem kleinen Dorf in Bayern, „das total katholisch geprägt ist“. Ihr Freund ist Moslem, sie hat ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht. Und Verena Wagner war mit ihren Eltern auch nicht im Theater. „Das erste Mal im Ballett war ich letzte Woche, mit 30 Jahren.“ Deshalb engagiert sich Verena Wagner als Fellow. Sie möchte die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland verbessern, findet es unfair, dass die Herkunft die Bildungschancen bestimmt. Nach dem Projekt wollte sie wieder in die freie Wirtschaft gehen. „Ehemalige Fellows gehen in Personalabteilungen, ändern den

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Laut einer Statistik des Marktforschungsinstituts IFAK in Taunusstein lernt fast jeder zehnte deutsche Beschäftigte seinen Partner oder seine Partnerin auf der Arbeit kennen.

Ebenso viele hatten schon einmal eine Büro-Affäre. Auch die Chefs legen nach: Zwölf Prozent der Führungskräfte räumten eine Beziehung mit einer Kollegin oder einem Kollegen ein. Für den Psychologen und Berufscoach Josef Albers ist das eine Folge des Trends, immer mehr zu arbeiten. „Wir verbringen auf der Arbeit bis zu zehn Stunden am Tag und uns bleibt kaum Zeit für die Partnersuche“, sagt er. Der Arbeitsplatz ist zur größten Partnerbörse geworden, meint Albers.

Eine Beziehung im Büro hat ihre Vorteile. Die gemeinsame Arbeit bietet Gelegenheit, Menschen mit gleichen Interessen und Eigenschaften zu treffen. „Man kommt Kollegen sehr nah und teilt mit ihnen viele Ereignisse. Man erfährt Stärken und Schwächen des Anderen und dann entwickelt sich das Gefühl der Zuneigung“, sagt der 43-jährige Berufsberater. „Der Körper produziert vielfach mehr Glückshormone. Ein ähnliches Gefühl entsteht, wenn man Schokolade isst“, sagt Josef Albers. Und wie es mit süßen Sachen nunmal so ist, sie lenken ab. Es gibt aber auch Menschen, die die Liebe beflügelt. Besonders betroffen sind Menschen mit einem kreativen Beruf. Eine von ihnen ist Ranja Ristea-Makdisi. Die gelernte Grafikdesignerin hat ihren Ehemann in der Ausbildung im Jahr 1999 kennengelernt. „Wir waren in einer Clique und öfter zusammen unterwegs: in der Schule, bei einem Praktikum, auf einer Party“, erzählt die 35-Jährige. Einige Zeit später heirateten die jungen Men-schen. Heute sind sie rund um die Uhr zusammen: Sie sitzen in einem Büro der Agentur, die sie gegründet haben, und auch die Mittagspause verbringen sie gemeinsam. Und am Wochenende? „Wir machen da viel mit unserer kleinen Tochter“, sagt die Un-ternehmerin. Doch irgendwann braucht jeder seinen Freiraum. „Wir gehen zwischendurch einfach auch mal getrennt aus – ich mit Freundinnen tanzen, er mit seinen Kumpels auf ein Bier.“

Die schöpferische Zusammenarbeit verbindet das Paar. „Wir konkurieren nicht, sondern ergänzen einander“, sagt die Grafi-kerin. Auch wenn Probleme auf der Arbeit entstehen, gibt es für die Unternehmerin positive Seiten: Man bekomme alles mit und müsse dem Partner nicht viel erklären. Das einzige Problem sei, dass abends eine Frage nicht gestellt werden könne: „Wie war dein Tag, Schatz?“

Vom Traualtar zur Hexenküche

Es komme oft vor, dass in einer Büro-Beziehung eine Rollen-konfusion stattfindet. „Es gibt Paare, die gar nicht wissen, wie sie sich auf dem Arbeitsplatz mit dem Partner verhalten sollen: Einerseits steht der Ehepartner nebenan, anderseits befindet man sich auf der Arbeit“, sagt Josef Albers. Mit diesem Problem hatte auch Andreas Klier zu kämpfen. Seine Lebensgefährtin hat er im Jahr 1984 kennen gelernt. Alles begann auf einem Betriebsfest: Es herrschte eine lockere Atmosphäre, alle Mitarbeiter hatten ihre Abteilungen für Karneval geschmückt. „Zunächst begrüßten wir uns, dann haben wir ein paar Sätze miteinander gespro-chen, später sind wir zusammen in die Mittagspause gegangen“, erzählt der 50-Jährige. Für ihn war der Weg zur Arbeit anfangs wie eine Fahrt in den siebten Himmel. Beflügelt eilte er in sein Büro. Und immer schneller ging der Puls, als er bei der Nach-barabteilung vorbeilief und sie sah. Der damals 22-Jährige hat seine Ausbildung bei Karstadt in Köln gemacht. Sie war 21 und arbeitete als Fachverkäuferin in der Abteilung nebenan. Tiefe Blicke in der Kantine, ein kleiner Flirt am Kaffeeautomat, ein kurzes Zuwinken: Nach knapp einem Jahr konnte das Paar seine Gefühle nicht mehr verstecken. „Es war zu offensichtlich, dass zwischen uns etwas läuft“, schmunzelt Klier. Die meisten Arbeitskollegen haben sich gefreut. „Die passen einfach zusam-men“, hieß es. Die Liebe, die am Arbeitsplatz begann, führte das Paar vor den Traualtar.

TEXTOlga KOurOva FoTosKatharina KirchhOff

H E R Z K L O P F E N

M I T

I N S B Ü R O

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27job

Liebesaffären und Flirts gehören in Büros zum Alltag. Eine Grafikdesignerin, ein Abteilungsleiter und

eine Lehrerin erzählen von unterschiedlichen Erfahrungen mit Liebe am Arbeitsplatz.

„Wenn in der Beziehung und auf der Arbeit alles harmonisch läuft, dann kann die Liebe lange halten“, sagt Psychologe Josef Albers. Doch wenn es in der Beziehung kracht oder die Kollegen nicht mitspielen, könne die Zusammenarbeit zur Qual werden. Diese Erfahrung musste bald auch Andreas Klier machen, denn kurz nach der Hochzeit wechselte er die Stelle und wurde als Leiter in der Nachbarabteilung eingestellt - als Vorgesetzter seiner Frau. Und die ersten Probleme ließen nicht lange auf sich warten: „Viele Mitarbeiter dachten, ich bevorzuge sie“, erzählt Andreas Klier. Die Beziehung bekam einen Knacks. Als Chef nämlich wollte Klier den Kollegen beweisen, dass er seinen Job gut macht. „Ich wollte zeigen, dass alle Mitarbeiter für mich gleichwertig sind, indem ich deutlich strenger zu meiner Frau war, als zu den anderen Kollegen“, sagt der 50-Jährige. Und da fingen die Probleme richtig an. „Es war sehr schwierig für uns, die Privat- und Arbeitsebene zu trennen“, sagt Klier. Immer häufiger habe das Paar die Unstimmigkeiten mit nach Hause genommen. Gespräche über Arbeitsprobleme endeten oft im Streit und wurden zu einer großen Belastung. „Dann wurde uns klar, dass wir nicht mehr zusammenarbeiten können und haben uns entschieden, den Job zu wechseln“, erzählt Andreas Klier. Doch die Probleme blieben. „Inner-halb einiger Jahre wurde ich acht mal versetzt und wir mussten ständig von Ort zu Ort umziehen“, erzählt Klier, „es war ihr zu viel – ständige Umzüge, kein fester Job.“ Als das Paar letztendlich nach Dortmund zog, ließen sie sich scheiden. Auch dieser Fall ist für Coach Josef Albers ein gutes Beispiel dafür, dass Liebe und Arbeitsplatz voneinander abgegrenzt werden sollten. Wenn Probleme auf der Arbeit entstehen, dann muss das verliebte Paar entscheiden, wie es auf den beiden Ebenen weiter geht.

Heimliche Liebe

Ein anderes Paar stellt sich zurzeit die Frage, ob sie ihre Bezie-hung am Arbeitsplatz verheimlichen sollen. Anna* ist Lehrerin, Peter* ist Referendar. Und sie arbeiten an derselben Schule. Dass Anna seit einem halben Jahr mit einem jungen Arbeitskollegen zu-

* Namen von der Redaktion geändert

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sammen ist, wissen die Schüler nicht. Das Paar möchte sich erst einmal selbst über die Ernsthaftigkeit seiner Beziehung sicher werden und unnötiges Gerede vermeiden. „Man steht als Lehrer sozusagen in der Öffentlichkeit. Wir sind schließlich diejenigen, die die Noten vergeben und auch Erziehungsarbeit leisten“, sagt Anna. „Dadurch hat man eine gewisse Vorbildfunktion und möchte von den Schülern ernst genommen werden.“ Knut-schen, Händchen halten und Privatangelegenheiten aller Art hält Anna im Klassenzimmer für fehl am Platz. Die Beziehung begann im Frühjahr 2012 an einer weiterführenden Schule im Ruhrgebiet. Peter arbeitete seit wenigen Wochen als Aushilfsleh-rer und wollte in seiner Freistunde einen Kaffee trinken. Anna fiel ihm im Lehrerzimmer auf, daher sprach er sie an. Eine halbe Stunde später saßen sie in einer gemütlichen Cafeteria um die Ecke. „Ich fand ihn sehr intelligent und humorvoll“, erin-nert sich die junge Lehrerin. Eine Woche später sind sie wieder gemeinsam ins Café gegangen. Und auch die Woche danach. „Als ich nach ein paar Wochen festgestellt habe, dass er neun Jahre jünger ist, war ich zuerst bestürzt“, sagt Anna. „Er sah ja älter aus und wirkte sehr reif.“ Doch nach dem ersten Schock sei der Altersunterschied kein Problem für das frisch verliebte Paar gewesen. In den Schulferien war es soweit: Sie waren zum ersten Date verabredet. In einem Theater. „Seitdem wollten wir uns nicht mehr trennen“, erzählt Peter. Von der Beziehung erfuhren anfangs nur beste Freunde. Selbst Arbeitskollegen bekamen nichts mit. Erst einige Monate später tauchten Anna und Peter zusammen auf einer Lehrerveranstaltung auf, Hand in Hand. Sie flirteten und küssten sich. „Die Kollegen waren nur etwas überrascht. Es war aber kein Schock für sie, uns zu-

sammen zu sehen“, sagt Anna. Denn im Kollegium gäbe es noch weitere Pärchen, die durch die

Schule zusammengekommen seien. „Das ist das Schöne an diesem Beruf“, sagt

Anna, „man arbeitet zwar am selben Ort, aber trotzdem hat jeder sei-nen eigenen Wirkungsbereich.“

Und Peter ergänzt: „So kommt man sich gegenseitig nicht in die Quere und hat keine Reibungspunkte.“

28job

Obwohl sich das Paar in der Schule zurückhaltend verhalten hat, wollte es sich in seiner Freizeit nicht verstecken müssen. Prompt wurden sie beinahe erwischt: „Wir sind auseinander gesprungen, als wir die Schüler gesehen haben“, sagt Anna. Doch diese schie-nen nichts mitbekommen zu haben. „Es ist auf jeden Fall nie rumgegangen“, schmunzelt Peter. Denn oft verbreiten sich Ge-rüchte nach dem „Stille-Post-Prinzip“: „Wenn ein Schüler etwas Neues erfährt, dann weiß es am nächsten Tag die ganze Schule“, sagt Anna. Dass Anna und Peter ihre Beziehung verheimlichen müssen, stört die beiden nicht. „Wir waren uns von Anfang an einig, dass wir den Arbeitsplatz und die Beziehung trennen werden“, sagt Anna. Mittlerweile klappe das ganz gut. „Schule ist nicht das einzige Thema, über das wir uns unterhalten können“, sagt Peter. Selbst wenn es um die Arbeit gehe, so habe man in vielen Sachen Verständis und könne sich gegenseitig Rat geben.

Egal, ob ein kleiner Flirt oder eine feste Beziehung, das Paar solle dies zunächst für sich behalten, empfiehlt Berufscoach Albers. So könne unnötiger Klatsch und Tratsch vermieden werden. Spätes-tens, wenn das Paar über eine gemeinsame Zukunft nachdenke, können Kollegen und Vorgesetzte davon erfahren.

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Noch ist die Tanzfl äche leer. Doch in ein paar Stunden wird Patrick für gute Stimmung sorgen, damit hier ordentlich gefeiert, getanzt und gefl irtet werden kann.

Das Licht ist sein Job und langjähriges Hobby. Nachts gegen elf Uhr beginnt die Schicht. Die Nebelmaschine wird aufgefüllt, die Lichtanlage überprüft, Rechner und Pult werden hochgefahren. Die Steuerung von Lichtpulten sei eine Kunst, erzählt Patrick. Man könne es lernen, aber ohne Talent komme man nicht aus. „Kreativität, Taktgefühl und Gespür für Farben werden für diesen Job benötigt“, sagt der 31-Jährige.

Bevor Patrick zur Arbeit fährt, macht er sich zunächst Gedanken über seinen Auftritt: „Man will sich ja dem Publikum anpassen.“ Heute steht „normales“ Diskothek-Programm auf dem Plan. Schlichtes T-Shirt, Jeans und Dreitagebart sollten am besten passen, meint der Maschinenbau-Student.

Die Leistungen eines LJs sind nicht immer ersichtlich: Ganz oft werden „Lichtmacher“ mit einem DJ verwechselt. Anfangs muss-te Patrick Gästen, die mit einem Liedwunsch zu ihm kamen, er-klären, dass er fürs Licht, nicht für die Musik verantwortlich sei. Mittlerweile hat er eine Alternative dafür gefunden: „Ich schicke sie einfach mit Blicken oder Gesten zum DJ weiter.“ Pause macht Patrick nicht, er kann die Lichtanlage höchstens fünf Minuten automatisch laufen lassen, wenn er ein Getränk holen will oder auf die Toilette muss. Danach macht er sofort weiter.

TEXT&FoTosOlga KOurOva

ES WERDE LICHTLightjockey, Lichtwechsler, Operator oder einfach LJ:

Es gibt viele Bezeichnungen für diesen Job, der als Beruf wenig bekannt ist.

Seit drei Monaten macht Patrick Wiemar Licht im Dortmunder „Rush Hour“.

Es ist ein anstrengender Job, mehrere Stunden muss der Student stehen. Doch für Patrick ist das kein Problem: Er tanzt hinter dem Pult mit und animiert das Publikum. Und das kommt gut rüber, sagt er. Feedback ist dem 31-Jährigen sehr wichtig. „Wenn ein schickes Salsa-Lied läuft, eine Frau auf dem Podest tanzt und mir dabei winkt, dann ist es der Moment, in dem ich denke, dass ich alles richtig gemacht habe“, sagt Patrick. Als LJ macht man zunächst eine Probeschicht, zeigt, was man kann und erhält eine entsprechende Gage. Sein Lohn liegt bei circa 70 Euro pro Schicht. „Das ist normal“, sagt er, „dafür, dass ich mit der modernen Licht-Technik praktisch von Null angefangen habe“. Vor zehn Jahren habe er bereits in die Lichtkunst herein-geschnuppert. LED, Licht-Leinwände und Mischpulte habe es damals noch nicht gegeben. Daher musste er sich erst von Grund auf einarbeiten.

Mittlerweile ist es fünf Uhr morgens. Die Lichter werden langsam heller und die Musik leiser: Feierabend. „Wenn alle weg sind, setze ich mich für fünf Minuten hin, lasse die eintretende Ruhe auf mich wirken und genieße einfach die leere Halle“, sagt Patrick. Spaß mache ihm sein Nebenjob immer. Auch wenn einige Gäste um sechs Uhr morgens immer noch vor dem Pult

tanzen und weiter feiern wollen. „Irgendwo ist man auch stolz darauf, dass ihnen der Abend gefallen hat.“

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TEXT&FOTOSALEXANDRA OSSADNIK ILLUSTRATIONPHILIPP SCHULTE

Das Internet quillt über vor Selbstmachanleitungen. Über Blogs und Facebook-Gruppen

werden Ideen ausgetauscht. Der Do-It-Yourself-Trend erlebt derzeit ein Revival.

Zwei Studentinnen der Ruhr-Unis erzählen von ihrer Woll- und Bastelleidenschaft.

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31leben

enn Vera Ahrweiler es in der Vorlesung vor gäh-nender Langeweile nicht mehr aushalten kann und die Müdigkeit sie zu übermannen droht, greift sie

kurzerhand zur Nadel. Die 24-Jährige ist süchtig. Nach Wolle, sagt sie von sich selbst. Seit dem Sommersemester 2011 hängt sie schon an der Nadel. Sie hat eine abgeschlossene Berufsaus-bildung zur Buchhändlerin und studiert im fünften Semester allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der RUB. Und wenn sie mal abschalten möchte, holt sie kurzerhand ihr Wollknäuel aus der Tasche und häkelt Blumen, Mützen und kleinere Kleidungsstücke. Die Gründe fürs Selbermachen sind so unterschiedlich wie die Menschen und ihre jeweiligen Hobbys. Dabei ist Selbermachen ganz und gar nicht so neu. Es ist schon seit Jahrzehnten bekannt und wird mal mehr und mal weniger intensiv ausgeübt. Nun erlebt es als neuer Trend ein Revival. Das demonstriert derzeit auch die DASA Dortmund in der Ausstel-lung „Do It Yourself – Die Mitmachrevolution“, die noch bis

zum 28. April 2013 läuft. Mithilfe von alten, aber selbst herge-stellten Stücken wird die lange Geschichte des Do-It-Yourself anschaulich gemacht und der Besucher auf eine Reise durch die vergangenen Jahrzehnte entführt. Angefangen mit den ersten Heimwerkermärkten, über die Punkbewegungen und ihre Upcycling- bzw. Recyclingwelle, über den günstigen Möbelkauf mit eigenständigen Aufbau bis hin zum den heutigen Fachlaien in allen Lebensbereichen.

Häkelblumen gegen Unistress

Angefangen hat alles im vergangenen Winter, als Vera in ihrer neu bezogenen Wohnung saß und eigentlich an einer Hausarbeit für die Uni arbeiten sollte. „Da hatte ich aber keine Lust zu und habe dann überlegt, dass ich ja eigent-lich immer schon häkeln lernen wollte“, sagt die Studentin, die einer ehemaligen Mitschülerin in den Pausen immer fasziniert beim Häkeln zugeschaut hatte. Sie klemmte

sich vor den PC, fand zwischen Tutorials zu biologisch wertvollem Batiken und Ideen für aufwendige Bauernzöpfe auch Häkelanleitungen. Unzählige Häkelblumen häkelte sie anfänglich, um Übung zu bekommen. Mittlerweile traut sie

sich auch an größere Werke wie Mützen und Schals heran. Ih-rer Mutter häkelte sie 24 kleine Dinge für den Adventskalender, darunter auch einen Weihnachtbaum aus bunter Wolle.

Eine andere Leidenschaft hat Melanie Franzen (23) aus Duis-burg für sich entdeckt: Sie pinselt Statements und Bilder auf Jutetaschen. Etwa eine Herzen erbrechende Frau, die auf diese Weise der Welt ihren Liebeskummer zeigt, oder die vom Wind davongetragenen Pusteblumensamen, die für lebenslange Sorglo-sigkeit stehen sollen. Die Soziologie-Studentin hat viele kreative Ideen, die sie in Zukunft noch auf die schlichten Stoffbeutel bannen möchte. Damit auch möglichst viele ihrer Statements in die Welt gelangen, möchte sie die Beutel verkaufen. Zuerst kauften nur Freunden die Taschen. Neuerdings präsentiert sie diese auf ihrer Facebook-Seite, Simpletons Serenade, über die In-teressenten Kontakt zu ihr aufnehmen können. „Mit dem Beutel kann man durch die Straßen laufen und seine Meinung offen kundtun, während man shoppt. Und weil es teilweise von mir selbst ausgedachte Motive sind, wird man kaum jemanden mit derselben Tasche sehen, weil ich sie meist nach den Wünschen des Abnehmers gestalte“, sagt Melanie.

Einige Motive sind so beliebt, dass sie diese mehrfach verkauft, wie die vor Liebeskummer erbrechende Frau. „Das versteht jeder, der schon mal in dieser Situation war, sofort und ohne Worte.“ Vera kann ohne ihre Nadel das Haus heute nicht mehr verlassen. „Früher war es das obligatorische Buch, das ich immer in der Tasche dabei hatte. Heute sind es Häkelnadel und Wollknäuel. Bücher kommen heute bei mir viel zu knapp, ich lese kaum noch“, sagt die gelernte Buchhändlerin. Mittlerweile hat sie unzählige Mützen für Freunde, Bekannte und Kollegen gehäkelt. Und wenn Veras Freund mal wieder rummosert, weil sie abends lieber häkelt anstatt auszugehen, versöhnt Vera ihn mit Mützen und Pullovern für seine Lieblingsplüschente.

Selbstgemachtes heiß begehrt

Individualität ist scheinbar ein wichtiger Punkt, nicht nur für Melanie, sondern für ihre Generation. Die Flohmärkte fl orieren, DIY-Anleitungen in Magazinen und auf Blogs nehmen kein Ende. Die Deutschen scheinen ihren Ideen freien Lauf zu lassen und möchten ihre Werke an den Mann bringen. Auch Melanie. „Immer wenn ich was im Internet gesehen habe, oder mir eine Idee unterwegs kam, habe ich das sofort notiert, gemalt, abfo-tografi ert oder ähnliches“, sagt sie. Später werden diese Anre-gungen zu konkreten Motiven gestaltet und mit Textilstiften auf

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Taschen gemalt. Auf Flohmärkten und per Mundpropaganda hat sie bei Freunden schon Erfolg mit ihren Taschen. Eine ande-re Möglichkeit zum Verkaufen ist DaWanda, der Onlinemarkt-platz für Selbstgemachtes. Mit über zwei Millionen registrierten Nutzern ist DaWanda der größte Marktplatz für Selbstgemach-tes. 2008 - etwa zwei Jahre nach Gründung - waren es noch 160 000 registrierte Nutzer. „Der Vergleich zeigt: der Trend hin zu einzigartigen Produkten fernab der Massenware ist nach wie vor ungebrochen“, sagt Dorothea Loritz, Pressesprecherin von DaWanda. Der Grund für den starken Boom scheint ein ganz simpler zu sein: „Immer mehr Menschen wissen die Beson-derheit von einzigartigen Produkten zu schätzen, die jenseits der industriellen Massenproduktion gefertigt wurden. Gefragt sind Artikel, die nicht am Fließband, sondern auf eine nach-haltigere und persönlichere Weise produziert wurden“, sagt sie. „Gerade in Zeiten, in denen Erwerbstätigkeit häufi g Arbeit am Computer bedeutet, macht es glücklich wenn man am Ende des Arbeitsprozesses ein fertiges und greifbares Objekt in den Händen hält.“

Melanie malt nicht nur, sie bastelt leidenschaftlich gern, möchte demnächst auch selbstgemachten Schmuck anbieten. Abgeguckt hat sie sich alles von ihrer Mutter, die einen prall gefüllten

Bastelkeller hat, in dem sie individuelle Geschenke und Glückwunschkarten herstellt. Bis vor etwa zwei Jahren hat Melanie nur gebastelt, wenn sie für einen beson-deren Anlass selber ein Geschenk oder eine 3D-Karte

brauchte. Neuerdings gestaltet sie sogar Holz, in Form von Bilderrahmen oder Schmuckkisten.

Ob im edlen Used-Look oder schlichtem Weiß - was sie zur Hand nimmt, wird ein universelles Kunstwerk.

Demnächst soll sie einem Bekannten ein komplettes DVD-Rack aus Holz schreinern. Noch ist das Basteln und Bemalen für Melanie nur ein Hobby, doch was die Zukunft bringt, weiß sie noch nicht. „Ich kann mir vorstellen, mich selbstständig zu machen und meine Mama mit ins Boot zu holen. Sie ist näm-lich sehr perfektionistisch und mit ihrem Keller voller Kram und Krempel hätten wir die nötige Grundausstattung schon da“, sagt sie. Reich werden kann Melanie mit ihrem Hobby momentan nicht, das ist auch nicht ihr Ziel. Die Einnahmen aus ihren Verkäufen setzt sie sofort um in neue Bastelmateriali-en: Embossingpulver, Lackfarben und Textilstifte sind hochwer-tig und kostspielig. Meist gibt sie ihre fertigen Arbeiten sogar nur mit kleinem Gewinn ab, zum Freundschaftspreis eben. Vera hat es da ein wenig leichter. Wolle kann sie im Euroshop be-kommen, für teure Wolle ist sie zu geizig. „Ich bin immer noch Anfängerin und muss meine Arbeiten öfter wieder aufribbeln. Darunter leidet die Wolle und dafür ist sie mir viel zu schade.“ Wenn ihr für ihre Häkelstücke Geld angeboten wurde, lehnte sie bisher immer ab. „Ich freue mich viel mehr über die Freude des Beschenkten als über jedes Geld.“

32leben

Melanie verkauft ihre selbstbemalten Taschen erfolgreich auf Flohmärkten und im Netz.

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Aufgeregt und mit zitternden Händen sitzt man im Audimax,

die große Klausur am Semesterende steht an. Die ersten Aufgaben klappen ganz gut, doch plötzlich: Nichts mehr, einfach nur Leere im Kopf. Obwohl man drei Wochen lang für diesen einen wichtigen Tag durchgepaukt hat, kann man sich auf einmal nicht mehr erinnern. Von einem „Blackout“ sprechen jetzt viele Studenten, das ist wissenschaftlich aber nicht ganz richtig.

Das Wort Blackout wird nur umgangssprachlich verwendet, Psychologen sprechen eher von extremer Prüfungsangst. Und diese Panik hat zwei verschiedene Komponenten: Einerseits kann der Student in der Klausur physische Angst bekommen, was sich durch Händezittern und Herzrasen bemerkbar macht. Andererseits gibt es die psychische Angst, die laut Studien viel bedeutender für das plötzliche Vergessen ist.

Sorgen, Zweifel und negative Gedanken –all das überlagert einzelne Gedankenpro-zesse und die Leistung fällt ab. Davon sind aber nicht alle Prüfungsfächer gleich betroffen. Denn in Gebieten, in denen der Stoff nur wiedergegeben werden muss, kann einem die Angst wenig anhaben: Das gilt zum Beispiel für aus-wendig gelernte Geschichtsdaten – die kann der Prüfl ing auch unter enormer Prüfungsangst herunterbeten.

Schwierig wird es bei Fächern, in denen Kreativität gefordert ist und In-halte angewendet und verknüpft werden müssen: Denn Angst blockiert die Kreati-vität. Deswegen ist es zum Beispiel in der Literatur und Kunst besonders schwierig, unter Panik Leistung zu zeigen. Von einem „Blackout“ gefährdet sind aber

SAG MAL, PROF

besonders solche Studenten, die Angst vor der Angst haben: Denn

so entsteht eine Art Kaskade, also eine Reaktionskette, die die Situation

immer weiter verschlimmert. Hier hilft nur noch eins: der Gedankenstopp. Nicht mehr

negativ denken und die Angst als einen Teil von sich selbst akzeptieren – nur so lernt der Prüf-

ling, mit der Situation klarzukommen.

Damit es aber erst gar nicht zu der extremen Prü-fungsangst kommt, können Studenten vor der Klausur

schon einiges tun: Zum einen können sie schon vorher mit älteren Studenten, der Fachschaft oder dem Prüfer

selbst reden. So schaffen sie sich ein Gefühl der Kontrolle. Zum anderen ist es wichtig, so früh wie möglich mit dem Pauken anzufangen. Ein Lernplan mit kleinen Einheiten und vielen Pausen gibt dem Stoff die Chance, ins Langzeitgedächt-

nis abzurutschen. Denn paukt man den Stoff nur nach dem sogenannten „Bulimie-Lernen“ –

also zwei Tage vor der Prüfung, werden die Inhalte nur im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert und sind somit nur einen Tag abrufbar. Die Lernforschung zeigt, dass diejenigen Studenten am wenigs-ten von der extremen Prüfungsangst betroffen sind, die kontinuierlich und semesterübergreifend lernen.

Wer also die Angst als Teil von sich selbst akzeptiert, früh mit dem Lernen anfängt und Pausen macht,

ist klar im Vorteil – und sitzt das nächste Mal nicht mit zitternden Knien

und negativen Gedanken im Audimax.

Ricarda Steinmayr, Professorin für Pädagogische Psychologie an der TU Dortmund

33studium

PROTOKOLL/FOTOKATRIN EWERT

Das Wort Blackout wird nur umgangssprachlich verwendet, Psychologen sprechen eher von extremer Prüfungsangst.

sind aber nicht alle Prüfungsfächer gleich

halte angewendet und verknüpft werden müssen: Denn Angst blockiert die Kreati-vität. Deswegen ist es zum Beispiel in der Literatur und Kunst besonders schwierig,

schon einiges tun: Zum einen können sie schon vorher mit älteren Studenten, der Fachschaft oder dem Prüfer

abgespeichert und sind somit nur einen Tag abrufbar. Die Lernforschung zeigt, dass diejenigen Studenten am wenigs-ten von der extremen Prüfungsangst betroffen sind, die kontinuierlich und semesterübergreifend lernen.

ist klar im Vorteil – und sitzt das nächste Mal nicht mit zitternden Knien

und negativen Gedanken im Audimax.

Ricarda Steinmayr, Professorin für Pädagogische Psychologie an der TU Dortmund

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34leben

W ir wurden rausgeschmissen“, sagt Carl Djerassi nüch-tern über die Flucht ins Exil. Sein Blick ist durch-dringend, aber dennoch warm. Er spricht Deutsch

mit österreichischem Akzent, ab und an fehlen im die deutschen Worte. Seit er in den USA lebt, spricht er fast nur Englisch. Auf Fragen antwortet er ausführlich, fast schon philosophisch. Doch das ist gewollt: Er weiß genau, wie er sich der Sprache bedient, immerhin steht er seit 60 Jahren in der Öffentlichkeit. Carl Djerassi, der neben der Naturwissenschaft auch in der Literatur erfolgreich ist und Theaterstücke schreibt. 21 Ehrentitel für seine wissenschaftlichen Leistungen hat er bereits bekommen, eine Ehrendoktorwürde gab es 2009 von der TU Dortmund für seine literarischen Werke. Er ist es gewöhnt zu reden, über die sozialen Veränderungen durch die Pille oder sein aktuelles Buch. Über das Thema Heimat spricht er dagegen nicht gerne, denn es berührt ihn. „Es ist unmöglich seine Heimat wiederzuerhal-ten, wenn man sie verlassen musste. Ja, ich würde sagen, ich bin heimatlos“, erzählt Djerassi nachdenklich. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er nicht einfach nach Wien zurückkehren können. Als Jude musste er während des Dritten Reichs im Exil abseits

von Europa leben, wenn er überleben wollte. Er fand sich damit ab, Amerikaner zu sein, Englisch zu sprechen, in den USA zu arbeiten und zu heiraten. Für ihn ist Deutsch zwar seine Mut-tersprache, aber Englisch, das sei seine Heimatsprache gewesen: „ Es zählen die Beziehungen, die man mit den Leuten vor Ort hat und die die Leute mit einem haben. Das ist viel wichtiger als der geografische Zufall, irgendwo geboren zu sein.“ Genau diese soziale Bindung und das dazugehörige Heimatgefühl fand er in den USA, zumindest für einen gewissen Teil seines Lebens.

„Woher kommst du?“ – „Bulgarien“

Geboren und aufgewachsen ist Carl Djerassi in Österreich. Er lebte bei seiner Mutter, die Eltern waren geschieden. „Wien, ganz klar, war die ersten 14 Jahre meine Heimat“, erzählt er. Nach dem Anschluss Österreichs flohen Carl und seine Mutter in die USA, der Vater lebte in seinem Heimatland Bulgarien. In den USA angekommen, wollte Djerassi seine europäischen Wurzeln hinter sich lassen, wie er zugibt. Schon mit 17 Jahren

TEXTAnnA Friedrich FoTosPrivAt / AnnA Friedrich

Der Heimatlose1938 flieht der jüdische Junge Carl Djerassi mit seiner Mutter aus Wien in die USA. Dort erfindet

er die Anti-Baby-Pille und wird zu einem der bekanntesten Wissenschaftler der Welt. Doch eins

hat ihn sein Leben lang begleitet: das Gefühl, dass ihm seine Heimat genommen wurde.

Carl Djerassi als österreichischer Pfadfinder im Jahr 1935 (li.), mit dem damaligen US-Präsidenten

Richard Nixon 1973 (re. unten) und beim Besuch an der TU Dortmund im Dezember 2012 (re. oben).

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35leben

besuchte er eine Universität in einem kleinen Ort in Mississip-pi, dessen Einwohner noch nie einen Immigranten, Juden oder Europäer gesehen hatten. Seine Mutter arbeitete im Staat New York, nur im Sommer trafen sie sich. Ununterbrochen wurde Djerassi gefragt: „Woher kommst du?“ Seine Antwort: „Bulgari-en“. Als Grund für sein Auswandern sagte er, dass seine Eltern in den USA ausgebildet werden wollten. Djerassi war, wie so viele Immigranten, von den Ereignissen in Europa traumatisiert und wusste nicht, ob und wie antisemitisch die Amerikaner waren. Zwar gab er zu, jüdisch zu sein, wechselte dann aber rasch das Thema. „Bulgarien war die einfachste Antwort“, sagt Djerassi. „Die meisten hatten noch nie von dem Land gehört, wussten nicht einmal, dass es in Europa liegt.“

Ob er sich an Freunde aus seiner Schulzeit in Wien erinnern kann? Djerassi schweigt. Er überlegt. Dann erinnert er sich dar-an mit den „Burschen“ aus der Schule Fußball gespielt zu haben. Und dann fällt ihm sein Schulfreund Alfred Bader ein, ein Che-miker und Kunstsammler, den er als Erwachsener in den USA wiedergetroffen hat. Im Gegensatz zu Carl erinnere sich Alfred gut an die gemeinsame Kindheit, erzählt Djerassi. Alfred erzählte von Pokerabenden und alten Schulfreunden. Doch zu denen hat Djerassi keinen Kontakt. Er wollte sich, wie er sagt, vollständig von Wien abkoppeln. Die Universität in Missis-sippi war weit weg von der Ostküste, wo die meisten Immigranten lebten. Er habe sich als Amerikaner gefühlt, nicht als Europäer, geschweige denn als Wiener. Er hatte neue Freunde in den USA, es gab also keine Notwen-digkeit, Kontakt mit seinen alten Schulfreunden in Österreich zu halten. „Als Alfred und ich uns getroffen haben“, erzählt Djerassi, „nannte er mich Carli, so wie in unserer Kindheit. Er ist die einzige Person, die ich kenne, die mich Carli nennt.“ Es hätte sich angefühlt, als würde er von einem anderen Menschen sprechen, nicht von Carl Djerassi.

Hätte man ihn vor 20 Jahren gefragt, hätte Djerassi gesagt, er sei Amerikaner und nur zufällig in Wien geboren. Heute ist die Antwort komplizierter, gibt er zu. Er hat angefangen, wieder drei bis vier Monate im Jahr in Wien zu leben. Den Rest des Jahres verbringt er auf seinem Anwesen in San Francisco oder in seiner Londoner Wohnung. Warum Wien? Immerhin könnte er auch woanders wohnen. Warum das Land, aus dem er einst geflohen ist? „Meine europäischen Wurzeln sind nicht mehr versteinert, es wurde genügend Wasser auf sie gegossen, besonders in politi-scher Hinsicht. Während der Amtszeit von Präsident Bush habe ich mich geschämt, Amerikaner zu sein“, gibt Djerassi zu, „das hat mir geholfen, meine europäische Seite wiederzuentdecken“.Diese gefühlte Heimatlosigkeit gibt Djerassi seiner Meinung nach eine Art von Unabhängigkeit, die andere nicht haben. Er erzählt von seinen schönen Häusern, Wohnungen und Anwe-sen in London, San Francisco oder Wien und von dem Luxus, da sein zu können, wo man sein möchte. Nach London zog es ihn, weil dort seine späte große Liebe lebte, die er mit 62 Jahren heiratete. Als sie vor fünf Jahren verstarb, beschloss er, sich neben

London und San Francisco einen dritten Wohnsitz zu suchen, um nicht mehr andauernd mit den Erinnerungen an sie kon-frontiert zu werden. Die Entscheidung fiel auf Wien, Stadt seiner Geburt und Kindheit.

Im Dezember 2012 bekam er dort, an der Universität, die auch schon seine Eltern besuchten, einen Ehrendoktortitel in den Naturwissenschaften. „Sie müssen mir den Titel nun schenken. Es ist eine Art Reparationszahlung“, sagt er, ohne eine Regung, „hätten Sie ihn mir nur für die Wissenschaft gegeben, hätten sie das vor 30 Jahren machen müssen. Seitdem schreibe ich nur noch Literatur. Sie bezahlen mich dafür, dass sie mir die Heimat genommen haben.“

Heute sehe er sich als amerikanischen Wissenschaftler, der in den USA ausgebildet wurde und dort gearbeitet hat. Chemie-Vorträge könne er nur auf Englisch halten. Viele Formeln kenne er gar nicht auf Deutsch. Aber als Schriftsteller, da ist er Euro-päer. Bücher erinnern ihn an seine Kindheit. Vielleicht sei das der Grund, dass er sich in dieser Hinsicht europäisch fühlt. Auf die Frage, ob er nun Amerikaner oder Wiener sei, antwortet er: „Ich bin ein amerikanischer Wissenschaftler, ein amerikanischer Wiener oder ein Wiener amerikanischer Schriftsteller“.

Ob er sich einsam fühle? „Ja, total“, gibt er zu, „die Behandlung für die Einsamkeit ist das verrückte Leben, das ich führe. Ich bin ein totaler Workaholic, arbeite sieben Tage die Woche. ‚Ferien‘ ist ein schmutziges Wort“. Und genau der Einsamkeit wegen schreibt er Theaterstücke, denn da sei er nie allein. Die Perso-nen, die er erfindet, führen die ganze Zeit Dialoge - zwar nur in seinem Kopf, aber trotzdem sprechen sie. Sie haben Charaktere, die sich weiterentwickeln. Schreiben als Therapie für Einsamkeit.

Vor einigen Monaten hat er seine dritte Autobiografie fertig gestellt. Titel: „Der Schattensammler“. Und genau über diese dunklen Schattenseiten seines Lebens spricht Djerassi: „In den letzten 20 Jahren habe ich mich sehr verändert. Ich will mich nicht mehr schöner präsentieren, als ich wirklich bin. Und da ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube, ist es jetzt Zeit, auch die negativen Sachen zuzugeben.“ Eines der Kapitel heißt „Heimat(losigkeit)“. Doch obwohl ihm seine eigentliche Heimat genommen wurde, hat er trotzdem eine eigene Heimat gefun-den, die nur ihm gehört: Nämlich die professionelle. Als Carl Djerassi, der Wissenschaftler und Schriftsteller.

„Meine europäischen Wurzeln sind nicht mehr versteinert.“

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36raus

Kulturgebiet

Auf dem Weg zur B1 umrunden ihn Tag für Tag unzählige Menschen. Was also ist am Kreisverkehr in der Emil-Figge-Straße, nahe dem Refa-Center, so besonders? Für mich ist er das Herzstück meiner Dortmunder

Zeit. Er vereint auf einen Blick alle Orte dieser Stadt, an denen ich so viel erlebt habe.

Wenn ich im Dunkeln zu meinem Wohnheim laufe, bleibe ich immer an „meinem“ Kreisverkehr stehen und sehe als erstes das hell erleuchtete Stadion. Dominant ragen die gelben Stahlträger in den Nachthimmel und lassen keinen

Zweifel, wie meisterlich Dortmund doch ist. Beim Blick auf das Westfalenstadion denke ich sofort an meine Zeit als stolze Dauerkartenbesitzerin und an die tollen Momente, die ich von der Südtribüne aus mit den „Dortmunder Jungs“ erlebt habe.

Dann versuche ich, unter den vielen Kirchtürmen den der Reinoldikirche auszumachen, den Ort, an dem ich meinem Freund zum ersten Mal begegnet bin. Ich sehe das U mit seinen futuristischen Lichtspielen und denke an meine beste Freundin und die Nacht, die wir damals dort im View zum Tag gemacht haben. Der Fernsehturm erinnert mich an so

manch heiße Nachmittage im Sommer 2010, die ich mit meinen Freunden im Westfalenpark zugebracht habe.

Für mich gibt es keine Zweifel: Der Kreisverkehr ist mein Lieblingsort. All meine geliebten Erinnerungen sind dort gesammelt. Menschen bereichern mein Leben, andere verlassen es vielleicht, aber wie es ein Kreis nun mal

an sich hat: Er vereint die Andenken an all diese Personen und die Momente in meinem Leben auf ewig.

Liebster PlatzTexTChristin Faisst Fotoanna FriedriCh

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37raus

1998: In meinem Briefkasten liegt die Einladung zum neunten Geburtstag meiner Freundin Juliane. Endlich! Jedes Jahr ist es etwas ganz Besonderes mit ihr zu feiern, denn sie hat immer die neusten CDs. Dieses Mal ist es die neue „Bravo Hits“. Wir singen und tanzen, spielen Mini-Playback-Show. Ein Lied hatte es mir besonders angetan: „Hit Me Baby One More Time“. Na-türlich habe ich kein Wort verstanden, meine Lippen nur dürftig zur Musik bewegt. Aber das machte keinen Unterschied. Ich war glücklich. Und für die nächsten Jahre waren Britney und ich unzertrennlich. Jede Woche war ich im Plattenladen um nach neuen CDs von ihr Ausschau zu halten. Durch die Bravo erfuhr ich zwar von Alben und Maxi-CDs, doch einem eingefl eischten Fan wie mir reichte das nicht aus. Es mussten schon die Special Editions sein – neues Titelbild, dazu ein Bonustrack. Ich musste sie einfach alle haben.

Ebenso wie eine Karte für ein Britney-Konzert. Logisch. Und weil ich erst 13 Jahre alt war, begleitete mich meine Tante. Kreischende Teenies und überlaute Pop-Musik – das muss ein schlimmer Tag für sie gewesen sein. Ich hingegen konnte noch mehr Geld in die Marke Britney Spears stecken: Das größte Poster gehörte mir, obwohl an meiner Wand eh kein Platz mehr dafür war. Und das alles mit nur einem Ziel: So zu sein wie sie! Selbst zum Friseur ging ich immer mit einem Bild ihrer neusten Frisur und wehe, ich sah danach nicht aus wie sie! Mit 19 Jahren habe ich noch einmal ein Konzert meines Teenie-Stars be-sucht. Aber anders als sechs Jahre zuvor, holte mich die Realität ein: Britney sang nur Playback – und das auch noch ziemlich schlecht. Ich wette, dass selbst meine Performance auf Julianes Kindergeburtstag besser war. Aber trotzdem: Noch heute kann ich bei keinem ihrer Lieder wegschalten. Und wenn ihr in der Disko jemanden bei „Hit Me Baby One More Time“ laut Brit-neeeey schreien hört – dann bin das immer noch ich.

bandschriftlich

Abgehoben sind Axel, Mike und Pierre von „Wir heben ab!“ nicht. Ganz bodenständig kümmern sich die Deutsch-Rocker erst um ihre Ausbildungen, danach kann die ganz große Musikkarriere kommen. Die Jungs sind bei der langen Nacht der Jugendkultur 2011 als eine von zwei Siegerbands nach Hause gegangen. Als Auszeichnung durf-ten sie im Sommer 2012 das Park-Kult-Tour Festival in Duisburg eröffnen. Damit ist auch einer ihrer größten Wünsche in Erfüllung gegangen: Als Vorband von Thees Uhlmann zu spielen.

Peinliche PlattePROTOKOLLaLeXandra OssadniK FOTOWir heBen aB!TexTanna FriedriCh FOTOraChaeL PUrdY MONTAGeMOritZ tsCherMaK

Probehören auf pfl ichtlektuere.com

Unser Musikstil klingt wie ...

Wir machen Musik, weil ...

Mit dem Ruhrgebiet verbindet uns ...

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38raus

ohne Scham18., 22. und 28. Februar, Bochum, Theater

19.30, 19 bzw. 18 Uhr, Schauspielhaus, Theater Unten, Königsallee 15www.schauspielhausbochum.de

In „Jimi Bowatski hat kein Schamgefühl“ hat Jimi auch keinen Job mehr. Den will er sich aber zurückholen. Leider weiß er nicht so recht, wie er das anstellen soll. Zudem taucht sein Chef unter, und seine Frau

tröstet sich mit Luc vom Escortservice. Eine Komödie vom Ende des Kapitalismus, in überraschender, rauer, direkter Sprache.

12 Euro

Neues vom v-maNN

fOTOPrime entertainment

SeeeD28. Februar, Dortmund, KonzertEinlass 18 Uhr, Beginn 20 Uhr,

Westfalenhalle 1 Rheinlanddamm 200

www.westfalenhallen.de

Reggae, Dub und Dancehall kehren im Februar mit der Berliner Band Seeed in die Westfalenhallen ein. Bei neuen Hits wie „Augenbling“ und alten Klassikern

wie „Riddim No 1“ und „Dickes B“ rastet ihr Publikum regelmäßig aus. Legendär

sind auch die Tanzeinlagen der drei Sänger Enuff, Ear und Eased. 49,45 Euro im VVK

comicS23. Februar - 2. Juni 2013, Dort-mund, Ausstellung, 12 - 17 Uhr,

Museum für Kunst und KulturgeschichteHansastraße 3

www.mkk.dortmund.de

Umfangreicher denn je entsteht inDortmund die Ausstellung

„Winsor McCay - Comics, Filme, Träume“. Sie entführt in eine Welt der Träume,

Fantasie und Unbewusstsein. Mit Postkar-ten, Plakaten und Zeitschriften erzählt sie

auch von einem früheren New York. 6 Euro / ermäßigt 3 Euro

fOTO SchauSPielhauS BochumfOTOWolfgang volz

KolliSionen1. Februar - 1. April 2013, Dortmund,

Ausstellung, Di, Mi, Sa, So: 11 - 18 Uhr, Do, Fr: 11 - 20 Uhr, Museum Ostwall im U

Leonie-Reygers-Terrassewww.museumostwall.dortmund.de

In Zusammenarbeit mit der TU Dortmund zeigt das Museum Ostwall Videoinstallationen, Fotografien und eine

Installation aus den letzten 40 Schaffensjah-ren des Künstlers Hans Breder.Die Arbeiten sind bunt, skurril

und überraschend.5 Euro / ermäßigt 2,50 Euro

Schöne muSiK16. Februar, Dortmund, Party

23 Uhr, Ruby im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse

www.u-ruby.me

Zeitlos und unabhängig von Genres, das ist schöne Musik. Platten, nach denen manch-

mal Jahre gesucht wurde, legen die DJs Max Gyver, DJ AT und Smoove & Turrell auf. Darunter: Nu Funk, Soul, Adult Rap,

Roots und mehr.4 Euro

aufgeblaSen16. März -30. Dezember, Oberhausen, Kunst

Di - So sowie an Feiertagen: 10 - 18 Uhr, Gasometer

Arenastraße 11 www.gasometer.de

Vor 18 Jahren verhüllte er den Reichstag, ab März ist der Ausnahmekünstler Christo mit einem neuen Projekt in Oberhausen zu Gast. Im Innern des Gasometers entsteht

das „Big Air Package“ - eine riesige mit Luft gefüllte Hülle, 90 Meter hoch. Außerdem werden Werke von Christo und Jeanne-

Claude aus fünf Jahrzehnten gezeigt.9 Euro / ermäßigt 6 Euro

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39raus

fOTOfroDe & marcuS / ShoutoutlouDS.com

ShouT ouT louDS27. März, Köln, Konzert

Beginn 20 Uhr, Einlass 19 Uhr, Live Music Hall, Lichtstraße 30

www.livemusichall.de

Eineinhalb Stunden im Zug lohnen sich für die schwedische Indie-Rockband „Shout out Louds“ auf jeden Fall. Die Singles „Walls“ und „Fall Hard“ einfach aufs

Handy laden und beim Vortrinken im RE schon mal einstimmen.

22 Euro zzgl. Gebühr im VVK

fOTOX verleih ag

KinoSTaRT„Quellen des Lebens“

Start: 14. Februar 2013 Nachkriegs-Drama

Erwachsenwerden. Das sieht im neuen Generationen-Film von Oskar Roehler gar nicht so einfach aus. Und davon sind nicht

nur die Mitglieder der Familie Freytag betroffen, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland selbst. „Quellen des Lebens“ erzählt mitreißend, bewegend und mit viel Humor, wie sich Eltern, Kinder, Enkel und Urenkel einer Familie zusammen mit ihrer

Heimat verändern.

1949 kehrt Erich Freytag aus dem Krieg zurück und fi ndet nichts mehr so vor, wie es war. Glücklicherweise wird er mit seiner Gartenzwerg-Fabrik aber schon bald Teil des deutschen Wirtschaftswunders. Sohn Klaus träumt hingegen von einer Schrift-

stellerkarriere und verliebt sich in eine Journalistin, die ihn und das gemeinsame Kind früh verlässt. Robert wird auf eine lange Odyssee durch die eigene Familie und verschiedene Orte der Bundesrepu-blik geschickt, die erst endet, als er seine

Jugendliebe Laura wiederfi ndet. Doch wird die Liebe in Zeiten des lustigen Partnertau-

sches halten? Stars wie Mortiz Bleibtreu, Jürgen Vogel und Meret Becker geben sich die Ehre in diesem Heimatfi lm, der nicht nur viel über Deutschland, sondern auch

viel über uns selbst erzählt.

fOTOelKe terStegen [cc-BY-2.0, WiKimeDia commonS]

analogKaRaoKe

14. Februar, Dortmund, Party21 - 23 Uhr, Einlass 20.45 Uhr,

Daddy Blatzheim, Am Buschmühlenteich, Westfalenpark

www.daddyblatzheim.de

Mittlerweile sind die Blitzbangers aus dem Daddy Blatzheim nicht mehr wegzudenken.

Einmal im Monat kommen sie für zwei Stunden wilde Party aus Köln herüberge-

braust. Immer mit dabei: Ein ausgefallenes Feiermotto. Bei Analogkaraoke soll gegen die digitale Welt aus Einsen und Nullen

angesungen werden.4 Euro AK

22. Februar, Bochum, Konzert & Party22 Uhr, UntergrundKortumstraße 101

www.facebook.com/untergrundbochum

Hip Hop History 101: Ziemlich genau 20 Jahre ist es her, dass die South-Central-

Crew „The Pharcyde“ ihr Erstlings-Album „Bizarre Ride II the Pharcyde“ droppte; ein mittlerweile legendäres Stück Rap-Vinyl.

Zum Jubiläum kommen die Jungs nach Bo-chum, nach dem Konzert gibt’s noch Hip Hop und Funk vom Zwölfzehner. Bounce!

13 Euro zzgl. Gebühr im VVK

The PhaRcYDe

loRioT9. März, Dortmund, Theater

19.30 UhrGneisenaustraße 30www.rototheater.de

Loriots beste Sketche bringt das Roto-Theater auf die Bühne.

„Die Nudel“ und „Das Ei“ sorgen fürBeschwerden wie Bauchkrämpfe und

Lachtränen. Acht Schauspieler schlüpfen in mehr als 30 unterschiedliche Rollen.

16 Euro / ermäßigt 12 Euro VVK

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