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Schweizer Radio DRS: DOPPELPUNKT STAATSRAISON UND MORAL(2) : DAS SCHLOSS IN MERAN

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DOPPELPUNKTSTAATSRAISON UND MORAL : DAS SCHLOSS IN MERANHumanitäre Flüchtlingsmaskerade(Sonntag, 18. Januar 1998, 20.00 - 21.00, DRS1;Z: Mittwoch, 21. Januar 1998, 15.00 - 16.00, DRS2)_________________________________________________Hanspeter Gschwend und Shraga Elam

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DOPPELPUNKTSTAATSRAISON UND MORAL : DAS SCHLOSS IN MERANHumanitäre Flüchtlingsmaskerade

(Sonntag, 18. Januar 1998, 20.00 - 21.00, DRS1;Z: Mittwoch, 21. Januar 1998, 15.00 - 16.00, DRS2)_________________________________________________Hanspeter Gschwend und Shraga Elam

Signet: Doppelpunkt

Gd.: Das Papier, auf das Untersuchungsrichter Dordi am 9.August 1947 in Meran sein Urteil über die Anklagen gegen Schwend, van Harten, Crastan und Konsorten diktierte, erinnert daran, dass Italien noch vor kurzem, das heisst bis zum Zusammenbruch des Faschismus, formal ein Königtum war.

Sprecherin:

„Im Namen seiner Majestät, Vittorio Emanuele III, durch Gottes Gnaden und den Willen der Nation König von Italien und Albanien und Kaiser von Äthiopien“.

Gd.: So steht noch immer auf dem Formular gedruckt; dies alles ist jedoch durchgestrichen, und statt dessen mit Schreibmaschine ein gesetzt:

Sprecherin:

„Im Namen des italienischen Volkes“.

Gd.: Im Namen des italienischen Volkes also musste Untersuchungsrichter Dordi feststellen, dass Schwend Federico aus Triest und zur Zeit unbekannten Verbleibs, van Harten Antonio aus Amsterdam, zur Zeit unbekannten Verbleibs, Crastan Alberto, geboren in Pisa und wohnhaft in Meran, via Labers Nr.36, sowie einige Mitangeklagte mangels Beweisen freizusprechen waren. Angeklagt waren sie des Hortens rationierter Lebensmittel, des Schwarzhandels, der illegalen Herstellung und des Schmuggels von Grappa, des undeklarierten Besitzes von Automobilen, Ersatzteilen, Motoren, Treibstoffen und Schmiermitteln, möglicherweise der Herstellung und des Vertriebs von falschen englischen Pfundnoten und des Betrugs, indem sie sich falsche Dokumente beschafft hätten, die sie als Beauftragte des Internationalen Roten Kreuzes auswiesen.

Minutiös zählt der Richter auf, was bei einer Hausdurchsuchung in Schloss Rametz, dem Eigentum von Alberto Crastan, in der Nacht vom 25. auf den 26.Mai 1946 vorgefunden wurde, und dabei wird er vielleicht ins Träumen geraten sein, denn so kurz nach dem Krieg waren diese Waren rar, vermutlich auch für einen unbescholtenen Untersuchungsrichter.

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Sprecherin:

Zwei Kisten mit Silberwaren, eine Börse voll Siblergeld, eine grosse Kiste Filz, ein Blechfass mit etwa 150 Litern Olivenöl, ca. 70 kg Reis, 40 kg Weissmehl, 40 kg Teigwaren, ein weiterer Sack Weissmehl von ca. 100 kg, ein weiterer Sack Reis von etwa 25 kg, 35 kg Zucker, ein Stück Oberleder, ein Stück Schuhleder, sechs Rollen Kupferdraht, eine Rolle weisser Isolierdraht für Elektroinstallationen, all dies im Keller des Schlosses; in der Wohnung moderne Fotoapparate, ein eiserner Tresor, in dem sich 40 kg Zucker befanden, einige Besen, einige Radioapparate und eine wertvolle Briefmarkensammlung.1

Gd.: Viel weniger genau sind die Ausführungen betreffend die beiden wesentlicheren Delikte, nämlich das englische Falschgeld und die angebliche Fälschung von Rotkreuz-Ausweisen.

Der zuständige Polizeikommissar von Meran habe Schwend, van Harten, Crastan und Konsorten im Juni 1946 beschuldigt, im Auftrag der Reichsführung der SS und unter Leitung von Schwend Waren eingekauft und mit englischen Pfundnoten bezahlt zu haben, die sich als gefälscht erwiesen, heisst es im Urteil. Zentrum dieser Aktionen sei Schloss Labers, das Nachbarschloss von Crastans Schloss Rametz in Meran gewesen, und Schwend habe diese falschen Pfundnoten aus Berlin nach Meran ins Schloss Labers gebracht. Ausserdem hätten Schwend, van Harten, Crastan und Konsorten kurz vor dem Einmarsch der Alliierten unter dem Deckmantel des Internationalen Roten Kreuzes ganze Lastwagenladungen voll Waren verschoben und zeitweise in den beiden Meraner Schlössern eingelagert.

Doch für all dies fanden die Angeklagten Erklärungen, die der Richter für plausibel annahm, und er schrieb in der Urteilsbegründung:

Sprecherin:

Die verschiedenen obgenannten Anschuldigungen sind keineswegs in allen Punkten durch objektive und konkrete Beweise erhärtet, und sie werden allzuoft in Formen vorgebracht wie „man sagt, man hört, es wird festgehalten, es kann nicht bezweifelt werden“ (...).2

Gd.: Hat der Untersuchungsrichter wirklich keine Beweise finden können oder hat er keine finden wollen? Hat er vielleicht gar keine finden dürfen?

Crastan war Schweizer Konsularagent in Meran. Im Verlauf des Prozesses berichtete der Schweizer Konsul in Venedig der Schweizer Gesandtschaft in Rom:

Sprecherin:

Herr Crastan war längere Zeit in Untersuchungshaft, ebenso der Sohn eines hiesigen Landwirtes, der mitverwickelt war. Inzwischen sind beide, gegen Kautionsstellung, auf

Schweizer Radio DRS, 03.01.-1,
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freien Fuss gesetzt worden, und man nimmt an, dass der Versuch im Gange ist, durch Bezahlung alles niederzuschlagen.3

Gd.: Andere Dokumente belegen, dass viel mehr hinter den Anklagepunkten steckt, als in der Untersuchung des untergeordneten Meraner Richters zum Vorschein gekommen ist, und dass da Fäden in einem Knotenpunkt zusammenliefen, die an unterschiedlichsten Orten gesponnen wurden und noch einmal Stoff für die Frage liefern, die wir in einer Woche im „Doppelpunkt“ diskutieren werden - die Frage: Kann Politik nach moralischen Kriterien geführt werden? Oder etwas differenzierter: Unter welchen Bedingungen kann sie das nicht?

Versuchen wir also zunächst einmal, die Fäden, die in Schloss Labers und zum Teil in seinem Nachbarschloss Rametz zusammenlaufen, aufzunehmen und in das grössere Gewebe der Politik am Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz danach einzulegen.

Untersuchungsrichter Dordi liefert uns dazu den Einstieg:

Sprecherin:

Während der deutschen Besetzung unserer Region hatte sich ein Kommando der SS in Schloss Labers (...) installiert. Angesichts der unerbittlichen Strenge in der Umgebung der SS konnte natürlich niemand wissen, was in diesem Schloss vor sich ging. Doch zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr 1944 begann in Meran und Umgebung das Gerücht durchzudringen, dass in diesem Schloss gefälschtes Geld fabriziert werde, unter anderem Englische Pfundnoten. Führer der Gruppe im Schloss war Schwend, welcher nach der Befreiung [Norditaliens] verschwand und offenbar unauffindbar blieb.4

Gd.: Ueber Crastan, den Eigentümer des Nachbarschlosses Rametz, rapportierte die italienische Polizei, man habe in Meran gesagt, er habe gute Beziehungen zu den Deutschen gehabt, ja, man habe sogar von Kollaboration mit der SS gesprochen - ein Vorwurf, der umso schwerer wiegt, als Crastan Jude war.5

Sprecherin:

Von van Harten weiss man nicht genau, woher es ihn nach Meran hereingeschneit hat; auch nicht, was er machte. Tatsache ist lediglich, dass er in den letzten Kriegsmonaten ein Büro des Internationalen Roten Kreuzes eingerichtet und erklärt hat, er stamme aus Ungarn und sei mit dem Aufbau dieses Büros beauftragt.6

Gd.: Soweit die nicht zufällig ungenauen, aber im Kern zutreffenden Angaben des Untersuchungsrichters Dordi über die Personen, deren Aktivitäten der Publizist Shraga Elam für „Doppelpunkt“ und für die Zeitschrift „Cash“ nachgegangen ist.

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Sprecher:

Beim im Gerichtsurteil von Meran erwähnten Schwend, handelte es sich um SS-Sturmbanführer (Oberstleutnant) Friedrich Paul Schwend,

Sprecherin:eine der führenden Gestalten der sogenannten "Aktion Bernhard", die auf Befehl Himmlers englische Pfundnoten und später auch amerikanische Dollar gefälscht haben. Es wurden 134 Millionen Pfund gefälscht ... Diese Fälscherei entstand im KZ Sachsenhausen. (...) Hier wurden Geldscheine im Wert von fünf, zehn, zwanzig und fünfzig Pfund gedruckt. Weiter wurden .... amerikanische Personalausweise, amerikanische Schiffsbriefe, Kaufverträge mit Brasilien, holländische Geburtsurkunden usw. gefertigt.(...)Schwend wurde für die Distribution und den Verkauf der gefälschten Banknoten verantwortlich.7

Sprecher: Das gefälschte Geld sollte während des Krieges zur Destabilisierung Englands führen, aber auch der Finanzierung verschiedener geheimdienstlicher Tätigkeiten dienen. Nach dem Krieg wurden damit die SS-Fluchtwege - die sogenannte „Rattenlinie“ - entscheidend mitfinanziert. Die beiden Schlösser in Meran bildeten dabei eine wichtige Station an der von Untergrundorganisationen benützten Brenner-Linie von Österreich in das noch weitgehend chaotische und für illegale Aktivitäten ideale Italien, das Ausgangspunkt für die Flucht nach Südamerika, den USA und auch nach Palästina war. Denn interessanterweise diente die gleiche 'Meransche' Infrastruktur auch der illegalen jüdischen Auswanderung. Dass zwei so verschiedene Flüchtlingsgruppen - also Opfer und Täter - jeweils unter dem gleichen Dach hausten, konnte unmöglich ein Zufall sein.

1947 hatte der amerikanische Geheimdienstagent Vincent La Vista einen Bericht verfasst, der bis 1984 streng geheim gehalten worden war. La Vista hatte den Auftrag, die Infiltration von sowjetischen Agenten über Italien nach den USA zu ermitteln. Bei dieser Arbeit entdeckte er die Fluchtrouten von Naziverbrechern und Juden und verfolgte die Rolle, die seiner Ansicht nach der Vatikan und - wissend oder nichtwissend - das Internationale Rote Kreuz spielte. La Vista widmete in seinem Bericht einen ganzen Abschnitt der „Rattenlinie“ über Meran - ein Abschnitt, der die Verflechtungen der Meraner Aktivitäten erahnen lässt, und der zeigt, dass die Gerüchte in Meran über die Kollaboration von Albert Crastan, dem Besitzer von Schloss Labers, nicht aus der Luft gegriffen waren. Crastan, so schreibt La Vista,

Sprecherin:war während des Krieges Agent einer SS-task-force, "Schloss Labers" oder auch "Wendig-Gruppe" genannt, welche Oberst Friedrich Schwend unterstand. Schwend war direkt Kaltenbrunner und Himmler gegenüber verantwortlich. Vier andere jüdische Agenten dieser Gruppe sind auf freiem Fuss. Ein gewisser Jaac van Harten, zur Zeit wohnhaft in der Hayarkon-Strasse 184 in Tel-Aviv/Palästina, verlangt von der Amerikanischen Regierung fünf Million Dollar für Eigentum, das nach Kriegsende in Meran konfisziert worden war. Dabei handelte es sich um Beute der SS-Gruppe, die in Schloss Rametz und Schloss Labers, Schwends Hauptquartier, und in andern Gebäuden in Meran eingelagert war. Teil dieser Beute ist eine grosse Anzahl gefälschter britischer Pfundnoten. (...) Ein anderer Agent Schwends ist Carlo Lovioz, ebenfalls Jude und ex-Chef der "Banca Commerciale" in London. ... Dieser hat einen Bruder, der die "Basler

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Bank" in der Schweiz leitet. Bei den anderen beiden handelt es sich um die Gebrüder Manser. (...) Es ist interessant zu bemerken, dass Crastan, Van Harten und die Mansers alle das Internationale Rote Kreuz als Deckmantel benützen. (...) Die genauen Beziehungen zwischen dem Rest von "SCHLOSS LABERS" und dem jüdischen Untergrund sind im Moment nicht bekannt, aber es scheint eine Verbindung zu existieren.8

Sprecher: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wuchs für die Nazis die Notwendigkeit, ihre Raubgüter in Sicherheit zu bringen und die Fluchtwege für die Verbrecher aufzubauen. Für diese Zwecke mussten Verbündete im Lager der Feinde, dass hiess bei den Alliierten und bei den Juden, gefunden werden.

Unter anderem suchten SS-Leute den Kontakt zum US-amerikanischen Nachrichtendienst-Vertreter in Bern, Allen W. Dulles - dem späteren Chef der CIA übrigens. Allen Dulles und sein Bruder, John Foster Dulles, waren bekannte und zuverlässige Wirtschaftsanwälte. John Foster Dulles hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht bei der Ausarbeitung und Verwirklichung eines Schuldenkarussells, das es den Deutschen ermöglichte, mit amerikanischen Banken ihre Reparationszahlungen an die Briten und Franzosen zu begleichen, Gleichzeitig wurde Deutschland zu einem interessanten Investitionsstandort für die aufkommenden amerikanischen Grossunternehmen. Die Gebrüder Dulles hatten also vorzügliche Beziehungen sowohl zu den wichtigsten amerikanischen als auch deutschen Wirtschaftskreisen, und diese gingen auch nach der Machtergreifung Hitlers weiter - die Geschäfte von Standard Oil, General Motors, ITT und anderen Firmen mit den Nazis haben wir im „Doppelpunkt“ vor einer Woche erwähnt.

So wurde Allen Dulles nach seiner Stationierung in Bern Ende 1942 wieder zu einer Anlaufstelle für verschiedene deutsche Staatsbürger. Einer der ersten war Prinz Maximilian von Hohenlohe, ein Delegierter Himmlers, der mit einem Sonderfriedensangebot vorstellig wurde. Es folgten weitere Vorstösse in dieselbe Richtung – allen gemeinsam war das Ziel, den Krieg zu beenden und eine gemeinsame antikommunistische Front aufzubauen.

Am 25. Februar 1945 traf sich der italienische Baron Luigi Parilli, der über gute Verbindungen sowohl zur SS als auch zum Vatikan verfügte, mit Allen Dulles. Er kam im Auftrag von SS-General Karl Wolff, welcher Norditalien kontrollierte. Die Verbindung zu Dulles stellten zwei Schweizer her, Max Husmann, Rektor des Zugerberger Knabeninstituts Montana, und der Schweizer Nachrichtendienstmajor Max Waibel. So begann die 'Operation Sunrise'. Das Abkommen war rein militärisch bedeutungslos, weil es erst wenige Tage vor dem tatsächlichen Kriegsende unterzeichnet wurde. Seine Verfechter behaupten aber, dass es die norditalienische Industrie vor der deutschen Politik der 'verbrannten Erde' bewahrte. Was die SS dabei offensichtlich erreichte, sind verschiedene Abmachungen, die die Sicherheit ihrer Leute und ihrer Beute betrafen.

Major Waibel berichtete, dass ihm General Wolff eine Liste der Orte übergab, wo die SS ihre gestohlene Ware versteckt hielt. Waibel wiederum leitete diese Zusammenstellung an Dulles weiter. Darunter befanden sich kostbarste Kunstschätze aus Italien, wertvolle Gemäldesammlungen - u.a. auch die Goldsammlung des Königs. Vermutlich war diese Liste nicht vollständig, weil genügend Beweise dafür sprechen, dass die SS haufenweise Raubgüter für sich behielt. Nebenbei erwähnte Waibel, dass auch die Operation von SS-

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Offizier Schwend in Meran - also die im La Vista Report erwähnte Nazi-Geldwäschereianlage - den Schutz dieses Abkommens genoss.11

Die Kontakte der SS zu Allen Dulles können erklären, warum der zu Beginn dieses „Doppelpunkt“ erwähnte Prozess gegen Schwend, Crastan, van Harten und Konsorten mit einem selbst für den Schweizer Konsul in Venedig zweifelhaften Freispruch endete. Damals schrieb ein Mitglied der Schweizer Kolonie in Meran, ein gewisser Alexander Kinkelin, an das Konsulat in Venedig:

Sprecherin:Es scheint, dass die beschlagnahmte Ware von Dritten zum Teil in der Folge weiter verschoben worden ist und dass nunmehr auch diese Dritten eine Interesse daran haben, dass kein Prozess abgeführt werde.In den Zeitungen ist über die Sache nicht mehr geschrieben worden und ebenso wird in der Öffentlichkeit nicht mehr darüber gesprochen.9

Sprecher: Wer waren diese „Dritten“? Jedenfalls gelang Schwend nach dem Krieg unter dem Schutz der USA die Flucht nach Peru, wo er mit einem anderen, ebenfalls von den USA gedeckten Naziverbrecher, dem Gestapo-Chef von Lyon, Claus Barbie, in verschiedenen Finanzgeschäften zusammenarbeitete. Er konnte sich sogar erlauben, im Jahr 1978, zwei Jahre vor seinem Tod, Schloss Labers nochmals aufzusuchen, das unterdessen zum Dreisternhotel geworden war.10

Dass Schwend amerikanischen Schutz genoss, geht aus Dokumenten zur „Operation Sunrise“ hervor, bei welcher Allen Dulles Vermittler war.

Gd.: Was wir bisher berichtet haben, klingt verwickelt. Die Wirklichkeit ist noch viel verwickelter. Wir haben uns im wesentlichen auf vier Namen beschränkt: Auf Schwend, den SS-Oberstleutnant, der in Schloss Labers das Kommando innehatte und sich dann nach Peru absetzte; auf Crastan, den Kollaborateur und Schlossbesitzer; auf Van Harten, von dem wir bisher nur wissen, dass er in die Geschäfte der beiden verwickelt war, und auf Allan Dulles, den amerikanischen Geheimdienstmann in Bern. Was haben die Aktivitäten dieser Männer mit unserem Thema zu tun, dem Thema „Staatsraison und Moral“? Sie haben mit diesem Thema insofern zu tun, als diese Aktivitäten ohne zumindest die Duldung, wenn nicht Förderung der involvierten Staaten und anderen Mächte nicht möglich gewesen wären.

Schwend, Crastan und van Harten waren in Aktivitäten verwickelt, die zum einen mit Bereicherung und zum andern mit Flucht zu tun hatten. Es ging um die Rettung bzw. Verschiebung von Kriegsbeute, es ging um den Aufbau eines antikommunistischen Bollwerkes, und es ging um die Flucht von Menschen - Menschen, die Täter waren, und Menschen, die Opfer waren. Die Route für flüchtende Nazis über den Brenner aus Zentral- und Osteuropa durch Italien nach dem südlichen und nördlichen Amerika wurde Rattenlinie genannt in Anlehnung an das Bild der Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Damit dieser Fluchtweg benutzt werden konnte, musste mit jenen kooperiert werden, welche in dem chaotischen Nachkriegsitalien das Sagen hatten. Das waren vor allem die Amerikaner, das war in gewisser

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Weise auch der Vatikan, und wiederum in gewisser Weise war es auch das Internationale Rote Kreuz. Daneben gab es die Jewish Agency, legale und illegale jüdische Flüchtlingsorganisationen sowie Flüchtlingsagenturen von Ländern wie zum Beispiel Ungarn.

Die Kooperation von Nazis mit den Amerikanern durfte nicht offen sein; als Deckmantel konnten jedoch jene Institutionen benutzt werden, die sich offiziell um die - in Anführungszeichen - „richtigen“ Flüchtlinge kümmerten, um die Kriegsopfer. Das Rote Kreuz stellte Pässe aus, mit denen die Weiterreise aus Italien möglich wurde, und der Vatikan unterhielt verschiedene Organisationen, die zu diesen Pässen verhalfen. Diese Wege wurden nicht nur von den Opfern, sondern auch von Tätern benützt.

Der amerikanische Geheimdienstagent Vincent la Vista, der, Sie erinnern sich, die Aufgabe hatte, die Benützung dieser Wege durch Sowjetspione zu ermitteln, berichtet, wie leicht es war, diese Wege zu benutzen. Er heuerte Agenten an, welche vorgaben, Flüchtlinge zu sein. Dies tat er zum Beispiel bei einer vom Vatikan gesponserten ungarischen Agentur. La Vista war persönlich gegenwärtig, als seine beiden Agenten bei dem persönlich unbescholtenen, aber, wie la Vista schreibt, sentimentalen alten Verantwortlichen der Agentur, Pater Gallov, vorsprachen.

Sprecherin:

Meine beiden Männer erschienen in Vater Gallovs Büro ohne jegliche Ausweispapiere, Pass oder sonstige Dokumente und erzählten in perfektem Ungarisch, sie seien soeben aus einem Arbeitslager in der russisch besetzten Zone nach Italien gelangt. Sie behaupteten beide, aus einem kleinen ungarischen Dorf zu stammen und bei Bombardierungen ihre ganze Familie verloren zu haben. Der eine Agent spielte seine Rolle so gut, dass er zusammenbrach und weinte, und Vater Gallov trötsete ihn und versicherte ihm, er würde helfen.

Gd.: Der eine Agent bestätigte die Wahrheit dessen, was der andere erzählt hatte, und erklärte sich bereit, eine eidesstattliche Erklärung zu unterzeichnen, mit Hilfe derer der andere vom Internationalen Roten Kreuz einen Pass erhalten konnte.

Sprecherin:

Pater Gallov schrieb die eidesstattliche Erklärung von Hand in ein vorgedrucktes Formular, Die Erklärung war kurz, enthielt das Geburtsdatum, Taufdatum, den Namen der Kirche und andere einschlägige Fakten über das Leben des einen Mannes in Ungarn. Der zweite Agent unterschrieb die Erklärung und beschwor vor Pater Gallov deren Richtigkeit. Dieser schrieb dann eine kurze Notiz an das Internationale Rote Kreuz und schickte den Mann in dessen Büro an der Via Gregoriana.12

Gd.: La Vista schildert dann, wie der fiktive Flüchtling ohne weiteres einen Rotkreuz-Pass erhielt, ausgestellt auf eine Weise, die übrigens sehr leicht zu fälschen war.

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La Vista bezeichnet den Vatikan als die grösste illegale Fluchthelferorganisation im damaligen Italien, die jüdischen Agenturen als die zweitgrösste. Nach der Veröffentlichung seines Reports 1984 entbrannte in der New York Times und in der Jerusalem Post eine heftige Debatte um die Richtigkeit dieser Aussage. Wie auch immer: Der wichtigste Fluchthelfer, der mit demVatikan zusammenarbeitete, ein in Rom ansässiger deutscher Arzt Namens Dr.Nix, hielt im Verlauf dieser Debatte fest:

Sprecherin:

Weder ich noch sonst jemand konnte in dem Chaos, das in jenen Tagen herrschte, als Europa voll war von Menschen, die ohne Dokumente fern von ihrer Heimat waren, verhindern, dass jemand ungerechtfertigterweise durchschlüpfte.13

Gd.: Wichtig ist in unserem Zusammenhang das Motiv, das La Vista für die behauptete illegale Fluchthilfe des Vatikans angab, nämlich die Verbreitung und Festigung des katholischen Glaubens und der Kampf gegen die Ausbreitung des Kommunismus.

Der Kampf gegen den Kommunismus bestimmte schon zu Ende des Weltkriegs zunehmend die Politik der westlichen Alliierten, vor allem der USA. Es war der Beginn des Kalten Krieges. Mit diesem Motiv lässt sich teilweise erklären, warum die USA auf der einen Seite die Fluchtwege für Sowjetspione stopfen wollte, für gewisse Ex-Nazis aber offenhielten - und damit sind wir wieder beim Stichwort „Staatsraison und Moral“.

Shraga Elam sieht dasselbe Motiv auch für eine andere Sorte von Fluchthilfe, die Hilfe zur Kapitalflucht.

Sprecher:

Es gibt einige renommierte angelsächsische Autoren, die, gestützt auf zahlreiche Hinweise, hartnäckig behaupten, dass Allen Dulles, seine Mitarbeiter, aber auch der Vatikan gegen Kriegsende und vor allem danach sehr besorgt darum waren, den Deutschen bei deren Kapitalflucht behilflich zu sein. Eine gängige Erklärung dafür ist die Anstrengung, den antikommunistischen Kampf aufzubauen und zu finanzieren.

Diese Gelder sollten nicht nur der Finanzierung von subversiven Elementen in Osteuropa, sondern auch von antikommunistischen Parteien, wie den Christdemokraten in Italien und der CDU in Westdeutschland, dienen. Die behauptete zentrale Rolle von Allen Dulles bei der Nazigeldwäscherei deutet zusätzlich auf Anstrengungen, die guten Arbeitsbeziehungen zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Grossindustrie wiederherzustellen.

Der Schweizer Banken- und Industriekomplex konnte von dieser Politik profitieren, denn er sollte eine zentrale Rolle in der neuen Weltordnung der Nachkriegszeit spielen. Darum wurde der Schweizer Banken- und Industriekomplex nach dem Krieg von der Dulles-Fraktion auch in Schutz genommen, und alle jene Beweise, die heute ein angeblich 'neues' Licht auf die schweizerischen Hehler-Dienste für Nazi-Deutschland werfen,

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wurden damals neutralisiert.

Gd.: Nach wie vor sind viele Fakten nicht erhoben oder werden bewusst verdeckt. Viele bekannte Fakten sind aber auch sehr unterschiedlich interpretierbar. Wir haben in der ersten Folge unserer „Doppelpunkt“-Serie „Staatsraison und Moral“ gesagt, dass die Interpretationen von Interessen bestimmt seien. Auch dies muss nicht immer der Fall sein. Es gibt Fakten, die in sich widersprüchlich oder mindestens uneindeutig sind, und insbesondere sind dies Menschen. Eine der Personen, bei welchen der Unterschied zwischen einer moralischen Aktion, nämlich der Rettung von Flüchtlingen, und kriminellen Handlungen, nämlich Menschenhandel und Kollaboration, nicht offen ersichtlich ist, ist Jaac van Harten, der dritte Mann der Leute von Schloss Labers, die 1947 in Meran angeklagt und freigesprochen wurden. Dazu Shraga Elam:

Sprecher:

Jaac van Harten wurde 1901 angeblich als Yaacov Levi geboren. Unter falscher Identität lebte er bis 1938 als holländischer Schmuck- und Antiquitätenhändler in Berlin, danach lebte er mit seiner Familie in Montreux. 1940, auf dem Weg nach Palästina, blieb die Familie in Budapest stecken; sie überlebten dort den Krieg, indem sie sich als Nichtjuden ausgaben.

Van Harten soll schon 1940 Rettungsaktivitäten für polnisch-jüdische Flüchtlinge aufgenommen haben. 1942 wurde er durch die Vermittlung von Graf Polke Bernadotte, dem Leiter der schwedischen Rotkreuzvertretung und Nazisympathisanten, Mitabeiter des Schwedischen Roten Kreuzes. 1944, nach dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn, kam van Harten in Kontakt mit dem SS-Oberstleutnant Kurt Becher, den wir im „Doppelpunkt“ vor einer Woche als Enteigner und Erpresser der Industriellenfamilie Weiss und als Verhandlungspartner von Saly Mayer auf der Brücke von Sankt Margrethen kennengelernt haben. Er soll Becher als Experte für geraubte Kunstwerke gedient haben und durfte, erklärte er später, als Gegenleistung sogenannte SS-Schutzwerkstätten für Juden führen - nach dem Modell, dass wir aus dem Film "Schindlers Liste“ kennen.14 Van Harten will es auch gewesen sein, der Becher auf die Idee gebracht hat, Verhandlungen zur Freilassung von Juden aufzunehmen.

Berichte an Nathan Schwalb, den Verbindungsmann einer zionistischen Hilfsorganisation in Genf, bestätigen, dass van Harten auch Beziehungen zu jüdischen Aktivisten aufgenommen hatte. Er will unterdessen zum Delegierten des Intenationalen Roten Kreuzes aufgestiegen sein und mit der Fälschung von Stempeln und Schutzpapieren Juden vor der Deportation nach Auschwitz geschützt haben.

Nach Meran zog van Harten Ende 1944. Dort setzte er sich für die jüdischen Häftlinge im KZ von Bozen ein. Er behauptete später, er habe für die SS die Kontakte mit Allen Dulles in der Schweiz aufgebaut und habe die Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge in Bozen verbessern und sie sogar vor der Deportation nach Auschwitz bewahren können. In seinen Gesprächen mit Dulles will van Harten erreicht haben, dass die Region Cortina d’Ampezzo und Meran von den alliierten Bombardierungen verschont wurde, indem er ihm mitgeteilt habe, dass sich dort über 50'000 englische und amerikanische Kriegsgefangene befänden.

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Als Ende April 1945 die Alliierten nach Meran kamen und Schwend untergetaucht war, hatte van Harten das Sagen in Schloss Labers. Er nahm Kontakt mit einem Offizier der jüdisch-britischen Brigade auf, Alex Doron, und schlug diesem die Errichtung einer jüdischen Transitstation im Schloss vor. Er versorgte Fluchthelfer unaufgefordert mit Geld - mit gefälschten englischen Pfundnoten. Der Agent Schalheweth Freier:

Sprecherin:Ich weiss nicht, ob man wusste [dass van Harten SS-Kollaborateur war], ob man das nur vermutete oder ob es erst später herauskam...... Wir brauchten Geld, und obwohl unsere Zentrale [in Palästina] dies nicht wünschte, wollten wir sein Geld haben.16

Sprecher: Nach einer Auseinandersetzung mit einem amerikanischen Nachrichtenoffizier über die in den Meraner Schlössern eingelagerten Raubgüter wurde van Harten verhaftet und ein Jahr lang, bis 1946, in amerikanischer Gefangenschaft gehalten. Damals suchte der Agent Shalhevet Freier van Hartens Gattin in Meran auf:

Sprecherin:In Meran fand ich Frau van Harten mit sehr vielen Koffern. (...) In den Koffern entdeckte ich Pakete voll gefälschten Geldes. (...) [Ausserdem waren da] ganze Pakete von Schmuck. (...) Ich glaube, die Erklärung dazu lautete, es handle sich um Juwelen, sie [die van Hartens] von Juden zur Aufbewahrung bekommen hätten. Es wurde beschlossen, Frau van Harten nach Palästina zu holen und dieses Vermögen zu übernehmen.15

Sprecher: 1973 starb van Harten in Tel Aviv.Die hier geschilderte Darstellung seiner Aktivitäten zur Rettung von Juden stützt sich auf van Hartens Aussagen im Nachhinein. Seine damalige Korrespondenz weicht in manchen Details davon ab. Kein Zweifel besteht, dass er sich für Juden eingesetzt hat, und kein Zweifel besteht, dass er mit der SS kooperierte. Der zionistische Agent Joel Palgi, der gegen Kriegsende nach Budapest eingeschleust worden war, sagte klipp und klar:

Sprecherin:Van Harten arbeitete in der Organisation der Gestapo zur Verteilung der gefälschten britischen Pfundnoten mit, und er war auf der andern Seite ein angeblich „guter Jude“, denn er half hie und da dem Untergrund.18

Sprecher: Die Unterstützung der zionistischen Agenten nach dem Krieg muss als Versuch van Hartens gesehen werden, sich noch rasch Schutz vor der Verfolgung durch die Alliierten zu beschaffen. Doron und andere Agenten setzten sich denn auch massiv und mit Erfolg für seine Befreiung aus der amerikanischen Gefangenschaft ein.

Gd.: Das Beispiel van Harten kann das moralische Dilemma illustrieren, in das Einzelpersonen ebenso geraten können wie Organisationen oder Staaten - das Dilemma, das entsteht, wenn in einer von Unmoral bestimmten Situation eine moralische Handlung gefordert ist. In diesem Dilemma befand sich zum

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Beispiel auch das „Joint“. Shraga Elam:

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Sprecher:

Aus dem „La Vista-Report“ geht hervor, dass das „American Jewish Joint Distribution Committee“ in Italien mit gefälschten Papieren handelte und auch vor dubioser Klientel nicht Halt machte. So wird ein Nazi namentlich erwähnt, der bei seiner Flucht Hilfe dieses Komitees erhielt.

Gd.: Ein Fall, der zeigt, wie komplex das moralische Dilemma sein kann, dass es aber auch Verhaltensweisen geben kann, die nur noch von einem psychologischen Dilemma jenseits von Moral her erklärt werden können, oder aber von einer politischen Logik jenseits von Moral, ist die Kasztner-Affäre. Für jene Hörerinnen und Hörer, die den „Doppelpunkt“ vor einer Woche gehört haben, ein kurzer Rückblick, für die andern eine gedrängte Einführung:

Der ungarische Zionist Rudolf Israel Kastner wurde 1944 Leiter des jüdischen Rettungskomitees, das zur unfreiwilligen Partnerorganisation Eichmanns in der Abwicklung der Deportation der ungarischen Juden wurde. Als Leiter des Rettungskomitees wurde Kastner auch wichtiger Verhandlungspartner von SS-Oberstleutnant Kurt Becher - desselben Becher, der die ungarischen Industriebetriebe in die Hand der SS erpresst hat, desselben Becher, dem Van Harten als Kunstexperte diente und ihn zum Handel „Juden gegen Geld und Waren“ inspiriert haben will; desselben Becher, der in dieser Sache mit Saly Mayer auf der Brücke von Sankt Margrethen verhandelt hat - und desselben Becher, der im Nürnberger Prozess freigesprochen und danach in Bremen reicher Getreidehändler wurde.

Kastner spielte in den Becherschen Menschenhandels-Angeboten eine viel zentralere Rolle als van Harten. Kastner verhandelte an der Seite von

2 ibid., S.73 23.1.1947, Bundesarchiv E 2200.26 (-) -/3 Bd.24 Venedig, Konsulat, E 2200...,S.85 ibid., S.96 ibid., S.97 Aus Hlas Revoluce, 30.10.76, Archiv Sachsenhausen, R33/13/48 La Vista Report, May 15 1947, Appendix C, p.4, US National Archives, Record Group 59, FW800.0128//5-

15471 1 Major i.Gst.Max Waibel, Die geheimen Verhandlungen über die Kapitulation der deutschen Wehrmacht in

Italien (21.Februar - 2.Mai 1945), 1946, Bundesarchiv E27/9540 Bd.59 Brief A.Kinkelin, Meran, 6.5.47 an das Schweizerische Konsulat in Venedig, Bundesarchiv E2200.26 (-)-/3

Bd 21 0 Ralph Blumenthal, The Secret of Schloss Labers, NYTimes, 22..6.86, Late City Final Edition, section 10,

p.19, column 11 2 La Vista Report, S.31 3 New York Times, 23.2.84, Late City Final Edition, section A, p 8, column 11 4 Interview mit Nana Nosinow-Sagi, Institute of Contemporary Jewry, Oral History Dept, Hebrew University,

23.9.67, Haganah-Archiv 93.231 6 Siehe Anm.141 5 ibid,17.7.1966, Haganah-Archiv 197.261 8 Interview mit Adir Kohen, 18.12.59, Haganah-Archiv, 165-26

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Becher mit Saly Mayer. Kastner war es, der mit der Organisation des später nach ihm benannten legendären Zuges, des „Kastner-Zuges“ eben, nach langen Bemühungen und einer ungewissen Reise über das Uebergangslager Bergen-Belsen rund 1'700 Menschen die Flucht in die Schweiz ermöglichte. Kastner hat Anteil an dem Erfolg, dass rund 200'000 Juden in Ungarn von der Deportation verschont blieben. Und trotzdem wurde Kastner in einem Prozess in Israel als Kollaborateur mit der SS bezeichnet und vor seiner Entlastung durch das Oberste Gericht im Jahr 1957, von einem angeblich „ehemaligen“ Mitarbeiter des israelischen Staatsschutzes, Zwi Eckstein, umgebracht.

Dazu nun Hintergründe und Interpretationen von Shraga Elam:

Sprecher:

Als die Sowjetarmee Ungarn von den Deutschen befreite und SS-Oberst Becher sich absetzen musste, nahm er eine Gruppe reicher jüdischer Ungarn mit sich, die er gegen Abtretung ihres Vermögens vor der Vernichtung verschont hatte. Sie sollten ihm als Alibi seiner Menschlichkeit dienen, wenn er den Soldaten der Alliierten begegnen würde. Einer dieser Zeugen war Mosche Schweiger, welchen Becher auf die Bitte Kastners aus dem KZ Mauthausen geholt hatte.

Als Becher tatsächlich auf die Amerikaner stiess, übergab er Mosche Schweiger einige mit Wertobjekten gefüllte Koffer zuhanden der Jewish Agency, der Vorläuferorganisation der israelischen Regierung - den sogenannten Becher-Schatz. Es handelte sich um das Lösegeld, das die Reisenden des Kasztner-Zuges für ihre Fahrt in die Schweiz bezahlt hatten.

Über den genauen Wert dieses Schatzes gab es später grosse Auseinandersetzungen. In einem Brief vom 21. Oktober 1945 schrieben Kastner und Schweiger:

Sprecherin:

Der von den Deutschen geforderte Gesamtbetrag wurde nie ausbezahlt. Wir haben die abgelieferten Werte auf acht Millionen siebenhundertfünfzig tausend Schweizer Franken geschätzt; die Deutschen behaupteten, dass sie nur 3.8 Millionen wert seien. Diese Kontroverse wurde nie beigelegt.19

Sprecher: Der Becher-Schatz wurde den Amerikanern ausgehändigt. Erst 1947 gelangte er zu den Vertretern der Jewish Agency nach Genf. Eine Kontrolle ergab, dass er nur noch einen Wert von circa 55,000 US Dollar ergab. Er enthielt auch gefälschte englische Pfundnoten.

In der Untersuchung, wo die vermissten Vermögenswerte verblieben waren, fiel selbstverständlich der erste Verdacht auf Becher. Aber auch Kastner und Schweiger wurden der Veruntreuung verdächtigt. Eine dritte Variante war, dass die Vermögenswerte von Unbekannten in den zwei Jahren bis zur Rückgabe im Jahre 1947 geraubt worden wären. Das Rätsel wurde bis heute nicht gelöst.

1 9 Central Zionist Archives (CZA) S53/2128

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Trotz der ‘grosszügigen' Rückgabe des erpressten Lösegeldes landete Becher in Gefangenschaft der Alliierten.

Gd.: Soweit folgt alles der Logik menschlicher Ueberlebensstrategie und Raffgier. Nun aber begann sich bei Kastner die Entwicklung abzuzeichnen, hinter der entweder eine geheimnisvolle psychische oder aber eine politische Logik steckt. Diese Entwicklung betraf Kasztners Beziehung zu Becher - zu jenem Mann, der mitverantwortlich war für die verzweifelte Situation in Ungarn im Frühjahr 1944, als Kasztner an Nathan Schwalb nach Genf schrieb:

Sprecherin:

Während diese Zeilen geschrieben werden, ist das ganze Land - ausserhalb ... von Budapest - bereits ohne Juden.....Du wirst also meine Seelenlage verstehen .... Der Traum des grossen Planes [das heisst des Handels „Blut gegen Waren“] ist ausgeträumt. Hunderttausende gingen nach Auschwitz in einer Weise, dass sie bis zum letzten Moment nicht im Klaren waren, worum es sich handelt und was vor sich geht. Wir, die es eben wussten, versuchten, uns dagegenzusetzen, aber nach 3½ monatigem erbitterten Kampfe muss ich feststellen, dass wir eher der Entfaltung der Tragödie und deren unaufhaltbarem Rennen zuschauten, ohne dagegen nur irgendwas von Bedeutung vornehmen zu können.20

Gd.: Zu der seltsamen Entwicklung im Verhältnis Kastners zu Becher weiter Shraga Elam:

Sprecher:

Im September 1945 gab Kastner vor einer US-Amerikanischen Untersuchungskommission in London eine Erklärung ab, in welcher er Becher, zusammen mit anderen SS-Offizieren, die mit jüdischen Organisationen verhandelt hatten, als Kriegsverbrecher bezeichnete, die nun angesichts der deutschen Niederlage ein Alibi suchten.

Im Januar 1946 aber erklärte Kastner plötzlich, dass Becher sich nicht für die Juden eingesetzt habe, nur um sich ein Alibi zu verschaffen. Ausserdem habe er auch bei Himmler interveniert, um die Vernichtungsmaschinerie zu stoppen.

Im August 1947 fuhr Kastner sogar nach Deutschland, um Becher in einer eidesstattlichen Aussage als einen der wichtigsten Judenretter zu bezeichnen. Nachdem dann Becher im Dezember 1947 aus der Gefangenschaft entlassen worden war, hatte er sich vor einem der Entnazifizierungsgerichte in Nürnberg zu rechtfertigen. Dort stellte Kastner ihm und anderen hohen SS-Offizieren im Mai 1948 wiederum einen sogenannten Persilschein aus. Unter diesen SS-Schergen befanden sich General Hans Jüttner, der Kommandant aller Konzentrationslager, und ein Mitarbeiter Eichmanns, Hermann Krumey, ein Schreibtischtäter, auf dessen Konto etwa 3 Millionen jüdischer Opfer gehen sollen.

Im Sommer 1952 forderte ein aus Ungarn stammender Mann namens Malkiel Grünwald in einem Pamphlet:

2 0 Schwalb Archiv

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Sprecherin:

Dr. Rudolf Kastner muss liquidiert werden!

Seit drei Jahren warte ich auf den Moment, diesen Karrieristen vor Gericht zu bringen. Dieser profitiert bis heute von den Raub- und Mordtaten Hitlers. Wegen seiner kriminellen Machenschaften und seiner Kollaboration mit den Nazis..., sehe ich ihn als indirekten Mörder meiner lieben Brüder...21

Sprecher:

Die israelische Regierung sah sich veranlasst, zu reagieren. Denn Kastner, der inzwischen in Israel lebte, war Mitglied der regierende Mapai, der Vorläuferin der heutigen Arbeiterpartei, geworden. Er wurde Sprecher des Handels- und Industrieministeriums und Chefredaktor der ungarischsprachigen Zeitung, ausserdem kandidierte er bei den damaligen Parlamentswahlen.

Im Namen der Regierung reichte der Staatsanwalt am 25. Mai 1953 eine Ehrverletzungsklage gegen Grünwald ein.

Der Prozess fand immense öffentliche Aufmerksamkeit, denn diese Affäre bot der rechten Opposition die Chance, die regierende Mapai der Kollaboration mit den Nazis zu bezichtigen.

Am 22. Juni 1955 verkündete der Richter Benyamin Halevi das Urteil: Er befand Kastner der Kollaboration mit den Nazis für schuldig und schloss:

Sprecherin:Kastner verkaufte seine Seele dem Satan.

Sprecher: Für dieses harte Urteil gab es zwei zentrale Gründe:

Zeugen berichteten, dass Kastner und seine Mitarbeiter gewusst hätten, dass die Deportationen mit der Vernichtung in Auschwitz endeten, doch sie hätten die Juden nicht gewarnt. In Cluj, der Heimatstadt Kastners, hätten sie sogar Postkarten von Deportierten verteilt, welche die paradiesischen Zustände am neuen Ort schilderten. Damit seien die Juden ermutigt worden, in die wartenden Deportationszüge zu steigen.

In seiner Urteilsbegründung stellte der Richter fest, dass diese Aktion die Folge eines Deals zwischen Kastner und der SS war. Kastner durfte einige hundert Menschen aus Cluj - darunter seine Grossfamilie - retten, aber dafür musste die Mehrheit der 18'000 Juden dieser Stadt nach Auschwitz.

Ein zweiter entscheidender Punkt für die Verurteilung Kastners war dessen vorhin erwähnte Aussage zugunsten Bechers in Nürnberg. Denn für den Richter war Becher eindeutig ein Kriegsverbrecher.

Dem Gericht lag auch ein Brief Kastners aus dem Jahr 1948 an den damaligen israelischen Finanzminister, Eli'ezer Kaplan, vor. Dieser Brief zeigte, dass Kastner zu Becher nach Nürnberg gereist war und von ihm verschiedene Hilfeleistungen zur Rückgabe von Vermögenswerten an die Jewish Agency erhielt.22 Diese Vermögenswerte

2 1 Zitiert nach Shalom Rosenfeld, Kriminalakte 124, der Prozess Grünwald-Kastner, Tel Aviv 1955, S.16f2 2 CZA Handakten Pozner, P-12-63

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befanden sich hauptsächlich auf Schweizer Banken. Doch der Richter zog diese Aktion im Interesse Israels nicht in Betracht.

Er schenkte allerdings auch den Berichten, wonach Kastner dicke Koffer voll Gold, Diamanten, Schmuck usw. in die Schweiz geschmuggelt hätte, keinen Glauben. Der bescheidene Lebensstandard Kastners liess nicht auf eine Bereicherung schliessen. Was war denn also das Motiv, das Kastner veranlasst hatte, für Becher und Konsorten in Nürnberg entlastend auszusagen? Der Richter hielt fest:

Sprecherin:

Es gibt viele Anzeichen im Kastner-Bericht, dass zwischen ihm und Becher mit der Zeit eine private Sympathie entstand ..... Die lange Kollaboration Kastners mit den Nazis beeinträchtigte seine Wahrnehmung, und die Erinnerung an seiner Glanzperiode [als er im Zentrum der Verhandlungen stand] beinflusste seine Tätigkeit danach. Die Reinwäsche und Legitimierung Bechers war für Kastner notwendig, um sich selber zu legitimieren.23

Sprecher:

Das Urteil schlug, mitten in der Wahlkampagne, ein wie eine Bombe und heizte die Stimmung gegen Kastner bedrohlich an.

Die Regierung rekurrierte beim Obersten Gerichtshof, aber vor dessen knappen Freispruch wurde Kastner am 3. März 1957 ermordet. Der Täter, Zwi Eckstein, wurde gefasst,. Er war ein ehemaliger V-Mann des Staatsschuztes "Shin-Beth", der in einem rechtsradikalen Untergrund 'eingepflanzt' worden war. „Shin Beth“ wies jede Verantwortung von sich und behauptete, dass sich der Täter verselbständigt und seine Betreuer den Kontakt zu ihm verloren hätten.

Der israelische Publizist Uri Avnery, welcher eine führende Rolle in der Anti-Kastner-Kampagne spielte, meinte damals, nur die israelische Regierung könne ein Interesse an der Ermordung Kastners gehabt haben. Denn Kastner hätte, so meinte Avnery, angesichts der drohenden Todesstrafe, die in Israel für Nazivergehen und Kollaboration vorgesehen ist, vor Gericht gründlich auspacken und die Regierung in echte Verlegenheit bringen können. Deshalb sollte er zum Schweigen gebracht werden. Die Rechtsradikalen aber hätten ein Interesse gehabt, wenn Kastner die Regierung belastet hätte.

Heute ist Avnery nicht mehr dieser Auffassung. Er sieht zwar eine frappante Ähnlichkeit zwischen den Verschwörungstheorien zur Ermordung Kastners und Rabins, meint aber, dass er nach seinen jetzigen engeren Kenntnissen des israelischen Staatsschutzes diesem kaum soviel Raffinesse und Klugheit zutraut.

Jahrelang erregten sich die Gemüter über diesen heiklen Fall. Der Historiker Yehuda Bauer, einer der Verteidiger Kastners, behauptete, wie Richter Halevi, dass Kastner in Nürnberg als Einzelperson handelte, um sich wichtig zu machen.

Gd.: Uns interessiert vor allem die Motivation Kastners für die Entlastung von Becher und Konsorten. War sie wirklich vorwiegend psychologischer Natur? Es gibt gewichtige Indizien, die darüber hinausweisen. Shraga Elam:

Sprecher:

2 3 Rosenfeld, S.448

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An seinem Prozess sagte Kastner unter Eid aus, dass zwei Vertreter der Jewish Agency ihn ermächtigt hatten,

Sprecherin:

Am Nürnberger Prozess zugunsten SS-Standartenführer Becher auszusagen.24

Sprecher:

Dass Kastner in Nürnberg nicht aus eigener Initiative, sondern im Auftrag der Jewish-Agency bzw. der israelische Regierung agiert hatte, bewies die israelische Historikerin Shoshana Eshoni-Beri 1986 anhand von Dokumenten im Zionistischen Zentralarchiv.

Sprecherin:Meiner Meinung nach kann man nicht über die Zeugenaussage Kastners zugunsten von Naziverbrechern diskutieren, ohne die damalige Anstrengung der Jewish Agency zu berücksichtigen, die von den Nazis geraubten Gelder des jüdischen Volkes .... zu erhalten.25

Sprecher: Die Historikerin weist auch darauf hin, dass sämtliche Reisen Kastners nach Nürnberg von jüdischen Organisationen, wie der Jewish Agency und dem jüdischen Weltkongress, mitfinanziert wurden.

Hinzu kommt, dass die Akten des Joint-Vertreters in der Schweiz, Saly Mayer, Beweise enthalten, wonach dieser bis zu seinem Tod im Jahre 1950 Becher Unterstützungspakete schickte - mit dem Absender des Schweizerischen Hilfsvereins für jüdische Auswanderung.26 Was diese Sendungen tatsächlich enthielten und was deren Hintergrund war, ist nicht klar: Dass es hier um die Erfüllung irgendwelcher Versprechungen ging, die während des Krieges gemacht wurden, ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass Becher eine Gegenleistung erbrachte. Nach dem Tod Mayers meldete sich Becher mit angeblich offenen Ansprüchen in der Höhe von 20'000 Schweizer Franken.

Was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es letzlich um Finanzgeschäfte zwischen der Jewish Agency und Becher ging, ist die Tatsache, dass Becher über viel Geld verfügen musste - möglicherweise aus seinen Raubzügen in Ungarn. Schon kurze Zeit nach seiner Gefangenschaft etablierte er sich in Bremen als sehr reicher Getreidehändler.

Die Hauptgeschäftstätigkeit Bechers konzentrierte sich auf Peru. Dort pflegte er Kontakte zur Kolonie untergetauchter SS-Mitglieder. Nach der Aussage von Eichmanns Sohn, half Becher ihm und seiner Familie zum Beispiel, zu seinem im Versteck lebenden Vater zu fahren. Andererseits lieferte Becher Getreide nach Israel, bis die Veröffentlichung dieser Tatsache dieses Geschäft verunmöglichte.

Die Korrespondenz Kastners mit Kaplan, sowie Dokumente im Schweizerischen Bundesarchiv beweisen eindeutig, dass Becher Gelder und andere Raubgüter bei Banken und Treuhändern in der Schweiz deponiert hatte. Becher war bereit, Teile dieses Vermögens, deren genauer Umfang nicht klar ist, an die jüdischen Organisationen

2 4 Rosenfeld, S. 251f2 5 Shoshana Eshoni-Beri, Die Kastner-Affäre - Zur Frage der Aussage zugunsten von Naziverbrechern -

Versuch einer andern Erklärung, in: Yalkut Moreshet 59, April 1995, S.902 6 Brief Hilfsverein für jüdische Auswanderung an Sekretärin Saly Mayers, 16.Juli 1948, Saly Mayer Archiv

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abzutreten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch von jüdischer Seite Hilfe geleistet wurde, um Becher andere Teile seines Vermögens zurückzuschicken. Dies könnte zum Beispiel der Inhalt von Saly Mayers Hilfspaketen gewesen sein.

Die Akten im Bundesarchiv beweisen, dass Becher ab 1952 sich um eine Einreisebewilligung in die Schweiz bemühte. Die Bundesanwaltschaft verweigerte dieses Begehren auf Grund seiner Rolle bei den Verhandlungen zum Freikauf von Juden. Trotzdem wurde ihm immer wieder

Sprecherin: ausnahmsweise [die Einreisegenehmigung erteilt], um dringende Importverhandlungen mit seinen Schweizerfreunden [in Basel, Zürich, Genf und Lausanne] zu führen.27

Sprecher: So geschah es zum Beispiel im September 1952. Schon damals also wagten Becher und andere Nazis wieder Versuche, ihre in der Schweiz versteckten Vermögenswerte herauszuholen. Herauszufinden, wer Becher dabei alles half, sollte u.a. die Aufgabe der Bergier-Komission sein.

Gd.: So weit Shraga Elam.

Wir haben die Sendereihe „Staatsraison und Moral“ mit dem Zitat von Machiavelli angefangen:

Sprecherin:Oft ist es notwendig, um einen Staat erhalten zu können, gegen Treu und Glauben, gegen die Nächstenliebe, gegen die Menschlichkeit und gegen die Religion zu handeln.28

Gd.: Was haben die heute dargestellten Fakten und Interpretationen mit dieser Aussage zu tun?

Vor allem sollen sie Material liefern für eine Diskussion im „Doppelpunkt“ in einer Woche über die Behauptung, dass Politik nach wie vor nicht primär nach moralischen Kriterien, sondern pragmatisch nach den vorherrschenden Interessen geführt wird.

Im Fall der Fluchthilfe der USA für ehemalige Nazis war das Hauptmotiv, so die Behauptung, die Eindämmung des Kommunismus im beginnenden Kalten Krieg. Im Fall des Vatikans zusätzlich die Festigung der katholischen Position in der Welt. Im Fall der jüdischen Organisationen der Aufbau des Staates Israel. In den Fällen der Unterstützung von Kapitalflucht und Geldwäscherei waren es wirtschaftliche Interessen.

Die Beispiele der heutigen Sendung, in welcher die Aktionen von Einzelpersonen einen besonders grossen Raum eingenommen haben, sollen aber auch etwas anderes zeigen: Auch wenn die These stimmt, dass Politik nicht primär von moralischen Kriterien bestimmt ist, muss sie doch

2 7 Bundesarchiv, E 4320(B) 1973/17/952 8 Il Principe, Kap.18, §4

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differenziert, eingeschränkt und je nach Situation interpretiert werden.

Die beiden letzten Beispiele - die Fälle van Harten und Kastner - haben auch gezeigt, wie sehr eine solche These gleichzeitig stimmen und nicht stimmen kann, wenn man in Betracht zieht, dass es eben Menschen sind, die erstlich und letztlich handeln.

Was heisst das konkreter? Dies ist Thema des nächsten und letzten „Doppelpunkt“ in dieser Serie - nicht als Vortrag, sondern, wie gesagt, als Diskussion.

(Redaktion Gd., 5.- 8.1.98)

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1 Venedig, Konsulat, E 2200.26(-)-/3 Bd. 2,S.5