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Thomas Khurana Was ist ein Medium? Etappen einer Umarbeitung der Ontologie mit Luhmann und Derrida Prätext Den Anfang eines neuen Denkens, das sich um die Marke "Medium" herum konstellieren sollte, geradewegs und in ganzer Konsequenz zu nehmen, würde nicht leicht fallen. Wir könnten versuchen, diesem Anfang etwas auszuweichen und ihn mithin zu erleichtern, indem wir uns an eine Frage hielten, die ein Vorwand bliebe, um eine Frage und Themenlage anderen Typs zu erschließen. Die Frage hätte die klassische und mithin zunächst beruhigende Form: Was ist ein Medium? Was also - könnte man dann ausführen - ist das Wesen, die Washeit dessen, was man ein Medium nennt? Welche notwendigen und hinreichenden Bedingungen gibt es dafür, etwas als ein Medium zu führen, welche essentiellen Prädikate lassen sich bestimmen? Oder aber, die Frage moderner ausbuchstabierend: Was läßt sich aus der Phänomenologie einiger spezifischer Vorkommnisse, die man Medien nennt, über die Familienähnlichkeit der Objekte lernen, die mit dem Wort "Medium" adressiert werden? In der Folge wäre dann danach zu fragen, welche Typen oder Arten von Medien sich in einer Familie oder anhand einer durch essentielle Prädikate bestimmten Wesenheit über akzidentelle Prädikate differenzieren lassen. In diesem klassifikatorischen und konzeptuellen Prozeß könnte man selbst noch die Unterscheidungskriterien differenzieren, die die Bildung von Typologien instruieren und so zu immer weiterer Klärung bringen, inwieweit dieser Terminus "Medium" verwendet wird und in Operation gebracht werden kann in diesem oder jenem theoretischen Zusammenhang. Die Form der Frage unterstellt dabei eine größtmögliche Neutralität. Wir stellen sie nicht schon als Kommunikationstheoretiker, als Pragmatisten, als Nachrichtentechniker, sondern scheinbar vor aller theoretischen Einbindung, vom Standpunkt des Begriffs als solchen. Diese Position aber - und genau hier könnte die Beantwortung der Frage, was ein Medium eigentlich sei, zur Klärung verhelfen - ist bereits ein Standpunkt, der die Antwort präjudiziert und beschränkt - und zwar derart, daß diese Marke "Medium" nicht die Kraft entfalten kann, die wir an ihr zu spüren meinen und die uns überhaupt erst nahelegt, den Versuch einer Begriffsklärung zu unternehmen. Die Frage, was ein Medium sei, wird recht verstanden ebenso etwas über die konzeptuelle Situation erkennen lassen, wie sie ein Sprungbrett ist, den

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Medialität, Medienwissenschaft, Ontologie.

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Thomas Khurana

Was ist ein Medium? Etappen einer Umarbeitung der Ontologie mit Luhmann und Derrida

PrätextDen Anfang eines neuen Denkens, das sich um die Marke "Medium" herum konstellieren sollte, geradewegs und in ganzer Konsequenz zu nehmen, würde nicht leicht fallen. Wir könnten versuchen, diesem Anfang etwas auszuweichen und ihn mithin zu erleichtern, indem wir uns an eine Frage hielten, die ein Vorwand bliebe, um eine Frage und Themenlage anderen Typs zu erschließen. Die Frage hätte die klassische und mithin zunächst beruhigende Form: Was ist ein Medium?

Was also - könnte man dann ausführen - ist das Wesen, die Washeit dessen, was man ein Medium nennt? Welche notwendigen und hinreichenden Bedingungen gibt es dafür, etwas als ein Medium zu führen, welche essentiellen Prädikate lassen sich bestimmen? Oder aber, die Frage moderner ausbuchstabierend: Was läßt sich aus der Phänomenologie einiger spezifischer Vorkommnisse, die man Medien nennt, über die Familienähnlichkeit der Objekte lernen, die mit dem Wort "Medium" adressiert werden? In der Folge wäre dann danach zu fragen, welche Typen oder Arten von Medien sich in einer Familie oder anhand einer durch essentielle Prädikate bestimmten Wesenheit über akzidentelle Prädikate differenzieren lassen. In diesem klassifikatorischen und konzeptuellen Prozeß könnte man selbst noch die Unterscheidungskriterien differenzieren, die die Bildung von Typologien instruieren und so zu immer weiterer Klärung bringen, inwieweit dieser Terminus "Medium" verwendet wird und in Operation gebracht werden kann in diesem oder jenem theoretischen Zusammenhang.

Die Form der Frage unterstellt dabei eine größtmögliche Neutralität. Wir stellen sie nicht schon als Kommunikationstheoretiker, als Pragmatisten, als Nachrichtentechniker, sondern scheinbar vor aller theoretischen Einbindung, vom Standpunkt des Begriffs als solchen. Diese Position aber - und genau hier könnte die Beantwortung der Frage, was ein Medium eigentlich sei, zur Klärung verhelfen - ist bereits ein Standpunkt, der die Antwort präjudiziert und beschränkt - und zwar derart, daß diese Marke "Medium" nicht die Kraft entfalten kann, die wir an ihr zu spüren meinen und die uns überhaupt erst nahelegt, den Versuch einer Begriffsklärung zu unternehmen. Die Frage, was ein Medium sei, wird recht verstanden ebenso etwas über die konzeptuelle Situation erkennen lassen, wie sie ein Sprungbrett ist, den Standpunkt des Begriffs (hin auf den der Unterscheidung) und den Standpunkt des Seins (hin auf ein "Spuken" und "Werden") zu überschreiten.

I Was ist ein Medium ?

Begriffsfeld: Mitte, Mittel, Milieu, Element

Jede Frage nach den Medien wird hier und heute unmittelbar als eine nach den Massenmedien verstanden werden, als eine Frage nach Presse, Rundfunk, Television, Cinematographie und Computern - jenen "Dingen" also, die dieser Zeit den Namen "Medienzeitalter" aufprägen. Dabei bleibt relativ offen, was genau und in erster Linie dabei zum Medium gezählt werden kann: Lediglich das, was der Empfänger empfängt (das, was vom Rundfunk, was an Fernsehen zu empfangen ist, was auf dem Computer erscheint), die technische Infrastruktur, die den Empfang ermöglicht (die technischen Apparate der Aufzeichnung, der Verarbeitung, der Verbreitung, des Empfangs und der Archivierung) oder auch noch kontextuelle Bedingungen (was zur "Welt der Medien" gehört, rechtliche Rahmenbedingungen, politische Einflußnahmen, Interessen und Motive beteiligter Personen etc.). Die Bezeichnung "Medien" fungiert in diesem Sinne weniger als eine Markierung mit einem dinglichen Referenten (dieser oder jener Apparat, dieser oder jener konkrete Sachverhalt), vielmehr als eine recht lose Anzeige eines Feldes von Dingen, Erfahrungen, Akten, Einsätzen.

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Diese Ebene einer eher losen Problemanzeige spielt heute auch in den meisten terminologischen Verwendungsweisen, die gar nicht notwendig in der Beschreibung der Massenmedien ihren Fokus haben, mit - und verleiht ihnen so oftmals eine suggestive Kraft wie einen unklaren Untergrund. Unterbelichtet bleibt dabei zumeist die doch vielschichtigere Semantik, die sich um den Term Medium in vergangenen Jahrhunderten gebildet hat. [1] Philosophisch wirkmächtig wurde der Term Medium als Bezeichnung der Mitte und des Mittels, was handlungstheoretische (Zweck/Mittel), ethische (die Mitte als das Maß) sowie eher logische Ausformulierung (Medium als medius terminus) erlaubte. [2] Eine Darstellung der [p.112] weitverzweigten Diskussionen, die diese Terme umgeben, ist außerhalb der Reichweite dieser Arbeit. Wichtig aber bleibt es zu notieren, daß diese Begriffsgeschichte in modernen Verwendungsweisen im Hintergrund aktiv bleibt. Wir greifen hier einige Aspekte heraus:

(1) Die Vorstellung von dem in der Mitte zwischen Zweien Liegenden ist assoziiert mit dem Medium als Überträger, als Kanal. (2) Ebenso zeichnet die Bedeutung des Mediums als Mittel sich ein in den instrumentellen Medientheorien [3], die in den modernen Medien vor allem technische Werkzeuge erkennen: Medien gelten als Instrumente, genauer noch: als Prothesen, Ersetzungen oder Ergänzungen menschlicher (Organ-)Funktionen. Die sicher berühmteste Ausformulierung dieser Linie hat Marshall McLuhan [4] geliefert, wenn er Medien als Extensionen des Menschen begreift und dabei selbst noch Sprache diesem Paradigma der technischen Amplifikation, der Ausdehnung unterordnet - statt am Medium so etwas zu entdecken, wie eine durch es geschehende Versprachlichung der Welt.

(3) Daß das Medium als Mittel in der philosophischen Tradition die Rolle der Zwischenursache spielt, das heißt die Rolle dessen, was der Grund ist dafür, daß eine Absicht Wirklichkeit erreicht [5], thematisiert die Medien des weiteren schon in ihrem Charakter als Scharnier zwischen Potentiellem und Aktuellem: Das Medium bereitet den Übergang zwischen dem noch nicht erreichten Ziel (also etwas Potentiellem) und den das Ziel erreichenden Akten (Aktualität). Das Medium wäre hier ein Operator der Aktualisierung.

(4) Impliziter noch als dieser Zug ist in den etablierten Fassungen von Mitte und Mittel die Verwendung von Medium als der grundsätzlichen Situiertheit, in der etwas Bestimmtes vorkommt. Diese Verwendung schließt vor allem an den Begriff des Milieus an, der im Französischen bereits als Bezeichnung für die Mitte, für den räumlichen wie zeitlichen medius locus gedient hatte. Im 17. und 18. Jahrhundert war dieses Wort als Übersetzung für Newtons "medium" verwandt worden und bezeichnete das Element (im Sinne von Grundstoff), das einen Körper umgibt [6]: zum Beispiel Äther, Wasser, Luft. Dabei wird durchaus nicht angenommen, daß es sich bei dem Körper um eine Ausformung oder Gestaltung des Mediums handelt. Vielmehr ist das Augenmerk auf die Beziehungen oder Wechselbeziehungen der vollständig geschiedenen Größen des Körpers oder Lebewesens einerseits und seines Milieus, seiner Umwelt oder Umgebung andererseits gerichtet. Dies ist in dieser Weise für Medientheorie nicht unbedingt anschließbar. An der Fassung des Mediums als Milieu kann man aber den Seitenpfad festhalten, daß dem Medium hier die Struktur eines Grundstoffes, eines Elements gegeben ist. Es wird folglich geführt als etwas, das der Aristotelischen Bestimmung zufolge das Letztelement abgibt, "woraus als erstem immanenten Bestandteil etwas zusammengesetzt ist, welcher nicht mehr der Art nach in Verschiedenartiges teilbar ist" [7]. Hier schiene das Medium, sofern es Element ist, als eine Ressource für Formenaufbau auf. Es selbst besteht aus nicht weiter gegliederten oder strukturierten Teilchen, die nicht tiefer in distinkte Teile zerlegbar sind. So perspektiviert scheint das Medium eine nicht mehr unterschreitbare, grundlegende Ebene zu konstituieren, auf der sich durch Komposition seiner Elemente Formen aufbauen könnten, so daß das Medium hier zu einer Art von Bestimmbarkeit würde. Diese Beschreibung steht in Verbindung mit dem, was Aristoteles zur Materie (als hylè) und zur Potenz (dynamis als Prinzip des Erleidens, als potentia passiva) bemerkt. Die hylè als Erst-Materie ist als solche nichts als reine Bestimmbarkeit. Sie markiert den Zustand in dem Gegensätzliches zugleich möglich ist, in dem etwas Bestimmtes zugleich Sein-Können und Nichtsein-Können hat. Wenn sich dann eine Verwirklichung ergibt, etwas in der hylè Form gewinnt, dann bleibt die hylè wirksam, sofern sie ein Grund der Instabilität dieser Form ist: Das, was einmal nicht war und bloß möglich war, wird nicht ewig sein. Mit dynamis (als Gegenbegriff zu energeia und als Prinzip des Erleidens) kann man hier das einem Stoff innewohnende Potential, bestimmte Gestalten anzunehmen, Formung zu erfahren markieren. Die begriffliche Anlage, die "Medium" dort lokalisiert, wo sich

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Element, hylè, und dynamis (als potentia passiva) treffen, liegt nahe an demjenigen Begriff von Medium, der in der Unterscheidung von Medium und Form, die wir etwas weiter unten vorstellen werden, angesetzt ist.

(5) Wenn man Medium in seiner Verwandtschaft zum umgebenden Milieu eines Körpers schildert, dann kann man auch einen - vielleicht zunächst fernliegenden - Bezug zu Kants Anschauungsformen herstellen: Betrachtet man ein Objekt nicht als physikalische, biologische, soziale Entität, die ein notwendiges Medium, Umwelt oder Feld braucht, sondern als Erkenntnisobjekt, so ergibt sich auch hier ein notwendiges "Milieu" oder "Medium" des Erkenntnisobjekts. Dieses besteht nun aber, da man nicht auf [p.113] das Ding als solches, sondern auf das Ding für das Erkenntnissubjekt abstellt, in den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit. Alles, was als Objekt erscheinen will, Form, Gestalt, Profil haben soll, muß eine räumliche und zeitliche Form annehmen können. Die Mannigfaltigkeiten des Raumes und der Zeit stellen allerdings nicht bloß die Umgebung für ein Ding bereit, sie geben seine grundsätzliche Form vor, die Weise, in der es Erscheinung werden kann: Eben als eine räumliche und zeitliche Form. [8]

(6) Im Anschluß an die Beschreibung von Medium als Element oder Grundstoff, als Äther, kann man auch erneut die heute bedeutsame Verwendung erschließen, die im Medium einen Überträger sieht. In dieser Trägervorstellung überkreuzen sich auf etwas vage, meist implizite Weise mehrere Verwendungsweisen, was vielleicht genau der Grund für ihre Prominenz, ihre vielfältige Einsatzfähigkeit ist: Hier geht ein, daß das Medium das in der Mitte Liegende, Vermittelnde ist - ohne daß es nun zwischen Extremen (dem unendlich Großen und dem Nichts) eingespannt wäre oder gar zwischen der Absicht (als finis oder cause) und dem erreichten Ziel (als actus oder effect). Dieses Medium, das zwischen Zweien liegt, fungiert als Vermittlung dieser Zwei, überspannt oder überbrückt eine Distanz so, daß eine Mitteilung vom einen zum anderen möglich ist - was immer diese Mitteilung enthält (Energie, Materie, Information). Dafür muß dem Medium die Fähigkeit attestiert sein, das zu Übertragende aufzunehmen und zu transportieren - also abstrakt gesprochen eine noch offene Bestimmbarkeit zu sein, in der man aktuell eine Bestimmtheit einfügen kann: Element, uninformierte Materie oder hylè zu sein.

Heutige Verwendungen

Die Bestimmung des Mediums als Mitte oder Mittel verbleibt heute nur noch als Hintergrund, in erster Linie aber tritt das Medium als Instrumentelles, als Formbares sowie als Überträger auf.

Es reicht, sich einige Fälle ins Gedächtnis zu rufen, in denen man mit theoretischen Ansprüchen von Medien spricht, um zu sehen wie sich verschiedene Elemente des oben skizzierten Begriffsfeldes immer wieder neu in Anordnung bringen und zumeist sich verflechten.

(a) Der Körper, kann man heute hören, ist das Medium des Tanzes. So verwandt entspricht "Medium" einem Feld, einem in verschiedene Anordnungen zu bringenden Material, das im Tanz Bestimmtheit gewinnt. Zugleich ist die Leistung des Körpers dabei, den Tanzformen einen wahrnehmbaren Stoff zu leihen, diesen Formen den Raum einer Artikulation zu bieten. Man könnte hier davon sprechen, daß der Körper Medium allererst in dem Sinne ist, daß er Artikulationsmedium ist.

(b) Glasfasern dienen als Medium für Daten. In dieser Sprechweise, ist das Medium dasjenige, was einen Transfer, eine Übertragung erlaubt und mithin die Überbrückung (räumlicher) Distanzen. Hier liegt also ein Verbreitungsmedium vor. Diese Verwendungsweise des Medienbegriffs erhält Bezüge aufrecht zum Medium als dem in der Mitte Liegenden sowie zum Medium als dem Vermittelnden - wenn auch nicht unmittelbar im teleologisch Sinne zwischen Absicht und Akt. Vermittlung geschieht hier vielmehr zwischen Sender (den man aber schnell von seiner Absicht her begreift, als Verursacher einsetzt) und Empfänger (bei dem die Wirkungen sich einstellen sollen).

(c) Man kann des weiteren auch davon sprechen, daß Licht ein Medium der visuellen Form ist oder aber die Luft ein Medium für Geräusche. In diesen Fällen hat man es ebenso mit Trägern zu tun, die Bestimmtheiten erlauben. Man akzentuiert aber vor allem, daß mit Licht und Luft die selbst nicht als solche wahrgenommenen

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Bedingungen für Wahrnehmung geschaffen sind. Diese Träger sind Wahrnehmungsmedien, in dem Sinne, daß sie überhaupt wahrnehmendes Erkennen, Rezeption erlauben. [9]

(d) Der Computer wird zum Teil als ein elektronisches Medium bezeichnet, mit dem man Daten festhalten kann. Hier ist die Rede von einem Speichermedium. Das impliziert die Möglichkeit des Computers bestimmte Daten aufzunehmen, akzentuiert aber vor allem den Computer als ein Hilfsmittel, als technische Prothese: als einen externen Speicher, eine Entlastung des Gedächtnisses.

(e) Der Computer erscheint auch als ein Verarbeitungsmedium, in dem Daten kontrolliert und manipuliert werden können. Das Medium erscheint hier erneut in seiner Bedeutung als Instrument oder Werkzeug, das aber interessanterweise auf "sich selbst" einwirkt. [10]

Wenn wir derart einige Beispiele dessen herausgreifen, was als "Medium" geführt wird, so [p.114] haben wir unwillkürlich begonnen, funktional zu spezifizieren: Es geht bei Medien um Artikulierbarkeit, Transferierbarkeit, Wahrnehmbarkeit, Archivierbarkeit, Transformierbarkeit. Gibt es aber in dem, was Artikulation, Transfer, Rezeption, Archivierung und Transformation ermöglicht, eine gewisse strukturelle Konstante, etwas, das man die Medialität des diese Funktionen Erfüllenden nennen könnte? Eben dies ist unsere Frage. Die traditionellen Antworten, die im Namen von "Medium" vorderhand verfügbar sind, scheinen uns dabei weniger zu treffen. Medialität läßt sich nicht am instruktivsten beschreiben über ein in-der-Mitte-sein, ebensowenig übersetzen in ein Mittel zum Zweck oder modern: in Extensionen des Menschen, aufgefaßt als technische Prothesen, die bestimmte Organfunktionen ergänzen und steigern - selbst wenn das mit dem obigen Schema zunächst verträglich scheint. Auch ein Ableger des instrumentellen Begriffs - Medien als Vermittelndes, als Raum und Zeitüberbrückung, als Übertragungsmittel - werden wir hier nicht zum Ausgangspunkt wählen.

Eher scheint uns zu tragen, was sich im Milieu, im Element, in der Materie ankündigt: Medialität heißt, daß es da etwas gibt, in dem sich Formen, Dinge, Bestimmtheiten geben lassen: ausdrücken, transferieren, konservieren, transformieren und entnehmen lassen. Medien erschienen also als Ermöglichungsbedingungen für Bestimmtheiten, als Bestimmbarkeiten, welche die Form der Bestimmtheit, die in ihnen vorkommen kann, limitieren. Wenn man sowohl Geld, als auch Television, Licht sowie den Computer als Medium auffassen will, dann bietet sich diese fast leere Formulierung an, daß es hier um bloße Felder, um Ausprägbarkeiten von Formen, von Bestimmtheiten geht. Das Leere der Wendung deutet schon an, daß man gleichsam alles auch als Medium bezeichnen könnte. Die begriffliche Fassung, die wir im folgenden andeuten wollen, ist mithin nicht instruktiv als ein Konzept, das bestimmte Dinge in der Welt ihrem Wesen nach in eine Klasse zusammenfaßt. Instruktiv wird diese Beschreibung nur werden, indem man damit ein Feld von den auf der jeweiligen Ebene vorhandenen Bestimmtheiten abheben kann. Die so angezielte Bestimmung von Medium macht Sinn nur als die Unterscheidung von Medium und Bestimmtheit.

II Niklas Luhmanns Medientheorie

Medium und Form

Einen eben solchen distinktiven Medienbegriff hat Niklas Luhmann seit Mitte der achtziger Jahre mit Bezug auf die phänomenologische Psychologie Fritz Heiders formuliert. [11] Er nimmt die Unterscheidung Heiders zwischen Ding und Medium auf, die zunächst im Bereich der Wahrnehmungstheorie erklären soll, wie dingliche Sachverhalte über Träger, die qua physikalischer Struktur sich zum Medium eignen, die Wahrnehmungsorgane des Menschen erreichen, und wie andererseits Handlungsabsichten vermittels Medien sich artikulieren können. [12] Diese Unterscheidung reformuliert Luhmann als eine von Medium und Form - und das heißt: Es geht nicht mehr darum, einerseits Objekte auszumachen, deren Struktur als solche eine dinghafte ist, die also eine klar umrissene, fixierte Form haben, und andererseits Stoffe zu identifizieren, die als solche formlos sind und daher Medien genannt werden können wie z.B. Luft oder Licht. Medium oder Form ist etwas nie an sich selbst, sondern immer nur im Bezug auf das jeweils andere: Ein Medium ist nur Medium in Bezug auf bestimmte Formen, wie diese Formen nur als Form gesehen werden können in Bezug auf ihr Medium. In Relation zu anderen Sachverhalten mögen eben diese Formen dagegen als Medium fungieren.

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Das Hauptmerkmal, mittels dessen es gelingt, etwas in Relation zu anderem als medial oder als Form auszuweisen, liegt dabei - mit einem kybernetischen Konzept gesagt - in der Striktheit der Kopplung seiner Elemente. [13] Mit diesem Merkmal unterstellt man zunächst, daß sich Medium wie Form so beschreiben lassen, daß sie sich aus Elementen zusammensetzen - die durchaus keine in einem ontologischen Sinne unteilbaren Einheiten sind, sondern nur gemäß eines bestimmten Beobachtungsrahmens als Letztelemente fungieren können. Medium und Form unterscheiden sich dann lediglich im Arrangement dieser Elemente: Form nennt man eine strikte, rigide Kopplung der Elemente, wohingegen das Medium durch eine lose Kopplung der Elemente ausgezeichnet ist. Beispielsweise fungieren die lose gekoppelten Moleküle in der Luft als Medium für die Schallwellen, die die Elemente einer periodischen Verdichtung und Verdünnung (wellenförmige Dichteänderung) aussetzen und mithin die Elemente der Luft in eine Form bringen, strikt koppeln.

So gefaßt unterscheidet man nicht mehr unterschiedliche Dinge in der Welt, von denen die einen die Struktur eines Dings haben, sofern sie sich aus fest verbundenen Elementen zusammensetzen, und die anderen eher Medien heißen dürfen, da sie aus unverbundenen [p.115] Elementen bestehen. Vielmehr haben in der Unterscheidung von Medium und Form die beiden Unterschiedenen dieselbe Elementarstruktur: Sie bestehen aus den selben Elementen und unterscheiden sich lediglich relativ im Hinblick auf das Arrangement der Elemente: sind strikter oder loser gekoppelt. Mithin wird jede Form zu einer Rigidisierung des Mediums, ist eigentlich ein Medium, das unter Konditionierungen gestellt ist. Bei Heider hingegen war das Medium durchaus als eine eigener, vermittelnder Stoff zwischen dem Ding und den Wahrnehmungsorganen gedacht. Die Unterscheidung von Form und Medium bei Luhmann reformuliert folglich nicht eigentlich die Differenz von Ding und Medium, sondern vielmehr jene von "falscher Einheit" im Medium und Medium im Ruhezustand bei Heider: als Folge nämlich einer Dinglichkeit mit echter Einheit (fest verbundenen Elementen) kann einem Medium, eben weil es eine unverbundene Vielheit ohne echte Eigendetermination ist, eine Formung aufgezwungen werden, die in es eine "falsche Einheit" einprägt, wie Heider formuliert, die zwar wahrnehmend von der echten Einheit eines Dings nicht zu unterscheiden ist, de facto aber nicht aus sich selbst heraus besteht, sondern ein reines Vielheitsgeschehen ist, das außenbedingt Form erhält. Diese außenbedingte Einheit wirkt auf den Wahrnehmenden und gilt ihm als Zeichen oder Spur des Dings. Statt einem Ding (als Ursache falscher Einheiten, d.h. medialer Zeichen des Dings) gibt es in der Formulierung Luhmanns nur noch Spuren, nur noch eine Kopplung der Medienelemente zu einer Form - und diese Kopplung kann man hier - wenn man unbedingt auf Ursachen abstellen will - allenfalls auf ein System (ein organisches, psychisches, soziales) zurechnen, auf das bezogen die Unterscheidung von Medium und Form allererst theoretischen Sinn gewinnt. [14]

Wenn man nun modellhaft Medium und Form sich derart vorstellt, daß es eine Gruppe von Elementen gibt, die in einem lose gekoppelten Zustand das mediale Substrat bilden und bei festerer Kopplung die Ausprägung einer Form aus dem Medium ergeben, dann ist damit nur ein Anfang gemacht. Luhmann pflegt in unterschiedlichen Publikationen an dieser Stelle eine ganze Kette von Abhebungen von Medium und Form anzuschließen, die diese Unterscheidung hin auf sinnverwendende Systeme spezifizieren.

Statt einfach lose und strikte Kopplung gegenüberzustellen scheint es, sofern eine Form nur durch die Benutzung des medialen Substrats und nicht außer ihm existiert, zunächst einmal treffender, die Unterscheidung von Medium und Form zu temporalisieren: Man hat es in einem Zusammenhang, in dem man Medium und Form unterscheiden kann, mit einem laufenden Koppeln und Entkoppeln einer Menge von Elementen zu tun. Implizit ist an dieser Stelle bereits an ein System (ein psychisches oder soziales System) gedacht, das sich in der Zeit entfaltet als Anschluß von Form an Form, also als Kette von Kopplungen und Entkopplungen von Formen. Das System "benutzt" in dieser Vorstellung ein Medium zur Kopplung von Formen. Aktuell scheint dann immer eine bestimmte Kopplung, das heißt: Form vorzuliegen - oder aber es ist gar nichts erkennbar, da nur das lose gekoppelte mediale Substrat vorhanden ist, das als solches - auf der Ebene des Systems - amorph und sinnleer ist. Läge nur das mediale Substrat vor ohne weitere Formanschlüsse, wäre das System offensichtlich an seinem Ende, da es nur durch den laufenden Anschluß einer Form fortbestehen kann.

Im Bezug auf einen auf Formen eingestellten Blick kann das Medium hier also nur als Abwesendes, Inaktuelles auftreten - was aber nicht heißt: als Nichtexistentes. Denn wenn aktuell eine Form vorliegt, so macht sich das

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Medium, das der Form zugrunde liegen soll und aus dem heraus dann auch eine neue Form folgen können soll, daran kenntlich, daß die Form als entkoppelbar erscheint. Die Form muß hier als das Aktuelle einerseits durchsetzungsstärker als das Medium sein - das ist ein bloßes Implikat der Tatsache, daß sie in strikter Kopplung einer lose gekoppelten Konfiguration gegenübersteht -, andererseits muß sie als im Vergleich zum Medium instabil gedacht werden, sofern sie entkoppelbar ist. Dabei kann das Medium, das als solches (das heißt: als Zustand der Entkopplung) keine greifbare Aktualität hat, ein "Inaktuelles" ist, als stabil beschrieben werden, sofern es nach der Entkopplung einer Form jedesmal erneut regeneriert wird. [15] Die Form wäre dasjenige, was stets in der Weise der Aktualität gegeben, erkennbar und anschlußfähig ist, wohingegen das Medium stabil ist, nur unter der Bedingung, bloß virtuell präsent zu sein: Als das Woraus der Kopplung und das Worein der Entkopplung. Als das entkoppelte Substrat selbst liefert das Medium nichts Erkennbares. Das Medium ist mithin nie als solches, an sich selbst von Relevanz. Das Medium ist - wenn man es als operationalisiert in einem verzeitlichten System betrachtet - nur an den Formen erkennbar, es bildet ihre Grenze, ihren Horizont oder Hintergrund. Es ist gegeben erstens als das nicht aktualisierte Reservoir möglicher Kopplungen, aus dem die aktuelle Form [p.116] seligiert erscheint, und zweitens zugegen in Gestalt der offenen Möglichkeiten des Anschlusses anderer Formen. Das Medium also ist im Falle temporalisierter Verhältnisse immer nur als Vergangenheit und Zukunft der Form präsent und nie als Aktualität an sich selbst. Das Medium ist hier eine "reine Virtualität" (Luhmann 1993: 356). [16]

Die Aufmerksamkeit auf die Zeitdimension (und die Differenz aktuell/inaktuell) bringt uns hier in die Nähe sinntheoretischer Formulierungen: Denn Sinn in der Prägung Luhmanns realisiert sich in allem Prozessieren der Differenz von Aktualität und Potentialität. Dies nun ist gemäß der obigen Charakterisierung mit jeder Differenz von Medium und Form möglich, sofern die Form etwas Aktuelles mit Verweisung auf ein Potential anderer Formen (das Medium) darstellt. Mithin gibt "Sinn" das Grundformular verschiedener Medium-Form-Arrangements an. In diesem Sinne spricht Luhmann dann auch davon, daß Sinn das "allgemeinste Medium" darstellt, das für Bewußtsein und soziale Systeme mit ihrer temporalen Operationsweise "unhintergehbar" (Luhmann 1995a: 173) ist und in das mithin die in ihnen verwandten Medien eingelassen scheinen. Mit "Medium" ist an dieser Stelle nicht nur das bloße mediale Substrat benannt, sondern vielmehr das Arrangement der Differenz von medialem Substrat und Form. Verschiedene spezifische "Medien" wie gesprochene Sprache oder Schrift scheinen dann dieses allgemeine "Medium" Sinn durch bestimmte Medium-Form-Arrangements zu respezifizieren. [17]

Die Seite des Mediums (des medialen Substrats) in der Differenz Medium/Form gleicht, wenn man sie von dem Grundformular "Sinn" her als Potentialität versteht, auffällig der potentia passiva, die man in der Scholastik als eine Übertragung der Aristotelischen dynamis vorfinden kann und die das Vermögen, Formung zu erfahren, meint. Die Form korreliert dann andererseits dem Aristotelischen Aktbegriff der energeia. Wenn dem so ist, liegt es aber nahe, sogleich die Unterscheidung von Medium/Form in jene von Materie (hylè) und Form (morphé) zu übersetzen: Die hier gegebene Beschreibung scheint das Medium im Bereich des Unsichtbaren zu situieren. Es ist dasjenige, was nicht anschlußfähig oder erkennbar ist, wie die erste Materie als solche keine Erkennbarkeit hat; zugleich ist es aber die Bedingung von Anschlußfähigkeit, der Grund von Formen, wie auch die hylè als Bestimmbarkeit aufgefaßt werden kann, die Bestimmtheiten ermöglicht. Das Medium ist die Bedingung der Möglichkeit von aktuellen, durchsetzungsfähigen, bestimmten Formen, wie die hylè notwendige Voraussetzung von Bestimmtheiten ist. Der Gegensatz von Materie und Form scheint hier eine einfache Neuauflage zu erleben: Das Medium wäre gänzlich uninformierte Materie, in die eine Form eingeprägt wird, die die Materie nur als Substrat verwenden würde, um sich zu inkarnieren. Darum kann es aber offensichtlich nicht gehen, wenn Formen als eine Selektion aus dem im Medium verankerten Potential aufgefaßt werden. Das Medium ist nicht uninformierte Materie, sondern eine diffuse Infrastruktur der Form, die ein Potential anderer Formen impliziert und die Form mit dem Verweisungshorizont auf diese anderen Formen versieht. Das Medium ist folglich nicht nur potentia passiva, die in der Scholastik mitunter der Materie (hylè) analogisiert ist, sondern ebensosehr mit dem Anschein der potentia activa ausgestattet, die in dieser Tradition dem Subjekt zuzuschreiben wäre, welches das Vermögen zu handeln, Akte auszuprägen, besitzt.

Die Restriktion, die das Medium für die Formbildung bedeutet, und die Strukturiertheit, die es von uninformierter Materie als reiner Bestimmungslosigkeit abhebt, läßt sich daran festmachen, daß es aus

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Elementen besteht [18], die eine Form haben: Diesen Elementen eignet Bestimmtheit, die erneut nur zu erläutern ist als Form, welche als feste Kopplungen eines "basaleren" medialen Substrats vorkommt. [19] Man kann dies auch derart ausdrücken, daß jedes Medium auch eine Form sei - vor dem Hintergrund eines anderen Mediums: Wenn man lose assoziierte Mengen von Worten als Medium für die Artikulation von Sätzen auffaßt, kann man sehr schnell entdecken, daß das mediale Substrat, die Worte, zugleich aus Formen im Medium der Laute besteht, wobei Laute erneut Formen im Medium der Geräusche sind - und so fort. Man erhält auf diese Weise eine geschachtelte Hierarchie von Medium/Form-Paaren - und es ist immer eine Frage des spezifischen Interesses, ob man etwas als Medium oder als Form behandeln sollte. [20] Es gibt keine Medien oder auch Formen an sich, sondern lediglich die in einem Systemgeschehen prozessierten Differenzen von Medien und Formen, die sich anhand dieser Unterscheidung Medium/Form beobachten lassen.

Die so ausgehend von der Unterscheidung loser und strikter Kopplung von Elementen und ihrer Entfaltung in der Zeit getroffene Beschreibung von Medium und Form bezieht Luhmann auf andere für ihn wichtige Theoriestränge, von denen wir hier zwei für uns im weiteren [p.117] relevante herausgreifen: (a) Struktur/Ereignis sowie (b) Differenztheorie. [21]

(a) Struktur/Ereignis. Es ist wesentlich, die Unterscheidung von Medium und Form auf jene von Struktur und Ereignis zu beziehen, um zu verdeutlichen, wie allgemeinen Zuschnitts die hier angelegte Theorie ist und inwieweit sie eine ganz dezidierte Version von Poststrukturalismus vorträgt, die ihre Entsprechungen bei Derrida oder Deleuze finden könnte. [22] Ein entscheidender Strang der Luhmannschen Theoriebildung läßt sich als Theorie autopoietischer, also sich selbst reproduzierender Systeme formulieren. Diese Systeme nennt Luhmann auch strukturdeterminiert, was zum Ausdruck bringt, daß nur ihre eigene Struktur das weitere Prozedieren der Systeme determiniert und alles in der Umwelt Befindliche lediglich Irritation darstellt. Die Originalität liegt nun in der Auffassung dessen, was die Struktur dieses Systems ist: Hier wird nicht irgendeine substantielle, überzeitliche, ein Zentrum bildende Entität angenommen, die in die Position dessen einrückt, was einst das Wesen war. Vielmehr existieren die Systeme und mithin ihre Struktur nur als radikal temporalisierte: Von Operation zu Operation steht die Existenz des Systems auf dem Spiel. Ein Kommunikationssystem existiert nur so lange, wie Anschlußkommunikationen folgen - bleiben sie aus, verschwindet das System. Wie aber ist dann von Struktur zu sprechen? Diese kann allein in der Form der Ereignisse, die das System ausmachen, liegen: Diese Ereignisse sind hier gefaßt als Operationen eines bestimmten Typs, die zudem auf vorangegangene Operationen desselben Typs rekurrieren und Vorgriffe auf zukünftige beinhalten. Diese Rekursivität und Prokursivität der Ereignisse kann man auch derart beschreiben, daß die Ereignisse als Selektionen aus einem gemeinsamen Potential erscheinen. Dieses Potential entfaltet sich als der Kontext eines Ereignisses und macht die in ihm auf spezifische Weise aktualisierte Struktur aus. Sofern die Ereignisse auf dieses Potential referieren, zeigen sie die Struktur an: "Selektionen, die dies [i.e. die Aktualisierung des Inaktuellen als Inaktuelles - tk] leisten, wirken als Strukturen - immer nur in dem Moment, in dem sie aktualisiert werden, aber dies nur dank ihrer das Aktuelle transzendierenden Referenzen." (Luhmann 1995a: 209). Dies nun entspricht recht genau der Konstellation von Formen-in-einem-Medium. Die Formen erscheinen als flüchtige, ereignishafte, aktuelle Gestalten, die über Rekurs auf vergangene Formen und durch Anschließbarkeit von weiteren Formen medial verankert wirken. Das Medium macht sich nur an den Formen und als der Prozeß des Koppelns und Entkoppelns von Formen einer gemeinsamen Elementarstruktur geltend, ist aber nie an sich selbst erkennbar [23]- ebenso wie die Struktur sich nur an der Vernetztheit der Operationen abzeichnet, nie aber als solche, jenseits der Ereignisse Realität hat.

Die Einheitlichkeit, Homogenität und Zentriertheit, die der Terminus Struktur und vielleicht auch der Terminus des Mediums, des Mittleren, der Mitte, der Vermittlung implizieren, sind hier sehr weitgehend in Frage gestellt: Alles, was es gibt, ist der jeweils aktuelle Bezug auf eine Strukturiertheit, die aber nie als solche präsent oder gegeben ist, in keinem Punkt sich konzentrieren kann.

(b) Differenztheorie. Luhmann bezieht die Unterscheidung von Medium und Form auch auf seine Applikation dessen, was er eine Protologik nennt, die Gesetze der Form von George Spencer Brown. [24] Die erste Anschlußstelle liegt offenkundig darin, Spencer Browns Begriff der Form auf das zu beziehen, was Form in der Unterscheidung Medium/Form bedeutet. Spencer Brown faßt eine Form als das Gesamt einer Unterscheidung

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auf: Als eine Grenze, die zwei Seiten trennt, sowie den ganzen Inhalt beider Seiten. Eine Form entspricht also nicht bloß einer Figur, sondern der Figur, ihrem Grund und der Grenze von Figur und Grund zusammengenommen. Dabei ist die Form, wie das Beispiel von Figur und Grund schon zeigt, eine asymmetrische Unterscheidung: Sie trennt zwei Seiten, von denen immer nur eine markiert ist, wohingegen die andere als unmarkierte wie ein Hintergrund zurücktritt.

Nun wäre es möglich zu behaupten, jede in einem Medium über strikte Kopplung auszuprägende Form sei eine eben solche Zwei-Seiten-Form: eine Figur vor einem Grund. Die markierte Seite der Unterscheidung wäre jene aktuell wahrzunehmende strikte Kopplung der Elemente, die nur möglich ist vor dem Hintergrund anderer möglicher Kopplungen. Dieser Hintergrund entspräche der unmarkierten Seite der Unterscheidung. So schildert Luhmann das Treffen einer ersten Unterscheidung dann auch als das Ziehen einer Grenze, indem man vom unmarkierten Zustand in den markierten Zustand herüberkreuzt. Mithin wirkt das Treffen einer Unterscheidung wie die Selektion einer strikten Kopplung aus einem unmarkierten Zustand loser Kopplung heraus. Dieses ginge dann vor sich mit Blick auf Entkopplung der gerade etablierten Form hin auf eine andere Kopplung - das wäre in Termini der [p.118] Unterscheidungslogik: Hinüberkreuzen auf die unmarkierte Seite (Entkopplung), die nun markiert würde (Neukopplung). Das also, was Spencer Brown eine Form nennt, entspräche an dieser Stelle der Form-in-einem-Medium: die Form gliche der markierten Seite der Zwei-Seiten-Form Spencer Browns, das Medium wäre festgehalten im unmarkierten Raum (der hier eben nicht gänzlich unmarkiert wäre sondern als das Gesamt der "anderen Möglichkeiten, die das Medium bietet" [Luhmann 1995a:169] mitformatiert wäre).

Gemäß der Schachtelung der Medium-Form-Arrangements wird es nun so sein, daß man die lose gekoppelten Elemente eines Mediums wiederum als Unterscheidungen bestimmen kann: Handelt es sich bei den Formen um voneinander unterschiedene Worte, so sind diese strikte Kopplungen eines medialen Substrats, nämlich von Mengen von Buchstaben, die ihrerseits, wenn man sie als Formen beobachten will, ihren Wert nur als von anderen Buchstaben unterschiedene haben.

Mithin impliziert die Medientheorie bei Luhmann ein konsequent differenztheoretisches Vorgehen, das jedes Vorkommnis nur als Differenz zuläßt, als Markierung, die kontextuiert ist durch ihre unmarkierte Seite. [25] Durch die Einführung der Spencer Brownschen Begrifflichkeit ist an dieser Stelle auch die Möglichkeit eröffnet, die Medium/Form-Unterscheidung auf ihr autologisches Moment stoßen zu lassen: Die Unterscheidung von Medium/Form ist als solche selbst eine Zwei-Seiten-Form. Dies deutet Luhmann so, daß die Unterscheidung von Medium und Form sich selbst (als Form) impliziert (Luhmann 1997: 198) und mithin jede mit ihr arbeitende Theorie autologisch macht: Wer mit der Unterscheidung von Medium und Form arbeitet, wird sich selbst als jemand entdecken können, der eine Form (nämlich die Form Form/Medium) verwendet, die als eine zu begreifen ist, die auf ein Medium (andere sprachliche Unterscheidungen wie System/Umwelt, Aktualität/Potentialität, Selektion/Variation usf.) verweist. Die Theorie findet sich also in dem von ihr abgesteckten Gegenstandsbereich - Zusammenhängen, die sich über Medium/Form strukturieren - selbst wieder.

Des weiteren läßt sich von dieser differenztheoretischen Neubeschreibung aus erschließen, daß es bei der Verwendung von Medien auch darum geht, trotz immer weiter sich spezifizierender Formenwahl immer wieder die Zugänglichkeit von Welt zu regenerieren: Unterscheidungen im Sinne Spencer Browns sind vollkommenes Enthaltensein, "perfect continence" der Welt, die im unmarked space Remarkierung findet. Der Prototyp der Unterscheidung ist hier: etwas Bestimmtes von allem anderen zu unterscheiden. Die Form, sofern sie das Bestimmte, alles andere und die Grenze zwischen beiden enthält ist eine Figur von Welt. In Form der unmarkierten Seite bleibt dabei der gerade nicht in einer Form markierte Rest-der-Welt zugänglich. Und man kann diesen Rest in der Nachfolgeoperation selektiv markieren - unter Einziehung eines neuen unmarkierten Raums, der die Zugänglichkeit der nie vollaktualisierten Welt erneut regeneriert. Desgleichen liefert der Rand des Mediums um die Form die Zugänglichkeit anderer Kombinationsmöglichkeiten und im Ent- und Neuverkoppeln wird dieser Horizont anderer Kombinationsmöglichkeiten laufend regeneriert.

Was also ist ein Medium?

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Was kann angesichts dieser Begrifflichkeiten ein Medium sein? Es ist das Woraus und das Worein einer Form, das als solches nie präsent ist und nicht an sich selbst zu erkennen ist, sondern immer nur an der je aktuellen Form. Die destabilisierende Wirkung eines derart ungreifbaren und von Sein als Präsentsein entfernten Sachverhalts ließe sich sicher in Grenzen halten, wenn man alle Last auf die Form verlagern könnte: Diese in der Aktualität gegebene Bestimmtheit bestimmt auch das Sein des Mediums. Würde man aber so vorgehen, wäre selbst die von Luhmann vertretene basale Asymmetrie aller Unterscheidungen überspannt und die Unterscheidung zur Seite der Form aufgehoben. Will man ernst machen mit der Konzeptualisierung über Distinktionen, so muß man sehen, daß Form nur das ist, was sie ist, aufgrund des Mediums, aus dem heraus sie seligiert wird und das sie bei ihrer Entkopplung regenerieren wird. Eine Form, die nicht als Selektion aus einem Medium erschiene, wäre sinnfrei, wäre keine Form, könnte keinen Beitrag leisten in einem autopoietischen Prozeß. Akzentuiert man die Verwiesenheit der Form auf das Medium, kann man nicht umhin zu sehen, daß hier in den Kern der Aktualität, in das lebendige Jetzt, das mit aller Punktualität eine Bestimmtheit präsentiert, die différance eingeschrieben ist, um mit einem Kunstwort Derridas zu sprechen: die Form ist nur qua sachlicher Unterschiedenheit von der Nicht-Form und vermöge eines Verweises auf das Zeitlich-Differente. Die Verwiesenheit der Form auf das [p.119] Medium trägt in die Form ihre Selektivität, ihre Kontingenz und ihr Eingebettetsein ein - und, um noch über das schon Gesagte hinauszugehen, ihre grundsätzliche Wiederholbarkeit oder Copierbarkeit.

Diese Bestimmungen betreffen in jedem Falle alle sozialen und psychischen Tatsachen, da die Autopoiesis des Bewußtseins wie die des Sozialsystems nur vermöge des Prozessierens von Differenzen von Medium (Potentialität) und Form (Aktualität) möglich wird. Welchen Platz aber nehmen dann jene Vorkommnisse oder Felder ein, die man normalerweise mit dem Wort "Medien" anzuzeigen versucht: das Medium der Sprache, der Schrift, der Rundfunk, das Fernsehen, der Computer?

Zunächst fällt auf, daß es kaum Sinn machen kann, diese als Medium in Sinne einer lose gekoppelten Menge von Einheiten aufzufassen. Wenn man von gesprochener Sprache spricht, meint man schließlich nicht eine Menge von im Sprechen verwandten Elementarlauten, sondern vielmehr: diese Elemente und die Arten und Weisen, in denen man sie gemeinhin verknüpft. Will man also fortfahren, Sprache oder Schrift als "Medium" zu bezeichnen, wird man "Medium" nicht als synonym mit "medialem Substrat" verstehen dürfen. Man kann statt dessen die Handhabung der Differenz von medialem Substrat und Form insgesamt "Medium" nennen. Mit gesprochener Sprache oder Schrift wären mithin "Medien" im Sinne von Arrangements von spezifischen Differenzen von medialem Substrat und Form angesprochen.

Dabei werden Sprache und Schrift hier näher charakterisiert als Medien der Kommunikation. Kommunikationsmedien liegen im Fall gesprochener Sprache, Schrift oder auch elektronischer Medien in dem Sinne vor, daß jeweils Vorrichtungen und ein Regularitäten aufweisender Gebrauch existiert, welcher die Ausbildung von Formen erlaubt (wobei diese Formen jeweils als Kopplungen eines spezifischen medialen Substrats zu analysieren sind), die in Kommunikation verwandt werden: Vermöge der in diesen Medien vollzogenen Kopplungen und Entkopplungen der z.B. stimmlichen, schriftlichen oder audiovisuellen Formen können sich Kommunikationsoperationen - als Formen höherer Ordnung - ausprägen.

Kommunikation wird hier im Kontext der Luhmannschen Soziologie recht spezifisch als ein systemisches Geschehen gedacht, das aus einzelnen Kommunikationsoperationen sich zusammensetzt, die jeweils in der Engführung dreier Selektionen bestehen: die Selektion einer Information, einer Mitteilung und eines Verstehens müssen zusammentreffen, wobei das Verstehen gerade die Operation abschließt, indem im Verstehen die Selektionen von Information und Mitteilung unterschieden und aufeinander bezogen werden. In Begriffen von Handlung vereinfacht könnte dies heißen: Ego beobachtet die hektische Handbewegung von Alter und faßt sie als die Selektion einer Mitteilungsweise der Information auf, daß es dort drüben etwas zu sehen gibt - wobei im Moment auch andere Informationen hätten ausgewählt werden können. Dieses Unterscheiden und Aufeinanderbeziehen von selektiver Information und selektiver Mitteilung firmiert hier als "Verstehen" - unabhängig davon, was Alter mit seiner Handbewegung sagen wollte und ob er überhaupt etwas sagen wollte. Dabei wird man von Kommunikation erst reden wollen, wenn das Verstehen nicht nur einem psychischen Akt

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von Ego entspricht, sondern sein Verhalten derart affiziert, daß es sich in Anschlußkommunikationen bemerkbar macht.

Das Zustandekommen einer Kommunikation besteht mithin in der strikten Kopplung von Selektionen (die hier den Status lose gekoppelter Elemente haben). Dabei wäre die Koppelbarkeit der Elemente schon relativ spezifisch, insofern immer nur die Kopplung dreier aufeinander verwiesener Selektionen unterschiedlicher Art (Informationen, Mitteilungen, Verstehensselektionen) eine Form ergäbe. Nun lieferten Kommunikationsmedien als ein mediales Substrat Mengen lose gekoppelter Elemente (z.B. Worte), die bei fester Kopplung Selektionen (Aussagen) als Form ausbilden. Dabei hätte - angewandte - Sprache die Spezifität, in der Kopplung zu Aussagen (sprachliche Formen) bereits Informations- und Mitteilungsselektionen zu kombinieren (im Sinne der performativen und der konstativen Aspekte der Äußerung). Damit es dann zur Schließung der kommunikativen Operation käme, müßte nur noch eine Verstehensselektion hinzutreten, die sich erneut durch eine Aussage (sprachliche Form) markieren ließe. Eine geregelte Sequenz von Aussagen würde folglich die Sprache (als Menge lose gekoppelter Worte mit bestimmten Verknüpfbarkeiten) in Anspruch nehmen, um in übergreifenden Sprachmustern Kommunikationsoperationen (Kopplungen von Selektionen) auszuprägen.

Die Elemente, die nun gesprochene Sprache, Schrift, Telephon, Telegraphie, E-Mail, bewegte Bilder, Computer zur Verfügung stellen, damit man Formen ausprägen kann, an denen die [p.120] Differenz von Information und Mitteilung sich abzeichnet und in deren Verwendung es zur Einzeichnung von Verstehen kommt, variieren ganz erheblich - mit weitreichenden Folgen für die Struktur gesellschaftlicher Kommunikation. Dabei ist die für die Luhmannsche Kommunikationsoperation paradigmatische Situation durchaus die über gesprochene Sprache vollzogene Kommunikation unter Anwesenden: Hier sind die eingeprägten Formen schon aus Gründen der Beschaffenheit des medialen Substrats (das sich aus Lautkomplexen, also momenthaft präsenten Vorkommnissen, zusammensetzt) genau so zeitpunktgebunden, wie es für Operationen temporalisierter Systeme eingängig ist. [26] Jeder Laut ist unmittelbar nach seinem Erscheinen verschwunden und es ist nicht anders denkbar, das System fortfahren zu lassen, als durch ein neues Arrangement von Lauten, das zugleich ein Verstehen der vorhergehenden Artikulation markiert und als zu Verstehendes für die nächste Anschlußkommunikation fungiert.

In Schrift, Buchdruck, Telekommunikation, bewegten Bildern und Computern finden sich nun entscheidende Abzweigungen von diesem Ausgangsfall. Sofern die gesellschaftliche Kommunikation mehr und mehr auf Schrift, Buchdruck und elektronische Medien umstellt, um Kommunikation sich reproduzieren zu lassen, kommt es zu einer praktischen Dekomposition der Operation Kommunikation, die Luhmann zusammenfassend als "soziale Entkopplung" (Luhmann 1997: 309) der Kommunikation begreift: Kommunikation geschieht nun jenseits einer über gemeinsamen Raum und gemeinsame Zeit strukturierten Gegenwart mehrerer Bewußtseine, Information und Mitteilung einerseits und Verstehen andererseits werden zunehmend raumzeitlich enkoppelt und vor allem in den elektronischen Medien schwindet die Bedeutung der Leitdifferenz von Information und Mitteilung, die überhaupt die Ausdifferenzierung der Sozialdimension als getrennt von der Sachdimension ermöglichte. Das ist ganz ohne Verrenkung als eine praktische und operative Dekonstruktion der gesellschaftlichen Kommunikation zu beschreiben, die hier durch neue Kommunikationsmedien (im Sinne von: Medium-Form-Arrangements) eingeleitet wird, die nicht mehr klarer Weise Kommunikationsmedien sind.

Dies ist dann auch der Hintergrund, vor dem die Unterscheidung von Medium und Form eine "gesteigerte Bedeutung" (Luhmann 1997: 311) erhält, eine Dringlichkeit, die sich in Beschreibungen umsetzt, wie einer Rede vom Medienzeitalter oder einer Prominenz des Medienbegriffs, die die Frage erfordert, was der Begriff leistet und vor allem Anregung gibt, die Frage nach den Medien grundsätzlich zu stellen, um die bereits vor der Hervorbringung bestimmter neuer Medien vorhandene Medialität als Struktur aufzuspüren.

Dabei ist Luhmann sehr zurückhaltend in seinen Hauptthesen über die Folgen der medialen Entkopplung der Kommunikationsoperation für das weitere Prozedieren von Gesellschaft. Klar ist nur, daß bei der Kommunikation unter Abwesenden (also in allen Formen der Telekommunikation) und unter Entkopplung von Information/Mitteilung und Verstehen das Zustandekommen von Kommunikationsoperationen und vor allem

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das klare Annehmen von Selektionsofferten immer unwahrscheinlicher wird. Für den Fall der Schrift und des Buchdrucks war die Folge die Entfaltung "symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien" (wie Wahrheit, Werte, Liebe, Macht/Recht, Eigentum/Geld, Kunst), die die Funktion erfüllen, die Annahme von Kommunikationen - das heißt, daß Kommunikationen zu Prämissen für nachfolgende Kommunikationen werden - wahrscheinlicher zu machen. Auch für diese Medien fungieren weiterhin die Selektionen von Informationen, Mitteilungen und Verstehensvollzügen als das mediale Substrat. [27] Das Neuartige liegt in den Restriktionen, unter die sie die strikte Kopplung der Selektionen stellen. Ganz grundsätzlich laufen sie über den Mechanismus, für die Selektionen bestimmte Konditionierungen auszudifferenzieren, die dann mit Motivationen verbunden sind, die so konditionierten Kommunikationen anzunehmen: Man muß Information und Mitteilung hin auf "Wahrheit" seligieren (durch Orientierungen an Theorien und Methoden) und macht mithin eine Annahme der Kommunikation durch Folgekommunikationen, die dann in ähnlicher Weise spezifiziert sind, wahrscheinlicher. Oder aber man orientiert die Selektionen an Gesichtspunkten der Passung ihrer Elemente (Kunst) und macht dadurch die Annahme in einem anderen Kommunikationsfeld wahrscheinlicher. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien leisten mithin vor allem eine inhaltliche, semantische Spezifikation von Kommunikationsofferten, die von personaler Anbindung unabhängig machen: Egal, wer etwas in welcher Absicht, wann und wo auch immer mitgeteilt haben mag, welche Autorität ihm auch zugekommen sein mag, er hat Information und Mitteilung derart semantisch spezifiziert, daß ich mich vor dem Hintergrund symbolisch generalisierter [p.121] Kommunikationsmedien aufgefordert sehen kann, sie zu akzeptieren.

Es scheint aber fraglich, ob symbolische Generalisierung das Fortsetzen von Kommunikation ermöglichen könnte angesichts audiovisueller sowie computerbasierter Kommunikationsmedien. Die audiovisuellen Medien scheinen schlicht "alles" kommunikabel zu machen und lassen dabei die Unterscheidung von Annahme/Ablehnung als solche in den Hintergrund treten. Die computergestützte Kommunikation führt sogar zu einer semantischen Entkopplung durch die Transformationen, die zwischen in- und output intervenieren.

Dennoch liegt hier wohl in symbolischer Generalisierung die einzige vorbereitete theoretische Lösungsoption, wie gegenüber den in diesen Medien vorhandenen Kommunikationsofferten geregelter Anschluß zu finden ist. Diese Option setzt dabei - der Tendenz nach recht traditionell auf semantische Vereinheitlichung und auf asymmetrische, binäre Codes, um Anschlußfähigkeit zu generieren. Eine Alternative zur Kontinuierung entlang der diversen Kommunikationsmedien ist schwer zu sehen. Es gibt allenfalls eine Andeutung Luhmanns, die aber in ihrer Vagheit fast eher als weiterer Schritt der Dekomposition der Gesellschaft denn als Weg des Wahrscheinlicherwerdens von Kommunikation aufzufassen ist: "Vielleicht gibt es eine ganz neue Fähigkeit, Überzeugungen ganz einfach dadurch zu erzeugen, daß man vor dem Bewußtsein sofort wieder verschwindende Ereignisse aufblitzen läßt, das dann, w i e aus sich selbst heraus, eigene Schlußfolgerungen zieht." [28] Das entscheidende Wort, um hier Sozialität und Kommunikativität trotz "sozialer Entkopplung" zu reklamieren, liegt in dem von uns gesperrten "wie", welches unterstreicht, daß es hier nicht um die Autopoiesis des Bewußtseins gehen kann, das aus sich selbst heraus Schlußfolgerungen zieht, sondern um eine sich fortschreibende Sozialität, die lediglich einen neuen Operationstyp oder zumindest eine neue Technik verwendet, um ihr Netz fortzuweben: sie benutzt die scheinbar selbstläufigen, punktuellen, scheinbar idiosynkratischen Assoziationen, um soziale Redundanz entstehen zu lassen. Allein wie das gelingt, bleibt unklar. Es wird deutlich das genau hier das Feld für weitere Forschung beginnt.

Wollte man hier etwas zu schnell vorgehen, könnte man auf etwas verweisen, das als eine alternative Beschreibung in Frage kommt, wie Fortsetzung von Sozialität angesichts dekomponierender Kommunikationen - zumindest in einigen spezifischen Bereichen - sich realisiert: Derridas Schilderungen des "archive fever" und insbesondere der Arbeit an und mit den Gespenstern, das heißt mit dem, was nur kurz vor dem Bewußtsein aufblitzt und es im folgenden seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen läßt. Diese Schlußfolgerungen sieht Derrida vor allem in dem Versuch dieses Bewußtseins, in diesem Aufblitzen einen Vorläufer zu finden, den man beerben, das heißt selektiv wiederholen muß, wobei dieser Erbschaft eine Trauerarbeit koextensiv wäre. Genau dort, wo der Marxsche Text im gegenwärtigen Diskurs mehr und mehr unlesbar wird, keine klare Kommunikationsofferte mehr zu sein scheint, versucht Derrida ihn wieder lesbar zu machen, indem er seine Gespenster "beschwört" und den Text zu beerben sucht.

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Bevor wir aber diesen Strang entwickeln können, werden wir erst darstellen müssen, inwiefern Derrida unter dem Namen Hantologie, ohne sie in aller Strenge zu entfalten, eine Theorie der Medialität angedeutet hat, die eine Reihe der Aspekte der Luhmannschen trifft, aber auf für uns interessante Weise anders akzentuiert.

III Jacques Derridas Hantologie

Marx' Gespenster

In der sehr komplexen Intervention "Marx Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale" [29] läßt Derrida verschiedenste Register sich überkreuzen, ohne den Verlauf des Textes danach auszurichten, was an formalisierbaren Theoremen sich ergibt. [30] Insoweit bleibt hinlänglich unklar, was in diesem Buch eigentlich geschieht. Ein Element scheint eine - nicht als solche ausgewiesene - Theorie der Medialität zu sein, welche die Struktur, die wir als die eines Mediums kennzeichnen würden, unter dem Phänomen der Spektralität, der Gespenstigkeit erscheinen läßt. Dies kann man sehen, wenn man versucht, die Bemerkungen über das Erscheinen des Gespenstes, des Spuks, der Heimsuchung hin auf die Differenz von Medium und Form zu lesen. Dabei bieten sich vorderhand zwei Strategien an: Die Gespenstigkeit ist die Form dessen, was man eine Form-in-einem-Medium nennen könnte: sobald etwas mediatisiert ist, hat es etwas Gespenstisches. Die zweite Strategie: Der Spuk und das Gespenstische sind Formen, in denen sich das Medium als solches artikuliert. Beide Strategien laufen dabei auf ein gemeinsames hinaus: Wenn eine Form gespenstisch erscheint, [p.122] dann deshalb, weil an ihr der Schatten des Mediums auftaucht [31], das strukturell immer schon als ihr Kontext mitgegeben war.

Das Gespenst als Form-in-einem-Medium

Wir setzen damit an, "Gespenst" als mediatisierte Form aufzufassen. Den ersten Ansatz dazu bieten Derridas Bemerkungen zum Verhältnis von Geist und Gespenst. Das Gespenst gilt ihm mit Bezug auf Marx als eine paradoxe Verkörperung, als fleischliche Erscheinungsform des Geistes (Derrida 1995: 21), oder allgemeiner gesprochen des Ideellen. Der Geist inkarniert sich im Gespenst und wird so zu einem schwer benennbaren "Ding". Ein Gespenst würde folglich darin bestehen, daß eine Idealität oder Form (Geist) in einem Medium, einem materiellen Substrat (Leib), in dem sie nicht natürlicher Weise ausgebildet ist, Gestalt annimmt. Bei Form im Sinne Luhmanns hat man es mit eben solch einem "Ding" zu tun: Von der Beschreibung Heiders her liegt zunächst ein Ding vor, in dem Form und Substrat natürlicherweise zusammenstimmen. Dieses nun erzeugt im medialen Substrat die Einprägung einer Form, die dort nicht natürlicherweise oder von der Eigenstruktur des Substrats aus zu erwarten wäre. Diese Form in einem Medium ist also die bloße Spur des Dings, eine "falsche Einheit", also präzise ein "Ding" in Anführungszeichen. Formen im Sinne Luhmanns werden nun gedacht ohne Bezug auf das erste, natürliche Ding und betreffen nur noch die "falschen Einheiten", die "Dinge", die sich in einem Medium (Leib), d.h. einer lose gekoppelten Menge von Elementen, ausprägen.

Marx, der Derridas Referenzautor im Bezug auf das Gespenst ist, akzentuiert, daß die Verleiblichung des Geistes im Falle des Gespenstes in einem prothetischen Leib stattfindet. Er schildert den spektrogenen Prozeß, die Erzeugung eines Gespenstes (in unserer Lesart: einer Form), als einen Abstraktions- und Inkorporationsprozeß: Zunächst löst man eine Idee oder einen Gedanken von seinem Substrat ab, um ihm dann einen anderen artifiziellen, prothetischen Leib zu geben (Derrida 1995: 200). Dies erzeugt ein Gespenst, ein Phantom des Geistes. Nun bricht Derrida mit dem von Marx hier noch hochgehaltenen Gegensatz zwischen dem natürlichen und dem prothetischen Leib und macht mithin jede Verkörperung von Geist, das heißt: jede in einem Substrat ausgeprägte Form, letztlich zum Gespenst (- ganz analog zu Luhmann, der in seiner Leseweise Heiders jede Form zu einer "falschen Einheit" macht).

Wir qualifizieren unsere Aussage hier mit der Wendung "letztlich", da es offensichtlich keinen Sinn hat, alles vorkommende, alles Gestalt habende, immer und überhaupt als Phantom oder Gespenst auszuweisen. Es ist lediglich so, daß es zur Struktur jeder Gestalt gehört, daß es in jedem Moment möglich ist, an ihr etwas Gespenstisches auszumachen - indem man nämlich an ihr kenntlich macht, inwiefern sie nur die Aktualisierung in einem Medium beziehungsweise die Aktualisierung eines Mediums ist. Diese Medialität läßt sich bei Derrida

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vom Term der Iterabilität aus erläutern. Sofern etwas Vorkommendes Form, Gestalt oder "Geist" hat, so eignet ihm eine gewisse Idealität. Idealität in Derridas Sinne kommt nun nur jenem zu, was wiederholbar, was iterierbar ist. Wiederholbarkeit aber ist nicht einfach das Andauern von etwas, Fortbestand in einem unzerstörbaren Zustand. Wiederholbarkeit muß doch vielmehr meinen, daß etwas - paradigmatischerweise etwas Ereignishaftes - zu verschiedenen Zeitpunkten, an verschiedenen Orten hervorgebracht werden kann. Dann aber ist alles, was Form hat, auf den Moment in sich selbst geteilt, löst sich unmittelbar von sich ab. Es kann nur dann als Form-habend erkannt werden, wenn an ihm sichtbar ist, wie sich von der Aktualisierung in diesem oder jenem Substrat eine Form ablösen läßt, um sie zu anderer Zeit, an anderem Ort, in einem anderen Substrat erneut zu aktualisieren. Als Form erkennen läßt sich dasjenige nur, wenn es virtuell schon eine Wiederholung ist. Diese Aktualisierung, der man gegenübersteht, kann also nie die Auszeichnung erhalten, die Form in ihrem natürlichen Leib zu zeigen, da zur Formalität der Form eben gehört sich immer schon von ihrem Leib abzulösen. Jeder Leib ist insoweit ein prothetischer. Gleichwohl behauptet Derrida keineswegs einen Idealismus der Form, mit dem ein Reich abstrakter Idealitäten unterstellt wäre, die sich immer nur flüchtig in ihnen letztlich äußerlichen Materien einprägen. Formalität und Idealität sind vielmehr Effekte einer wiederholenden Praxis - die Derrida unter dem Namen einer verallgemeinerten Schrift bedenkt: Es handelt sich um Effekte in einem laufenden De- und Rekombinieren von durchaus "materiellen" Mustern. Wiederholbarkeit und Idealität sind hier das Korrelat von Medialität: eines prothetischen Leibes, der sich de- und rekombinieren läßt und mithin erlaubt, bestimmte Ausprägungen zu regenerieren.

Jede Form als wiederholbare hat dabei etwas Gespenstisches, sofern sie im vorhinein [p.123] heimgesucht ist von ihren vergangenen und zukünftigen Iterationen, die schon in der äußeren Gestalt, erst recht aber in ihrer Signifikanz im ganzen Gefüge anderer Formen, Variationen aufweisen. Im Grenzfall wird die Form als eine in einem Set von De- und Rekombinationsmöglichkeiten wiederholbarer Komplex von eben diesem Medium selbst heimgesucht: an ihr wird kenntlich, daß sie - wie im Prinzip jede Form - nur aufgrund der De- und Rekombinierbarkeit ihrer Züge ist. Wenn man dies beobachtet, dann kann man der Form etwas Gespenstisches attribuieren. Das entspricht der Erfahrung, eine Form wahrzunehmen, in der eine oder mehrere andere Formen diffus zu spuken, "mitzuschwingen" scheinen. Das muß nicht eine ängstigende Form annehmen, wird aber durchaus darin wiederzugeben sein, daß einen da unter einer Form etwas besticht, verfolgt, daß man - mit einem englischen Wort gesagt - "haunted" ist.

Was erzwingt die Semantik des Gespenstes?

Welchen Sinn aber hat es, mit dieser doch recht eingreifenden Interpretation auf eine Strukturähnlichkeit zur Beschreibung Medium/Form hinzuführen, um das Gespenst als eine Gestalt der Form-in-einem-Medium aufzufassen? Warum "Gespenst" ("spectre", "revenant") sagen, wenn man klarer und direkter "Form" sagen kann? [32] Dieser Kunstgriff hat den Sinn, die Tragweite der begrifflichen Konzeption von Medium/Form auszumessen. Wir versuchen mit dem Gespenst das Paradigma der Form anzugeben, auf das man stößt, wenn man beginnt, sie konsequent auf das Medium zu beziehen: Die Form erhält in diesem Bezug etwas Spektrales, wird ein Wiedergänger, der nicht die Form des Seins hat, sondern in der Form der Heimsuchung, des "es spukt" vorkommt. Was es genau bedeutet, die Form zum Gespenst zu machen, kann man in drei Zügen andeuten, die der temporalen Struktur, der phänomenalen Erscheinungsweise und der Rezipierbarkeit der medialen Form gelten:

(a) Die temporale Struktur des Gespenstes. Das Gespenst entsteht in klassischen Formulierungen derart, daß ein Ideales von einem Substrat abgelöst wird und in einem anderen Substrat sich inkarniert. Mithin ist das Gespenst ein Wiedergänger, ein Revenant, ein Zurückkommender. Es erscheint als etwas Vergangenes, das sich an dem Punkt des Spuks in modifizierter, in uneigentlicher Form wiederholt. Dabei handelt es sich im genauen Fall eines Gespenstes um einen Toten oder eine Tote, der oder die gleichwohl in anderem Körper wiederkommt - was hier den spezifischen ängstigenden Spuk des Gespenstes ausmacht: die Wiederkehr des Toten zu sein. Diese Figur ist im strengen Sinne wohl kaum auf den allgemeinen Begriff von Form-in-einem-Medium zu applizieren. Durchaus verallgemeinern läßt sich aber, daß die Gestalt des Gespenst wie die der Form bedeutsam ist, nur insoweit sie etwas Gewesenes wiederholt, nur insofern sie also einen Rückgriff impliziert. Das in ihrer Vergangenheit Liegende scheint also die Quelle ihrer Geformtheit, die sich hier in einen anderen Körper

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übersetzt. Dabei aber ist das Gespenstische nie einfach damit abgegolten, daß man hier und jetzt den Toten wieder wachruft. Es ist vielmehr der zeichengebende Tote, der prophetische Wiedergänger, jener der gewissermaßen eine Zukunft ankündigt, der das Gespenstische ausmacht. Das Gespenst als ein Spuk hat nicht die ganze Kraft einer natürlichen Gegenwart eines ehemals Vergangenen: der Spuk scheint vielmehr aus der Zukunft zu kommen, er scheint lediglich anzukündigen: ich werde wiedergekommen sein. Das zumindest ist es, was Derrida unter dem Wiedergänger verstanden wissen will: Er ruft jemand Totes wach, aber kommt aus der Zukunft, hat den Charakter einer Ankündigung, eines Versprechens, ist ein Kommender, bleibt ein Kommender, zu-Künftiger, à-venir, bleibt virtuell und vage, steht noch aus. [33]

So gesehen wäre das Gespenst eine flüchtig erscheinende Gestalt, die den Rückgriff auf die Vergangenheit wie den Ausgriff in die Zukunft bedeutet. Dabei aber ist sie nicht perfekte Wiederholung oder Versprechen einer vollen Wiederholung, sondern von einer ganz spezifischen, jeweils singulären Form: sie ist ein Ereignis, im strikten Sinne eine Singularität. Am Gespenst zeigt sich zugleich Wiederholung und erstes Mal (wie auch Wiederholung und letztes Mal). Das Gespenst nimmt eine Form auf und kündigt ihr Wiedererscheinen an - das aber in einer Form, die von singulärer Gestalt ist und nie eine ganze Wiederholung darstellt, oder in Zukunft eine volle Wiederholung erfahren wird. Gespenster wären Ereignisse, an denen eine gewisse Selektivität haftet, die sie in actu eine Struktur evozieren läßt, in der sie aber nicht aufgehen. In der Figur des Gespenstes kann man mithin eine poststrukturalistische Konzeption des Ereignisses ausmachen. Es ist situiert in einem zeitlichen Prozeß der Iteration mit Zügen von Wiederholungen und Variationen, dem etwas Spukhaftes zueigen ist: Man hat [p.124] jeweils nur etwas vor sich, das qua Wiederholbarkeit Strukturiertheit evoziert, und etwas Vergangenes wachzurufen scheint, dennoch aber ganz einzigartig ist. Man hat zudem etwas vor sich, was nie ganz hier und jetzt ist, sondern noch aussteht, auf Zukünftiges verweist. Das Gespenst als Gestalt des Ereignisses besteht gerade in der aktuellen Aufspreizung auf Vergangenes und Zukünftiges, ist eine Spur der Vergangenheit, die die Zukunft ankündigt. An der Form wird unter der Gestalt des Gespenstes das Wirken des Nichtpräsenten deutlich.

Die hier angelegte Theoriedisposition führt in eine Lehre der Heimsuchung, die Derrida "hantologie" nennt, um so stumm mit dem Vorsatz eines "h" ein Denken des Ereignisses in die "ontologie" einziehen, sie heimsuchen zu lassen (Derrida 1995: 27). Dabei markiert Derrida von Anfang an, daß es damit nicht um eine Aufgabe der Ontologie geht, sondern um eine Wiedereinschreibung in eine weiter gefaßte Logik des Spuks, die recht verstanden keine Logik oder Lehre mehr ist (wie man sich beim Lesen von Marx' Gespenster unschwer überzeugen kann), sondern nur der Versuch, das Medium der Form "Sein" zu remarkieren. Sein - wohl in erster Linie Sein des Daseins - wird dann reinterpretiert als Erben, und das kann heißen: als selektives Wiederholen in einem Medium. Als wiederholbares und mediatisiertes ist das Sein - des Daseins - für jeden Spuk offen. Das, was Sein hat, ist nicht mehr Ding, Objekt, Seiendes, sondern wird zu einem Ereignis, das nur ist, insoweit es einerseits wiederholt und verspricht, also auf anderes herauskommt, und insofern es andererseits genau diese Bezüge an einem Punkt zu einer singulären Gestalt gerinnen läßt, also ganz einzigartig, ganz in sich und auf anderes irreduzibel ist. Die Einzigartigkeit besteht dabei gerade in der Art und Weise des Verwiesenseins auf Anderes und mithin ist die Identität des Ereignisses eben genau seine spezifische Weise der Verwiesenheit (oder, wenn man so will: seiner Selbstdiversität).

(b) Die Erscheinungsstruktur. Neben den temporalen Bestimmungen läßt sich die Art von Phänomenalität, die ein Spuk beinhaltet, noch näher charakterisieren - um so auch klarer die Spezifität dessen, was ein Gespenst - und nicht bloß das Ereignis im allgemeinen - ist, zu sehen. Das Gespenst ist nicht einfach ein Ding in Aktualität. Es ist ein Un-ding, eine paradoxe Erscheinung: Es ist die Erscheinung von Entschwundenem - und zwar des Entschwundenen als Entschwundenes. Im Gespenst macht sich das Virtuelle, das Abwesende, das Inaktuelle als solches aktuell geltend. Das Gespenst entsteht (gemäß der klassischen Schilderung) durch die Inkarnation einer Form (Geist), realisiert sich aber nur insoweit, als im Gespenst sowohl Geist wie Phänomenalität verschwinden und vielmehr einem ungreifbarem Spuk Platz machen. Derrida evoziert zur Veranschaulichung auch das Cliché des Gespenstes als einer transparenten, halbdurchsichtigen Erscheinung. Das Gespenst macht so Entschwundenes als solches sichtbar, gibt die Unsichtbarkeit selbst zu sehen. So gefaßt scheint das Gespenst eine Figur zu sein, an dem das Medium selbst sich bemerkbar macht: Ohne daß eine klare Form geprägt wäre, gibt sich hier eher die Gruppe "lose gekoppelter Elemente", in denen die Formen virtuell, schemenhaft warten,

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zu sehen. Der Spuk wäre eine Figur des Mediums selbst - die gleichwohl operieren macht, also so etwas wie "anschlußfähig" ist. [34] Von Luhmann aus scheint dies eine unwahrscheinliche Konstellation, da im Grunde nur die Form als anschlußfähig firmiert und das Medium dasjenige ist, was in der Operation hinter ihr zurücktritt. Wie sollte also das Medium selbst in Erscheinung treten?

Inwiefern diese Art von Spuk möglich wäre, läßt sich von der Qualifizierung des Spuks als etwas "sinnlich unsinnliches" zeigen, die Derrida aus Marx' Warencharakteristik aufnimmt: Sobald etwas mediatisiert ist, scheint es beschreibbar als sinnlich unsinnlich: Es gibt sich zu sehen, ist wahrnehmbar, aber nur im Horizont von aktuell nur unsinnlich gegebenen Sachverhalten: 1. Die früheren und zukünftigen Wiederholungen seiner Form und 2. der anderen im Medium möglichen Formen, die den Absetzungshintergrund der Form bereit stellen. Die Form ist mithin ein sinnlicher Zugang zum Unsinnlich-Mitgegebenen. Das Ausmaß, in dem man die Form in spezifizierender Absicht eine gespenstische oder unheimliche nennen könnte, wäre daran zu bemessen, wie vage und kurz der Moment der "Sinnlichkeit" wäre, der hier den Verweis auf eine Mannigfaltigkeit unsinnlicher Gegebenheiten erlaubt. [35] Je gespenstischer also, desto mehr liegt der Akzent auf dem nur unsinnlich, abstrakt, virtuell gegebenen - desto mehr also macht sich das mediale Substrat bemerkbar. Ein Gespenst wäre also nicht streng genommen ein Medium an sich selbst - dazu weist das Medium ja auch gar nicht die entsprechende Reinheit eines Selbst auf - und folglich auch keine unmögliche Erfahrung. Es würde sich vielmehr zur Erfahrung bringen können als eine Form-in-Dekomposition.

(c) Rezeptionsstruktur. Wenn das Gespenst eine aufgespreizte zeitliche Struktur exponiert und [p.125] nur flüchtig oder vage sinnlich aufscheint, um einen Exzeß der eigenen Form in Richtung des "Unsinnlichen" einzuleiten, dann ist dies mit bestimmten Forderungen an denjenigen verbunden, der das Gespenst wahrnehmen oder adressieren will. Das Gespenstische bietet sich dar in der Form einer Erscheinung, die unerwartbar und kaum kalkulierbar erscheint, die unfixierbar wirkt, wenn sie eintritt, und der etwas Singuläres eignet. Wenn das Gespenst erscheint, ist es nie klar identifizierbar, nie sicher auf einen ursprünglichen Geist zurückzubeziehen, der sich hier ja in einem künstlichen Leib, in anderer Hülle darbietet, quasi unter einer Maske. Diese Maske ist im strengsten Fall, so Derridas Eindruck, ein Visier, das das Gespenst schützt, ihm aber erlaubt, uns anzublicken, das heißt - in Ausnutzung der französischen Semantik des "regarde"- : uns anzugehen. Das Gespenst sieht immer zuerst uns an, und wir sehen nicht, was uns da ansieht.

Dieser Erfahrungstypus des Spuks als einer des Angegangenseins hat nun zwei Aspekte: Erstens ist, das, was einen dort angeht, unerkennbar, unsinnlich, irgendwie diffus, schon vergangen oder noch zukünftig. Hier zeigt sich also eine Form-in-Dekomposition, eine Form, die ins Mediale übergeht. Die Wahrnehmungshaltung müßte hier eine offene sein, die sich darauf einläßt, das Unerwartete und das Unfixierbare mitzusehen, die sich vollzieht als eine Art Wahrnehmung durch Nichtwahrnehmung: man sieht nicht einfach etwas, sondern hat nur einen vagen Eindruck, der etwas Zu-kommendes ankündigt, das auf die Suche setzt.

Der zweite Aspekt des Angegangenseins aber ist, daß es sich bei dem Gespenst um eine soziale Form handelt: Es gilt hier nicht einfach irgendeinen Sachverhalt wahrzunehmen oder zu erkennen, eher die verwischte Fährte einer Person aufzunehmen, diese Person als soziale Figuration aus dem Unerkennbaren hervortreten zu lassen, sie zu "verstehen": verstehen, inwieweit sie einen angeht. Das Gespenst im Kontext Derridas ist gedacht vom toten Anderen, der einen in seinem Verschwundensein weiterhin angeht, eine diffuse Forderung darstellt, etwas mitzuteilen scheint, etwas bedeutet. Wenn es hier also eine Weise der Rezeption dieses Gespenstes gibt, dann nicht einfach durch wahrnehmendes Erkennen, sondern vielmehr in einer Art Verstehen, einer Art Aufnahme des Gespenstes, eine Art Erwiderung seines Blicks. Derrida gibt dem wiederholt die Form, daß es hier gelte, das Gespenst zu "beerben".

Wir finden uns hier also im Falle gespenstischer Formen nicht in einer erkenntnismäßigen oder bloß psychischen Problematik, sondern vielmehr einer des sozialen Anschlusses, was Derrida erläutert am "Gespenst" (Form-in-Dekomposition), sofern es der tote Andere ist. Dieser geht einen nicht in der Weise an, daß man an eine ihm zugeschriebene Kommunikation eine Folgekommunikation anschließen würde. Die Art und Weise, wie man an ihn anknüpft, ist eine Art, ihn zu beerben - und das heißt hier, ihn selektiv zu wiederholen: Beispielsweise seinen Gestus, seinen Stil, seinen Habitus in sich Form annehmen zu lassen, seine Sprechweise in die eigene zu

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übersetzen. Das Vermögen, das von dem Gespenst hier folglich zu erben wäre - das man also auszuagieren hätte -, ist Derrida zufolge die "Sprache" (in einem weiten Sinne), die Fähigkeit also (von dem, was man geerbt hat) zu zeugen. Vom Anderen Züge zu erben, heißt also, Züge des Bezeugens, des Sprechens, des Artikulierens, des Vererbens zu erben und in sich Gestalt annehmen zu lassen. Was man erbt ist also nicht ein Besitz, eine feste Struktur - folglich auch nicht einfach der denotative Gehalt einer Rede -, sondern eher das Potential der Artikulation, eine Sprechweise, eine performative Struktur. Man erbt die Fähigkeit, eine Erbschaft zu hinterlassen, die dem nächsten Erben nichts weiter an die Hand gibt, als die Fähigkeit, auf einen spezifische Weise zu erben - und so fort. Folglich ist diese auf sich selbst zurückkommende Struktur des Erbens nichts anderes als die Gewährleistung eines immerwährenden Anschlusses, indem jede Sprechweise (mit Benjamin wäre zu sagen: Art des Meinens) das Erbe - oder die Übersetzung - der vorangegangenen antritt. Das heißt, eine soziale Operation schließt an vorangegangene hier nicht mehr bloß nach dem Muster Frage-Antwort, Brief-Rückbrief an. Sie schließt an, indem sie vorangegangene Operationen selektiv annimmt, indem sie diese aufnimmt. Dabei muß Aufnehmen jetzt nicht immer heißen: einfach wiederholen. Vielmehr können die Arten, wie man sich unter die Anforderungen eines gewissen Erbes stellt, sehr variieren. Dabei ist entscheidend, daß für ein Erbe im Sinne Derridas konstitutiv ist, daß es Filterung, Auswahl, Selektion erfordert: Ein Erbe ist wesentlich eine in sich ungeschlossene Mannigfaltigkeit und stellt, wenn es angetreten werden soll, vor die Notwendigkeit, nur bestimmte seiner Züge zu aktualisieren. Daher auch kann man davon sprechen, daß das Gespenst vor die Aufgabe des Erbens stelle: hier liegt eine vage Mannigfaltigkeit vor, die einen filternden suchenden Blick in Operation versetzt, in dessen Zuge erst eine Gestalt sich (in dem Rezipierenden) herausheben kann. [p.126]

Derrida versucht nun, diese Struktur des Erbens immer wieder zu verallgemeinern (bis zu dem extremen Punkt, an dem Erben gleichgesetzt wird mit Sein [des Daseins] überhaupt). Derrida nennt so den Versuch, den Marxschen Theoriegestus zu kontinuieren, einen Versuch, Marx zu beerben, und charakterisiert (geistes)geschichtliche Prozesse insgesamt als Ketten von Erbschaften. Erbschaft wird in einem abstrahierten Sinne mithin zu einer Weise des selektiven Kontinuierens, die für das soziale Feld insgesamt gelten könnte und dabei gerade von Formen-in-Dekomposition aus, von gespenstischen Formen aus ansetzen würde. Man könnte hier verschiedene Grobformen unterscheiden, wie politische, ästhetische, familiäre Erbschaften, deren Gespenster einen auf jeweils spezifische Weise angehen und die Forderung stellen: neu zu taktieren, um dieselbe relative Position zu erhalten, immer neue Konstellationen zu vollziehen, um eine gewisse Weise der Passung wiederherzustellen, ein gewisses Trauma durch das Finden immer neuer Maskierungen fortzuschreiben usf.

Die neuen Medien und die Gespenster

Vor diesem Hintergrund läßt sich nun fragen, was durch die aktuellen elektronischen Medien geschieht, wie sie die basale Medialität aller sozialen Phänomene und die korrelative Struktur des Erbes restrukturieren. Was geschieht dadurch, daß die ästhetisch, religiös, finanziell usw. codierten Dinge recodiert durchs Fernsehen, in der Presse, via Cyberspace oder als ein gewisser Posten in einer über elektronische Datenverarbeitung geregelten Transaktion vorkommen, was geschieht, wenn der andere einem nur noch in Gestalt techno-medialer Spuren entgegentritt? Offensichtlich nimmt die ganze Erscheinungsstruktur der sozialen Tatsachen andere Formen an. [36] Das kann so weitgehend und fundamental geschehen, daß es nötig wird, Sozialität als solche, in ihrer Grundstruktur neu zu fassen. Die aus unserem Zusammenhang unmittelbar interessante Dimension der Wandlungen ist gewiß, ob an den sozialen Entitäten ihre Medialität durch die technische Recodierung vielleicht deutlicher zutage tritt, oder ob diese gerade unsichtbarer an ihnen wird. Das ist nun auch die Frage danach, ob die neuen Medien die Gespenster (Formen-in-Dekomposition) zahlreicher machen, die Möglichkeiten und Dringlichkeiten zu erben anreichern oder aber dezimieren.

Natürlich liegt es schon wegen der neuen Prominenz des Medienbegriffes nahe, zu unterstellen, die neuen elektronischen Medien hätten gerade erst zur Verdeutlichung der Medialität der sozialen Dinge verholfen, hätten erst die ganze Codiertheit sozialer Formen und ihr Verwiesensein auf Formen desselben Typs zu Bewußtsein gebracht, hätten in Erfahrungen nur plötzlichen Aufscheinens von Formen das sinnlich Unsinnliche, Chock und Spuk greifbar gemacht. Dies gilt sicher für die Theorie, die von der Entfaltung moderner Medien lernen konnte, wie vermittelt die "Realität" aus strukturellen Gründen seit je sich ergab. Inwiefern die so erschlossene

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Erfahrung der Medialität in den von diesen Medien ausgebildeten Formen auch erneut Eingang gefunden hat, ist verschiedenenorts festgehalten worden. [37] Dabei scheint aber nicht der Eindruck vertreten zu werden, daß dieser Wiedereingang zu einer höheren Bewußtheit geführt hätte oder unmittelbar geschähe. Es braucht aufwendige Lektüre-Bemühungen, um in den Medien die Medien selbst als ihre Botschaft zu lesen.

Mithin ist die Ansicht prominent, daß gerade die neueren elektronischen Medien nicht die Medialität der Erfahrung zu Bewußtsein bringen, sondern vielmehr ideologischen Charakter haben: sie verdecken gerade die Medialität und Selektivität der vorgebrachten Formen und naturalisieren das in ihnen vorgebrachte, wie die Waren den Hang haben mögen, die sie bestimmenden Relationen zu naturalisieren.

Man könnte so versuchen, die Wirkweise der modernen Medien in dem zusammenzuziehen, was Derrida mit dem doppeldeutigen Term der Conjuration faßt: Die neuen Medien verschwören sich im doppelten Sinn: Sie beschwören die Gespenster, um sie dann in einer Verschwörung um so mehr auszutreiben. Die Beschwörung läge darin, die Spuren der Medialität an den Dingen zu evozieren, indem erstens die Medien alles kommunikabel machen, sogar jede Person in mediatisierter Form ihrer Iterabilität aussetzen, das heißt verdoppelbar machen. Dies wäre vor allem eine Sache der allgemeinen Reproduktibilität und würde Doppelgänger, nicht aber unbedingt Gespenster in dem vollen von Derrida herausgearbeiteten Sinne zeugen: Gespenster wären ja eher Formen-in-Dekomposition. Diese könnten die Gestalt haben, daß - zweitens - die Formen auffällige Spuren anderer Formen tragen - an denen etwas Verwirrendes, Bestechendes (im Einzelfall: Beängstigendes) sein müßte, um vom Spuk zu sprechen und nicht bloß von der schlichten Wiederholung des Gleichen. Diese Dekomposition könnte den Charakter haben, eine unstrukturierte, unkoordinierte, vermischende, [p.127] überkreuzende Darbietungsweise einzurichten, die im üblichen Mediengebrauch in der Tat vorkommt und vor der eine starke Aufteilung der Reaktionen in Annahme/Ablehnung eines Dargebotenen und eine Zurechenbarkeit auf erkennbare Personen abnimmt.

Die Austreibung nun des Spuks mit neuen Techniken würde suggerieren, die Wirklichkeit selbst zu erreichen: in Echtzeit, in dem Ereignis absoluter Aktualität, hinter dem die unkoordinierten, sich überkreuzenden Bild- und Tonreihen zurücktreten. [38] Das Live hat seinen spezifischen Wert erst mit dem Medium gewonnen, das am Leben den Aufschub, das Delay und die unmittelbare Wiederholbarkeit markierte. Mit dem Live sucht man nun das technische Medium zum Ort der Präsenz überhaupt zu machen, so daß es zum zentralen und umkämpften Territorium wird.

Wenn die Medien also die Gespenster vermehren, da sie letztlich alles technisch kommunikabel und reproduzierbar zu machen scheinen, da sie Formen übercodieren und die gewohnten semantischen und pragmatischen Ordnungsmuster in Dekomposition versetzen, so zeichnen sich an und in ihnen zugleich die radikalsten Versuche ab, das Wirkliche selbst zu rekonstituieren. Mit Derrida könnte man hier in Analogie zu dem, was er von den philosophischen Gespensteraustreibern Marx und Stirner sagt, den Versuch einer Rückkehr zum Geist auszumachen, einer Rückkehr zur perfekten Form ohne Leib - oder wenigstens: zu einer Form in natürlichem Leib. In diesem Versuch würde man dem Bild einer gänzlich präsenten Idee nachjagen, einer Form, die nicht aufgrund ihrer Wiederholbarkeit sofort beginnt, ihr eigenes Medium zu sekretieren. [39] Eine Form ohne Medium, reine Präsenz ohne Schatten des Nichtpräsenten - das ist vielleicht eine Vision, in der die modernen Medien mit ihrer "Echtzeitübertragung" und die neuen Fundamentalismen zusammentreffen - eine Zusammengehörigkeit auf die Derrida wiederholt verweist.

Gegen Marx und Stirner - und per Analogie, so unsere Lesart, gegen den Mythos der Echtzeit und andere Mechanismen der Präsenzfiktion in den Medien - steht der Appell, die Gespenster einzulassen, zu ihnen zu reden, sie nicht auszutreiben, sich von ihnen ansehen zu lassen.

Dies scheint zu der Engführung zweier Gesten oder Haltungen den Gespenstern gegenüber zu führen: Der des Erbens und der des Trauerns. Die Spur dieser beiden Techniken der Kontinuierung sozialer Realität durchziehen dabei auch andere Arbeiten Derridas - vornehmlich die, die der Frage des toten Freundes und des Archivs gelten. [40] Das Setzen auf Kryptoanalyse, Erbschaft und Trauerarbeit, das hier den Spuk des anderen wachhalten soll, wird dabei entfaltet am Gegenstand "alter Medien", die die Geister vielleicht nur in dem Maße herbeigerufen

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haben, wie sie ertragbar waren: Schichten von Gestein (archäologische Materien), Stadtkörper (architektonische Medien), Schriften, Photographien. Diese Medien scheinen ihre Formen so zu enkodieren, daß in den Formen das Medium sichtlich spukt - das heißt so, daß virtuell andere Formen in der Form spuken. Dieses Spuken macht deutlich, daß es in jedem Moment etwas zu erben gibt - und folglich in jedem Moment etwas zu betrauern ist, da man nicht alles in der Form Spukende beerben kann, sondern immer nur je eine gefilterte Form. Jede existente Form ist eine, die aktiv geerbt wurde - unter den Kosten von Filterung, Selektivität und Vergessenlassen, was darauf verpflichtet, zu trauern um das Nichtrealisierte. Erbschaft und Trauerarbeit, das sind hier komplexe Motive des ständigen Fortsetzens von - medialer - Kommunikation: Einerseits liegt hier der Versuch, die Entkopplung und Dekomposition der sozialen Formen zu verlöschenden Spuren anzuhalten, indem die Spuren gelesen, nachgezogen, beerbt werden. Das aber drängt andererseits bestimmte, nicht nachgezogene Züge der verlöschenden Spuren in den Hintergrund. Zudem reproduziert die Erbschaft die Entkopplung der sozialen Form immer wieder, sofern sie selbst nur die Gestalt einer verlöschenden Spur hat: Geerbt wird schließlich nur eine Weise des Vererbens und diese gibt sich dem nächsten nur zu verstehen unter der Gefahr, ihrerseits unerkannt zu bleiben. Das Erben muß selbst von einem Medium von Spuren zehren, um sich zu manifestieren, um so die nächste Erbschaft - und korrelativ: Trauer über die immer unvollkommene Gestalt des Erbes - ins Werk zu setzen.

Wenn wir hier aber zu suggerieren beginnen, in den Haltungen der Erbschaft und der Trauer fänden sich Operationen, mittels derer die medial dekomponierte soziale Realität sich fortsetzbar hielte - und dies sogar noch ohne eine Präsenzfiktion zu bemühen - muß doch eine gewisse Schrägheit dieses Vorschlags auffallen. Wo es sich aufdrängt, daß der tote Freund einem die Bürde des Erbens auferlegt und verpflichtet, seine Spuren - so verwischt und so verloren sie im Medium der Erinnerung, der Photographien, seiner Texte, der Orte, an denen man ihn finden konnte, sind - so zu lesen, daß man ihm gerecht werden kann, daß man ihn [p.129] beerben kann und zugleich nicht derart aneignet, daß er als Anderer verlöschen würde, da schiene es doch seltsam, eine verirrte, kryptische E-mail-Botschaft einer derart intrikaten Spurensuche unterziehen zu wollen, um "erben" zu können. Die Besonderheit der Erbschaftssemantik, vor allem ihr appellativ-ethischer Charakter und ihre affektive Tönung, läßt es problematisch erscheinen, das "Erben" hier in Richtung auf eine allgemeine, grundlegende Operation sozialer Wiederaufnahme hin zu lesen.

Daneben existiert noch ein weiterer Grund der Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch ergeben, im "Erben" und "Trauern" (im abstrahierten Sinne) andere, durch neue Medien forcierte Modi sozialer Fortschreibung zu erkennen: Geht man von einer systemtheoretischen Perspektive im Sinne Luhmanns aus, die psychische und soziale Systeme als gegeneinander geschlossen auffaßt, ist die Frage, inwiefern diese Begriffe nicht dadurch ungeeignet werden, daß sie in ihrer zunächst handlungstheoretischen Prägung eher psychische Erfahrungen treffen wollen, als Prozesse zu beschreiben, die ein Modus sozialer Autopoiesis sind. In der Tat würde man hier Schwierigkeiten haben, die von Luhmann als basale Operation allen sozialen Geschehens ausgewiesene Kommunikationsoperation (Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen) auszumachen. [41] Das trifft sich aber andererseits durchaus mit dem Befund, die Medien führten zur raumzeitlichen Dekomposition dieser Operation und weiter zur "sozialen Entkopplung". Vielleicht lassen die elektronischen Medien eine andere Ebene der Erzeugung sozialer Redundanz entstehen, die man gerade mit engem Bezug zu psychischen Operationen behandeln müßte. Luhmann selbst macht deutlich, daß die neuen Medien das Problem verschärft vor Augen führen, wie die Autopoiesis des Sozialen sich unter Inanspruchnahme von Bewußtsein fortsetzen kann. Bliebe also die Frage, ob es möglich wäre, die in sehr spezifischem Kontext vorgebrachte Haltung der Erbschaft und der Trauer derart zu verallgemeinern, daß sie zeigte, wie es in enger struktureller Kopplung mit Bewußtsein anhand der in technischen Medien prozessierten Formen zu einer Fortschreibung von Sozialität kommt, die nicht mehr recht zu verstehen ist als Anschluß von Kommunikation an Kommunikation. [42]

III Systematisches und Architektonisches zu einer Theorie der Medien

Aktualität und Potentialität

Nachdem wir nun auf etwas überdeterminierten Wegen eine Reihe von begrifflichen Beständen, Analyseformen und Hypothesen durchgegangen sind, wollen wir einige Linien etwas enger ziehen, um so die Systematizität

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einzuholen, die wir in Aussicht gestellt haben durch eine Frage wie "Was ist ein Medium?", durch einen Vorschlag, Medium/Form zur Leitdifferenz zu machen, und durch den Terminus einer Hantologie.

Wir unterstellen dabei, daß eine historische und kulturelle Situation es nahelegt, ganz elementare Strukturen mittels der Unterscheidung von Medium und Form zu rekonzeptualisieren, da man so die basale Textur sieht, auf deren Grundlage so etwas wie ein "Medienzeitalter" als Selbstbeschreibungsweise der Gesellschaft durchdringend werden kann.

Die allgemeinste Gestalt von Medium und Form suchen wir dabei im Anschluß an die von ontologischer und metaphysischer Tradition geprägten Unterscheidungen von Aktualität und Potentialität sowie von Form und Materie. Sofern Medium/Form mit Potentialität/Aktualität enggeführt wird, ist die über Medium/Form strukturierte Situation immer eine sinnhaft strukturierte Situation, in dem sehr abstrakten Sinne, den Luhmann der Kategorie Sinn gegeben hat. [43]

Ein Medium im Bezug auf eine Form entspricht dem Potential im Bezug auf eine Aktualität. Dieses Potential ist zunächst als potentia passiva aufzufassen, als das Bereitstellen von Möglichkeiten zur Ausprägung eines Aktes (einer Aktualität). Gleichwohl kann man dem Akt nicht die Verantwortung für seine Ausprägung selbst zuschreiben. Es ist vielmehr die Verkettung der Akte, das heißt also die gerichtete Fortschreibung des Mediums als Potential von Ausprägung, die neue Akte hervorbringt. Folglich hätte man ebensoviel Recht, dem Medium Eigenschaften der potentia activa anzusinnen. Diese etwas unklare Situation lösen wir auf, indem wir uns mit unserer Rede von Medium/Form an den Fall halten, in dem es ein temporalisiertes System gibt, das heißt einen in der Zeit sich ausspinnenden, sich selbst reproduzierenden Zusammenhang, der in der Verkettung von Formen besteht. Der Träger der Aktivität, der Potenz des Einprägens der Akte, wäre mithin das System. [44] Dasjenige, aus dem heraus es Formen prägen würde, wäre das Medium. Das Medium ist nun aber nicht einfach als ein Material gedacht, sondern ist ein Korrelat des Anschlusses von Form an Form.[p.129] In diesem Anschluß zeichnet sich, wenn es sich um ein System handeln soll, eine Kohärenz ein, das heißt eine Isomorphie der Formen, die aber, wenn es sich um eine temporalisiertes System handeln soll, keine absolute Isomorphie sein kann: Ohne minimale Variation der Formen, wäre Zeit hier nicht gegeben.

Das System bestünde also, so die These, in einem variierenden Wiederholen von Formen. In diesem Zusammenspiel von Alteration und Wiederholung ließen sich zu jedem Moment per Analyse bestimmte distinkte Züge der verketteten Formen, eine bestimmte Elementarstruktur dieser festmachen. Diese Elementarstrukturen, diese zu Elementen dekomponierten Formen sind nun eine Weise, in der das Medium beschreibbar ist. Das Medium ist mithin kein Material, kein Träger, keine Wachsmasse, die einem Subjekt in seinem Inneren zur Verfügung steht, auf daß es in sie seine Gedanken eintragen könnte. Das Medium ist die in Form von Potential gebrachte Systemvergangenheit. Es ist festzumachen an der Tatsache, daß eine Verkettung von Formen eine Elementarstruktur und Restriktionen von Verknüpfbarkeit erkennen läßt, die in den Formen, verstanden als Rekombinationen der Elemente, lesbar sind.

Insoweit ist die Gegebenheitsweise des Mediums genau in der Systematizität des Systems zu sehen. Dieses System nämlich ist durchaus nicht ein Container, in dessen Inneren Formen aneinandergereiht werden. Es ist einfach die Reihe der Formen als Reihe, das heißt als temporal entfalteter Zusammenhang. Folglich ist es auch keine wirkliche Hilfe, dem System die Einprägeaktivität zuzuschreiben, da es nichts ist, als eben diese Prägung. Auf dieser basalen Ebene macht es noch keinen echten Sinn - außer den des Vertrauterwerdenlassens des Beschriebenen - von Handelndem und Handlung zu sprechen, eine Sprecherin (als Akteurin) vom Wort (als Akt) im Medium der Sprache (als dem Einprägematerial) zu trennen. Wir haben vielmehr einen selbstläufigen Prozeß von Ordnungsaufbau, an dem wir verschiedene Aspekte unterscheiden wollen - Medialität, Formalität, Systematizität, Temporalität usf. - die wir dazu nominalisieren als Medium, Form, System, Zeit usf.

Wir haben nun also das Vorhandensein eines Mediums dadurch erläutert, daß eine Gruppierung zeitlich sequenzierter Formen eine gemeinsame Elementarstruktur und eine restringierte Menge von möglichen Relationen der Elemente aufweist. Diese Gemeinsamkeit gibt der Sequenz offenbar Kohärenz, Einheitlichkeit oder Ordnung. An der einzelnen Form aber ist der Anschein des Mediums nicht einer, der "Einheit" stützt. Die

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Elementarstruktur ist schließlich unterhalb der konkreten Formen anzusiedeln. Greift man die einzelne Form heraus, so hat die Tatsache, daß sie Form-in-einem-Medium ist, die Bedeutung, daß sie komponiert erscheint aus basaleren Elementen, die man auch anders hätte binden können, und daß sie im folgenden variierbar ist, das heißt dekomponierbar und durch eine andere, anders rekombinierte Form zu ersetzen. Form-in-einem-Medium zu sein bedeutet folglich, die Position und Einheit stiftende Zugehörigkeit zu einem Zusammenhang von Formen und das sogleich Einheit und klare Position nehmende Aufgehen in einem Medium, das heißt: in der Möglichkeit anderer Formen. Die Form erscheint als kontingent, selektiv und instabil - und zudem - das ist ein Aspekt, der in einem philosophischen Kontext eher bemerkenswert erscheinen wird als im soziologischen - als uneigentlich: Jede Form ist die selektive Aktualisierung eines Mediums, aus dem sie entsteht und in das sie eingeht und sie ist mithin nie nur sie selbst, sondern die Ausschöpfung des Potentials anderer Formen. Sofern man es mit Formen-in-einem-Medium zu tun hat, so gibt es keine erste Form, keinen Ursprung, kein Original. Auch die Form, mit der die Reihe begonnen haben mag, konnte die Reihe nur anbrechen lassen, sofern sie sich in ein Medium für folgende Formen verwandelte, die mithin von vornherein in ihr zu spuken begonnen hatten. [45]

Das Medium, das man abstrakt einem Potential oder einer Materie annähert, hat also aktuell, an der Form selbst die Erscheinungsweise, die anderen Formen geltend zu machen: indem die Form selektiv im Bezug auf andere mögliche Formen erscheint; indem sie instabil erscheint, da weitere Formen im folgenden möglich werden mögen; indem die Form als modifizierte Wiederholung anderer Formen wirkt.

Wenn man eine Philosophie vom Punkt der Aktualität aus formulieren wollte, so müßte man also Medium, Struktur, System am jeweils aktuellen Ereignis (und das heißt: an seiner Medialität, Strukturiertheit, Systematizität) aufweisen: Diese entstehen, insoweit die Ereignisse eine Selektivität transportieren, die Struktur, Medium, System punktuell als ansonsten Inaktuelles aktualisieren. Daß die Form eine strikte Kopplung jener Elemente darstellt, die das Medium bilden, ist nur eine Art, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die Form übergreifende Struktur fortführt. Nicht immer ist die Identifizierung einer Elementarebene [p.130] besonders instruktiv, um aufzuweisen, daß die Form von einem sie ermöglichenden Medium zeugt. Auch ist es irreführend von Letztelementen zu sprechen, wenn die einzige reale Restriktion für den Letztheitsstatus die Möglichkeit der Aufrechterhaltung von Systematizität einer Reihe ist, die durchaus das Dekomponieren lange unverletzt geführter Elemente miteinschließen kann. [46]

Nachdem nun ein Grundbegriff von Medium und Form herausgearbeitet scheint, steht zu versuchen, tentativ einige Folgen anzugeben für die Frage, was folglich Dinge ausmacht, was eine Ordnungsweise sein könnte, die den Zugriff auf verschiedene Dinge instruierte, welche Rolle die "Medien" einnehmen und welche weitergehenden Fragen sich ergeben.

Ding: Form-in-einem-Medium

Wir haben bei unseren systematischen Bemerkungen damit angesetzt, das denkbar niedrigste Niveau zu charakterisieren, auf das jede Unterscheidung von Medium und Form zu beziehen ist: Wann immer man Medien und Formen beschreibt, charakterisiert man Aktualitäten und die sie erlaubenden Potentialitäten. Dabei lassen sich an Aktualität wie an Potentialität Einheit und Vielheit zugleich ausmachen: Das Medium (als Gestalt des Potentials) ist zugleich Zusammenhang wie auch Mannigfaltigkeit, die Form (als Gestalt der Aktualität) ist eine selektive Einheitlichkeit mit einer Position im Zusammenhang, sie läßt sich aber zugleich als Rekombination anderer Formen lesen und liegt mithin im Zusammenhang verteilt vor.

Um Abstand zu nehmen von einer metaphysischen Redeweise, haben wir schon zwei weitergehende Bezugnahmen vorgeschlagen: die auf Systeme und die auf Zeit. Das Potential, so wollten wir verdeutlichen, ist nicht in derselben Weise gegeben wie die Aktualität, sondern ist an ihr gegeben. Es realisiert sich nur in der zeitlichen Entfaltung, ist aber als solches, zusammengezogen auf einen Punkt virtuell und nur lesbar an Selektivität, Instabilität und Heimgesuchtsein der Form.

Wenn nun die Frage erscheint, was die "Dinge" in dem so bereiteten theoretischen Feld sein mögen, so liegt nahe sie als Formen-in-einem-Medium aufzufassen. [47] Das heißt offensichtlich, daß sie medienrelativ und

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mithin, wenn Medien im Grunde immer mit Bezug auf Systeme erst spezifisch anzugeben sind, systemrelative Größen wären. [48] Um die Medienrelativität einzuholen, kann man nun auf die verschiedenen Grunddimensionen der Unterscheidung von Medium/Form, die wir bereits passiert haben, zurückgreifen: (1) Aktuell/Inaktuell: Die Dinge kommen als aktuelle vor, die erst im Rückgriff und Vorgriff auf vergangene und zukünftige Dinge ihre Form gewinnen. (2) Feste Kopplung/lose Kopplung: Die Dinge sind nicht unteilbar, sondern selektive Kompositionen von Elementen, in die sie wieder zu zerlegen wären und die auch andere Komposition hätten erfahren können. (3) Aktuell/Potentiell: Die Dinge sind aktuale "Realitäten", die nur im Horizont anderer Möglichkeiten an ihrer Stelle Kontur gewinnen.

Auf diesem Abstraktionsniveau überspannen wir extreme Differenzen, da diese Grundcharakteristik ebenso von abstrakten Konstrukten wie von dinglichen Objekten gelten sollte - sofern sie nur angegangen werden unter dem Schema von Form und Medium (das heißt: von Aktualität und Inaktualität, Aktualität und Potentialität, strikter und loser Kopplung). Dieses "sofern" ist erfüllt für unsere theoretische Betrachtung, ferner aber für jede Operationalität, die auf Sinn im Luhmannschen Sinne basiert, also einen Zusammenhang webt, in dem das Negierte nicht - wie in physischen Systemen - zerstört wird, sondern in die Form von Potential gebracht wird. Diese Art von Sinnsystem kann auch in recht simpler Form vorliegen: Man muß nicht unbedingt etwas wie Bewußtheit, das heißt einen Modus von Selbstreflexion, unterstellen. Es reicht basale Selbstreferenz, damit ein System eine operative Unterscheidung von Medium und Form vornimmt und ergo mit Dingen im oben beschriebenen Sinne hantiert.

Für diese Systeme ist diese Form der Dinglichkeit der Grundmodus in dem Welt eröffnet wird. Diese Sinndinge sind auch die Grenzen unserer Welt.

Ordnung der Dinge: Über Systeme

Disponiert man in einer solchen Weise, läuft man offensichtlich auf Fragen einer Ontologie zu, einer Lehre von der Seinsverfassung der vorkommenden Dinge - wenngleich dies ebenso offenkundig mit der Stoßrichtung geschieht, nicht mehr anzunehmen, das Seiende habe die Form eines schlicht vorhandenen, eines geschlossenen, an sich selbst bestimmten Dings. Das Ding scheint mehr zu "spuken" als zu sein. Wir haben auf einer grundsätzlichen Ebene schon [p.131] an den Dingen als konstitutiv ausgemacht, was man in den Merkmalen der Selektivität (Ausschluß anderer Möglichkeiten, die als Potential akut bleiben) und der Temporalität (als Entfaltungsform struktureller Instabilität) zusammenziehen kann. Alles, was als Bestimmtheit (Ding, Seiendes, Objekt, Form etc.) vorkommt, ist zunächst in dieses Grundformular eingelassen.

Es macht in diesem Rahmen keinen Sinn, verschiedene Entitäten, die dinglich sind, unterscheiden zu wollen von solchen Stoffen, die diese Dinge mit Selektivität und Temporalität ausstatten. Man hat es vielmehr immer nur mit unterschiedlichen Dingen zu tun, auf die jeweils relativ eine bestimmte Medialität - um es greifbarer zu machen, mag man auch sagen: ein bestimmtes Medium - charakterisiert werden kann. Die Frage ist, ob hier eine Anordnung der verschiedensten Dinge unmittelbar zur Hand ist, die dem bisher vorgebrachten Rechnung trägt. Hat es Sinn von Bezirken, Bereichen, Regionen, Phasen, Schichten, Ebenen, Niveaus, Stämmen, Gattungen, Arten usf. der Dinge und ihrer Medien zu reden? Ist ein solcher Grundriß der Dinge überhaupt instruktiv?

Dies wird man von dem bisher Gesagten aus eher verneinen müssen. Wenn Ding und Medium aufeinander relativ sind, ist es immer eine Frage der gegenwärtigen Bezugsgröße, wie man eine Problematik zerlegt. Andererseits könnte man durchaus eine Staffelung von Medium/Form-Ebenen versuchen, wie sie in den Beschreibungen von Niklas Luhmann allenthalben anklingt [49]: Sätze sind Formen im Medium der Wörter, Wörter sind Formen im Medium der Laute, Laute sind Formen im Medium der Geräusche, Geräusche sind Formen im Medium periodischer Verdichtungen und Verdünnungen in der Anordnung von Luftmolekülen - aber bereits hier wären dann mehrere Richtungen möglich, je nach Analyseinteresse: einerseits scheinen Verdichtungen und Verdünnungen von Molekülanordnungen Formen im Medium von Effekten molekularer Prozesse, andererseits könnte man sagen: Verdichtungen und Verdünnungen von Teilchenmengen sind Formen im Medium relativer Bewegungen von Teilchen. Wie sollte man hier das eine basaler nennen als das andere? [50]

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Setzen wir vielleicht umgekehrt an bei "basalen", beziehungsweise leeren, strukturarmen Medien. Als solche grundlegenden Medialitäten kommen oftmals Raum und Zeit in Frage. Sie erscheinen mitunter als Stellengefüge des Nebeneinanders und Nacheinanders, innerhalb derer Entitäten erst möglich werden. Diese Stellengefüge scheinen dabei für das Vorstellen schwerlich hintergehbar und elementar für Objektkonstitution überhaupt. [51] Folglich wären sie gute Kandidaten für Grundmedien, in denen bestimmte Formen - Raumordnungen oder Zeitordnungen - vorkommen könnten, die wiederum als Medien für Formen gelten können, die Medien für noch engere Formen wären. So würde man von Raum und Zeit zu Formen aufsteigen, die konkret, eng limitiert und spezifisch wären. Nur wird das, was uns tatsächlich als Ding gilt, als räumlich wie zeitlich aufgefaßt in dem Sinne, daß es Objekt mit Raum- und Zeitstelle ist, nicht aber als aus Raum und Zeit bestehend: als feste, wie immer spezifische Kopplung von Raum-Zeit-Verhältnissen. Sein Objektcharakter wird meist durch Qualitäten beschrieben, die schwerlich als Raum- oder Zeitkomplexion zu werten sind: Die Farbe eines Armbands, das als solches Raum- und Zeitstelle hat, herunterbuchstabieren zu wollen auf räumliche und zeitliche Verhältnisse (z.B. Schwingungen), erfordert offensichtlich, ganz neu anzusetzen, bringt Raum und Zeit auf anderer Ebene in Anschlag.

Das Armband hat also eine gewisse Position in unserem Normalraum und unserer Normalzeit. Zugleich hat es aber auch eine Position in ganz anderen Gefügen: Es hat eine Stelle als Form im Medium anderer Formen von Schmuck, als geliebtes Objekt im Medium anderer Objekte und so weiter. Raum und Zeit wären hier allenfalls "basal" in dem Sinne, wie sie ein formales Modell von Medialität zu beschreiben scheinen, auf das strukturreichere Medien (wenn man sie z.B. als raumanalog organisierte Gefüge von Positionen veranschaulicht) beziehbar wären. Sie erlauben es uns aber nicht das Vorkommende streng als Medium-Form-Hierarchie zu staffeln, die in Raum und Zeit ihr Grundmedium hätte.

Staffelungen dieser Art scheinen allenfalls lokal möglich zu sein, nämlich vom Standpunkt eines Systems aus. Die Systeme, die dabei interessieren könnten, da sie alle autopoietisch prozedieren, wären organische, psychische, soziale und nichttriviale maschinelle Systeme. Die vorwiegend interessanten wären dabei psychische und soziale Systeme, insoweit es hier explizit um sinnverwendende Systeme geht, die also auf dem Prozessieren der Differenz Aktualität/Potentialität basieren. Die empirische Untersuchung dieser Systeme würde dann verschiedene Medien-Form-Ensembles deutlich machen, die auch durchaus in eine gewisse Ordnung zu bringen wären - notwendigerweise, wenn diese Systeme irgendwie mit dem [p.132] Problem von Komplexitätsreduktion umgehen wollen und schließlich nicht alle möglichen Medium/Form-Differenzen unkoordiniert verwenden können. Eine Ordnungsweise läge dabei tatsächlich in der Schachtelung von Medium/Form-Verhältnissen, in der ein Medium jeweils wieder als Form in einem Medium interpretiert wird und die Form andererseits als Medium für andere Formen fungiert (Hierarchie). Eine zweite Ordnungsweise läge in der parallelen oder orthogonalen (unabhängigen) Verwendung verschiedener Medien, die dann jeweils für ein geschlossenes Subsystem des Referenzsystems in Funktion wären [52] (Parallelität). Das obige Beispiel von Objekten die räumlich und zeitlich verortet sind, ebenso aber semantische Plätze haben, hat aber noch auf andere Koordinationsmuster verwiesen: Wenn wir von Dingen reden, scheinen wir zumeist Überschneidungspunkte von Formen verschiedener Medien zu meinen (Kopplung): In oder an dem Ding "Armband" scheinen sich verschiedenste Formen zu kreuzen. Und die Frage ist, wie diese Kreuzung geleistet wird. Dieser Überschneidungspunkt als solcher müßte - wie anders? - markierbar sein als eine Form in einem Medium - und das Medium, das sich hier als Koordinationsmedium anzubieten scheint, wäre Sprache. "Dieses Armband" bildete eine Form im Medium der Sprache, die auf einen Referenten verwiese, auf den man auch andere Formen-in-Medien beziehen könnte, die sich in diesem Referenzpunkt kreuzten.

Sprache ist dabei nicht nur innerhalb eines Systemtyps (des Bewußtseins oder der Gesellschaft) ein elementares Medium zur Koordinierung verschiedener medialer Prozesse. Sie ist zudem der Mechanismus, über den strukturelle Kopplung verschiedener Systemtypen, psychischer und sozialer Systeme, geregelt wird: Über Sprache wird jeweils punktuell Kontakt dieser Systemtypen möglich, die vermöge dieses Mediums wechselseitig füreinander zur Dauerirritation werden. Über dieses Scharnier werden "Dinge" adressierbar, die als solche eine ungeheure Komplexion von Formen ausmachen: "Dinge", von denen eine raumzeitliche Position ausgemacht wird, denen Qualitäten, die qua Wahrnehmungsmedien gekoppelt sind, zugeschrieben werden, die auf einen Ort

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bezogen sind in einer Merkwelt oder einem Begehrensraum, die zudem eine semantische Form im gesellschaftlichen Raum ausmachen und mithin Kommunikationsofferten eröffnen usw. Dinge wären mithin nicht nur als Form-in-einem-Medium, sondern als (referierte) Komplexform, von der aus verschiedenste Medien anzugehen sind, zu betrachten - und mithin erst recht von Instabilität, Mannigfaltigkeit und Spuk markiert.

Es ist nun nicht so, daß man per se nur ein Medium isolieren könnte, Sprache nämlich, das alles weitere fundierte oder zugänglich hielte. Auch andere Medien mögen die Funktion erfüllen, systemintern Koordinationen oder intersystemisch strukturelle Kopplungen einzufügen. Bezogen auf Gesellschaft etwa kann man nicht vorderhand ein Leitmedium (z.B. gesprochene Sprache) ausmachen. Vielmehr benutzt Kommunikation gesprochene Sprache mit oder ohne technische Verstärkung und/oder Übertragung, Schrift in handschriftlicher, gedruckter, gemailter Form, Gestensprache, Bildersequenzen in gedruckter oder televisionärer Form usw. als jeweils spezifische Medium-Form-Arrangements und allein die evolutionäre Perspektive stellt die gesprochene Sprache in der face-to-face-Kommunikation als das basale Kommunikationsmedium der Gesellschaft dar.

Signifikanz neuer Medien

Wir wollen nun schließen, indem wir die Frage eröffnen, welchen Stellenwert die Problematik neuer Medien erhält, wenn wir an der Stelle ontologischer Erörterungen einfach die Unterscheidung von Medium und Form als Analyseleitfaden unterstellen. Offensichtlich geschieht diese Umstellung im Zuge des Versuchs, den neuen technischen Medien Rechnung zu tragen in der Tiefe und Weite, mit der sie das affizieren, was wir als unsere Welt eröffnen. Über die Position der neuen Medien läßt sich hier abstrakt relativ wenig bemerken, die eigentlichen Fragen und Relevanzen sind empirischer Natur und, systemtheoretisch gesagt, abhängig von theoretischen Vorentscheidungen wie Systemreferenz und Angabe der elementaren Operation. Deutlich aber ist, daß es bei dem, was man gemeinhin unter "Medien" anführt, um Vorrichtungen und reguläre Praxen geht, die die Ausprägungen bestimmter Formen mit jeweiligem Bezug auf ein Medium erlauben. Diese Ausprägungen von Formen hatten wir auf die Gestalt von Systemen, die ein laufendes, geregeltes Koppeln und Entkoppeln von Formen bestimmten Typs sind, bezogen. Von hier aus könnte man den Blick auf die neuen Medien richten, indem man analysiert, wie sich hier Formensequenzen psychischer Ereignisse (Systemreferenz: Bewußtsein) oder Sequenzen kommunikativer Ereignisse (Systemreferenz: [p.133] soziales System) einzeichnen oder abheben lassen. Dabei hätten zunächst das psychische System und seine Wahrnehmungsmedien das Primat, insoweit das kommunikative System Irritation aus seiner Umwelt nur durch psychische Systeme erhält und mithin auch die Wirkweise von Kommunikationsmedien im Anschluß von Kommunikationsoperation an Kommunikationsoperation vermittelt über die Charakteristika der verwandten Wahrnehmungsmedien ist.

Man könnte den Problemraum somit wie folgt strukturieren: [1] Vorbereitende Charakterisierung medialer Vorrichtungen. Es wäre vorbereitend, noch bevor man auf die genaue Architektur der autopoietischen Systeme des Bewußtseins und der Kommunikation, den in ihnen verwandten Formen und Medien kommt, zu analysieren, welche wahrnehmbaren Medium-Form-Arrangements sich in Gestalt der "Medien", der medialen Vorrichtungen überhaupt finden lassen. Man würde also - immer mit Blick auf die dann sich ergebenden Formcharakteristika - in dieser Phase auch technische Details der Vorrichtungen zu bedenken haben. Auf dieser Analyseebene könnten auch funktionale Charakterisierungen der Medien und ihrer Eigendynamiken am Platz sein: Man kann am Gegenstand der "Medien" Aspekte wie Artikulation, Verbreitung, Transformation, Archivierung, Rezeption ausmachen, wie wir anfangs tastend notierten. Es wäre hier denkbar, bei einem Medium wie Schrift z.B. den Versuch zu machen aufzuzeigen, wie in den in diesem Medium ausgeprägten, ganz materialen Formen Verhältnisse auskristallisieren, die als Adressenbildung, Schickung, Sendung, Übersetzung, Übertragung, Speicherung, Archivierung, symbolische Manipulation usw. [53] erscheinen. Man hätte dabei im weiteren zu sehen, inwiefern diese Funktionen zuzurechnen sind im Sinne systeminterner Leistungen (zum Beispiel: Bildung von Adressen als Selbstsimplifikation von Kommunikation) und inwieweit hier Koordinationsleistungen vorliegen, welche verschiedene Systeme punktuell übergreifen (strukturelle Kopplung) und welche möglicherweise die Eigendynamik des Mediums, die man von den jeweiligen Operationen der Systeme stellenweise noch zu unterscheiden hätte, benutzen. [54] Damit erreichen wir aber schon Fragen der Problembezirke [2]-[4].

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Diese vorbereitende Analyse könnte neben dem Versuch, die Eigendynamiken und funktionale Differenzierungen in medialen Vorrichtungen herauszuarbeiten, zunächst einmal viel schlichter einer vorläufigen Formanalyse gelten. Was diese Formcharakteristika anbetrifft, so wird man es bei neuen Medien meist mit sehr gestaffelten Strukturen zu tun haben, in denen immer schon verschiedene Ebenen relevant sind - eine erkennbare Mehrebenenstruktur gilt schließlich bereits von Sprache. Man wird es zudem meist mit recht inklusiven Medien zu tun haben, die in mehr oder weniger koordinierter Weise verschiedene Medien in sich simultan mitführen: Im Fernsehen hat man eine als nichtdiskret wahrnehmbare Folge von Bildern, in der man verschiedene Sachverhalte und Personen erkennen kann, die zum Teil selbst Medien (wie Sprache) benutzen, um Formen aneinander anzuschließen. Dabei ist das Interessante, daß die neuen Medien andere Medien nicht bloß referentiell inkludieren, sondern sie simulieren. Diese Qualität führt zu einer Engführung oder "Überkreuzung" verschiedener Medien, die die Überdeterminierung bestimmter Formen möglich macht und mithin vielleicht ganz andere Weisen der Codierung.

[2] Operationalisierung durch psychische Systeme. Man müßte erörtern, inwieweit die derart charakterisierten medialen Vorrichtungen für die psychische Autopoiesis in Anspruch genommen werden und durch ihre Neuartigkeit Impulse für deren Morphogenese setzen. Die psychischen Systeme sind durch die neuen Medien nach allgemeiner Ansicht neuen semantischen Gefügen, vor allem aber und grundlegender neuen Raum- und Zeitkonstellationen ausgesetzt: Die Medien eröffnen nicht nur neue Arten des Disponierens über Raum und Zeit (z.B. Überspannung von in gewöhnlicher Wahrnehmung großen räumlichen Distanzen und massive Möglichkeit von Speicherung von Daten über zudem längere Dauer), sie verändern die ganze Ordnungsweise dieser Stellengefüge (z.B. Veränderung von Zeittempo, dem Tempo, mit dem Stellen ihre Objekte verlassen in Relation zu anderen Stellenwechseln [Eigenzeit des Bewußtseins z.B.], Vorführen von Reversibilitäten zeitlicher Ensembles, Darbietung virtueller Räume usf.).

[3] Operationalisierung durch soziale Systeme. Inwiefern gibt es hier mit den Formenensemblen der neuen Medien ein Dispositiv für den Anschluß von Kommunikation an Kommunikation? Diese Frage haben wir in Ansätzen in der Vorstellung der Theorie Luhmanns schon herausgearbeitet, indem wir die durch die Kommunikationsmedien ausgelöste "soziale Entkopplung" der Kommunikationsoperationen vermerkten. Das eröffnete dann auch den Blick [p.134] für die eventuell sich erweisende Notwendigkeit anderer basaler sozialer Operationen, nach deren möglichen Umrissen wir in der Problematik der "Erbschaft" (im verallgemeinerten Sinne) bei Derrida suchten. Die elektronischen Medien zeigen ihre Auswirkung auf die Struktur der Gesellschaft zudem darin, daß sie ein ganzes Funktionssystem sich ausdifferenzieren lassen: das System moderner Massenmedien. Des weiteren haben die Medien nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die gesellschaftliche Semantik, die vormals in ganz vorwiegender Weise an Praktiken der Sprache und der Schrift hing. So ist beispielsweise durch die neuen Medien - neben den oft diagnostizierten Veränderungen der Raum- und Zeitsemantik - eine Verschiebung in der Semantik von Ding und Person zu erwarten: Die veränderten Möglichkeiten exakter, multimedialer Reproduktion verändern sicher den Status von Objekten und Personen, die immer mehr zu ihrem eigenen Doppelgänger werden.

[4] Letztlich: Inwieweit entsteht vermöge der neuen Medien eine neue Art der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation? Auch hier hatten wir schon Andeutungen gemacht, die sich auf Luhmanns Hypothese bezogen, die neuen Medien könnten mit kurz aufblitzenden Formen Bewußtseinsaktivität binden, welche zum Kondensieren von Überzeugungen führt und zugleich an der Fortschreibung sozialer Ordnung teil hat.

Was sich durch die neuen Medien zu ergeben scheint, erschöpft sich also nicht in dem bloßen Hinzukommen eines neuen Mediums. Vielmehr ist doch eine Änderung der Gestalten von Medialität überhaupt zu verzeichnen: Im Bereich des sozialen Systems scheinen sie eine Dekomposition der basalen Operation der Kommunikation einzuleiten. Im Bereich der Wahrnehmung führen sie neue Raum- und Zeitkonstellationen ein. Zudem laufen sie auf andere Arten der strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein hinaus.

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Sichtbar wird in diesem Zuge auch, daß die neuen Medien erst so etwas wie Medialität auf dem hier von uns angedeuteten grundlegenden Niveau greifbar machen konnten, da mit ihnen Medien wie beispielsweise die Stellengefüge Raum und Zeit zunehmend variante Form erhielten, durch die Setzung neuer raum- und zeitartiger Arrangements von Stellen. Sie haben dabei die Nicht-Natürlichkeit und Geformtheit dieser Arrangements ins Bewußtsein gehoben. Damit geht man über den Kantischen Horizont einer unwandelbaren, reinen Form der Zeit und einer nichtvarianten Räumlichkeit hinaus, die eine gewisse Stabilität des Realen verbrieft hatten, selbst da, wo man begann anzunehmen, daß das Ding als Erscheinung stets das Ergebnis von Konstruktionsleistungen war und daß das Ding an sich unerkennbar bleiben muß. Nun ist nicht einfach nur Erkenntnis Konstruktion. Vielmehr erweisen sich die Konstruktionsweisen selbst als sich evoluierend im Anschluß von Form an Form vor dem Hintergrund eines sich mitwandelnden Mediums. Die Konstruktionsweisen sind selbst nur die Kondensate eines dynamischen medialen Geschehens. Das macht jenes, was im Rahmen dieser Konstruktionsweisen zu einem Zeitpunkt als etwas erscheint, das "ist", zu einem von Nichtpräsentem durchdrungenen Moment eines medialen Werdens, in dem auch die Konstruktionsweisen selbst inbegriffen sind.

Vielleicht ist damit angedeutet, inwiefern die Frage "Was ist ein Medium?" in einem bestimmten Medium theoretischer Reflexion eine Tragweite gewinnen kann, die ihrer eigenen Form die Grundlage entzieht.

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[1] Es fehlt an Arbeiten, die diese semantischen Bestände mit theoretischem Interesse und zugleich sachlich gründlich durchgehen. Das ist kein Wunder, vergegenwärtigt man sich die Streuung der Verwendungsfelder von "Medium", die von Philosophie über Spiritismus, über Physik bis in die neuere Kulturtheorie hinein reichen.

[2] Vgl. für Einzelheiten die Einträge im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L-Mn, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, zu "Mitte" (Sp. 1421-1424) und "Mittel" (Sp. 1431-1439).

[3] Um einen Begriff zu verwenden, den man beispielsweise - in kritischer Absicht - findet bei Georg Christoph Tholen, Medium ohne Botschaft - Aspekte einer nicht-instrumentellen Medientheorie, in: Nummer. Kunst - Literatur - Theorie, Heft 4/5, Jg. 3, 1996, S. 102ff.

[4] Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York: Signet Books 1969, sowie ders. und Eric McLuhan, The Laws of Media. The New Science, Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press 1988.

[5] Ein Beispiel ist Christian Wolff: "Quicquid rationem continet, cur finis actum consequatur, Medium vocatur" (aus: Christian Wolff, Gesammelte Werke. II. Abteilung · Lateinische Schriften Band 3. Philosophia Prima Sive Ontologica, hrsg. und bearbeitet von Jean Ecole, Hildesheim: Georg Olms 1962, § 937, S. 680.)

[6] Vgl. den Eintrag "Milieu" im Historischen Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Sp. 1393- 1395.

[7] So in der Metaphysik 1014 a (zitiert nach der Ausgabe: Aristoteles' Metaphysik: griechisch-deutsch, Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Horst Seidel, griech. Text in Edition von Wilhelm Christ, Hamburg: Meiner 31989, 1. Halbbd., S.187)

[8] Der Versuch, die Anschauungsformen - also Elemente des menschlichen Intellektes - als Medien aufzufassen erhält seine Vorbereitung - um nur ein Beispiel herauszugreifen - bereits bei Thomas von Aquin, der den Intellekt insgesamt charakterisiert als Raum der Bestimmbarkeit, der durch Intelligibles Bestimmtheit erfährt und der daher ein leidendes Vermögen sei: eine potentia passiva - die wir etwas weiter oben als das Vermögen, Formung zu erfahren, in der Nähe der Materie im Aristotelischen Sinne auffanden und auf ein Modell von Medialität bezogen hatten. Durch diese Charakterisierung als potentia passiva nähert sich der Verstand dem Charakter eines bloßen Mediums an, "der Tafel, auf der nichts geschrieben [p.137] steht" (Vgl. Thomas von Aquin, Wesen und Ausstattung des Menschen, in: Die Deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte, deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, 6. Band, Salzburg/Leipzig: Verlag Anton Pustet 1937, I, 79, 2: S. 157).

[9] Es wird schon deutlich, daß a-c alle mehr oder minder auf einem Begriff des Mediums beruhen und nur verschiedene Punkte des medialen Prozesses akzentuieren: Das Medium ist etwas, in das sich Formen einprägen lassen, die in diesem Medium übertragbar werden und dann rezipierbar sind.

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[10] Wobei man dieses selbstbezügliche Operieren meist derart versteht, daß man verschiedene Ebenen unterscheidet, von denen die einen fixiert sind und als das Wirkende gelten, andere als diejenigen, die den Einwirkungen unterliegen. Zur Problematik der in diesem Kontext stehenden Unterscheidung von Hardware und Software: Friedrich A. Kittler, Es gibt keine Software, in: H.U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, München: Wilhelm Fink 1993, 367ff.

[11] Vgl. vor allem: Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst, Delfin 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 6-15, ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 53ff. u. 181 ff., ders., Die Form der Schrift, in: H.U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, München: Wilhelm Fink 1993, ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995a, Kap. 3, ders., Das Kind als Medium der Erziehung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd.6, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995b, S. 204ff. sowie ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Erster Teilband, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, Kap 2.

[12] Fritz Heider, Ding und Medium, in: Symposion. Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache, Bd. I, 1926, S. 109-157, sowie in gekürzter englischer Fassung mit einer in einem Punkt etwas geklärteren Terminologie: Ders., Thing and Medium, in: Psychological Issues 1/ 3, 1959, S. 1-34.

[13] Dies ist bereits in einer der Illustrationen des Unterschieds von Ding und Medium bei Heider vorweggenommen: Heider veranschaulicht den Unterschied derart, daß er ein Ding vergleicht mit drei Stäben, die durch Streben verbunden sind, so daß die Elemente nicht unabhängig voneinander zu bewegen sind, im Kontrast zu einem Medium, das drei unverbundenen Stäben entspricht, so daß die Elemente unabhängig variieren können: Das heißt Einheitlichkeit der Form qua Abhängigkeit/Kopplung der Elemente steht einer Vielheitlichkeit qua Unverbundenheit/Entkopplung der Elemente gegenüber.

[14] Eine erste Beschreibung der Verwiesenheit von Medium/Form auf Systeme ist die Redeweise, ein System benutze ein bestimmtes Medium (ein Kommunikationssystem nutze das Medium der Schrift um Kommunikationsoperationen auszuprägen). Die tieferliegende Verwiesenheit zeigt sich dabei an der Gleichförmigkeit der Unterscheidungen Medium/Form und System/Ereignis: Systeme beschreibt Luhmann als Netzwerke von Elementen, die sich in der Selektivität ihrer Verknüpfung von einer Umwelt differenzieren. Form kann dann in temporalisierten Systemen, deren Elemente Ereignisse sind, das gerade aktualisierte Element oder Muster von Elementen sein, in dem sich ein System realisiert, wobei das Medium der Selektionsrahmen dieser Form ist. Streng genommen wäre das System also nicht Ursache der Kopplung von Formen im Medium, sondern würde sich vielmehr in dem Fortgang von Kopplung und Entkopplung realisieren und dabei ein Medium anbilden.

[15] Diese Redeweise von der Entkopplung und der Regeneration ist in der Tat verwirrend, wenn man es mit "statischen" Formen zu tun hat, die man von einem Medium unterscheiden will: Nimmt man zum Beispiel ein Schriftstück, so ist das mediale Substrat der Buchstaben offensichtlich genutzt worden, um unter Kopplung seiner Elemente Formen: geordnete Buchstabengruppen zu verzeichnen. Damit scheint zunächst das Medium konsumiert und aufgezehrt zu sein; es scheint einer stabilen Form Platz gemacht zu haben. Stabil ist jetzt aber nur der materielle Träger, als Form sind die Buchstabenanordnungen durch die Schrift trotz des Anscheins nicht fixiert: man kann unmittelbar danach konträre Anordnungen aufschreiben, das heißt die Formen zerlegen und rekombinieren. Das Medium als das Set der Buchstaben im Zustand loser Kopplung regeneriert sich also. Das geschähe nur dann nicht, wenn die Formen die Aufmerksamkeit derart bänden, daß man nichts weiter, was mit ähnlichen Elementen arbeitet, anfügen könnte. Wie die De- und Rekombination für den Fall, daß diese absolute Bindung eben nicht geschieht, vonstatten geht, ist dabei offen: man kann das Stück Papier zerschneiden und die Buchstaben neu mischen oder man benutzt psychische Aktivität [p.138] (Wahrnehmung, Analyse, Rekombination, Aufzeichnung), um etwas hinter die anderen Aufzeichnungen zu setzen. Es wird deutlich, daß folglich unter dem Medium Schrift gar nicht der materielle Träger, die materielle Inskription verstanden wird, sondern die in Operation versetzte, zeitlich sich fortsetzende "Schrift". Medialität von Formen hieße in diesem Sinne folglich nicht unmittelbar Materialität von Formen.

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[16] Das Medium kann natürlich in Gestalt des medialen Substrats als solches aktuell vorliegen. Es ist aber dann nicht aktuell für einen Blick, der auf die Formen eingestellt ist. Um das mediale Substrat als solches zu erkennen, muß man eine feinere Analyse vornehmen, die dessen Elemente als Form zu sehen beginnt, das heißt als anschlußfähige, selektive Bestimmtheit vor dem Hintergrund nicht gewählter anderer Möglichkeiten - das heißt vor dem Hintergrund eines noch basaleren Mediums.

[17] Sinn als "Medium" scheint hier formal gesprochen die Einheit der Differenz von Medium und Form zu bezeichnen. Das entspricht der in früheren Arbeiten Luhmanns gewählten Bestimmung von Sinn als differenzloser Kategorie sowie der Doppelbestimmung von Sinn als Medium und Form gleichermaßen: "Die Form Sinn ist mithin Medium und Form zugleich, und zwar so, daß das Medium seinerseits nur als Prozessieren von Formen aktualisiert werden kann." (Luhmann 1995a: 174).

[18] Im Falle von Systemen mit temporalisierter Komplexität ist die Redeweise von Elementen eher metaphorisch: Will man unter Medium hier vor allem das Woraus und das Worein der Kopplung einer Form begreifen, so läge zunächst die Angabe anderer möglicher Formen nahe. Es wäre die Aufgabe eigener Analyse diese anderen Möglichkeiten derart zu zerlegen, daß man im Medium gewisse Letztelemente erkennt, deren Rekombination die unterschiedlichen Formen ergäbe. Dabei müßte man zudem die Elementarstruktur als veränderlich annehmen, insoweit temporalisierte Systeme keine zeitfesten Wesen sind und sie ihre Formen evolutionär modifizieren.

[19] Daraus folgert Luhmann interessanterweise, daß jedes Medium zugleich als analog wie als digital zu gelten hat (vgl. Luhmann 1990: 186): Es ist in Relation zu den einprägbaren Formen viskös, hat aber zugleich eine gewisse Körnigkeit, die nicht beliebige Einprägungen zuläßt und die Geformtheit des Mediums selbst ausmacht. Luhmann macht damit nebenbei und unter der Hand, den Vorschlag, sich nicht mehr an der Leitdifferenz analog/digital aufzuhängen, um etwa die Grenzen der Möglichkeiten von digitaler Technologie zu diskutieren. Analogizität in einem bestimmten Kontext heißt dann schließlich nur adäquates Auflösungsvermögen.

[20] Eine solche Stufenordnung ist als solches allerdings nicht ganz neu: Bereits Aristoteles unterscheidet Grade der hylè und hält nur die Erst-Materie für völlig bestimmungslos, während auf höheren Stufen der Stoff immer schon geformt ist. Dabei macht Luhmann - obwohl er im übrigen immer betont, jedes Medium sei unter anderen Vorzeichen auch Form, - erstaunlicherweise sogar eine Entsprechung für die reine Erst-Materie in der eigenen Theorie aus: die Welt (Luhmann 1995b: 208). Das Neue an Luhmanns Fassung von Materie/Form als Medium/Form kann bei so weiten Ähnlichkeiten mithin nur darin liegen, den Beschreibungen den ontologischen Status zu entziehen und sie systemtheoretisch auszubuchstabieren.

[21] Wir sparen mithin vor allem den Bezug auf kybernetische Unterscheidungen aus, die Luhmann ähnlich gelagert scheinen wie Medium/Form: Redundanz/Varietät, Equilibrium/Desequilibrium, Entropie/Negentropie.

[22] Für Derrida wäre der Locus classicus der Aufsatz: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, und der entscheidende Zug wäre, statt einer zentrierten Struktur ein dezentriertes Spiel zu fordern, in dem selbst die Regularitäten des Spiels im Spiel generiert werden. Für Deleuze böte sich eine Lektüre des Werks Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1992, an, das man systematisch in vielen Punkten auf eine Theorie autopoietischer Systeme beziehen könnte.

[23] Es kann allenfalls dazu kommen, daß sich das Medium in einer Form zeigt: einer nämlich, die das Medium symbolisiert - dies aber kann nur als aktuelle Operation, die eine Form ausprägt und damit ihrerseits das Medium invisibilisiert, geschehen. Ebenso kann es auch - jeweils aktuelle - Symbolisierungen von Struktur geben: In Kommunikationen kann man auch über Erwartungsstrukturen kommunizieren - aber nur indem man operativ Kommunikationen vollzieht, die an sich selbst Struktur verraten nur, insofern sie als seligiert erscheinen und mithin die Einschränkung eines Relationierungsmusters vollziehen.

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[24] Es handelt sich im strengen Sinne wohl nicht bloß um Applikation der Gesetze auf [p.139] bestimmte Fälle, z.B. auf eine Medientheorie innerhalb der Theorie sozialer Systeme. Man muß vielmehr in Betracht ziehen, daß Luhmann nur die ersten Schritte Spencer Browns nachvollzieht, um dann eigene Wege zu gehen. Um zu sehen, wie schnell weitreichende Abweichungen einsetzen vgl. Niklas Luhmann, Die Lebenswelt - nach Rücksprache mit Phänomenologen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72, 1986, insbes. S. 180ff.

[25] Inwiefern es mit den an Spencer Brown gewonnenen begrifflichen Fassungen gelingt, tatsächlich allerorts in Luhmanns Theorie ein konsequent differenztheoretisches Vorgehen ins Werk zu setzen, ist natürlich eine offene Frage. Für begründete Zweifel daran, daß Identitätsdenken bei Luhmann sich entschieden genug verabschiedet sieht, vergleiche: Gerhard Wagner, Am Ende der systemtheoretischen Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 23, Heft 4, 1994, S. 275-291.

[26] Luhmann geht so weit zu sagen, daß Kommunikationssysteme in der Tat nur entstehen konnten, weil die Möglichkeit eines Lautmediums zur Hand war: Es ist das Wahrnehmungsmedium der Akustik, das hier durch seine Zeitlichkeit Kommunikation ermöglicht: "Ohne sie [- die Zeitlichkeit der Akustik, tk -] wäre dieser Typ eines dynamisch-beständigen Systems nicht möglich gewesen." (Luhmann 1993: 357). Man beachte hier die Neigung, strikt zu vermeiden, die Bedingung in einer blanken Materialität anzusiedeln. Statt dessen wird die Vermittlung durch ein Wahrnehmungsmedium dazwischengeschaltet. Das geschieht hier auch mit Blick darauf, Schrift richtig zu konzeptualisieren: Diese müßte durch die Stabilität ihrer materiellen Inskriptionen temporalisierte Systeme doch unmöglich machen, wäre es nicht so, daß fungierende Schrift vermittelt über das Wahrnehmungsmedium der Optik wieder zu einer Sukzession von Zeichen würde. (Der allgemeinere theoretische Hintergrund, nicht auf Materialität direkt sondern über Wahrnehmung zuzugreifen, liegt in der These, daß Kommunikation nur durch Bewußtsein und durch nichts sonst direkt irritierbar ist.)

[27] Dabei ist es nicht einheitlich, in welcher Form diese Selektionen markiert werden: Ob in einer mit einer bestimmten Semantik und Pragmatik ausgerüsteten Sprache oder Schrift oder beispielsweise mittels Geld. Das hat es zu einer Frage werden lassen, wie sich symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien auf Sprache verhalten. Luhmann drückt es nur negativ aus: die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien seien weder Sondersprachen noch Verbreitungsmedien, es handele sich vielmehr um ganz andersartige Codes (Luhmann 1997: 319). Es scheint uns aber nicht völlig klar, inwiefern sie in Luhmanns Augen Sprache benutzen und inwiefern sie evolutionär vor allem eine Ausdifferenzierung sprachlicher Muster waren. Vgl. daher zu der Debatte noch immer: Jan Künzler, Medien und Gesellschaft: Die Medienkonzepte von Talcott Parsons, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Stuttgart 1989, insbes. S. 71ff., sowie Luhmanns Antwort auf Künzler: Niklas Luhmann, Sprache und Kommunikationsmedien. Ein schieflaufender Vergleich, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 16, Heft 6, 1987, S. 467-468.

[28] Niklas Luhmann, Kommunikationsweisen der Gesellschaft, in: Technik und Gesellschaft, Jahrbuch 5, Frankfurt a.M. /New York: Campus 1989, S. 11-19. Lutz Ellrich scheint in dem Text: Sein und Schein. Wie postmodern ist das systemtheoretische Konzept der elektronischen Medien?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 44, 1996, S. 559-582, den gerade zitierten Satz in allen Details auszubuchstabieren, ohne allerdings zu einem definitiven Schluß zu kommen.

[29] Jacques Derrida, Marx Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M.: Fischer 1995.

[30] Das reflektiert und rechtfertigt Derrida gewissermaßen selbst, wenn er darauf verweist, daß er in diesem Text der politischen Geste den Vorrang läßt vor der strikten philosophischen Exegese - und dies, um nicht in einem unendlichen Aufschub der Theoriearbeit die Dringlichkeit der Marxschen Fragen auszulöschen (Derrida 1995: 58-60).

[31] Mit Peter Fuchs kann man sagen, die "Hintergrundaktivität" des Mediums wird spürbar. Diesen Begriff prägt er in dem Aufsatz: Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, in: Peter Fuchs und Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 23.

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[32] Daß Derrida selbst nicht mit Form als eigenem Leitbegriff arbeiten wird, ist bereits seit dem frühen, 1967 erstmals veröffentlichten Aufsatz: Die Form und das Bedeuten. Bemerkungen zur Phänomenologie der Sprache, in: Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen-Verlag 1988, S. 159-174, sichtbar. Derrida deutet hier die phänomenologische Kritik der [p.140] Metaphysik als eine Bewegung, die in letzter Instanz eine Wiederherstellung der Metaphysik ist und, um dies zu verfolgen, wählt er den Begriff der Form als "Leitfaden" (Derrida 1988: 159). Es ist dabei die Rede von einer Sinnform, die sich in einem Milieu, dem Medium der Bedeutung, ausprägt, welches gemäß Husserl als so neutral wie nur möglich gedacht werden soll. Die Form dieser (Sinn-)Form ist dabei die Selbstpräsenz, das Präsens, das Ist und das Wesen. Nur unter der Hand, von Plotin aus, in der letzten Anmerkung (Derrida 1988: 340, Anm. 29) wird ein exzessives Denken der Form angekündigt, das die Form eben zu dem Wiedergänger und Gespenst macht, von dem wir gleich einiges mehr sagen werden: "[D]ie Form [wäre] bereits in sich die Spur (ichnos) einer gewissen Nicht-Präsenz, der Überrest der In-Form (in-form), sein Anderes ans Ganze der Metaphysik ankündigend-erinnernd, wie es vielleicht Plotin tat." (Derrida 1988: 340). Die Form in dieser Formulierung trägt die Spur des Mediums, ist nicht mehr in ein gänzlich neutrales Milieu eingelassen.

[33] Vielleicht kann man soweit gehen zu sagen, daß das, was vor allem wiederkehrt im Gespenst die ewige Wiederkehr selbst, die Wiederholbarkeit als solche ist. Damit ist deutlich, daß das Gespenst zugleich das Versprechen einer Zukunft ist. Dies ist elementar für Derridas - im weitesten Sinne - "ethischen" Reflexionen. Diesen Strang sparen wir hier aus.

[34] Auch in Derridas Augen ist diese Anschlußfähigkeit aber eher die eines Irritationswertes: Man kann das Gespenst nicht geradewegs sehen, es ist schwer mit ihm zu reden, noch schwerer Vision und Wort zusammenzupassen. Mit dem Gespenst zu sprechen, ist daher eher ein ethischer Appell, das Unmögliche zu versuchen, als ein schlichter Vorschlag (vgl. nur Derrida 1995: 22).

[35] So gesehen schienen eine Reihe von Formangeboten elektronischer Medien Spukerfahrungen zu ermöglichen: Es sei hier nochmals an Luhmanns Überlegung angesichts der neuen Medien erinnert, deren Funktionsweise darauf hinauslaufen könnte, vor dem Bewußtsein sehr kurz bestimmte Elemente aufblitzen zu lassen, aus denen dieses dann scheinbar eigene Schlußfolgerungen zieht. Das Bewußtsein ließe sich hier von nur kurz sinnlich aufscheinenden Gespenstern ansehen und angehen, denen es im folgenden nachsetzen würde. Der Erfahrung bestimmter gespenstischer Formen könnte man auch allgemeiner eine gewisse historische Aktualität als Erfahrungsstrukturen der Moderne zubilligen, indem man auf die Überlegungen Benjamins zum Element des Chocks in der Erfahrung der Moderne zurückkäme: vgl. z.B. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, insbes. S. 38ff. sowie ders.: Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders.: Charles Baudelaire, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, insbes. S. 108-114, 119, 126ff.

[36] Dies ist offenkundig der Einsatzpunkt der allermeisten Reflexionen, die sich auf "Medien" zu beziehen meinen (zum Beispiel der Arbeiten von Vilem Flusser, Jean Baudrillard, Paul Virilio, Friedrich Kittler, systemtheoretischer Theorien der Massenmedien, techniksoziologischer Arbeiten und auch schon so früher Arbeiten wie etwa Benjamins Kunstwerkaufsatz). Dabei variieren natürlich die Gegenstandsbezirke - ob beispielsweise die Transformation des politischen Raums interessiert oder eher jene des ästhetischen - wie auch die Hintergrundtheorien.

[37] Friedrich Kittler zeigt sich als besonders genauer Leser von Figuren, die in den neuen Medien die von diesen hervorgebrachten Medialitätserfahrungen remarkieren: So z.B. ganz in der Nähe zur Figur des "Spuks" die Gestalt des Doppelgängers - bereits in der Schrift, dann aber vor allem im Film: Friedrich Kittler, Romantik - Psychoanalyse - Film: Eine Doppelgängergeschichte, in: Jochen Hörisch und Georg Christoph Tholen (Hg.), Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München: Wilhelm Fink 1985, S. 118-135. Für viele weitere Fälle dessen, daß das Medium (unter der Hand) die Botschaft wird: Ders., Grammophon - Film - Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986 sowie ders., Aufschreibesysteme 1800/1900, 3. vollständig überarbeitete Neuauflage, München: Wilhelm Fink 1995. Interessant auch die Bemerkungen

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Elfriede Jelineks zu Metropolis und der Alien-Filmserie, die jene Massierung und Serialisierung, die sie betreiben, thematisch machen. (Elfriede Jelinek, Ritterin des gefährlichen Platzes, in: Meteor. Texte zum Laufbild, Nr. 11, Dezember 1997, 3 ff., Wien: PVS Verleger).

[38] Vgl. zum Komplex des Live, der Echtzeit und des Aufschubs Jacques Derrida und Bernard Stiegler, Échographies de la télévision. Entretiens filmés, Paris: Galilée-INA 1996, z.B. S. 47ff., S. 103ff.

[39] So eine Wendung Derridas zum Sichtbaren, das unmittelbar Blindheit produziere, "so als [p.141] sekretierte es sein eigenes Medium" (Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbst-Portrait und andere Ruinen. München: Wilhelm Fink 1997, S. 54 f.).

[40] Vgl. nur exemplarisch Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, Das Foto-Taschenbuch 10, Berlin: Nishen 1987, ders., Mémoires. Für Paul de Man, Wien: Passagen-Verlag 1988, ders., Kraft der Trauer, in: Michael Wetzel und Herta Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder: visuelle Realitäten, München: Wilhelm Fink 1994, S. 13ff., ders., Archive Fever. A Freudian Impression, Chicago/London: The University of Chicago Press 1995 sowie zuletzt mit klarem Bezug auf die televisionären Medien ders. und Bernard Stiegler, Échographies de la télévision. Entretiens filmés, Paris: Galilée-INA 1996.

[41] Noch sehr vorläufig könnte man die Abweichungen von dieser Operation folgendermaßen markieren: 1. Die Erbschaft nimmt ihren Ausgang von extrem diffusen, dekomponierenden, ins Mediale übergehenden Formen und bewahrt auch in ihrem Anschließen die Spur dieser Diffusität - anders als die Kommunikationsoperation, die durch die Verstehensselektion eine geschlossene Gestalt erhält und nur dadurch Anschlußkommunikation ermöglicht. 2. Die Erbschaft scheint das zu Beerbende nicht in der selben Weise mit der Unterscheidung Information/Mitteilung zu beobachten. Wenn man überhaupt diese Unterscheidung hier verwenden kann, dann scheint sich, wie sich in unseren Beispielen des Beerbens eines Stils, eines Habitus usf. andeutete, ein Akzentverlagerung zum Mitteilungsaspekt zu zeigen. 3. Die Erbschaft scheint auf das diffuse Formangebot nicht mithilfe der klar geschnittenen Codierung Annahme/Ablehnung zuzugreifen, sondern komplexere Modi der Aufnahme zu finden. Die Bifurkation in Annahme/Ablehnung hatte sich in der Kommunikationsoperation am Punkt der Verstehensselektion gezeigt und war durch das Medium der Sprache auf die Codierung Ja/Nein gebracht worden. 4. Da die Erbschaft von dieser Codierung der Sprache nicht in derselben Weise klaren Gebrauch macht wie die Kommunikationsoperation, wäre zu fragen, ob andere, non-verbale Medien für sie primär sein mögen.

[42] Hier wäre ein Forschungsprogramm zu formulieren, das vor allem Walter Benjamin in Betracht zu ziehen hätte (- und hier nicht erst die explizit medientheoretischen Arbeiten, sondern ausgehend bereits von dem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen [1916] [in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Band II. 1, Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 140-157], der mit einem recht erratischen Begriff von Medium versehen ist). Das Forschungsprogramm hätte zwei Angelpunkte: (1) "Erbschaft" als Modus des Kontinuierens von Sozialität. Diese ließe sich allgemeiner begreifen vom Übersetzungsbegriff aus, dem zufolge es einem Original gegenüber nicht darum geht, seinen semantischen Gehalt zu transportieren, sondern die Art seines Meinens zu übersetzen. Diese Art des Meinens nennt Benjamin nicht umsonst das Mimetische der Sprache (im Kontrast zum Semiotischen) und es wäre zu fragen, ob von hier aus ein neues Verständnis von Imitation, vicarious learning usf. als Rezeptionshaltung gegenüber Bildmedien möglich ist. Die Kontinuierung von Sozialität, die hier abläuft, schiene eine zu sein, die nicht mehr über Kommunikationsoperationen im klassischen Sinne geschähe. (2) Trauerarbeit als Korrelat des Erbes. Trauer wäre zu erörtern einerseits sehr spezifisch am Gegenstand des Bildes und der Photographie (vgl. hierzu auch Derrida 1994), andererseits in extrem verbreiterter Form gemäß der Formulierung aus dem frühen Sprachaufsatz, Überbenennung sei der tiefste Grund aller sprachlichen Traurigkeit.

[43] Vgl. hierzu Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas und ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S.

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25-100, ders., Soziale Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 92-147, sowie zuletzt ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Erster Teilband, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 44-59.

[44] Dabei kann man die Unterscheidung von Medium/Form im Sinne loser und strikter Kopplung durchaus auch in anderen Fällen verwenden: Einprägung von Schallwellen in Mengen von Luftmolekülen. Dann aber hätte das Medium den Charakter von Prägematerial, die Form wäre strikte Kopplung der Elemente und als Agens - oder potentia activa - der Prägung müßte man einen externen Mechanismus annehmen: einen Lautsprecher. Hier würde die Medium/Form-Unterscheidung nur noch den Verweis darauf leisten, daß das Medium als solches nicht ungeformt ist und Restriktionen für die Einprägbarkeit enthält. Uns interessiert die Rede von Medium/Form allerdings in der Tat mehr, sofern man sie mit einem Systemgedanken verknüpft und folglich prozessualisiert. Schon die Rede von Lauten als Formen im Medium der Geräusche impliziert eine Systemreferenz auf Bewußtsein und stellt [p.142] nicht einfach auf physikalische Entitäten ab. Wollte man die Unterscheidung Medium/Form gehaltvoll machen auch für diesen Bereich, müßte man fragen, inwiefern es physikalische Systeme gibt.

[45] Dies alles schließt wiederum nicht aus, daß die Formen, wenn sie wesentlich wiederholbar und wiederholt sind, zugleich singulär sind. Selbst eine "unveränderte" Wiederholung kommt nicht einfach auf dasselbe heraus: Sofern es hier um einen zeitlichen Zusammenhang geht, dessen Elemente in ihrer Signifikanz durch eben diesen Zusammenhang bestimmt sind, ist jede weitere Operation eine Gesamtmodifikation aller Elemente, die die Signifikanzen neu verteilt. Sofern der Zusammenhang die Form der Zeit wählt, muß jedes Element zumindest eine minimale Differenz von allen vorigen haben: die zeitliche, die ihm inhaltlich als der Charakter von Neuheit anhaftet. Das Neue aber erscheint immer als zu einem Grade singulär. (Ähnliche Ausführungen in: Luhmann 1984, insbes. S. 77, 390).

[46] Zudem scheint die Rede von Letztelementen die Gefahr zu bedeuten, daß man verdeckt, daß unter der Potentialität nicht einfach nur ein Set wählbarer Optionen zu verstehen sein kann. Es geht hier tatsächlich auch um radikal offene Möglichkeiten. Der Möglichkeitsraum läßt sich folglich nur begrenzt strukturieren. Das kann man sich daran vor Augen führen, daß ein vollständig strukturierter Raum nicht den Charakter des Potentials, sondern den der Aktualität hätte - oder anders formuliert: eine solche Vollbestimmung des Potentials ist nur denkbar vor dem Hintergrund anderer möglicher Strukturierungen des Möglichkeitsraumes. Vollstrukturierte Möglichkeit wäre also eine Möglichkeitsform, die ihrerseits verwiesen wäre auf ein Medium der Möglichkeitsmöglichkeiten.

[47] Wir werden weiter unten noch auf Dinge als Komplexformen eingehen: Sie wären nicht nur eine Form in einem Medium, sondern gleichsam ein virtueller Knotenpunkt unterschiedlicher medialer Prozesse.

[48] In diesem Sinne spricht Luhmann wiederholt von Dingen als Eigenbehaviors von Systemen.

[49] Und die darüber hinaus ihre Vorläufer hat: Nicht nur Fritz Heider, bei dem ja bereits der Ausgangspunkt für die Medium/Form-Unterscheidung lag, unterscheidet einen Mikrokosmsos (Moleküle, Atome, Elektronen), Mesokosmos (mit "grobdinglichen Einheiten") und einen Makrokosmos ("Einheitsschicht der Himmelskörper") derart, daß er "eine ganze Stufenordnung von ineinander geschachtelten Dingen, Einheiten" ausmacht (Heider 1926). Auch Nicolai Hartmann spricht in seiner Beschreibung der Relation von Form und Materie von einer "Staffelung" oder fortlaufenden "Überhöhung", da jede Form ihrerseits als Materie für höhere Formung dienen kann, was er "Überformung" nennt. Hartmann hält sogar ein Konzept für den Fall bereit, daß zwischen Schichten des Seins Unterbrechungen der bloßen Überformung vorkommen. Statt dessen zeigen sich dann "Überbauungsverhältnisse". (Vgl. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre, Berlin: de Gruyter 31964).

[50] Daß die Probleme auftreten, an der Stelle, an der man die Ebene "Geräusch" unterschreitet, ist hier gewiß kein Zufall: Alle darüberliegenden Medien-Form-Ensembles konnte man als Arrangements eines psychischen Systems interpretieren. Unterhalb von Geräusch aber wird eine Zerlegung vorgenommen, die kein psychisches System in einem praktischen Sinne mehr leisten kann. Wie man weiter vorgeht, hängt dann davon ab, von

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welcher Systemreferenz man nun auszugehen versucht - oder aber, wenn nicht klarer Weise ein System zur Hand ist, das die entsprechende Dekomposition praktisch leistet, auf welche Potentiale hin man theoretisch interpretieren will. Wir sehen also, daß Ordnung hier zu leisten wäre über (a) eine empirische Typologie von Systemen (b) Ordnung theoretischer Disziplinen. Wir kommen gleich im obigen Text auf die erste Option zurück.

[51] Luhmann hat Raum und Zeit als Medien zur Errechnung von Objekten ausgewiesen, die sich über den Unterschied von Objektdifferenz und Stellendifferenz strukturieren. Zur Geformtheit dieser Stellengefüge führt er aus: "Der Raum macht es möglich, daß Objekte ihre Stellen verlassen. Die Zeit macht es notwendig, daß die Stellen ihre Objekte verlassen." (Luhmann 1995a: 181).

[52] Ein Beispiel sind die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, deren Geltung jeweils auf den Wirkkreis eines Funktionssystems im umfassenden sozialen System (Gesellschaft) begrenzt ist und die jeweils gegen die anderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien indifferent sind.

[53] Siehe für die Ansätze einer "Theorie der Sendung", die das postalische Zeitalter und seine [p.143] Verflechtungen mit der philosophischen wie der psychoanalytischen Semantik in Anschlag bringt: Jacques Derrida, Die Postkarte von Socrates bis an Freud und Jenseits. 1. Lieferung, Berlin: Brinkmann und Bose 1982.

[54] Will man Computer als Medien auffassen, ist unmittelbar evident, daß man hier eine eminente Eigendynamik einzuräumen hat. Dies gibt dann im weiteren auch Anlaß, den Computer als System in Betracht zu ziehen: zum Beispiel am Computer neben einem Medienaspekt auch einen Maschinenaspekt auszumachen (vgl. Elena Esposito, Der Computer als Medium und Maschine, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 1, 1993, S. 338-354) oder aber zu prüfen, inwiefern und mit welchen Folgen Computer als maschinelle Systeme die Rolle von Bewußtseinssystemen in der Umwelt von Kommunikation einnehmen können (vgl. Peter Fuchs, Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologica Internationalis, 1/1991, S. 1-30).

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11.11. 1998 - http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/medium/khurana.html