Ausgabe 06 2014 des strassenfeger - Nachbarn

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  • Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT fr

    den_die Verkufer_in

    No. 6, Mrz 2014

    EU-WAHLMartin Schulz tritt an (Seite 4)

    GALERIEDynamics And Contrast (Seite 16)

    11MMSiege, Nieder-lagen, Helden (Seite 28)

    NACHBARN

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 20142 | INHALT

    strassen|feger Die soziale Straenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

    Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Mglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie knnen selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkufer erhalten einen Verkuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

    Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notbernachtung und den sozialen Treff punkt Kaff ee Bankrott in der Storkower Str. 139d.Der Verein erhlt keine staatliche Untersttzung.

    Liebe Leser_innen,Ja, ja, die lieben Nachbarn: Manchmal sind sie wirklich lieb, manchmal richtig garstig. Meine bse Nachbarin hat gerade wieder nun schon zum zweiten Mal! einen Blumenkasten auf mein Fahrrad abstrzen lassen. Ich gebe zu, sie hat es nicht ab-sichtlich getan, es war der Sturm. Nun liegt der ganze Dreck aber schon eine Woche auf meinem Rad, sie macht ihn einfach nicht weg. Auerdem stellt sie immer ihre vollen, stinkenden Mllt-ten vor ihre Wohnungstr, ansttatt sie eine Treppe tiefer in der Mlltonne zu entsorgen. Morgen, gleich morgen bringe ich sie

    Diese und andere Geschichten kennen sie sicher zur Genge: Das Thema Nachbarn polarisiert immer wieder. Dabei geht es auch anders, wie unser Autor Florian auf Seite 8 beschreibt. Das Caf auf halber Treppe bringt Nachbarn zusammen. Auch das Projekt www.fairteilen.de (Seite 9) gefllt! Interessant sind auch unsere neuen tierischen und pfl anzlichen Nachbarn: Dass der bse Wolf wieder in Deutschland heimisch wird, freut die einen und verngstigt die anderen. Auch einige Schdlinge wie Zecken- und Schneckenarten oder die Feuerameisen hat es zu uns verschlagen, ebenso den giftigen Riesenbrklau (Seite 12).

    Nachbarn sind aber auch Staaten. Manche vertragen sich, man-che nicht. Manche schmieden Bndnisse wie die Europische Union. Martin Schulz (SPD) ist Prsident des EU-Parlaments.Er spricht im Exklusivinterview auf Seite 4 ber seine europischen Visionen. Aber auch in der Kunst geht es bei uns nachbarschaft-lich zu: In der Rubrik art strassenfeger prsentieren wir Ihnen eine Rezension zu Conrad Reustles Dynamics And Contrast in der Nachbarschaftsgalerie im Kunger Kiez (Seite 16).

    Auerdem in der Ausgabe: Berichte zu den Handballern der Fchse Berlin (Seite 26), zu Hertha BSC (Seite 27) und zum 11mm Fuballfi lmfestival (Seite 28).

    Ich wnsche Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Andreas Dllick

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    NACHBARNFreibrief fr Sozialtourismus?

    Exklusivinterview: Martin Schulz, Prsident des Europaparlaments

    Freihandelsabkommen zwischen USA und EU

    Caf auf halber Treppe

    fairleihen ist in!

    Kieznester Nachbarschaft shilfe

    Glhende Hommage an die Glhbirne

    Migranten der etwas anderen Art

    ber Qulgeister in einem Mietshaus

    Heinz Schubert alias Ekel-Alfred

    Wir waren Nachbarn

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rNachbarschaft sgalerie: Conrad Reustle mit Dynamics And Contrast

    B re n n p u n k tSebastian P. Lebenschancen, die er nie hatt e

    Sozialstrukturatlas 2013

    s t r a s s e n fe g e r r a d i oChristoph Dreyer ber Feinde des Internets

    K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

    A k t u e l lExklusiv-Interview mit Holly-Jane Rahlens

    S p o r tFchse Berlin wollen ins EHF-Pokalfi nale

    Hertha BSC versinkt im Mitt elma

    Das elft e 11mm Fuballfi lmfestival

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rLeistungen fr Bildung & Teilhabe (3)

    K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

    Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 3

    Freibrief fr Sozialtourismus?Arbeitnehmerfreizgigkeit fr alle EU-BrgerB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Aufenthaltsrecht und Freizgigkeit: Nach dem Gesetz ber den Aufenthalt, die Erwerbsttig-keit und die Integration von Auslndern im Bun-desgebiet bentigen auslndische Staatsbrger bei der Einreise in das Bundesgebiet einen Titel

    ( 4 AufenthG). Zugang zum Arbeitsmarkt richtet sich ge-m 18 AufenthG fr die auslndischen Staatsbrger nach den Erfordernissen der deutschen Wirtschaft. Hier ist die Zu-stimmung der Bundesagentur erforderlich

    Freizgigkeit ist das Recht, sich seinen Aufenthalts- und Arbeitsort frei whlen zu knnen. Staatsbrger aus Staaten der Europischen Union haben nach 2 Absatz 1 des Geset-zes ber die allgemeine Freizgigkeit von Unionsbrgern das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Magabe dieses Gesetzes. Ansatz 2 przisiert die Einreisegrnde wie Arbeit-nehmer, zur Arbeitssuche und zur Berufsausbildung, niederge-lassene selbststndige Ttigkeit oder Erbringung von Dienst-leistungen, wenn sie dazu berechtigt sind. Am 1.Januar 2007 wurden Rumnien und Bulgarien Mitglied der Europischen Union. Eigentlich gilt die Freizgigkeit mit Beginn der Mit-gliedschaft, aber die Bundesregierung hat sich wie beim Bei-tritt Polens zur EU eine Schamfrist erkmpft. Zum 1. Januar 2014 genieen alle EU-Brger die volle Freizgigkeit.

    Bereits 2007 war die Einreise armer Menschen aus diesen Lndern Thema fr Berlin. Antonie Rietschel berichtete im Tagespiegel vom 28.07.2007 unter Urlaub von der Armut ber rumnische Staatsbrger, die als Touristen nach Berlin gekommen waren, um als Schnorrer, Straenmusikant oder Scheibenputzer einige Euros am Tag zu machen. Die neuen EU-Brger konnten ohne Visum einreisen und sich drei Mo-nate als Tourist aufhalten.

    S o z i a l t o u r i s m u s ?

    Der Gromeister der CSU, Horst Seehofer, hat im Zusam-menhang mit der Freizgigkeit fr rumnische und bulgari-sche Staatsbrger vom Sozialtourismus gesprochen.

    Die Regierungskoalitionen in Berlin haben, Jahre bevor das Thema Freizgigkeit akut wurde, dafr gesorgt, dass den EU-Brgern der Zugang zu Sozialleistungen erschwert wird. So sind nach 7 SGB II Auslnderinnen und Auslnder, de-ren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssu-che ergibt, und ihre Familienangehrigen vom Leistungsbe-zug durch Jobcenter ausgeschlossen. Das SGB XII gewhrte im 23 Sozialhilfe fr Auslnder und Auslnderinnen im Absatz 1 Auslnder, die sich tatschlich im Inland aufhalten Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege. Weiter: Im brigen kann Sozialhilfe gewhrt werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist Im Absatz 3 wird aber der Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe fr Auslnder, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssu-che ergibt, sowie deren Familienangehrige ausgeschlossen. Auerdem sind die auslndischen Staatsbrger, die Sozialleis-tungen erhalten, auf Rckfhrungs- und Weiterwanderungs-programme hinzuweisen.

    Es wurde gegen den Leistungsausschluss geklagt, und meistens wurde der von den Sozial- und Landessozialgerichten besttigt. In Einzelfllen hielten Richter an Sozial- und Lan-dessozialgerichten diesen Leistungsausschluss nicht mit dem europischen Recht vereinbar. Es ist eine Prfung durch den Europischen Gerichtshof anhngig.

    Fo l g e n d e r A u s g re n z u n g

    Bulgarien ist das Armenhaus Europas: Das geringste Brutto-inlandsprodukt gepaart mit dem hchsten Armutsrisiko. In Rumnien ist die Lage nicht viel besser. Die Bewohner leiden dort unter der allgegenwrtigen Korruption. Viele Menschen aus diesen Lndern haben in ihrer Heimat keine Chance. In Deutschland mssen sie als Selbststndige das Risiko tragen. Weil sie sonst keine Chance haben, sind sie bereit, fr ein Entgelt zu arbeiten, dass den Lebensunterhalt in Deutschland nicht sichert. Menschenunwrdige Lebensbedingungen sind die Folge. Der Arbeiterstrich in Dortmund ist ebenso Folge dieser strukturellen Ausgrenzung wie der Straenstrich an der Kurfrstenstrae in Tiergarten und die Flatrate-Bordelle. Weil diese Menschen keine Wohnung finden, leben sie in berbelegten Zimmern wie die Matratzenlager in Dort-mund oder suchen Unterschlupf auch in Industrieruinen. Die ehemalige Eisfabrik in der Kpenicker Strae 40/41 wurde kurz vor Jahresende gerumt. Vor kurzem war die ehemalige Brauerei in der Schnellerstrae im Fokus. Egal wo, diese Men-schen laufen immer Gefahr, entdeckt und gerumt zu werden. Eine Perspektive fr Menschen sieht anders aus.

    Eisfabrik Berlin, Kpenicker Strae (Quelle: Wikipedia/Nicor)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 20144 | NACHBARN

    Wir mssen darber nachden-ken, was national, regional und lokal besser gemacht werden kann als in Brssel (Martin Schulz)Martin Schulz will EU-Kommissionsprsident werdenI N T E R V I E W : A n d r e a s D l l i c k

    Martin Schulz ist Sozialdemokrat und Prsident des Europaparlaments. Nach den Europawahlen im Mai mchte er Chef der Europischen Kommission werden. Beim SPD-Parteitag in Berlin wurde er als nationaler Spitzenkandidat fr die Europawahl aufgestellt, am 1. Mrz dann folgte in Rom seine Nominierung als gesamt-europischer Spitzenkandidat der Sozialisten. Schulz ist ein streitbarer Mann und bekannt fr seine offenen Worte. Er spricht auch heikle Prob-leme an, krzlich z. B. im israelischen Parlament, der Knesset, die Wasserverteilung zwischen Isra-elis und Palstinensern. Auch im Dauerstreit mit dem Europischen Rat um die knftige Finan-zierung der EU zeigte er Flagge genauso derzeit wieder bei den Verhandlungen der EU-Finanz-minister ber die Abwicklung von Krisenban-ken. Andreas Dllick befragte Martin Schulz im Auftrag des strassenfeger.

    Andreas Dllick: Guten Tag Herr Schulz! Sind Sie schon im hchsten Wahlkampfmodus?

    Martin Schulz: Wir sind noch nicht in der heien Phase, aber der Wahlkampf wird hoch-spannend. Diese Wahlen sind eine Zeitenwende in der europischen Demokratie. Erstmals kn-nen die Whlerinnen und Whler am 25. Mai mitbestimmen, wer Prsident der EU-Kommis-sion wird. Ich bin sehr stolz darauf als deutscher Sozialdemokrat fr die gesamte europische Parteienfamilie anzutreten. Das wird zum ersten Mal ein echter europischer Wahlkampf. Es geht in den kommenden Wochen darum, ber den richtigen Weg fr Europa zu streiten.

    Sie sind Prsident des Europaparlaments. Warum wollen Sie jetzt auch noch EU-Kom-

    missionsprsident werden?Ich mchte Kommissionsprsident werden, weil ich

    die EU verndern will. Europa hat in den vergangenen Kri-senjahren viel Zustimmung verloren, weil die Menschen den Eindruck hatten, dass wir viel Geld fr Banken aus-geben aber nichts gegen die Arbeitslosigkeit tun. Ich will versuchen, dieses Vertrauen zurckzugewinnen. Die EU muss etwas gegen Steuerflucht und Steueroasen tun, den Verbraucher- und den Datenschutz strken und sicherstel-len, dass unsere hohen Sozial- und Umweltstandards im Wettbewerbe mit anderen Weltregionen nicht unter die Rder kommen.

    Sie haben die EU-Kommission scharf kritisiert. Was luft denn da in Brssel Ihrer Meinung nach schief?

    Immer mehr Menschen wenden sich von Europa ab, weil sie sich ber die EU rgern. Ich rgere mich auch oft ber ber-flssige Regelungen. Ich will deshalb Europa vom Kopf auf die Fe stellen. Ich will als Kommissionsprsident zuerst fragen: Was muss die EU nicht regeln, was ist bei den Mitgliedsstaaten besser aufgehoben? Die Menschen wollen und brauchen keine Regelung aus Brssel, welchen Duschkopf wir im Badezimmer benutzen. Ich nehme viele kritische Bemerkungen zur EU sehr ernst. Sie ist nicht demokratisch genug, sie ist nicht ausrei-chend effizient, sie ist zu brgerfern und brokratisch. Das sind aber alles Dinge, die man verndern kann.

    Was knnen die europischen Sozialdemokraten besser als die anderen Parteien?

    In den letzten Jahren haben die Konservativen Europa dominiert. Jetzt gibt es die Chance auf einen Richtungswech-sel - hin zu einem besseren, sozial gerechteren und demokrati-scheren Europa. Wir wollen, dass wichtige Personalentschei-dungen nicht mehr in Hinterzimmern ausgekungelt werden. Die EU muss wieder zum Problemlser werden. Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit gehrt ins Zentrum der eu-ropischen Politik. Diejenigen, die an den Finanzpltzen zo-cken, sollen selbst fr ihr Risiko haften. Es ist eine Frage der

    Anmerkung der Redaktion: Wir wollten eigentlich noch ein paar andere wichtige Fragen beantwortet haben, z. B. Warum die EU eigent-lich weiter expandieren muss und ob die osteuro-pischen Lnder angesichts eines riesigen Armutsgefl-les berhaupt bereit dafr sind, wie er die Entwicklun-gen in der Ukraine und der Krim sieht und was die EU konkret gegen Obdachlo-sigkeit in Europa tut. Leider war dafr keine Gelegenheit mehr, da das Zeitbudget von Martin Schulz derzeit sehr begrenzt ist. Wir bleiben aber dran am Thema!

    Martin Schulz (Quelle: Wikipedia/Foto-AG Gymnasium Melle)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 5

    Gerechtigkeit, dass wir Steueroasen schlieen. Dafr stehen die Sozialdemokraten in Europa!

    Was fasziniert Sie eigentlich persnlich so an Europa? Wie sieht Ihre Vision von einem funktionierenden Europa aus?

    In meiner Familie, die im Dreilndereck Deutschland-Niederlande-Belgien wohnt, haben Cousins im Krieg gegen-einander gekmpft, weil sie auf unterschiedlichen Seiten der Grenze gewohnt haben. Dass wir das berwunden haben und Europa nach furchtbarem Leid, Rassenwahn, Krieg und Vertreibung so eng zusammengewachsen ist, das haben wir der europischen Idee zu verdanken. Die EU ist vor allem ein Friedensprojekt, das uns ber Jahrzehnte Stabilitt und Wohlstand auf unserem Kontinent gesichert hat. Aber im 21. Jahrhundert kommt etwas anderes dazu: In anderen Weltre-gionen streben neue und mchtige Staaten auf. Wir werden diesen nur auf Augenhhe begegnen knnen, wenn wir uns in Europa unterhaken. Denn wenn wir zusammenhalten, kn-nen wir unsere Werte verteidigen, aber wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, werden wir zum Spielball von anderen, die unsere Werte nicht teilen.

    Lesen Sie soziale Straenzeitungen wie den strassenfeger regelmig?

    Nein, auf meinem Schreibtisch liegen morgens die gro-en berregionalen Zeitungen. Aber ich finde das Konzept der sozialen Straenzeitungen groartig, weil sie mithelfen, viele Vorurteile ber Obdachlosigkeit auszurumen. Denn das es im reichsten Kontinent der Welt, der Europa immer noch ist, noch immer so viel Armut und Obdachlosigkeit gibt, ist eine Schande fr unsere Gesellschaften.

    Vom 12. bis 15. August findet in Glasgow die Jahresta-gung des Internationalen Netzwerks der Straenzeitun-gen (INSP) statt. Martin Schulz und seine Kollegen von der Europischen Union sind natrlich ganz herzlich ein-geladen, mit uns gemeinsam den 20. Geburtstag des INSP zu feiern!!!

    Martin Schulz mit Arsenyi Yatsenyuk, Ministerprsident der Ukraine (Foto: europarl.europa.eu)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 20146 | NACHBARN

    Freihandelsabkommen zwischen USA und EUWhrend die Enthllungen von Edward Snowden und der NSA-Abhr-Skandal durch die Medien fast tglich prsent waren, wurde ber ein anderes gewichtiges Thema fast nichts berichtet: Das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU (TAFTA). B E R I C H T : M i c k y S e i f e r t ( w w w . s t r e e t - p a p e r s . o r g / F R E I e B R G E R G e r m a n y )

    Fast jeder hat schon einmal vom Freihan-delsabkommen zwischen den USA und der EU (TAFTA) gehrt, aber was da wirklich genau verhandelt wird, wissen viele Brger in Europa nicht. Die Befrworter einer Freihandelszone mit den USA erhoffen sich durch Abbau der Zlle und Angleichung von Zulassungsverfahren und Normen mehr Wett-bewerb zwischen den Firmen und glauben, dass dies zu sinkenden Preisen, mehr Gewinnen der Konzerne und schlielich auch zu mehr Geld im Geldbeutel der kleinen Leute fhrt. Ein Mythos der neoliberalen Ideologie, der in den 1980er Jahren von Paul Krugman, Nobelpreistrger fr konomie, widerlegt wurde, und sich noch nie auf der Welt bewahrheitete. Natrlich sehnen sich einige Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks nach einem groen Binnenmarkt, der die USA und Europa einschliet. Die Abschaf-fung der Zlle hat dabei nur untergeordnete Bedeutung. Denn schon jetzt liegen die durch-schnittlichen Zlle im Handel zwischen den USA und der EU laut der EU-Kommission unter drei Prozent. Die Kommission besttigt in einer Analyse, dass die USA und Europa schon heute die am engsten verwobene Wirtschaftsbezie-hung der Welt pflegen.

    Die Unternehmen sind mehr daran inter-essiert, neue Mrkte zu erschlieen, um expan-dieren zu knnen. In Deutschland rechnen sich nach Abbau der letzten Hrden (Angleichung von Zulassungsverfahren, Einfhrung gleichen Standards) zwischen der EU und den USA be-sonders die Automobilbranche und der Maschi-nenbau gute Chancen auf dem US-Markt aus. In den USA wnschen sich besonders die Agrar-industrie und die Dienstleistungsunternehmen einfacheren Zugang zu den europischen Mrk-ten. Da zwischen Europa und den USA unter-schiedliche Normen und Gesetze existieren, sol-len sie im Rahmen des Freihandelsabkommens angeglichen werden. Kritiker befrchten, dass

    die neuen Normen und der Mindeststandard auf den niedrigsten Nenner festgelegt werden und so Brger und Verbraucher sich auf niedrigere Qualitt einstellen mssen.

    S i n d d e r a m e r i k a n i s c h e u n d d e r E U - M a r k t b e r h a u p t ko m p a t i b e l ?

    Nehmen wir den Agrarbereich: In den USA sind genvernderte Pflanzen im Anbau, geklonte Tiere in der Fleischindustrie und das Desinfi-zieren von Hhnchen in einem Chlorbad Nor-malitt. In der EU ist der Anbau von genetisch vernderten Pflanzen beschrnkt, geklonte Tiere kommen nicht auf den Teller und das Desinfizie-ren von Hhnern im Chlorbad ist verboten. Wie kann man bei solch unterschiedlichen Praktiken und Gesetzen diesen Agrarmarkt vereinen? Der in der EU hhere Verbraucher-, Lebensmittel- und Umweltstandard wird wohl kaum von den USA bernommen werden, eher ist zu befrch-ten, dass in der EU der Verbraucherschutz aus-gehhlt wird, die Lebensmittelqualitt sinken wird und die Umweltbestimmungen unterlaufen werden.

    Ganz wichtig in dem Abkommen wird der Schutz von Eigentum, Patenten und Investitio-nen sein und die Gleichbehandlung von inln-dischen und auslndischen Betrieben und Un-ternehmen. Was auf den ersten Blick vernnftig erscheint, kann jedoch zu gewichtigen Proble-men fhren. Wenn z. B. ffentliche Auftrge im Dienstleistungsbereich in Deutschland vergeben werden, dann muss neben dem lokalen Unter-nehmer auch der Anbieter aus den USA berck-sichtigt werden. Die einfache Abgabe an den heimischen Betrieb ist nicht ohne weiteres mg-lich, der gnstigste Anbieter kommt zum Zug und im schlimmsten Fall verliert das einheimi-sche Unternehmen den Auftrag und in der Folge knnen dort Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren. Falls die auslndischen Unternehmen

    nicht bercksichtigt werden oder aufgrund von Umweltbedenken oder anderer Sorgen in der Bevlkerung hier in Deutschland nicht zum Zug kommen, dann knnen sie wegen Wettbewerbs-behinderung klagen. Auch gegen den deutschen Staat. Verhandelt werden solche Klagen nicht vor einem ffentlichen Gericht, sondern vor ei-ner Art Schiedsgericht. Von beiden Seiten wird ein Rechtsanwalt geschickt, ein dritter Anwalt versucht dann ein Urteil zu finden. Jeder dieser Anwlte vertritt je nach Mandat unterschiedliche Interessen, je nach Fall steht er also auf der einen, mal der anderen Seite, Interessenkonflikte sind da vorprogrammiert. Und dieses Schiedsgericht kann Entscheidungen treffen, welche weitrei-chende Bedeutung fr die einzelnen Lnder und deren Brger haben knnen. Und die zustndi-gen Regierungen mssen diese Entscheidungen akzeptieren und ggf. die Gesetze zum Wohle des Unternehmens und gegen die Rechte der Bevl-kerung durchsetzen.

    U m w e l t - u n d Ve r b r a u c h e r s c h u t z re g e l n a u e r K r a f t h o h e S t r a f z a h l u n g e n

    Wozu das fhren kann, kann uns gut ein Beispiel aus der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) zeigen. Wegen dem Druck aus der Bevlkerung hat der Staat Kanada das Fracking eine sehr umstrittene Methode der Erdl- und Erdgasfrderung auf seinem Staatsgebiet ein-geschrnkt. Das betroffene Unternehmen aus den USA klagte gegen den kanadischen Staat wegen nicht eingenommener Gewinne in Millio-nenhhe auf einen Schadensersatz von 250 Mil-lionen Dollar. Vermutlich wird der kanadische Steuerzahler diese hohe Summe stemmen ms-sen. Das heit, dass Unternehmen im Rahmen des Investitionsschutzes/Eigentumsschutzes ge-gen Regelungen und Gesetze, die den vermeid-lichen Wettbewerb behindern, klagen knnen.

  • 01 02

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    01 Anti-Monsanto-Demo in Mnchen (Quelle: alles-schallundrauch.blogspot.com/Peter S.)

    02 Demo-Ankndigung in einem Caf gegen hydrauli-sches Fracking (Quelle: Wikipedia/LittleGun)

    03 Aufruf (Quelle: essen-macht-mehr.de)

    strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 7

    Umwelt- und Verbraucherschutzregeln knnen auf rechtlichem Wege fr solche Unternehmen auer Kraft gesetzt werden oder knnen nur gegen hohe Strafzahlungen aufrecht gehalten werden.

    Die Unternehmen knnen sich also den Ver-kauf von Produkten oder die Anwendung von nicht erwnschten Verfahren einklagen und so die Bestimmungen der einzelnen Lnder auer Kraft setzen und die Qualittsnormen herabset-zen. Da fast nur Vertreter der Wirtschaft und der Industrie hinter verschlossenen Tren ber das Freihandelsabkommen verhandeln, ist zu befrchten, dass die Interessen der Brger und der Verbraucher hchstens zweitrangig sind. Inzwischen wird immer mehr Kritik an dem Freihandelsabkommen laut. Dem kritischen Ag-rarbericht 2014 zufolge untergrbt das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU Verbraucherrechte, die Transparenz und die demokratische Kontrolle. Dieser Bericht wurde vom Agrarbndnis herausgegeben, einem Zusammenschluss von zwei Dutzend Organi-sationen aus Landwirtschaft, Umwelt- und Na-turschutz und Verbraucherpolitik. Die Autoren warnen davor, dass knftig Chlorhhnchen und Gentechnik auf den deutschen Tellern landen.

    A m e r i k a n i s c h e L o b b y i s t e n d r n g e n a u f d e n E U - M a r k t

    Gerade die langen Zulassungsverfahren und weitgehenden Anbauverbote fr gentechnisch vernderte Pflanzen (GVO) stehen seit langem im Zentrum der Agrarstreitereien zwischen der EU und den USA. Die Autoren befrchten, dass die Zulassung der GVO mit dem Freihandels-abkommen quasi durch die Hintertr kommt. Denn ausgerecht Islam Siddiqui, ein frherer Spitzenlobbyist der Agrarindustrie (er war Vizeprsident von Croplife, einer Lobbyor-ganisation der Saatgutkonzerne der einst von

    den US-Firmen Monsanto und Dupont ge-grndet wurde) verhandelt fr die US-Seite die Bedingungen fr das Freihandelsabkommen im Agrarsektor.

    Bernd Voss, Vorsitzender der Arbeitsge-meinschaft buerliche Landwirtschaft, fordert die Bundesregierung auf, die Geheimverhand-lungen ber das Freihandelsabkommen zu stoppen. Seiner Ansicht nach hat die geheime Agenda das Ziel, gesellschaftlich errungene Standards und demokratische Selbstbestim-mungsrechte der Parlamente von EU und USA abzuschaffen. Laut Hubert Weigner, dem Vor-sitzenden des Bundes fr Umwelt und Natur-schutz, gefhrde das Abkommen auch die kolo-gische Agrarwende. Er befrchtet, dass mit dem Freihandelsabkommen endgltig die Regeln des Weltmarkts gelten, und die kennen keinen Tier- und Umweltschutz. Anstatt Bauernhfe mit art-gerechter Tierhaltung zu frdern wurden dann wieder mehr Gromastanlagen gebaut, um mit den Niedrigpreisen fr Fleisch mithalten zu kn-nen. Die Regierungen der USA und der einzel-nen EU-Staaten scheinen zu hoffen, dass sie mit dem Freihandelsabkommen neuen Schwung in ihre stagnierende Wirtschaft bekommen werden.

    G ro e R i s i ke n f r d i e K o n s u m e n t e n

    Deshalb stehen die Interessen der internationa-len Grokonzerne im Vordergrund, und es ist zu befrchten, dass z. B. Verbraucherschutz oder Lebensmittelqualitt fr einen leichteren Zu-gang der Automobilindustrie auf den amerikani-schen Markt geopfert werden. Ilse Eigner (CSU), Ex-Verbraucherministerin, warnte schon im ver-gangenen Jahr vor erheblichen Risiken fr Kon-sumenten durch das Freihandelsabkommen. In einem internen Papier ihres Ministeriums heit es: Der starke Verbraucherschutz in Deutsch-land und Europa und die Wahlfreiheit fr den Verbraucher sind groe und ber Jahrzehnte

    hart erkmpfte Errungenschaften, die nicht aufs Spiel gesetzt werden drfen. Noch ist das Frei-handelsabkommen zwischen den USA und der EU nicht endgltig ausgehandelt. Noch besteht die Chance, dass unsere Politiker die Interessen der europischen Bevlkerung mehr schtzen und eine breite ffentlichkeit Druck gegen die geplante Verschlechterung der Lebensqualitt macht. Wenn das Freihandelsabkommen wie ge-plant in Kraft tritt, werden Wenige einen Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit auf beiden Seiten des Atlantiks machen.

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 20148 | NACHBARN

    Kaffee gegen die soziale KlteDas Caf auf halber Treppe bringt Nachbarn zusammenB E R I C H T : F l o r i a n E y e r t

    Das Leben in der Grostadt ist geprgt von Ano-nymitt und Individualisierung, im schlimmsten Fall sogar Isolation und Einsamkeit, die auch vor der Haustr nicht haltmachen. Den Groteil sei-ner Nachbarn kennt man nur vom hastigen Vorbeihuschen im Treppenhaus und von dem sprichwrtlichen Fragen nach der Prise Salz sieht man im Normalfall dann doch lieber ab. Ins Bewusstsein tritt der Nachbar oft nur als rgernis. Dabei geht die Gemeinschaft verloren, die sich vielleicht doch so manch einer wnscht und die wohl einiges einfacher machen wrde. Aber muss das so sein? Lsst sich Zusammenleben nicht auch in einer Stadt wie Berlin schner gestalten? Das Caf auf halber Treppe setzt eine ebenso einfache wie bril-lante Idee in die Tat um.

    Neugierig auf die Nachbarschaft?, steht auf den bunten Fly-ern, die die Hausbewohner in ihren Briefksten finden. Ein kurzer Text erklrt die Idee und ldt ein zu einem sonntgli-chen Kaffeeklatsch im Treppenhaus. Ist der Tag gekommen, herrscht zunchst noch ein wenig Skepsis. Vorsichtig erhascht man einen Blick vor die Wohnungstr und siehe da: Tatsch-lich ist alles vorbereitet. Kissen liegen auf den Treppenstufen, auf der Zwischenetage ist ein Tisch aufgestellt mit dampfen-dem Kaffee, frisch gebackenem Kuchen und Keksen darauf, ringsherum Kerzen. Nach und nach trauen sich die Leute aus ihren Wohnungen, sptestens jetzt neugierig geworden, und versammeln sich an dem sonst so wenig zum Verweilen ein-ladenden Ort. Schnell wird die Atmosphre ungezwungen, anfngliches Zgern verwandelte sich in ausgelassene Redse-ligkeit und das unbekannte Wesen Nachbar stellt sich erstaun-lich bald als gar nicht so unangenehmer Zeitgenosse heraus. In welcher Wohnung wohnen Sie denn? Wo kommen Sie her? Und wie machen Sie das eigentlich mit dem Kellerraum? Der gemeinsame Wohnort liefert zahllose Gesprchsthemen und Anlass zum Austausch ber verschiedenste Probleme des All-tags. Wer im Haus hat eine Bohrmaschine und wie kommt man eigentlich zu dieser Dachterrasse? Fr das leibliche Wohl ist gesorgt und whrend die schon seit einem halben Jahrhun-dert im Haus lebende Rentnerin Spannendes aus der Vergan-genheit erzhlt, entdecken die Kinder auf den Treppenstufen ganz neue Spielgefhrten. Statt den geplanten zwei bis drei

    Stunden kann sich die gemtliche Treppenhausrunde schon einmal bis in die spten Abendstunden erstrecken.

    Dass solche Inseln der Nachbarschaft in Berlin seit einiger Zeit immer wieder erlebt werden knnen, geht auf das Konto von Caf auf halber Treppe, einem Projekt fnf tatenlustiger junger Menschen, die berzeugt sind, dass ein offenes und verantwortungsvolles Miteinander, vielleicht ein Leben mit mehr Teilen und mehr Gemeinschaft mglich ist, ja dass es schade wre, darauf zu verzichten. Kennen lernten sie sich auf einem Seminar zu Social Entrepreneurship und schnell war ihnen klar, dass sie der Anonymitt der Grostadt ein Schnippchen schlagen wollten. Gemeinsames Essen und Trin-ken als der Knigsweg der Geselligkeit war die offensichtli-che Wahl. Das sonst ungenutzte Treppenhaus bietet dabei den idealen Raum, so Susanne, Mitbegrnderin des Projekts, ist es doch die Schnittstelle von Privatheit und ffentlichkeit, Drin-nen und Drauen. Niemand muss in die eigenen vier Wnde einladen und doch ist die Umgebung vertraut. Wer die Lust verliert, kann sich ohne Aufwand zurckziehen. Wie rege der Austausch gefhrt wird und wie eng es weitergeht, liegt ganz in den Hnden der Nachbarn. Das Caf auf halber Treppe muss nur von einem Hausbewohner eingeladen werden und bereitet alles selber vor. An den Nachbarn ist es dann, Kaffee, Kuchen und Gesprche zu genieen. Und so gering der Auf-wand, so enorm der bisherige Erfolg. Spontane gegenseitige Wohnungsfhrungen, stundenlanges, bei Einbruch der Dun-kelheit zur Weinverkostung werdendes Beisammensein, das Verschenken von Wohnungseinrichtungen beim Auszug und das Schmieden von Plnen fr gemeinsame Grill-, Glhwein oder Krimiabende, all das gehrt neben allgemeiner Begeiste-rung zu den positiven Reaktionen.

    Bislang findet das im Herbst 2013 etablierte Caf einmal im Monat statt. Zu erwarten ist allerdings, dass die Idee weiter wchst und irgendwann vielleicht sogar mehr und mehr von den Hausbewohnern selber organisiert wird. Auch der na-hende Sommer bietet neue Mglichkeiten: ein Caf im Hof mit Eistee statt Kaffee ist geplant, vielleicht auch ein Grillfest. Insgesamt befindet sich das Caf mit Berlin in einer Umge-bung, in der das Potenzial der Nachbarschaft derzeit durch eine Reihe von Initiativen wiederentdeckt wird, darunter verwandte Projekten wie Polly & Bob oder fairleihen, aber auch verschiedene Tauschringe. Die sie einende Idee ist absolut einleuchtend. Wer seine Mitmenschen besser kennt, verliert nicht nur die Scheu, im Notfall einfach mal gegenber zu klingeln und um Hilfe zu fragen, sondern kann sich auch sicherer fhlen und Vorurteile abbauen. Man gewinnt Ver-trauen und das beruhigende Gefhl, dass aufeinander acht ge-geben wird und Dinge geteilt werden knnen. Wie weit dieser Geist der Nachbarschaft reichen kann, erlebte eine WG, die im vergangenen Jahr am Caf auf halber Treppe teilnahm: Da sie es nicht mehr brauchten, schenkte ihnen ein benachbartes Ehepaar kurzerhand ihr Auto.

    Das Caf auf halber Treppe freut sich ber jede Einla-dung. Kontakt und mehr Information finden sich unter www.aufhalbertreppe.de.

    Formular (Quelle: http://aufhalbertreppe.de)

  • I N FO

    www.fairleihen.de/

    http://reset.org/knowledge/sharing-caring-%E2%80%93-liegt-die-zukunft-im-kollektiven-konsum

    strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 9

    fairleihen ist in! Mehr haben, ohne mehr zu besitzenSharing is caring Auf dem Internetportal www.fairleihen.de gibt es sie: Die Mglich-keit des (Aus-)leihens. Marko Drre, Grnder und Geschftsfhrer der gemeinntzi-gen Betreibergesellschaft erklrt, wie mit einem einzigen Projekt nicht nur die Nachhaltigkeit gestrkt wird.B E R I C H T : Ta n n a z

    Wer kennt das nicht? Da hat man sich ein neues Regal gekauft und braucht eine Bohrmaschine. Whrend sich die einen fr den 10-Sekunden-Spa eine eigene zulegen, fragen sich die anderen durch ihr Telefonbuch und ver-suchen es bei Freunden und Bekannten. So hat dann nach langem hin- und hertelefonieren der Freund-von-der-Freundin-einer-Arbeitskollegin eine Bohrmaschine, und das Regal, das in der Zwischenzeit schon voll aus der Mode ist, kann an die Wand. In den meisten Fall ein ziemlich aufwendiger Prozess. Dass es auch einfacher geht, das beweist das Projekt fairleihen.

    E i n P ro j e k t m i t V i e l fa l t a n S a c h e n

    Caring boomt zurzeit. Das merkt auch www.fairleihen.de mit seinem zehnkpfigen Team. Immer mehr Nutzer schlieen sich dem Projekt an. Im Dezember 2012 sei ihm an Nikolaus die Idee zu dem Projekt gekommen, erklrt Grn-der Marko Drre. Ein Projekt, das im Mai 2012 ins Leben gerufen worden ist und aus der Idee der Nachhaltigkeit entstanden sei. Verleihen ver-stehe er als die Idee des Mehrhabens, ohne mehr zu besitzen. Er selbst habe frher unter Freun-den verliehen und geliehen und habe einfach das, was er im Alltag machte, mit der Mglichkeit des Internets verbreitet.

    Auf der Internetseite, wo Nutzer Dinge zum Verleihen online stellen und selbst ausleihen knnen, finden sich sehr viele ntzliche und verrckte Sachen. Die Vielfalt an Sachen sei bemerkbar. Neben Bchern und vorwiegend ntzlichen Dingen, wie Werkzeug, finden sich auch andere Dinge, so auch ein Faltruderboot.

    Das Ganze basiert auf dem Prinzip: Kos-tenlos leihen, statt teuer kaufen und hat den Zweck, Menschen die Idee des Leihens, Auslei-hens und der Nachbarschaft nher zubringen.

    D e r K i e z g e d a n ke z h l t

    Marko Drre erzhlt mir von einem Schweizer aus seinem Team, der ein Ksefondue anbot, worauf sich ein Berliner Student, der ebenfalls aus der Schweiz kam, meldete. Zwar entstehen, wie in dem eingefhrten Beispiel hin und wieder Kontakte, doch der Fokus sei auf das Verleihen gesetzt und weniger auf eine Nachbarschaftsver-kupplung.

    Der Grafiker aus dem Team sage immer: Der Kiezgedanke zhlt. Doch nicht nur der Umkreis, sondern auch die direkte Nachbar-

    schaft profitiert von dem Projekt. So wurden Sti-ckerpostkarten entworfen, auf denen verschie-dene Sticker z. B. ein Fahrrad abgebildet sind. Diese Sticker kann man nun an seinen Briefkas-ten anbringen und so die direkte Nachbarschaft im Hause darauf aufmerksam machen, was man ausleihen kann. Diese Sticker bekommt man di-rekt mit der Anmeldung auf der Onlineseite.

    D a s P r i n z i p d e s Ve r t r a u e n s

    Nutzer wird man, in dem man sich auf der Web-site www. fairleihen.de anmeldet und mit Be-ginn dieser Anmeldung selbst drei Sachen auf die Seite stellt, die man ausleihen knnte. Und schon kann man von der Vielfalt an Angeboten profitieren. Dort knne man dann sehen, wo es das Bentigte in der Nhe zum Ausleihen gibt. Auf meine Frage, ob die Nutzer Angst um ihre Sachen htten, antwortet er: Bislang ist weder etwas verloren, noch kaputt gegangen. Durch die Umkreisnhe entstehe Vertrauensschutz. Und dazu komme, dass alle Nutzer die gleiche Rolle einnehmen. Sie selbst sind welche, die verleihen und ebenfalls wollen, dass gut mit den verliehenen Sachen umgegangen werde. Niemand ist bei dem Projekt nur Leiher oder Verleiher.

    Er selbst habe noch am letzten Samstag et-was verliehen und sagt, drei Wirkungen habe das Projekt: So werde zum einen der Nachbarschafts-gedanke gestrkt und der Zugang zu bestimmten Dingen ermglicht, sodass man, auch wenn man nur wenig Geld hat, diese Dinge nutzen kann. Die dritte Wirkung, die Marko Drre am wich-tigsten ist, sei jedoch die der Nachhaltigkeit. So kann man nur hoffen, dass sich viele dem Projekt anschlieen. Denn mehr Nutzer, das bedeutet mehr Nutzen fr alle.

    Marko Drre, Grnder von fairleihen (Fotos: www.fairleihen.de)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 201410 | NACHBARN

    KieznesterNachbarschaftshilfe Soziales Kapital?B E R I C H T : A n d r e a s P e t e r s

    Vor kurzem durfte ich hier ber bse Nachbarn schreiben. Dabei be-schrnkte sich mein Verstndnis von Nachbarschaft vor allem auf die Umgebung der eigenen Wohnung. Weite ich meinen Begriff von Nachbarschaft aus und gehe auf meine Strae, oder bewege mich in meinen Kiez und treffe auf meine Leute, bekommt Nachbarschaft fr mich einen ande-ren Stellenwert. An dieser Schnittstelle bieten Nachbarschaftsheime einen Platz im Kiez, um sich zu treffen, Synergien auszutauschen, sich fr das Gemeinwesen zu engagieren oder vor-handene Angebote zu nutzen. Dass dies nicht selbstverstndlich ist, zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte.

    Die Ursprnge der heutigen Gemeinwesenarbeit gehen weit zurck bis ins 19. Jahrhundert. Da-mals ging es darum, statt Almosen aktiv Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Der konom und So-zialforscher Arnold Toynbee rief dazu die soge-nannte Settlement-Bewegung ins Leben. Seine Idee war, dass angehende Akademiker und gebil-dete Menschen sich bei den rmeren ansiedelten, um ihnen etwas von ihrem Wissen, ihrer Bildung und Kultur abzugeben. Noch heute erinnert die

    Toynbee Hall in London an die Geburtsstunde der Nachbarschaftshilfe und seinem Mentor.

    In Berlin wurde seinerzeit das jdische Volks-heim im Scheunenviertel oder das Siedlungs-heim in Charlottenburg, in dem auch Benjamin Franklin verkehrte, erffnet. Die Anfnge der heutigen Sozialarbeit gehen auf diese Entwick-lung zurck, nur dass es damals noch Armenhilfe hie. Arbeiter, die von ihrem Lohn weder Unter-kunft, noch Essen bezahlen konnten, erhielten Hilfe und ein Dach bern Kopf. Der Nationalso-zialismus hingegen verbot vielfach diese sozialen Initiativen. Es waren schlielich die Englnder und Amerikaner, die nach dem Krieg das Poten-zial dieser alltagsorientierten und brgernahen Initiativen erkannten und nach dem Vorbild von Toynbee offensiv frderten. Dies fhrte schlie-lich zur Grndung vieler heute noch in Berlin be-stehender Nachbarschaftsheime. Das Nachbar-schaftsheim Schneberg (NbhS) zum Beispiel leistete in jenen Tagen einen praktischen und lebensnahen Ansatz zur Selbsthilfe und betrieb eine Nherei und Schusterei.

    Noch heute sieht sich das NbhS in ihren Grundstzen und Leitlinien in der Tradition der weltweiten Settlement-Bewegung, der Verknpfung von sozialer und kultureller Ar-beit mit dem Ziel der Befhigung zur Selbst-hilfe und Selbstorganisation verpflichtet. Ich selbst war berrascht, dass es in Berlin mehr als dreiig solcher Einrichtungen gibt. Natr-lich jede mit ihren speziellen kiezbezogenen

    Angeboten und Schwerpunkten. Im NbhS gibt es allein aufgrund der Altersentwicklung in Tempelhof-Schneberg viele Angebote zur Ge-sundheitsvorsorge und Pflege, whrend andere eher die Jugendarbeit zum Schwerpunkt haben. Grundstzlich ist fr jeden, Alt und Jung, etwas Passendes dabei. Dies gilt sowohl fr Ange-bote, die wahrgenommen werden knnen, als auch fr Angebote, die man selbst ausrichten mchte, wo man eigenes Wissen als Kursleiter/in weitergeben mchte. Nachbarschaftsheime tun gut daran, sich in dieser Hinsicht fr alle offen zu halten und sichern sich damit auch ein Stck Unabhngigkeit von lediglich einer be-stimmten Bevlkerungsgruppe.

    In diesem Zusammenhang wird mir allerdings auch deutlich, dass es nicht genug Orte gibt, wo sich Alt und Jung treffen und gemeinsam fr et-was engagieren knnen. Dies gilt im besonderen Mae, wenn die Mobilitt der lteren nachlsst. Nachbarschaftsheime haben eine Komm-Struk-tur. Dies ist nicht nur bei Pflegebedrftigen Alten ein Problem, sondern vielfach auch bei psychi-schen kranken Menschen. Hier setzen Einrich-tungen, wie zum Beispiel Kieznest in Schne-berg neue Akzente, die hoffnungsvoll stimmen. Nachbarn nehmen mit Untersttzung professio-neller Hilfe pflegebedrftige und einsame Men-schen fr ein paar Stunden zu sich auf, um mit ihnen die Zeit zu verbringen, eine Mahlzeit zuzu-bereiten oder einfach nur Karten zu spielen. Die Frage nach dem sozialen Kapital hat sich fr mich damit ein Stck weit beantwortet.

    Nachbarschaftshaus Friedenau (Foto: Andreas P.)

    Karik

    atur

    : OL

  • Oben: Installation

    Links: Sibin Vassilev (links) und Fabian Bleisch (rechts)

    strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 11

    I N FO

    http://vimeo.com/76157797

    www.semantics-of-sound.com/

    Glhende HommageZwei Knstler haben der verbotenen Glhbirne eine Installation gewidmet aus GlhbirnenB E R I C H T & F O T O S : B o r i s L i c h t g e s t a l t N o w a c k

    Mit dem Glhlampenverbot wurde den Eu-ropern von Brssel aus ein fragwrdiges Energiesparkonzept oktroyiert, wie einst den Deutschen das mit der Abwrackprmie der Bundesregierung fr noch funktionierende

    Autos. Die neuen Lampen verbrauchen zwar weniger Ener-gie, sind aber teuer und aufwendig in der Herstellung und Entsorgung. Helfen wir damit tatschlich der Umwelt? Oder schaden wir unserer Gesundheit dadurch nicht mehr als vor-her? Der Regisseur Christoph Mayr hat in seinem Film Bulb Fiction die Einfhrung der Energiesparlampe unter dem Vor-wand des Energiesparens infrage gestellt und die dahinter ste-ckenden wirtschaftlichen Interessen beleuchtet.

    Den Lichtdesigner Fabian Bleisch hat diese Dokumentation vergangenes Jahr dazu inspiriert, zusammen mit Klangdesig-ner Sibin Vassilev die Installation Edison mit alten Glhbir-nen zu gestalten. In einem Raum sind elektrische Glhlampen von der Decke hngend angebracht, die zu einer Gerusch-kulisse aus Klngen und Gesprochenem an- und ausgehen, laufen, aufblitzen, heller und dunkler werden. Der Besucher kann durch die Installation hindurchgehen und beobachten, wie die Glhfden der Birnen arbeiten. Neben der Einfachheit der Handhabung, dem gnstigen An-schaffungspreis und der Ungefhrlichkeit beim Umgang mit Glhbirnen spielt fr Bleisch freilich auch die Qualitt des Lichts eine Rolle: Das Lichtspektrum der Glhbirne ist so nah am Tageslicht wie kein anderes knstliches Licht. Er ist Meis-ter fr Veranstaltungstechnik in der Fachrichtung Beleuchtung und verdient mit der Lichtgestaltung in Theatern in Berlin sein Brot. Im Theater verwenden wir zwar Halogenleuchten, wo sich durch das Verbot erstmal nichts ndert, auch wenn es fr-her oder spter in Richtung LED-Technik gehen wird, erklrt er, Aber ich mag Glhbirnen. Das Licht ist angenehm und der Glhfaden ist grer als etwa bei Halogensparlampen. Wenn man sie niedrig dimmt, glimmt es schner, feuerhnlich. Kom-pakte Leuchtstofflampen wren fr die Installation ungeeignet, weil man sie nicht dimmen kann und die Reaktionszeit viel zu lang ist, bis sie ihre volle Helligkeit erreichen. Einzelne Glh-birnen der Installation reagieren auf kurze Impulse, zucken nur auf. Die 48 Birnen zu je 40 Watt sind mit zwei Computern ver-bunden. Der eine Rechner sorgt ber ein 6.1-Surroundsystem fr die Klangkulisse und gibt gleichzeitig Midi-Signale an den zweiten Rechner, auf dem eine Lichtsteuersoftware luft. Die circa zehnmintige Show luft in einer Schleife und war bisher zweimal in Bulgarien und nun fr drei Tage in Berlin zu sehen. Wir wrden die Installation auch gerne in einer Galerie sehen, sagt Sibin Vassilev. Als Musik- und Sounddesigner arbeitet er an Theatern in Berlin und erstellt Klanginstallationen. Allerdings eignen sich die wenigsten Rume fr den Sound. Die Wnde hallen zu sehr. Die Backsteine hier im Dock 11 sind ideal.

    Wo Edison nach dem kurzen Intermezzo in der Kastanienal-lee wieder aufleuchten wird, wissen die beiden noch nicht, sind aber fr Vorschlge und Angebote offen. Schlielich gibt es in Berlin genug Veranstaltungen und Gelegenheiten fr Kunst. brigens: Obwohl die Glhbirnen durch den stndigen Wech-sel zwischen an und aus, hell und dunkel ordentlich belastet werden, ist bisher noch keine einzige kaputtgegangen.

    KieznesterNachbarschaftshilfe Soziales Kapital?B E R I C H T : A n d r e a s P e t e r s

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 201412 | NACHBARN

    Migranten der etwas anderen ArtTiere und Pflanzen die nach Deutschland und Europa einwanderten.B E R I C H T : A s t r i d

    Wenn die Meisten von uns das Wort Migranten hren, denken sie an Menschen. Aber auch Tiere und Pflanzen knnen Migranten sein. Per Luft, bei Tieren auch schon mal per Flug-zeug, oder auf dem Landweg verbreiten sich im-mer mehr Arten bei uns in Deutschland, die hier nie zuvor gesehen wurden. Und manchmal auch nur schwer zu sehen sind. Manche entkamen auch aus Zoos und vermehren sich hier prch-tig, andere wurden von ihren Besitzern einfach freigelassen und berlebten auch, da sich bei uns das Klima langsam ndert.

    E l c h , Wo l f, M a rd e r h u n d , Wa s c h b re n u n d s o g a r F l a m i n g o s

    Wenn ihnen im Norden Europas, vor allem in Skandinavien, ein Elch begegnet, dann ist das nichts Auergewhnliches. Wenn ihnen aber in Deutschland ein Elch auf der Strae oder im Wald begegnet, haben sie einen der vielen Migranten aus Skandinavien gesehen. Ja, es gibt bereits El-che in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. ber die Wlfe, die aus dem Os-

    ten, wurde ja schon viel geschrieben. Aber von noch weiter aus dem Osten kam z. B. der asi-atische Marderhund. Dieser kleine Geselle, der vor allem in China und Vietnam beheimatet ist, wanderte ber Russland langsam bis nach Nord-deutschland. In den Meeren vor unseren Ksten findet man heute auch Krabben, die frher im Osten und Norden beheimatet waren.

    Flamingos, Waschbren und viele andere Tierarten sind aus Zoos und privaten Tier-parks entlaufen. Einige berlebten unser Klima nicht. Papageien, Flamingos und Waschbren passten sich an und haben groe Kolonien und Schwrme gebildet. Die Waschbren breiteten sich inzwischen im gesamten Bundesgebiet aus und werden wohl bleiben.

    A b e r a u c h e c h t e S c h d l i n g e w a n d e r n e i n

    Von Sden her kamen leider auch einige Schd-linge, z. B. einige Zecken- und Schneckenarten. Wissen sie, dass die Nacktschnecken, die jeder inzwischen kennt, eigentlich mal aus Spanien kamen? Nicht? Genau wie das europische

    Mufflon haben sie den Sprung aus dem Sden zu uns geschafft.

    Aber nicht nur wir hier in Deutschland ha-ben tierische Einwanderer, der Sden der USA sthnt ber eine Invasion der Feuerameisen. Sie knnen sogar Wochen auf dem Meer berleben und treiben langsam die Sdstaaten in den Krieg. Feuerameisen sind hchst gefhrlich und sehr bissig. Oder nehmen wir die Killerbienen: Die sind leider eine eher traurige Migrantengruppe, die entstanden ist, weil sich der Mensch in die Natur eingemischt hat.

    Zu den pflanzlichen Einwanderern zhlt auch der berall beliebte Schmetterlingsstrauch. Ein wunderschner Zierstrauch, der nicht aus Deutschland stammt, aber nun berall bei uns blht. Leider gibt es aber auch unter den Pflan-zen giftige oder sogar tdliche Arten, die es bis nach Deutschland geschafft haben. Der Riesen-brklau beispielsweise ist hchst giftig. Wie die kanadische Goldrute hierhergekommen ist wei heute wahrscheinlich keiner mehr genau, aber auch sie breitete sich berall aus. Inzwischen gibt es Hunderte von Arten, die sich von ihren Heimatlndern im Sden, Osten und Norden zu uns hier in Deutschland aufgemacht haben und heimisch geworden sind. Einige Pflanzen kn-nen leider Allergien hervorrufen oder manch-mal sogar zum Tod fhren wie bei der Ambro-siapflanze, da ihre Pollen aggressive Reaktionen hervorrufen knnen. Entfernen kann man sie nur mit Handschuhen, Atemmaske und manchmal sogar mit Schutzanzgen.

    Bei Tieren ist es hnlich. Hrnchen, die aus anderen Lndern kommen verdrngen unsere heimischen Arten. Insekten werden bei uns zu Schdlingen, da ihre natrlichen Feinde nicht im-mer mitziehen. Oder wir finden die Tiere niedlich wie z. B. den Waschbren. Damit kommen aber auch neue Tollwutbertrger ins Land. Und leider wanderte auch schon Mckenarten aus Asien ein, die Krankheiten bertragen. Vor allem Insekten kommen immer mehr aus verschiedenen Lndern per Flugzeug in exotischen Obst und Gemsesor-ten in die Bundesrepublik. Die kleinen Krabbel-tiere reisen einfach auf denen mit. Und wenn sie Glck haben werden sie bei uns heimisch.

    Man sieht: Migranten sind nicht immer menschlich. Auch Tiere und Pflanzen hat das Wanderfieber gepackt, und durch den Klima-wandel wird es weitergehen.

    Marderhund im Zoo Ueckermnde (Quelle: Wikipedia/Pkuczynski)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 13

    Man kann nicht in Frieden leben...ber Qulgeister in einem MietshausB E R I C H T : D e t l e f

    1993 zog ich in ein Mietshaus in Rei-nickendorf. Ich ahnte damals nicht, was auf mich zukommen wrde und lebte naiv und unbeschwert vor mich hin. Wie sollte ich auch wissen, wie gemein, niedertrchtig, hin-terhltig und aggressiv Menschen sein knnen. Schlielich habe ich, wohlbehtet und von The-rapeuten geschtzt, in betreuten Wohngemein-schaften gelebt, seit ich zu Hause ausgezogen bin.

    G u t e r A n fa n g

    Als ich in besagtes Mietshaus einzog, freute ich mich auf meine erste Wohnung. Ich war nach der in meinem Elternhaus durchlebten Hlle seelisch halbwegs wieder in Ordnung. Drei Tage nach meinem Einzug klingelte es bei mir. Frau S., die Frau des Hausmeisters, stand vor meiner Tr. Am Samstag sei Gartenfete mit Grillen hinter dem Haus, erzhlte sie und fragte, ob ich dabei sein wolle. Ich sagte zu. Die Stimmung war frh-lich und ausgelassen. Der Nachmittag hat mir viel Spa gemacht. Aber das nderte sich schnell und die Qulerei ging los. Einige von mir ge-schtzte Nachbarn zogen aus und wurden durch andere ersetzt, die mir das alltgliche Leben er-schwerten und zur Brde machten. Die Garten-feten fanden nach einiger Zeit auch nicht mehr statt und ich wurde einsam, schrecklich einsam...

    H e r r K . d e r Te c h n o - K a s p e r

    Alles ging damit los, dass ein gewisser Herr K. einzog, der stets zugekifft, aggressiv und gewalt-bereit war. Er nahm mich ins Visier und raubte mir im wahrsten Sinne des Wortes den Schlaf. Herr K. war Technofan. Schlimm wurde es, weil er oft mit seinen Kumpels vllig zugedrhnt und zugesoffen nchtelang Technofeten feierte, bis meine Bleistifte auf dem Tisch umhersprangen. An Schlaf war hufig kaum zu denken, und ich wurde, dank meiner Unausgeschlafenheit nervs, dnnhutig und war nicht mehr in der Lage mei-nen Hobbys nachzugehen. Als ich ihn darauf hin-wies, dass er wenigstens nachts seine Musik doch einmal leiser machen knnte, pbelte er mich an, beschimpfte und beleidigte mich. Manche Dis-kussion auf dem Flur endete mit einer schlimmen Prgelei. Auch die Tatsache, dass ich Anzeigen wegen ruhestrenden Lrms bei der Polizei er-stattete nderte daran nichts. Herr K. war einfach nicht in der Lage, sich zu ndern. Auch schriftli-che und mndliche Beschwerden bei der Hausge-sellschaft GSW nderten dies nicht, auer dass es

    eine Abmahnung fr Herrn K. gab, die aber in der Praxis kaum Folgen hatte und ihn nur noch dreis-ter und unverschmter machten. Die Partynchte wurden nur noch hufiger und dauerten lnger. Ich war verzweifelt und trank mehr Alkohol, weil ich es einfach nicht mehr aushielt! Alles wurde noch schlimmer, als meine Freundin Marita, mit der ich fast neun Jahre zusammen war, an einem Hirnschlag starb und ich den Traum von einer Fa-miliengrndung aufgeben musste.

    H e r r S . d e r G e r c h t e v e r b re i t e r

    Als Herr S. dann einzog, verschlimmerte sich meine Lage noch mehr. Nach auen gab er mir viel Zuspruch war immer freundlich, wirkte hilfs-bereit und ausgleichend. Ich bentigte sehr lange, um zu durchschauen, wie gemein und hinterlistig er war. Alles ging damit los, dass er offensichtlich verbreitete, dass ich schwul sei und mir Mnner zum Sex einlud. Viele Mieter, die mich vorher gemocht hatten, fingen an, mich zu meiden. Ich wurde dadurch immer mehr isoliert. Der Gipfel der ganzen Verleumdung war erreicht, als ich selbst hrte, wie er mich mehrerer Straftaten wie Einbruch, Krperverletzung und des Mordes an meiner Freundin beschuldigte. Er stand diskutie-rend mit anderen Mietern im Hausflur und ver-breitete diese Lgen schamlos. Von da an war alles vorbei fr mich. Ich hatte keine Kontakte mehr im Haus. Eine Strafanzeige wegen Rufmordes, bler Nachrede und Verleumdung verlief im Sande, weil die Mieter, die eigentlich Bescheid wussten, dass es sich dabei um ble Verleumdungen gehan-delt hatte, so taten, als wre nichts gewesen. Mein Absturz wurde schlimmer und schlimmer...

    H e r r B . d e r A n f h re r

    Richtig heftig wurde es als dann Herr B. einzog. Er war ein aggressiver Diktator, der mit Gewalt agierte und sich machtgierig in der Gruppe sonnte, die gegen Herrn K. war. Herr B. war ein in Frhpension gegangener Alkoholiker, der ber eine relativ hohe Rente verfgte. Die Folge war, dass es kistenweise Schnaps und Bier kostenlos gab und tagelange Besufnisse mit seinen Kum-pels stattfanden. Auch ich war zwangslufig da-bei, denn wenn man nicht machte, was Herr B. fr gut hielt, gab es eine Tracht Prgel. Ich wurde von ihm nicht nur einmal durchs Treppenhaus in Richtung meiner Wohnung geprgelt, wo ich oft vllig ldiert ankam. Aber in meiner Verzweiflung verfiel ich Herrn B. vllig auch wegen des kos-tenlosen Alkohols, den er mir auch kistenweise anschleppte. Der tiefe Fall war programmiert.

    D i e Fo l g e n

    2008 war ich vllig verwahrlost, krperlich und psychisch krank und wollte sterben. Das Jobcenter drohte mir eine Sperre an, wenn ich nichts gegen meine Alkoholkrankheit unternehmen wrde. Ich ging deshalb in eine Alkoholikerberatung. Knapp ein Jahr lang fhrte ich dort Gesprche und ging anschlieend in eine Klinik in Motzen fr eine vier-monatige Alkoholtherapie (genannt AEB =Alko-holentwhnungsbasis). Ich begann langsam und mhsam mich wieder aufzubauen. Meine Nach-barn mchte ich niemals wiedersehen!

    Ein Treppenhaus in einem Mietshaus aus der Zeit um 1900 (Quelle: Wikipedia/Michael Sander)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 201414 | NACHBARN

    Drck dich geflligst gebildet aus, du Arschloch! (Alfred Tetzlaff)Heinz Schubert in seiner Paraderolle als Ekel-AlfredB E R I C H T : J e a n n e t t e G i e r s c h n e r

    Nachbarn sind die in den angrenzenden Wohnun-gen wohnenden Personen. Als wir nach langer und frustrierender Wohnungssuche endlich das Passende gefunden hatten, schaute ich mir die Klingelschilder meiner zuknftigen Nachbarn

    an. Neben dem blichen Mller stand doch tatschlich Tetzlaff an der Nachbars-Tr. Als groe Fans der Serie Ein Herz und eine Seele aus den 1970er Jahren und besonders des Schauspielers Heinz Schubert als Alfred Tetzlaff fhlten wir uns gleich zuhause.

    Die Serie zeigt das Zusammenleben einer deutschen Fami-lie in einer Reihenhaussiedlung im Ruhrgebiet whrend der 1970er-Jahre. Als konservatives Familienoberhaupt drang-saliert Alfred seine Familie und Mitbrger mit derben Spr-chen, wilden politischen Diskussionen und kleinbrgerlichem Trotzverhalten. Besonders sein Schwiegersohn, lssig gespielt von Dieter Krebs, wird regelmig als langhaarige bolsche-wistische Hyne, anarchistische Drecksau und Komso-molze beleidigt. Die laxe Einstellung der 1968er-Bewegung trifft hier auf das Kleinbrgertum der 1950er Jahre. Die Figur des Ekel-Alfred stellte mit dem frauenverachtenden Verhal-ten, abflligen uerungen ber die SPD-Regierung und die Jugend, Auslnder und Gastarbeiter eine berspitzung der Stammtisch-Politiker dar. Der Konflikt der Generationen war zu der Zeit, als die Serie aus England adaptiert wurde, be-sonders ausgeprgt. Nach den Jahren des Wirtschaftswunders entwickelte sich die bekannte Protestbewegung gegen starre Strukturen, den Vietnamkrieg, die heuchlerische Sexualmoral und Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus.

    Heinz Schubert begann seine Schauspielausbildung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und spielte von 1951 bis 1961 am Berliner Ensemble. Danach arbeitete er sowohl als Theaterschauspieler in mehreren deutschen Stdten wie auch als Schauspiellehrer. Beim Film stieg er 1958 ein und spielte vorrangig bei DEFA-Produktionen wie der Filmversion von Mutter Courage und ihre Kinder (Bertold Brecht) und in der beliebten Stacheltier-Reihe. In der DEFA-Komdie Auf der Sonnenseite zeigte Heinz Schubert bereits sein Talent als Ekelpaket. Das konnte er dann ab 1973 voll ausleben und ver-ursachte mit seinen derben Sprchen so einige Fernsehskan-dale. Der immense Erfolg der Serie wiederum sicherte die Pro-duktion von insgesamt 25 Episoden. Auch heute noch gibt es viele Fans; sowohl alte als auch junge Menschen erfreuen sich an der politisch sehr unkorrekten Art des Alfred Tetzlaff.

    So wie bei vielen Charakterdarstellern ist Heinz Schubert vorwiegend als Ekel-Alfred bekannt, auch wenn er whrend und nach der Serie ganz andersartige Rollen spielte. Als Ha-dschi Halef Omar in der ZDF-Fernsehserie Kara Ben Nemsi Effendi bewies er seine Wandlungsfhigkeit. In Hitler, ein Film aus Deutschland wiederum spielte er Adolf Hitler und

    Heinrich Himmler. Beim Finale in Berlin, einem britischen Agentenfilm, spionierte er neben Michael Caine.

    Neben den zahlreichen Produktionen wurde Heinz Schubert 1980 Dozent an der Hamburger Hochschule fr Musik und Darstellende Kunst, die ihn fnf Jahre spter zum Professor ernannte. Fr seine Rolle im Groen Bellheim bekam er 1994 den Grimme-Preis. Mit Wolfgang Menge, dem Autor von Ein Herz und eine Seele, arbeitete er ab 1996 in einer neuen Se-rie, Mit einem Bein im Grab. Diese war ebenso eine Adap-tion einer erfolgreichen britischen Serie und karikarierte das Leben eines pensionierten Klein- und Spiebrgers.

    Privat fotografierte er Schaufenster und seine Kollegen aus Kunststoff, die Schaufensterpuppen, in mehr als 23 000 Auf-nahmen und in aller Welt. Auf der documenta 6 1977 in Kassel wurden die skurrilsten Bilder ausgestellt und 1979 ver-ffentlichte er den Bildband Theater im Schaufenster. 20 Jahre spter starb Heinz Schubert in Hamburg mit 73 Jahren an einer Lungenentzndung. Der DVD sei Dank blieben seine filmischen Meisterleistungen erhalten.

    Heinz Schubert als Alfred Ekel Tetzlaff (Quelle: http://kulturtipp.trendresistent.com)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 NACHBARN | 15

    Wir waren NachbarnEine Ausstellung von Biografien jdischer Zeitzeugen im Rathaus SchnebergB E R I C H T : M a n f r e d W o l f f

    Nachbarn das sind doch diese netten Leute, mit denen man dicht beieinander wohnt, die man tglich freundlich grt, die am Sonntag mal mit einer Tasse Mehl aushelfen und auf deren Kinder man aufpasst, wenn die Eltern mal was

    vorhaben. Das sind Leute, die zum tglichen Leben dazuge-hren, fast schon so etwas wie Familie sind und die man nicht gern missen mchte.

    Und doch gab es das: Nachbarn wurden aus ihrer Um-gebung vertrieben, sie wurden schikaniert, in ihren Rechten eingeschrnkt, sie verloren Hab und Gut und schlielich das Leben. Und ihre Nachbarn, was machten die? Standen sie ih-nen bei, emprten sie sich ber das Unrecht, wehrten sie sich gegen den Verlust? Nein sie schauten weg und oft schauten sie auch zu.

    Bis zum Anfang der 1930er Jahre lebten ber 16 000 j-dische Mitbrger in Schneberg. Das waren mehr als sieben Prozent der Bevlkerung. ber 6 000 von ihnen wurden in der NS-Zeit deportiert: unter Schlgen aus ihren Wohnungen ge-trieben ohne Ansehen der Person, des Alters, des Geschlechts. Es gab Menschen, die den Verfolgten beistanden, aber die wa-ren in der Minderheit. Die meisten vergaen ihre Nachbarn schnell und richteten sich in dem Leben ohne sie ein.

    D i e A u s s t e l l u n g

    Die Ausstellung Wir waren Nachbarn bemht sich nun, die ehemaligen Mitbrgerinnen und Mitbrger dem Vergessen zu entreien. Seit zwanzig Jahren sammelt der Verein frag doch! Verein fr Begegnung und Erinnerung e.V. Zeugnisse des jdischen Lebens in Schneberg, erforscht das Schicksal der NS-Opfer, nimmt Kontakt zu den berlebenden im In- und Ausland auf. Dabei sind ber 140 Alben entstanden, die Leben, Verfolgung und Tod, aber auch den Neubeginn nach dem Krieg dokumentieren. Diese Alben knnen in der Aus-stellung eingesehen werden. Sie sind ein Geschichtsbuch, wie es eindringlicher nicht zu schreiben ist.

    An den Wnden des Ausstellungsraums im Rathaus Sch-neberg sind nach Straen geordnet die Namen der frheren jdischen Menschen in Schneberg auf kleinen Notizzetteln zu lesen. Auf langen Tischen liegen die Alben aus, die detail-lierter zu den Menschen Auskunft geben. ber 140 Alben mit biografischen Angaben, Fotos und Dokumenten wie Briefe oder auch Zeitungsausschnitte liegen bereit. Jeder Leseplatz verfgt auch ber einen Stuhl, so dass die Besucher sich in Ruhe in das Lesen und Betrachten vertiefen knnen. Weitere Erinnerungsstcke knnen aus einem Archivalienschrank eingesehen werden.

    N a m e n

    Beim Rundgang fallen einem zuerst die Namen zahlreicher Prominenter auf:der berhmte Rabbiner Leo Baeck und der

    Schriftsteller Walter Benjamin, die Comedian Harmonists und Albert Einstein, der Philosoph Erich Fromm und die Dichterin Gertrud Kolmar, die Dichterin Else Lasker-Schler und der Photograph Helmut Newton, der Psychologe Wilhelm Reich und die Dichterin Nelly Sachs, der Schriftsteller Kurt Tucholsky und der Filmregisseur Billy Wilder. Aber ebenso wichtig sind Menschen, die sich nicht besonders hervorgetan hatten, die als ehrbare Brger mit ihrer tglichen Arbeit ihren Lebensunter-halt verdienten und nur wegen ihres jdischen Glaubens der Verfolgung preisgegeben wurden. Sie alle erhalten hier ihren Namen wieder, der in der Nazi-Verbrechensmaschine getilgt und durch eine ttowierte Nummer ersetzt wurde.

    Die Ausstellung Wir waren Nachbarn im Rathaus Schneberg, Eingang vom Kennedy-Patz, kann tglich auer Freitag von 10 bis 18 Uhr besucht werden. Der Eintritt ist frei.

    S t o l p e r s t e i n e

    Ein anderes Denkmal, das auf die Naziverfolgten in unserer Stadt, in unserer Nachbarschaft hinweist, sind die Stolper-steine, Messingplatten mit den Namen, Lebensdaten und An-gaben ber ihre Ermordung. Sie sind vor den Husern, in de-nen die Verfolgten wohnten, in den Brgersteig eingelassen. In Berlin gibt es ber 5 300 solcher Stolpersteine. Sie sind ein Projekt des Knstlers Gunter Demnig, der mit seinen Stolper-steinen ein weltweites Denkmal geschaffen hat.

    Stolpersteine (Foto: Urzsula Usakowska-Wolff)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 201416 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

    Die Nachbarschafts-galerie im Kunger Kiez Conrad Reustle schlgt mit Dynamics And Contrast eine Brcke zwischen dem Bodensee und der SpreeT E X T : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Hinter drei groen Schaufenstern er-streckt sich ein hell beleuchteter Saal. An den Wnden hngen Bilder, auf dem wei gekachelten Fubo-den stehen zwei kleine Tische und fnf Sthle, ein Bchertauschregal, eine mit Flokati-Brcken bedeckte Holzkiste, daneben kruselt sich ein Geldbaum auf einem Blumenstnder. Auch der Hundenapf in einem als Bro dienenden Zimmer ist nicht zu bersehen. Das Ambiente ist freund-lich und heimelig, es vermittelt den Eindruck einer gerumigen und geschmackvoll dekorierten Woh-nung, die zum Verweilen einldt. Willkommen in der Nachbarschaftsgalerie im Kunger Kiez, sagt Christina Giemann und erzhlt, wie sie als Or-ganisationsfreak eine Brache auf die Beine ge-stellt hat. Vor einem Jahr zog die aus Halle an der Saale stammende Kulturwissenschaftlerin und Projektmanagerin, die seit 1997 zuerst in Berlin-Mitte, dann in Neuklln wohnte, in die Nhe des Treptower Parks. Als sie ihre neue Umgebung er-kundete, fiel ihr auf, dass der spektakulre Raum in der Karl-Kunger-Strae 15 nicht bespielt wird. Da ich einfach chronisch neugierig bin, habe ich gefragt, warum dort nichts los ist. Ich habe erfah-ren, dass die Galerie seit drei Monaten leer stand, weil die sie bisher betreuende Person ausgeschie-den war. Und mir wurde prompt angeboten, dass ich die Nachbarschaftsgalerie als ehrenamtliche Leiterin managen kann.

    G a l e r i e i m Tr a b i - L a d e n

    Die Nachbarschaftsgalerie ist eine Grndung des eingetragenen Vereins KungerKiezInitiative, der 2006 entstand, um das Miteinander, die Kon-takte sowie die gesellschaftliche und kulturelle Aktivitt der Anwohner zu untersttzen und zu frdern. Es ist ein Ort der Begegnung, wo Aus-stellungen, Lesungen, Vortrge, Workshops und Kurse stattfinden, wo man Bcher, Erfahrungen und Erinnerungen (aus)tauschen kann. Denen, die schon vor dem Mauerfall in der Karl-Kunger-Strae wohnten, ist das Lokal im Erdgeschoss des Hauses mit der Nummer 15 wohl bekannt:

    Dort befand sich ein begehrter und hufig besuchter Laden, in dem man, wenn man Glck und Beziehungen hatte, Ersatz-teile fr den Trabi erstehen oder ergattern konnte. Die Leute kamen einfach rein, um zu gucken, ob es etwas zu holen gibt, sagt Christina. Heute muss ich ganz laut trommeln fr die Galerie, denn es ist nicht so, dass die Leute automatisch her-finden. Wir sind zwar nur 200 Meter von Kreuzberg entfernt, aber da liegt das Wasser dazwischen, das merkt man schon. Dagegen kann ich mich ber einen Knstlermangel nicht be-klagen, denn ich muss, neben den aktuellen Bewerbungen, noch einen groen Stapel aus der Zeit meiner Vorgngerin bearbeiten.

    G e f r a g t e r A u s s t e l l u n g s o r t

    Der Galeriename weist darauf hin, dass dort vor allem Knst-lerinnen und Knstler aus der unmittelbaren Umgebung ihre Werke zur Schau stellen knnen. Doch die Auflagen sind nicht so streng. Wir sind im Einzugsgebiet von Kpenick, und das ist, neben Alt-Treptow und dem Kunger Kiez, unsere Nachbarschaft. Worauf ich vor allem achte, ist die Qualitt. Es geht mir auch darum, dass sich die Ausstellungen thema-tisch voneinander unterscheiden. Es macht wenig Sinn und kommt beim Publikum nicht gut an, wenn zum Beispiel drei Landschaftsmaler nacheinander gezeigt werden. Kein Wun-der, dass sich die Nachbarschaftsgalerie unter der Leitung von Christina Giemann zu einem gefragten Ausstellungsort entwickelt hat: Weil ich oft in der Kunstszene unterwegs bin, wei ich, dass unsere Konditionen supergnstig sind. Wir liegen zwar nicht in Berlin-Mitte, sind aber fr jede(n) erschwinglich. Es gibt Leute, die seit ber einem Jahr auf ihre Ausstellung bei uns warten. Deshalb habe ich bisher davor gescheut, einen Open Call zu starten, denn ich wei, dass mir dann 500 zustzliche Bewerbungen ins Haus flattern.

    L o h n e n d e I n v e s t i t i o n

    Die Ausstellungen in der Nachbarschaftsgalerie sind nicht umsonst, denn sie tragen zur Finanzierung der vielseitigen Arbeit der KungerKiezInitiative bei. Insgesamt finanziert sich der Verein ber Kurse, nur einen kleinen Teil bilden die Einnahmen aus der Galerie, sagt Christina Giemann. Wer in den Genuss einer Ausstellung, genauer einer Verkaufs-ausstellung in den 200 Quadratmeter groen und lichtdurch-fluteten Rumen kommen will, muss 45 Euro pro Woche

    Christina Giemann und Conrad Reustle in der Nachbarschaftsgalerie der KungerKiezInitiative e.V., Austellung Dynamics And Contrasts von Conrad Reustle (Foto: Urszula Usakowska-Wolff)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 17 a r t s t r a s s e n fe g e r

    bezahlen: ein Preis, der fr viele Knstler_innen erschwinglich ist. Wenn sie Glck haben und den Geschmack des Publikums treffen, was gar nicht so selten vorkommt, kann sich diese Investition fr sie umgehend lohnen. Beim Verkauft der Kunstwerke, die in der Regel zwischen 300 und 650 Euro liegen, behlt die Galerie eine eher sym-bolische Provision von 20 Prozent. Dafr wird den Ausstellenden einiges geboten: Gestaltung und Verschickung der Vernissage-Einladungen an hunderte Adressen aus dem E-Mail-Verteiler der Galerie, Presse- und Werbetexte, die von den Mitarbeitern des Vereins geschrieben werden, Hinweise auf der Website des Vereins und in den sozialen Netzwerken, Berichte in den lokalen, hufig auch in den berregionalen Medien. Wir knnen auch deshalb so gnstige Ausstellungs-konditionen bieten, da die Vermieterin der Gale-rierume eine Genossenschaft ist, die uns duldet und die Miete noch nicht erhht hat, erklrt Christina.

    Zw l f m a l i m J a h r

    Die meisten Knstler_innen aus der nheren und entfernteren Umgebung entscheiden sich, we-gen der tragbaren Kosten ihre Werke einen Mo-nat lang in der Nachbarschaftsgalerie zu zeigen. Zwlf Ausstellungen im Jahr: Das muss doch ein groer Aufwand fr die ehrenamtliche Leiterin sein? Doch Christina bestreitet es: Ich finde, dass eine einmonatige Ausstellung fast schon zu lange ist. Die Tendenz sind heute Pop-Up Ausstel-lungen, also Riesenevents, die nur ein Wochen-ende dauern und wofr die Teilnehmenden viel Geld hinblttern mssen, auch wenn sie hufig nichts verkaufen knnen. Das Problem ist nicht die Ausstellungsdauer, sondern das hufig wech-selnde ehrenamtliche Galeriepersonal: Es ist nun halt so, dass die Leute Kinder kriegen, wegziehen oder Sorgen um ihren Job haben. Deshalb haben sie keine Kraft oder keine Mue, ihre knappe Freizeit der Vereinsarbeit zu opfern. Es ist sehr schwer, langfristige ehrenamtliche Mitarbeiter zu finden, die am Wochenende in der Galerie sitzen,

    die beim Aufbau der Ausstellungen helfen, die ein handwerkliches Talent haben und zum Beispiel mit einem Bohrer hantieren knnen.

    B r c ke n s c h l a g n a c h N e w Yo r k

    Die Sache mit dem besagten Werkzeug liegt Christina nicht, obwohl ihre Strke offensicht-lich darin besteht, dicke Bretter zu bohren. Wenn man die von ihr organisierten Ausstellungen besucht, sind dort keinerlei Probleme, sondern Kunstwerke zu sehen, die durch gestalterische und inhaltliche Qualitt berzeugen, sodass im-mer mehr Kunstbegeisterte nicht nur aus dem Kiez zu den Vernissagen in die Nachbarschaftsga-lerie kommen: Mein bisheriges Highlight waren hundert, vor allem junge Leute, die an der Erff-nung der Ausstellung Ich bin ein New Yorker am 9. November 2013 teilgenommen haben. Der US-amerikanische Streetartist Alan Aine malte damals ein Portrt an die Wand. Auf diese Aktion werde ich noch heute von den Anwohnern ange-sprochen, obwohl seine Ausstellung bis Anfang Dezember dauerte. Der New Yorker Knstler ist ein Beweis dafr, dass alle Wege nach Alt-Treptow, und zwar in die Nachbarschaftsgalerie fhren: Im Frhjahr 2013 war ich in New York und habe Alans Arbeiten gesehen, ohne ihn zu kennen. Als ich nach Berlin zurckkehrte, stellte sich heraus, dass der Streetartist einen Freund und Mentor im Kunger Kiez hat, den er gerade besuchte. Der sagte ihm, dass er in die Galerie ge-hen soll, um mir sein Portfolio zu zeigen. So kam es zu der Ausstellung, die unser Brckenschlag nach New York ist. Und auch dort scheint seiner Karriere nichts mehr im Weg zu stehen, denn er teilte mir neulich per SMS mit, dass sie explodiert und er bereits ein erfolgreicher Knstler ist.

    K u n s t i s t e c h t

    Die gegenwrtige Ausstellung in der Nachbar-schaftsgalerie heit Dynamics And Contrast und schlgt sozusagen eine Brcke zwischen dem Bodensee und der Spree. Sie zeigt knapp

    I N FO

    Nachbarschaftsgalerie der KungerKiezInitiative e.V. Karl-Kunger-Strae 15, 12435 Berlin

    ffnungszeiten: Donnerstag bis Sonntag von 15 bis 19 Uhr

    www.kungerkiez.de

    Conrad Reustle: Dynamics And Contrast noch bis zum 2. April in der Nachbarschafts-galerie

    Eine Auswahl der Bilder von Conrad Reustle

    www.artxgalerie.de/reustle/index.html

    20 groformatige Gemlde und kleinere Papier-arbeiten von Conrad Reustle aus Konstanz, der nun auch seit ber vier Jahren im Berliner Sd-osten, nmlich in Schneweide lebt. Dynamisch und kontrastreich sind die Bilder des 25-Jhri-gen: eine Hommage an die Action Painting. Es sind gleichermaen expressive wie harmonische Gemlde, die von einem beachtlichen Talent des jungen Knstlers zeugen. Er kombiniert darin Techniken und Materialien, spachtelt und schichtet Acryl- und lfarben, Tempera, Teer, Lack und Harz auf Leinwand. Er hat ein siche-res Gefhl fr Farben und Formen, sodass seine bunten Bilder getnt und ruhig wirken, whrend die Schwarz-Wei-Kompositionen wie ein Re-genbogen leuchten. Er ist ein Knstler, der be-reits jetzt sein Handwerk meisterhaft beherrscht. Ich habe Philosophie studiert und parallel dazu als Ausgleich gemalt, sagt Conrad Reustle, der auch Gedichte und Erzhlungen schreibt. Ich habe keine Existenzngste, denn ich brauche nicht viel, um zu leben. Htte ich Druck, wrde ich ganz schnell den Sinn fr Kunst verlieren. Kunst bedeutet fr mich Echtheit, ich muss sie also von der Existenz trennen. Diesen ganzen Existenzialismus in der Kunst finde ich lcher-lich, denn Kunst ist eine rationale, distanzierte, sophistische Disziplin. Sie ist nichts Existen-zielles, Kmpfendes, Blutrotes, nichts, was von Leidenschaft trieft. Dass seine Worte echt sind, kann sich in der Nachbarschaftsgalerie wirklich sehen lassen. Chapeau, Conrad! Hut ab!

    Allan Aine, Ich bin ein Berliner, Vernissage in der Nachbarschaftsgalerie, November 2013 (Quelle: Nachbarschaftsgalerie)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 201418 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

    01 Im Winter schlft Sebastian in der Notbernachtung

    02 Hier auf dem Bahnhof in Warschau lernte Sebastian P. seine Freundin beim Betteln kennen

    03 Sebastian im Februar 2014

    04 ...im Sommer im Zelt

    Welch ein GlckSebastian P. hat sein halbes Leben lang auf der Strae gelebt. Erstmals erhlt er nun Sozialleistungen. Sie erffnen ihm Lebenschancen, die er nie hatteP O R T R T, F O T O S & Q U E L L E N : J u t t a H .

    Eigentlich sind es ja noch keine eigenen vier Wnde. Das Zimmer in dem Berli-ner Wohnheim, in das er Mitte Februar gezogen ist, muss er mit einem anderen Mann teilen. Aber was macht das schon. Sebas-tian P. hat nicht die Absicht, sich seine Freude nehmen zu lassen. Seine tiefe Freude, nach 16 Jahren Obdachlosigkeit ein kleines Reich fr sich allein zu haben. Einen Ort, an dem es ein eigenes Bett gibt und Schrnke, in denen man Dinge aufbewahren kann. Einen Ort, an dem man Dinge tun kann, die ganz normal sind - duschen, kochen, fernsehen.

    Sebastian P. stammt aus Polen. Er wurde ob-dachlos, als er dort mit 16 von zuhause ausriss. ber die Jahre wurde er zum schweren Alkoho-liker, infizierte sich zudem mit Aids. P. hat nie eine Berufsausbildung gemacht und irgendwann mal im Gefngnis gesessen. So einem traut man eigentlich nicht zu, das Ruder noch mal herum-zureien, seinem Leben aus eigener Kraft eine andere Richtung zu geben. Wer so tief unten ist, hat es weit bis nach oben. Doch wer wei schon, welches Potenzial in einem Menschen steckt.

    E r h r t a u f z u t r i n ke n

    Es ist die Warnung eines Arztes, die im Herbst 2012 Sebastian P.s Lebenswillen weckt. Wenn P. weitermache wie bisher, so der Arzt, habe er kaum mehr als ein Jahr Lebenszeit vor sich. Seine HIV-Infektion mache es dringend erforderlich, Medikamente einzunehmen, die den Virus in Schach hielten, so der Arzt. Und ebenso drin-gend msse P. aufhren Alkohol zu trinken. Ich wollte noch nicht sterben, sagt P. rck-blickend, nicht mit Anfang 30. Er, der in den Jahren zuvor keine Wodka-Flasche ausge-lassen hat, hrt auf zu trinken. Er hlt durch, als sein Krper nach Alkohol verlangt, ertrgt die Schweiausbrche, das Zittern am ganzen Krper. Entschlossen hlt er sich von Alkohol trinkenden Freunden fern.

    Doch es gibt Probleme mit den Aids-Medikamenten, zu-mindest in Deutschland kann er die nicht bekommen. Sebas-tian P. hat keine Krankenversicherung - wie sollte er auch eine haben, als Obdachloser, der von der Hand in den Mund lebt? Seine Einknfte sind das, was ihm der Verkauf des strassen-feger einbringt, da ist kein Geld ber fr Krankenkassenbei-trge. Zwar soll jeder in Deutschland seit 2008 krankenversi-chert sein, doch ein obdachloser Pole, der hier nicht gearbeitet hat, hat da keine Ansprche. Dass Sebastian P. diese doch hat, erfhrt er erst spter.

    Anfang 2013 fhrt er der Medikamente wegen nach Po-len. Durch Zufall lernt er dort einen Pfarrer kennen, bei dem er eine Zeit lang wohnen kann. Der Pfarrer untersttzt Se-bastian P. bei Behrdengngen, hilft ihm, die Medikamente zu besorgen. Als P. diese einnimmt, geht es ihm krperlich bald deutlich besser. Eine Schuppenflechte, die seinen ganzen Krper bedeckt hat, bildet sich zurck.

    Sebastian P. fhrt auch zu seiner Familie, in das Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Stiefvater und Bruder aber wollen ihn dort nicht sehen. Der Stiefvater demtigt ihn. Sebastian P. ist tief getroffen, schon whrend seiner Kindheit hatte ihm der Stiefvater zu verstehen gegeben, ihn nicht als Teil der Familie anzuerkennen, ihn Bachor Kuckuckskind genannt. Erin-nerungen daran kommen hoch, Sebastian P. will nur weg von dort, weg auch aus Polen. Was soll ich in Polen? fragt er sich.

    S e i n e Fre u n d i n i s t i n B e r l i n b e g r a b e n

    Es zieht ihn noch aus einem weiteren Grund zurck nach Berlin. Ana liegt dort auf einem Friedhof begraben, seine Freundin. Zehn Jahre lang waren die beiden zusammen. Als sie sich 2002 am Bahnhof in Warschau kennenlernen, ist er 20 Jahre alt, seit vier Jahren obdachlos. Die etwa gleich-altrige Ana ist drogenabhngig und hat Aids. Sie leben ein Leben in Obdachlosigkeit, bernachten in Treppenhusern der anliegenden Hochhuser, sie betteln, leben von dem, was ihnen die Leute zustecken.

    Als Polen 2004 der Europischen Union beitritt, gehen sie nach Berlin. Sie verkaufen den strassenfeger, schlafen im Winter in Notunterknften, zelten im Sommer auf einer Wiese. Doch ihre Beziehung kann Anas Drogensucht nicht Einhalt gebieten, Anfang 2012 ist ihr kurzes Leben zu Ende. Sie stirbt an ihrer Drogensucht, an Aids, an Verelendung.04

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 19 B re n n p u n k t

    Als Sebastian P. im Februar 2014 erstmals Geld vom Jobcenter erhlt, geht er in eine Fried-hofswerkstatt. Er lsst dort eine Metallplatte an-fertigen, in die Anas Namen und Lebensdaten ein-graviert werden. Spter wird die Platte auf dem bislang anonymen Grabstein auf dem Grab der jungen Frau befestigt.

    Im Mai 2013 kehrt Sebastian P. nach dem Erlebnis mit Stiefvater und Bruder nach Berlin zurck. Er ist klar im Kopf, hlt sich eisern daran, keinen Alkohol mehr anzurhren. Er verkauft an sechs Tagen in der Woche den strassenfeger, ver-wahrt in einem Geldbeutel um seinen Hals Geld und Personalausweis. Doch sein Krper ist ohne die Medikamente nicht mehr stark genug. Aus der HIV-Erkrankung ist Aids geworden, mit ei-ner Lungenentzndung kommt er ins Kranken-haus. Wegen seines kritischen Zustands wird er dort auch ohne Krankenversicherung behandelt.

    A m w i c h t i g s t e n s i n d d i e M e d i k a m e n t e

    Er hat Glck. Eine engagierte rztin sorgt da-fr, dass er auch ohne Krankenversicherung gut und ausreichend lange behandelt wird. Zudem kmmert sich eine Sozialarbeiterin des Projek-tes Frostschutzengel um ihn, das sich um ob-dachlose Menschen aus den EU-Beitrittsstaaten kmmert. Die Sozialarbeiterin hilft ihm dabei, Sozialleistungen zu beantragen. Er lebe ber fnf Jahre in Deutschland, da habe er Anspruch darauf, erklrt sie ihm.

    Sebastian P. wird im Januar vom Kranken-haus auf die Strae entlassen. Doch einige Wo-chen spter kommt ein positiver Bescheid vom Jobcenter. Nach weiteren drei Tagen hat die Sozialarbeiterin der Frostschutzengel dafr gesorgt, dass Sebastian P. eine Krankenversiche-rung bekommt. Einen Tag, nachdem die Kran-kenkasse die Versichertenkarte geschickt hat, erhlt P. in einer Arztpraxis seine Aids-Medika-mente. Ich bin sehr dankbar fr alles, was jetzt

    passiert, sagt er, aber am wichtigsten sind mir die Medikamente.

    Bald zieht er in das Wohnheim. Es ist ein Wohnheim fr Obdachlose, zu dem er erst durch den Bescheid ber Anspruch auf Sozialleistun-gen Zugang hat. Noch immer schlgt mein Herz schneller, wenn ich dort hingehe, sagt P., zum ersten Mal in seinem erwachsenen Leben brau-che er sich nicht mehr um einen Schlafplatz fr die Nacht, um das tgliche berleben zu sorgen. Im Supermarkt kauft er Lebensmittel ein, denn es gibt jetzt einen Khlschrank, in dem er Vor-rte aufbewahren kann. Er kocht, hrt Musik, schaut Filme im Fernsehen an. Zum ersten Mal in seinem Leben geht er in eine Bankfiliale und erffnet ein eigenes Konto.

    Bei einem Termin im Jobcenter muss er stun-denlang warten, rgert sich ber die Mitarbeiter dort. Doch ich bin froh, diese Sorgen zu ha-ben, sagt Sebastian P., es sind bessere Sorgen, als nachts einen trockenen Schlafplatz suchen zu mssen. Jetzt, wo er viel freie Zeit hat, will P. sich ehrenamtlich engagieren, sich vielleicht, so gut er kann, um obdachlose Landsleute in Berlin kmmern. Er wisse nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibe, in jedem Fall ist dies zurzeit fr mich der Anfang eines neuen Lebens.

    03

    0201

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 201420 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

    Endlich was zum BeienDer handlungsorientierte Sozialstrukturatlas 2013B E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    Die Senatsverwaltung fr Gesundheit und Soziales hat im November 2013 den neuen Sozialstrukturatlas ver-ffentlicht. Das Deckblatt zeigt die Wohngebiete als Flickenteppich unterschied-lichster Farben, dunkelrot sind die Gebiete mit hoher Armutsquote.

    Im Februar hat die Presse darber berich-tet. So wartete eine Berliner Boulevardzeitung mit der Schlagzeile Hier wohnen die rmsten Berliner auf. Dumm nur, dass nicht klar ist, ob da wirklich die rmsten Berliner wohnen. Der Atlas von 2013 basiert auf Daten von 2011 und bei dem dynamischen Wohnungsmarkt und dem Run auf die Innenstadt, insbesondere auf den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, kann lngst in einem eigentlich unattraktiven Kiez der Verdrn-gungsprozess im Gange sein. Wenn Arme mit ganz Armen um preiswerten Wohnraum konkur-rieren, hat der ganz Arme schlechte Karten.

    Der Atlas soll ein Instrument der qualitati-ven, interregionalen und intertemporalen Sozial-raumanalyse und planung sein. 66 Indikatoren aus den Bereichen Bevlkerungs- und Haushalts-struktur, Bildung, Erwerbsleben, Einkommen und materielle Lage sowie Gesundheit flieen ein und daraus wurden drei Indizes gebildet. Der So-zialindex I zeigt die soziale und gesundheitliche Belastung. Sozialindex II wird aus den Faktoren sozialpflichtige Beschftigung und Langzeitar-beitslosigkeit (SGB II) gebildet. Der Status/Se-gregationsindex weist eine hohe Korrelation zur jungen Bevlkerung im erwerbsfhigem Alter, mit Schul- und Ausbildungsabschlssen, zum berufli-chen Status, zur Bevlkerungsdichte, zum Anteil und Wanderungssaldo der Kinder unter sechs Jah-ren sowie gleichzeitig zum Anteil und der materi-ellen Lage der lteren Bevlkerung auf.

    W i r k u n g d e r G e n t r i f i z i e r u n g i s t s i c h t b a r

    Der Sozialindex I zeigt die soziale und gesund-heitliche Belastung. Der Bezirk Steglitz-Zeh-lendorf ist traditionell am wenigsten belastet. Dahlem beispielsweise ist der Stadtteil mit sehr hoher Kaufkraft. Beim Sozialindex I hat Steglitz-Zehlendorf den ersten Platz errungen.

    Im Ranking folgen Charlottenburg-Wilmers-dorf, Pankow und Tempelhof-Schneberg. Die hchsten Belastungen haben mit Platz 9 Mar-zahn-Hellersdorf, Platz 10 Spandau, Platz 11 Mitte, und Neuklln ist Schlusslicht. Bei den Planungsrumen weisen drei Gebiete in Mar-zahn-Hellersdorf und zwei in Friedrichshain-Kreuzberg die hchste Belastung auf.

    In dem Boulevardblatt wurde auch der Moritzplatz abgebildet. berschrift: Hier wohnen die rmsten Berliner. Das wird inzwi-schen wohl so nicht mehr stimmen. Wie schon gesagt: Der Atlas beruht auf Daten von 2011. Der Wohnmarktreport der GSW hat fr 2013 einen Run auf diesen Bezirk festgestellt. Fried-richshain-Kreuzberg ist im Ranking so um einen Platz geklettert.

    Pankow ist jetzt unter den top 3. Der Bezirk hat seinen Aufstieg der Verdrngung des groen Anteils der Einwohnerschaft der Stadtbezirke Prenzlauer Berg, Weiensee und Pankow der Hauptstadt der DDR zu verdanken. Die Ostber-liner zahlten bis 1989 noch ganz andere Mieten. Im einstigen Szenebezirk Prenzlauer Berg wurde die Verdrngung das erste Mal durchexerziert. Der Kiez um den Boxhagener Platz wurde erst danach entdeckt.

    Bemerkenswert ist der Sinkflug von Spandau und Reinickendorf. Andererseits: Ir-gendwo mussten die Menschen, die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten konnten, ja blei-ben. Das Steigen des einen Bezirks bedingt das Fallen eines anderen. So ist es, wenn Probleme nicht gelst, sondern verdrngt werden. Die Gentrifizierung bildet der Sozialstrukturatlas sehr gut ab. Die Zahlen und Aussagen mssen nur richtig gedeutet werden knnen.

    N e u i g ke i t e n ?

    Dass das Armutsrisiko von Erwerbslosen beson-ders hoch ist, erlebe ich als Empfnger von ALG II am eigenen Leib. Mit den angeblich modernen Re-formen auf dem Arbeitsmarkt wurde die Arbeits-losenhilfe von Statussicherung auf Existenzmi-nimum gendert. Sanktionen durch sogenannte Jobcenter helfen ebenso wenig aus der Armut wie die Situation auf dem Wohnungsmarkt. Wir

    mssen mehr ber absolute Armut sprechen. Die theoretischen Ausfhrungen ber relative und absolute Armut und ber den Lebenslagenansatz sind vielleicht gut fr Menschen, die nur auf die Definition der OECD gucken.

    Der einzige positive Lichtblick ist die res-sortbergreifende Arbeitsgruppe fr die Leit-linien des Senats zur Bekmpfung der Kinder-armut und zur Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabechancen. Ob die betroffenen Kinder wirklich davon profitieren, bleibt abzuwarten.

    Beim Handlungsfeld Segregation fllt dem Senat nur das Programm Soziale Stadt und die Wohnaufwendungenverordnung WAV ein. Gegen Segregation wre wirksam, die Aufforde-rungen zur Senkung der Kosten fr Unterkunft und Heizung durch Jobcenter auszusetzen, bis sich der Wohnungsmarkt in Berlin beruhigt hat und die Menschen Aussicht haben auf eine preis-werte Wohnung. Das steht aber nicht in dem Be-richt des Berliner Senats.

    (Quelle: www.berlin.de/sen/gessoz/presse)

  • strassenfeger | Nr. 6 | Mrz 2014 TAUFRISCH & ANGESAGT | 21 s t r a s s e n fe g e r | r a d i o

    I N FO

    strassenfeger RadioMittwochs 17 18 Uhr auf 88vier - kreatives Radio fr Berlin

    UKW-Frequenzen 88,4 MHz (Berlin),90,7 MHz (Potsdam & Teile Brandenburgs)

    Feinde des InternetsReporter ohne Grenzen: berwachungs- und Zensurapparate lassen Presse- und Medienfreiheit zur Farce verkommenI N T E R V I E W : G u i d o F a h r e n d h o l z

    Aus Anlass des Welttags der Internet-zensur verffentlichte die Organisa-tion Reporter ohne Grenzen (RGO) am 12. Mrz seinen Bericht Feinde des Internets. Insgesamt werden darin 32 Be-hrden und Institutionen weltweit benannt, die eine zentrale Rolle bei der Unterdrckung kriti-scher Stimmen und unerwnschter Informatio-nen im Internet spielen. Dieser Bericht will damit den Blick auf die oft wenig bekannten Brokra-tien im Zentrum staatlicher berwachungs- und Zensurapparate lenken. Als Konsequenz aus den Verffentlichungen um den Whistleblower Ed-ward Snowden tauchen darin und auf der dazu-gehrenden interaktiven Weltkarte zum ersten Mal der US-amerikanische Geheimdienst NSA und sein britischer Pendant GCHQ auf. Dar-ber sprach ich mit dem Pressereferenten von RGO, Christoph Dreyer.

    Guido Fahrendholz: Was genau ist der Welttag der Internetzensur?

    Christoph Dreyer: Diesen Tag haben wir initiiert, um die ffentlichkeit dafr zu sensibili-sieren, dass Presse- und Medienfreiheit nicht nur in den klassischen Medien wie Radio, TV oder Zeitungen zensiert wird, sondern eben auch im Internet zunehmend stark unter Druck gert. Und eben auch nicht nur in und durch totalitre Staaten, sondern wie uns die Enthllungen um Edward Snowden zeigen, sondern auch in unse-rer eigentlich zivilisierten Gesellschaft.

    Wie glaubwrdig sind die Aufforderungen un-serer Demokratien an autokratische und unde-mokratische Staaten, in ihren Lndern die Me-dien- und Pressefreiheit zu garantieren?

    In diesem Zusammenhang berhaupt nicht mehr! Das ist genau eines unserer Probleme. Ei-gentlich sollten westliche Regierungen willkom-mene Verbndete sein, wenn wir nderungen der Zensur, beispielsweise in China, Saudiara-bien oder Turkmenistan, einfordern. Nun muss-ten wir aber erfahren, dass NSA und GCHQ Millionen Brger mit ausgefeiltetsten Methoden berwachen und flchendecken die Internetkom-munikation ohne Verdachtsmomente abgreifen, speichern, filtern und auswerten. Sie infiltrieren die Internetstrukturen, in dem Provider gezwun-gen werden an neuralgischen Knotenpunkten berwachungszugnge fr die Geheimdienste zuzulassen und Verschlsselungsprotokolle ab-zuschwchen. Deshalb gehren auch diese bei-den Geheimdienste in den Bericht Feinde des Internets.

    Deutsche Unternehmen zhlen zu den fh-renden Exporteuren von berwachungstechnik, die im eigenen Lande streng verboten wre

    Was hat es mit der interaktiven Weltkarte auf sich?

    Im Bericht gibt es zu jeder der 32 Institu-tionen, Behrden und Lnder jede Menge wei-terfhrende Informationen. Auf der Weltkarte haben wir dann die Lnder von denen die ber-wachenden Aktivitten ausgehen noch einmal deutlich visualisiert. Es ist auf den ersten Blick klar zu erkennen, dass in erheblichen Teilen un-serer Welt nicht mehr wirklich gut aussieht fr die Presse- und Medienfreiheit.

    Wie ist denn die Situation in Deutschland?Deutschland ist in diesem Bericht nicht ver-

    treten. Das bedeutet aber nicht, dass hier keine Probleme gbe. Auch der Bundesnachrichten-dienst (BND) berwacht in einem nicht uner-heblichen Mae Internetkommunikation und arbeitet dabei mit den Geheimdiensten Gro-britanniens und der USA zusammen. Daher gibt es sehr wohl auch hier Grund zur Kritik, auch wenn die Dimensionen noch nicht die von NSA oder GCHO erreicht haben. Aber es gibt eine ganze Reihe von deutschen