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1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer www.strassenfeger.org strassen| feger Berlinale: Sven Halfars „DeAD“ Graffiti made in Berlin Hommage an Klaus Staeck Soziale Straßenzeitung Ausgabe 04 Februar 2013 Mit Hartz-IV-Ratgeber! Kaleidoskop Kaleidoskop

Ausgabe 04 2013 Kaleidoskop - strassenfeger

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Kaleidoskop mit Themen wie: "Berlinale", "Grafffiti made in Berlin" und vieles andere! strassen|feger: die soziale Straßenzeitung aus Berlin!http://www.strassenfeger.org

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Page 1: Ausgabe 04 2013 Kaleidoskop - strassenfeger

1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer

www.strassenfeger.org

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Berlinale: Sven Halfars „DeAD“

Graffi ti made in Berlin

Hommage an Klaus Staeck

Soziale Straßenzeitung

Ausgabe 04 Februar 2013

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KulturtippsAus unserer Redaktion 22/23

TitelKaleidoskop – Die Welt in Farben und Muster sehen 3

Berlinale 2013 Steven Soderbergh zeigt „Nebenwirkungen“ 4 Jafar Panahis „Pardé“ in Berlin aufgeführt 4 Sven Halfar: „Ich nenne es mal German Pulp“ 5

Berlin Graffi ti – Banksy lässt schön grüßen! 6/7

Ich mag’s bunt: Über die Welt der Farben 8

Kaleidoskop des 21. Jahrhunderts heißt Internet 9

Karneval in Berlin 10

Womit der Mensch spielt 11

Was ist denn mit Käpt‘n Kotti los? 12

Entweder „Fachidioten“ oder Ahnungslose 13

Jana Olschweski über die Arbeit mit der 14/15Theatergruppe „Unter Druck“

Vorletzte SeiteLeserbriefe, Impressum, Vorschau 31

MittendrinVon Kptn Graubär 30

art strassenfegerKlaus Staeck zum 75. Geburtstag 16/17Sein Leben ist der Stoff, aus dem Roadmovies und Entwicklungsromane sind

VereinDie Spendenkampagne „One Warm Winter – Das 20 Leben ist kein U-Bahnhof“ – Kleidungsausgabe am Bahnhof Zoo

strassenfeger radioGeschlechtsgetrennte Privatschulen sind zulässig! 21

SportFüchse entzaubern spanische Handball-Weltmeister 26

Keine Sieger, keine Gewinner im Hauptstadtderby 27

Hartz-IV-RatgeberSanktionen Teil 7 29

BrennpunktRecht auf Wohnen oder Wohnungsmarkt 18/19

AktuellVon Troja nach Mali – Traumatisierte Soldaten 24/25

Kloeppel: Berlin Prenzlauer Berg 28

Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe! Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des strassenfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entscheiden, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist. Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treffpunkt „Kaffee Bankrott“ in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung. Der Verein beauftragt niemanden, Spenden für das Projekt an der Haustür zu sammeln!

Spenden für die Aktion „Ein Dach über dem Kopf“ bitte an:mob e.V., Bank für Sozialwirtschaft, BLZ: 100 205 00, Kto.: 32838 01

Liebe Leser_innen,

wissen Sie eigentlich, was ein Kaleidoskop ist? Na ja, dieses von außen oft etwas unscheinbar daher-kommende Spielzeug ist in Wirklichkeit eine richtige Wundertüte! Man schüttelt es, dann guckt man rein und entdeckt zahllose Muster in den unterschiedlichsten Farben, unfassbar vielfältige Bilder. Ein echter Kinder-traum!

Der Februar ist in der Haupt-stadt immer Berlinale-Zeit. Ein Festival der Eitelkeiten, auf dem sich neben tausen-den Journalisten natürlich auch Hollywood-Stars und deutsche Möchtergern-Sternchen feiern lassen wollen. So ein „Event“ lässt sich auch der strassenfeger natürlich nicht entgehen. Wir wollten in diesem Jahr gern einmal mit dem groß-artigen Regisseur Andreas Dresen über Filme und soziales Engagement sprechen. Doch leider: Da er als Jurymitglied sehr beschäftigt war, gab es zwar zwei Interviewzusagen, die dann schließlich doch wieder gecancelt wurden. Macht aber nichts, stattdessen haben wir uns drei Highlights der Filmfestspiele herausgepickt und erzählen Ihnen hier, was es damit auf sich hatte. Und – versprochen, wir bleiben dran und versuchen den Regisseur von „Halbe Treppe“ und „Sommer vorm Balkon“ für die nächste Ausgabe vor’s Mikrofon zu bekommen.

Bunt wie ein Kaleidoskop eben ist, sind auch unsere anderen Themen: Graffi ti, Karneval oder Käpt’n Kotti. Dazu präsentiert unsere „Edelfeder“ Urszula Usakowska-Wolff eine Hommage an unseren Freund Klaus Staeck zu dessen 75. Geburtstag.

Unsere Kampagne „One Warm Winter – Das Leben ist kein U-Bahnhof“ haben wir Ihnen ja bereits vorgestellt. Diesmal berichten wir über eine ganz famose Ausgabe von Kleiderspenden am Bahnhof Zoo. Gut dazu passt unser Brennpunkt „Wohnen“. Sehr ans Herz legen möchte ich Ihnen auch den Beitrag über die posttraumatisierten Soldaten, leider ein zu Unrecht oft totgeschwiegenes Thema!

Fast hätte ich’s vergessen: Tollen Sport gab’s auch noch, z.B. das Spiel der Handball-Füchse gegen Barcelona oder das Stadtderby Hertha gegen Union.

Lesen Sie mehr dazu in dieser Ausgabe und haben Sie Spaß dabei!Andreas Düllick

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Das ist ein (k)ein Banksy!

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KaleidoskopFür einen Moment die Welt in Farben und Muster sehen

Willst Du „schöne Formen sehen“, dann sieh durch ein Kaleidoskop. Gemeint ist dieses optische Spielzeug in Form einer Röhre, bei dem regelmäßige, sternförmige Figuren durch mehrfache

Spiegelung bunter Schnitzel in einem Winkelspiegel hervorgebracht werden. Der schottische Physiker Sir David Brewster erfand um 1816 einst dieses kleine Wunderwerk, dass schöne geometrische Formen in unendlicher Wiederholung vor dem Auge entstehen ließ. Er nannte seine Erfindung schließlich Kaleidoskop (griechisch) - das übersetzt „Schön-Bild-Seher“ heißt.

„Wenn wir weiterhin die Natur der Muster betrachten, die sich so zusam-mensetzen, und die Methoden, die man zu ihrer Bildung anwenden muss, nimmt das Kaleidoskop die Eigenschaften der allerhöchsten Klasse der Maschinen an, die besser und schneller als die Anstrengungen der Menschen zum Ziele führen. Das Kaleidoskop schafft in einer Stunde, was tausend Künstler im Verlaufe eines Jahres nicht erfinden könnten, und es arbeitet nicht nur mit einer beispiellosen Geschwindigkeit, sondern auch mit entsprechender Schönheit und Präzision.“ (David Brewster, 1819)

In kürzester Zeit nach seiner Erfindung trat es einen wahren Siegeszug durch ganz Europa an und eroberte sich die Herzen von Kindern und Erwachsenen. Ich entsinne mich noch gut an der Faszination, die ich beim Blick durch mein erstes Kaleidoskop empfand. Es waren vor allem die vielen Muster in den unterschiedlichsten Farben, unfassbar vielfältige Bilder, die vor meinem Auge entstanden, ohne jedes Zutun, außer dem Drehen der Röhre. Irgendwann habe ich dann aus Neugier eines dieser Zauberröhren auseinandergebaut und war überrascht welch einfaches Prinzip sich in der Röhre verbarg. Im 19. Jahrhundert galt die Bauweise allerdings als streng gehütetes Geheimnis von Handwerkern und Künstlern.

Heute ist es etwas einfacher die Funktionsweise des Spiegelprismas zu ergründen und sich selbst eine solche Zauberröhre zu erschaffen. Mitt-lerweile gibt es selbst in Spielzeugläden einfach zu bastelnde Bausätze. Das Material für einen ersten Selbstversuch ist in jedem Bastelladen zu bekommen. Zum Beispiel etwas bunte Wellpappe, ein kleines, durch-sichtiges Döschen, das mit bunten Glassteinchen und Glitzerblümchen gefüllt ist und ganz wichtig Spiegelpapier. Die Wellpappe wird um das Döschen herum geklebt. Das Spiegelpapier, in sechs Abschnitte gefaltet,

in die Röhre geschoben, vielleicht noch vorher verziert mit Glitzerpapier, Stickern, Bastelstroh und bunten Bildchen. Zum Schluss wird ein Deckel mit dem gebohrten Loch auf die Röhre befestigt. Mit dem Schleifpapier kann man dann den Deckel des Döschens noch anschleifen. Das hat den Effekt, dass man zum Beispiel den anvisierten Fensterrahmen nicht mehr als solchen erkennt, sondern nur noch als Muster. Wenn das Licht zudem mehr von der Seite in die Spitze des Kaleidoskops fällt, dann entfaltet sich der Glanz der Flitterteilchen in dem Döschen besonders gut.

Will man ein fertiges Kaleidoskop kaufen, dann stolpert man früher, oder später über Sammlerobjekte. Von Anfang an spielte auch das Äußere, die Materialien zur Herstellung eine wichtige Rolle. Die feinsten Kalei-doskope waren und sind aus Metall. Seit alters her wurden feine Bleche - meist aus Messing - zu den wertvollsten Exemplaren verarbeitet. Früher wurde noch mit Edelsteinen und Perlen gearbeitet. Heute nutzt man eher Materialien, wie zum Beispiel Acryl-Perlen. In der Vergangenheit waren aber auch Marmor, Sandstein und sogar Granit nicht selten. Die damit hergestellten Kaleidoskope waren echte Schwergewichte und wohl kaum als Kinderspielzeug gedacht.

Apropos: In den 50er - und 60er Jahren stand der Bau von Kaleidoskopen noch auf vielen Lehrplänen. Heute erlebt dieses spannende Bastelobjekt erneut eine Renaissance in Kindergärten, oder später in der Schule im Kunst- und Physikunterricht.

Zu unterscheiden sind übrigens zwei Typen. Das Rohrkaleidoskop, welches aus einem Stück besteht und im Ganzen gedreht wird und das Drehkaleidoskop, welches eine bewegliche Spitze hat, die unabhängig vom Rohr gedreht werden kann. Dabei entstehen unterschiedliche Effekte, je nachdem ob man nur das Rohr, nur die Spitze oder alle zusammen dreht. Besonders attraktive Effekte entstehen, wenn man jedoch nur die Spitze dreht. Dann fällt der Inhalt der Kapsel vor dem stehenden Spiegelprisma.

Wer sich ganz darauf einlässt, kann dabei wunderbar entspannen und wird vielleicht gar mit einer neuen Inspiration belohnt. Denn, was man im Kaleidoskop sieht, hängt nicht nur vom Blickwinkel ab.

n Andreas Peters

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l BERLINALEBERLINALE WETTBEWERB:

„Side Effects“

Perspektive Deutsches Kino:

„Ich nenne es mal German Pulp“Famos: „DeAD“ von Sven Halfar

Steven Soderbergh zeigt „Nebenwirkungen“Es war wieder einmal so wie schon in den Jahren zuvor – so richtige Begeisterung kam nicht bei mir auf, als ich mir die Auswahl der Filme für den Wettbewerb der Berlinale anschaute. Ich weiß nicht woran es liegt: Sind es die staubtrockenen Synopsen, die uns Journalisten von den Filmfestspielen angeboten werden? Aber die Wahrheit liegt ja bekanntlich auf dem Platz, was in diesem Zusammenhang dann heißt: Rein ins Kino und fl eißig jeden Film angeschaut. Doch leider war diese Wahrheit dann noch viel grausamer als befürchtet. Viel Cineastisches, Herzzerreißendes oder Anrührendes war nicht wirklich zu sehen.

Nur ein einziger Film begeisterte mich, wahrscheinlich weil ich Krimis über alles liebe. Nun ja, so kam mir Steven Soderberghs Pharma-Thriller gerade deshalb gerade recht. In „Side Effects“, zu Deutsch „Nebenwir-kungen“, geht es um die Machenschaften von Pharmakonzernen. Aber ganz und gar nicht platt und oberfl ächlich, wie man es von deutschen TV-Krimis so oft gewohnt ist. Nein, Soderberghs Geschichte ist ziemlich verwickelt und raffi niert. Jude Law spielt einen Psychiater, der den ver-heerenden Nebenwirkungen von Psychopharmaka auf die Spur kommen muss. Denn seine anscheinend depressive Patientin Emily Taylor (Rooney Mara) hat ihren Ehemann umgebracht, während sie schlafwandelte. Tödliche Nebenwirkung eines neuen Medikaments? Oder steckt etwas

ganz anderes dahinter? Etwa die smarte Psychologenkollegin Dr. Siebert, in ihrer Perfi dität perfekt gespielt von Catherine Zeta Jones? Es geht hin und her, aus vermeintlichen Opfern werden Täter, aus Tätern Opfer. Der Therapeut steht am Abgrund, verliert er alles? Na ja, der geneigte Krimigucker weiß, zuviel darf nicht verraten werden.

Das Prinzip ‚Suspense’ hat der Großmeister des Genres, Alfed Hitchcock, eingeführt und genau dieser ist das Vorbild Soderberghs in diesem Krimi:

„Mich hat interessiert, wie sich Schuld von einer Figur auf die andere überträgt.“ Und genau das zeigen seine Hauptdarsteller ganz heraus-ragend! Schließlich stellen sich existenzielle Fragen: Was ist eigentlich gefährlicher, krank sein oder Medikamente zu nehmen? Na klar ist dieser Film ein echter Hollywood-Thriller. Doch das war Soderbergh wichtiger, als ein staubtrockenes Dokudrama über Medikamentenmissbrauch abzuliefern: „Ich befi nde mich ja gerade im Herbst meiner Karriere. Und wollte unterhalten.“ Ich fi nde, dass ist ihm bestens gelungen!

n Andreas Düllick

„Das ist Patrick, mit ck, wie Patrick Swayze in ‚Gefährliche Brandung’!“ So ungefähr wird der Hauptdarsteller Patrick (gespielt von Tilman Strauß)der Familie seines Vaters in einer Szene von seinem besten Freund Elmer (Niklas Kohrt) vorgestellt. Ein harter Hund also, einer, der ohne zu zögern über Leichen geht. So einer ist Patrick, aber er und Elmer erinnern mich doch eher an „Alex“, die Hauptfi gur aus Stanley Kubricks

„A Clockwerk Orange“ und Anführer einer Jugendbande, den Droogs. Cool und gebildet, aber gleichsam auch äußerst brutal, weil sehr verletzt.

Letzteres aus gutem Grund: Nach dem Selbstmord seiner Mutter begibt er sich mit auf den Weg um seinen „Erzeuger“ zu suchen. Dafür hat er sich den perfekten Tag ausgesucht: Denn sein Vater, ein gewisser Dr. Borz, wird 60. Und wie es sich zu solchen runden Geburtstagen gehört, ist eine Familienfeier angesetzt. Genau das haben Patrick und Elmer ausbaldowert und tauchen unvermittelt auf der Party auf. Zuvor staffi eren sie sich allerdings in einer Nobelboutique noch entsprechend aus, gegen den entschiedenen Willen der Verkäuferin. Doch „Alex“ alias Patrick hat die resolute Dame nicht wirklich etwas entgegenzusetzen.

So nimmt das „Schicksal“ seinen Lauf und eine Gewaltspirale setzt sich in Gang. Dabei will Patrick eigentlich nur dieses Phantom des nie gekannten Patrick & Elmer sind die „Droogs“

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lBERLINALEBERLINALE WETTBEWERB:

Jafar Panahis neuer Film „Pardé“ ist ein Spiegel-bild der Lebenssituation des RegisseursIm Wettbewerb der 63. Berlinale wurde der neue Film des iranischen Regisseurs Jafar Panahi gezeigt. Darin erzählt er eine Geschichte, die stark autobiografi sche Züge hat: „Sie werden gesucht: der Mann und sein Hund, den er eigentlich nicht besitzen darf, da das Tier nach islamischen Geboten als unrein gilt. Die junge Frau, die an einer verbotenen Party am Ufer des Kaspischen Meers teilgenommen hat. Sie verbarrika-dieren sich in einer abgelegenen Villa mit verhängten Fenstern und beäugen einander misstrauisch. Beide sind sie Gefangene eines Hauses ohne Aussicht inmitten einer bedrohlichen Umgebung. Aus der Ferne hört man die Stimmen von Polizisten, aber auch das beruhigende Rauschen des Meeres. Ob man es hier mit Outlaws in mehrfacher Hin-sicht zu tun hat? Oder sind der Mann und die junge Frau Phantome, Kopfgeburten eines Filmemachers, der nicht mehr arbeiten darf?“ (Quelle Berlinale)

Seinen neuen Film drehte Panahi heimlich und ohne Genehmigung. Bis zuletzt war unklar ob der Regisseur seinen Film auf der Berlinale selbst präsentieren kann. Die Bundesregierung hatte zuvor den Iran aufgefordert, dem in seiner Heimat verfolgten Regisseur die Teilnahme an der Premiere seines neuen Films in Berlin zu ermöglichen. Doch dem Regisseur wude

die Ausreise verweigert, er wurde deshalb von seinem Co-Regisseur Kamboziya Partovi vertreten. „Ich habe das Drehbuch geschrieben, als ich an einer Depression litt, die mich dazu gebracht hat, eine irrationale Welt jenseits der logischen Konventionen zu erkunden“, berichtet Panahi im Presseheft zu seinem Film. Ob die beiden nun Konse-quenzen befürchten müssen, ist unklar. „Wir können das nicht vorhersehen“, so Partovi auf der Pressekonferenz. „Wir warten. Wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringen wird.“

Panahi wurde im Dezember 2010 von einem Revolutionsgericht in Teheran zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde bisher aber nicht vollzogen. Außerdem hat er im Iran Berufsverbot. Panahi gewann 2006 mit „Offside“, einem Film über weibliche iranische Fußballfans, einen Sil-bernen Bären der Berlinale. Vor zwei Jahren war er Mitglied der Berlinale-Jury, durfte aber nicht nach Berlin kommen. Am Tag der Aufführung seines neuen Films protestier-

ten vor dem Berlinale-Palast am Potsdamer Platz einige Demonstranten für Panahi. Zu wenige, um das Regime in Teheran wirklich zu ärgern. Aber das sein Film in Berlin gezeigt wird, ist wohl viel wichtiger. Wir hoffen, dass Jafar Panahi bald wieder frei arbeiten kann.

n Andreas Düllick

Vaters ergründen. Doch dabei muss er schmerzhaft feststellen, dass das, was er zu fi nden hofft, nicht existiert. Er ist zu keinem Zeitpunkt, niemals, auch nur ansatzweise geliebt worden. Wie auch – der Vater kann und will sich kaum mehr an seine Geliebte für eine Nacht, die Mutter

von Patrick, erinnern. Er hat sich längst ein anderes Leben aufgebaut, zu dem gehören die attraktive Gattin Judith (Judith Rosmair) und die pubertierende Tochter Ronny (Rubi O Fee). Ergänzt wird die Borz’sche Patchwork-„Familie“ durch einen Porsche- und iPhone-affi nen Nerd (Tobias Kay), den der Vater mit seiner verfl ossenen Ex-Frau vor vielen Jahren gezeugt hat, und jeder Menge teurer Fische in noch viel teureren Aquarien.

Diese gleichsam komische, aber auch sehr realistische Melange ist fatal. Denn es führt, Sie ahnen es, zur Auslöschung. Auf der Strecke bleiben – ganz nebenbei, aber vollkommen folgerichtig – bei Patricks „Spurensuche“, ein paar Aquariumsfi sche, die versoffene Mutter und ihr verkokster Möchtegern-Business-Sohnemann. Na ja, und auch der Vater erfährt schließlich ziemlich schmerzvoll die Liebe seines verschmähten Sohnes. Patrick jeden-falls scheint gerettet – ziemlich entspannt

entfernt er sich mit seinem Freund im wunderschönen amerikanischen Straßenkreuzer. Chapeau!

In seinem Regiedebüt gelingt dem Hamburger Sven Halfar ein urkomischer Krimi, der einem angesichts der smarten Dialoge oft die Tränen vor Lachen in die Augen treibt, so witzig und raffi niert kommt dieser Streifen rüber. Weiterer Pluspunkt: Der Regisseur vertraute auf unbekannte Schauspieler, und das bekommt dem Film sehr gut: „Es war uns wichtig, unverbrauchte Gesichter zu benutzen, die unser Konzept unterstützen: Einen Film zu machen, der eine eigene Atmosphäre hat, der Gesichter hat, die man nicht mit anderen Rollen und anderen Filmen in Verbindung bringt. Es tut manchmal gut, mutig zu casten. Es gibt genügend gute Schauspieler in Deutschland, man muss nicht immer auf die üblichen Verdächtigen zurückgreifen.“ (Einzige Ausnahme: Susanne von Borsody, aber die macht ihre Sache ziemlich gut.)

Die Einladung zur Berlinale 2013 ist für Sven Halfar und dessen Produ-zentin Rike Steyer ganz sicher eine Art Ritterschlag und gleichzeitig auch eine große Genugtuung. Denn: Sie haben den Film fast gänzlich privat fi nanziert. Niemand der mitgemacht hat, hat Geld dafür bekommen. Am 10. Februar feierte „DeAD“ eine umjubelte Weltpremiere in Anwesenheit sämtlicher Darsteller, der Crew und natürlich der Macher. Wann „DeAD“ ins „normale“ Kino kommt, ist noch unklar. Denn die Crew hatte bis dato noch keinen Verleiher, keinen Weltvertrieb, keinen Sender. Ich wünsche dem Film jedenfalls viele begeisterte Zuschauer!

n Andreas Düllick

Einsatz für Jafar Panahi

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Berlin GraffitiBanksy lässt schön grüßen!

Manchmal fahre ich einfach mit der Ringbahn durch die Stadt und freue mich über die bunten Graffiti auf den früher so grauen Betonwänden an der Strecke. Oder ich laufe mit dem Fotoapparat

durch Mitte, Friedrichshain oder Kreuzberg, immer auf der Jagd nach witzigen, schrägen Botschaften, die irgendwer an die Wände gesprüht hat. Ich gebe gerne zu: Nicht jedes Grafitti ist wirklich gut. Es gibt auch sehr viele Schmierereien, die keiner wirklich braucht. Und ich verstehe auch ein wenig diejenigen Menschen, die sich ob so einer Schmiererei an ihrer neu gestrichenen Hausfassade die Platze ärgern. Manche Tags sind wirklich so dämlich, dass sie schnell übertüncht gehören. Aber: Es gibt sie natürlich auch – die Grafitti, die schon fast Kunst sind. Ich rede hier nicht von der East Side Gallery. Die kennt wohl mittlerweile jeder, seitdem sich nach dem Mauerfall tagtäglich tausende Touristen daran die Nase platt drücken. Was ich meine, sind die kleinen, versteckten

„Rosinen“, die man nur findet, wenn man stundenlang ums Eck schleicht und seine eigenen Augen aufsperrt. Eine Zeit lang fand man diese z. B. gern im „Szenebezirk“ Mitte, wo zahllose Klubs zum Feiern ohne Ende einluden. Klar, dass Graffiti-Artisten sich gern dort austoben, wo es gerade angesagt ist. Selbst Banksy soll sich dort schon mal verewigt haben.

„Kotti“ rules!Es geht aber auch anders: Vor ein paar Tagen war ich am „Kotti“ unterwegs, wollte ein paar Fotos für einen Text zum Thema „Wohnen“ machen. Und siehe da, ich stieß auf ein paar Wände, die mich ziemlich beeindruckt haben. Das waren keine geheimen Tags, keine versteckten Botschaften, keine Underground-Graffiti. Sondern ziemlich öffentliche, ein wenig plakative Bilder. Hier haben sich ein paar Leute echt Gedanken gemacht um ihren Kiez: „Wie wollen wir hier leben, mitei-nander umgehen? Wie soll er aussehen?“ Mir hat das ausgesprochen gut gefallen. Deshalb habe ich natürlich ein paar Fotos davon gemacht. Das ist übrigens auch ein großes Problem, vielleicht auch ein großes Geschenk dieser Kunst: Sie ist extrem vergänglich. Wenn man sie nicht digital festhält, sind sie schnell verschwunden. Gott sei Dank gibt’s ein paar Enthusiasten

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8 http://graffitiarchiv.wordpress.com/8 www.jugendkulturen.de/8 www.tagesspiegel.de/berlin/stadtleben/street-art-kuenst-lerhaus-bethanien-legt-banksy-bild-frei/4598782.html

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und ein paar gute Archive, die gute Grafitti bewahren. „Streetfiles“, das digitale Graffiti-Archiv zum Beispiel! Oder das kongeniale Archiv der Jugendkulturen.

„Every picture tells a lie!“Eine hübsche Geschichte zu Banksy und Berlin fand ich in einem Artikel von Nana Heymann im „Tagesspiegel“: „Vor acht Jahren hat der Street-Art-Künstler im Künstlerhaus Bethanien ein Bild an die Wand gesprüht. Nun wurde es unter 20 Lagen Farbe herausgeschält. Das Bild befand sich unter mehreren Schichten Farbe, um es freizulegen, kamen zwei Restauratoren aus Prag angereist. Zehn Tage trugen sie mit Skalpellen und speziellen Hämmern die zwanzig Farblagen ab. Fünf lebensgroße Soldaten mit Maschinengewehren und Flügeln auf dem Rücken; unter den offenen Visieren ihrer Helme leuchten gelbe Smiley-Gesichter. Dazu ein roter Schriftzug: „Every picture tells a lie!“, jedes Bild erzählt eine Lüge. Das Werk stammt von Banksy, dem berühmtesten Street-Art-Künstler der Welt. Im Rahmen eines Sprayer-Festivals im Berliner Künstlerhaus Bethanien hatte er es vor acht Jahren an die Wand gesprüht, später wurde das Bild einfach übermalt – kurz bevor Banksy internationalen Ruhm erlangte.“ Coole Sache!

Auf zum Graffiti-Workshop!Einen kleinen Tipp habe ich noch: Am 23. Februar findet von 14-17 Uhr der nächste offene Graffiti Workshop des Graffitiarchivs Berlin für Anfänger_innen und Fortgeschrittene jeden Alters statt. Wer sich schon immer mal mit der Sprühdose an einer legalisierten Wand ausprobieren wollte oder seine Skills verbessern möchte, ist beim dreistündigen Graffiti-Workshop mit professioneller Anleitung genau richtig. Der Treffpunkt wird noch bekannt gegeben, der Teilnahme-beitrag (incl. Arbeitsmaterial) ist 25 Euro pro Person. Anmeldung

& Rückfragen bis spätestens 20. Februar bitte an E-Mail: [email protected].

Ablauf des Workshops: (1) Theoretischer Input (geschichtliche Entstehung und globale Ausbreitung der Graffitikultur; Einführung zu Graffiti und Street Art); (2) Praktische Übungen (Skizzenzeichnen (styles, characters), Einführung in die grundlegenden Sprühtechniken, Übertragung der Skizzen auf die Wand, Erstellung eines Wandbildes mit Sprühdosen auf einer legalisierten Wand).

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Infos:

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l Die Welt der FarbenIch mag’s bunt. Bunt darf es vor allem im Kochtopf sein, weniger bei der Kleidung und etwas mehr bei Bildern. Es gibt sogar Menschen, die Farben hören können.

Wie kommen die Farben in den Kochtopf, oder wie sehen wir Farben? Trifft Licht auf einen undurchsichtigen Körper,

wird ein Teil der Lichtwellen absorbiert und ein bestimmter Teil, z. B. grüne oder rote Lichtwellen zurückgeworfen. Wir sehen dann grün oder rot. Grund dafür ist jeweils ein bestimmter Farbstoff, der in dem Körper enthalten ist. Um Farben zu sehen, brauchen wir Licht, denn „Nachts sind alle Katzen grau.“.

KochtopfBunte Zutaten in einem Essen, wie verschieden-artiges Gemüse, regen den Appetit an. Das Auge isst mit. Gerade bei Gemüsearten passen farblich abgestimmte Zutaten auch geschmacklich gut zueinander. Experimentieren lohnt sich. Gut zu kombinieren sind z. B. Möhren und Brokkoli oder Zucchini, Tomate und Ei oder Aubergine und gelber Paprika.

Einige Menschen haben sich mit der Frage befasst, ob wir mit Farben auch Geschmäcker und Gerüche verbinden. Der Farbforscher Heinrich Frieling hat dies eingehend untersucht. Seine Forschungsergebnisse werden mittlerweile von der Werbung genutzt. Die Farbe der Verpackung soll das darin enthaltene Produkt anpreisen und bestimmte Assoziationen in uns hervorrufen. Mit der Farbe Rosa verbinden wir danach süßlichen und milden Geschmack, mit der Farbe Rot einen süßen, kräftigen, scharfen, würzigen und knusprigen und mit der Farbe Grün einen frischen, herben, bitteren, kühlen und sauer-saftigen. So werden z. B. würzige Snacks mit roter und Minzbonbons mit grüner Verpackung versehen, nicht aber in rosa. Diese wird eher für fruchtige Kaubonbons verwendet.

KleidungBei der Kleidung ist weniger Mut zur Farbe angesagt. Sicherlich ist das abhängig von Jahreszeit und Alter, geht man jedoch durch Berlin, so sind eher Menschen mit verhaltener Farbwahl zu sehen oder ein farbinten-sives Kleidungsstück wird mit dunklen oder blassen kombiniert. Das mag

daran liegen, das Auffallen nicht so gewünscht ist. Allzu bunt schreckt ab. Eine bewusste Wahl der Farbe seiner Kleidung für den Tag kann durchaus die Stimmung oder die Wirkung auf andere beeinflussen und wie Stilberater meinen, den individuellen Typ unterstreichen. Mir fällt in diesem Zusammenhang Hans-Dietrich Genscher mit seinem gelben Pullunder ein.

In einer Studie an der Universität Rochester wurde festgestellt, dass die Farbe Rot nicht nur eine ästhetische Wirkung hat, sondern auch ein Statussymbol ist. Es steht für Durchsetzungskraft und Autorität. Bei Männern wie bei Frauen wirkt es auf das jeweilige Gegengeschlecht sehr anziehend.

KunstIn der Kunst ist mit Farben alles erlaubt. Dort gibt es keine Grenzen. Die Farben werden scheinbar bunt durcheinander oder auch aufeinander aufgetragen. Mit ihnen werden geordnete oder scheinbar wahllos auf dem Bild verteilte geometrische Formen ausgefüllt, Szenen realistisch oder auch surreal dargestellt. Sie geben dem Bild, ob mit oder ohne Form, seine Lebendigkeit. Besonders in der Kunst wird die Vielfalt der Farben in seinem gesamten Spektrum ausgelebt. Es scheint, als gäbe es manche Farben nur auf der Leinwand. Künstler wie Marc Rothko als einer der Vertreter der Farbfeldmalerei oder auch Paul Klee als Vertreter des Expressionismus und viele andere entführen die Betrachter ihrer Werke in die bunte Welt der Farben, wo sie auf ihn wirken können.

Farbliche TöneEs gibt Menschen, die können Farben hören. Musik oder gehörte Wörter und Buchstaben lösen bei ihnen Farberlebnisse aus. Diese Menschen werden Synästhetiker genannt. Sie haben zu einem Sinnesreiz mehrere Wahrnehmungen.

Synästhesie bezeichnet die Kopplung zweier oder mehrerer physisch getrennter Bereiche der Wahrnehmung. Die Kopplung kann zwischen allen fünf Sinnen stattfinden. Am häufigsten ist die Kombination von Ton und Farbe.

Farben sind schön. Sie sind vielfältig. Sie können unser Leben erhellen. Im Regenbogen wird das gesamte Spektrum sichtbar. Wohl deshalb sind wir immer wieder fasziniert, wenn er am Himmel erscheint. Weiß und schwarz sind darin nicht zu sehen, womit wir bei der ewigen Streitfrage sind, ob es überhaupt Farben sind.

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Bilder sind so schönDas Kaleidoskop des 21. Jahrhunderts heißt Internet

Es war ein unendliches Wunderwerk, was da im 19. Jahrhundert in die Hände von Erwachsenen und Kin-

dern fi el. In einer Welt, in der Bilder noch die große Ausnahme im Alltag waren, war hier nun ein Instrument zur Hand, das ohne Aufwand unzählige Bilder erzeugte, die in ihrer Farbigkeit, Leucht-kraft und symmetrischen Ordnung alles übertrafen, was bis dahin bekannt war. Das Kaleidoskop lieferte fortwährend neue Bilder, eine kleine Handbewegung genügte, um das eben noch bewunderte Bild in ein anderes zu verwandeln. Die Fantasie tat dann ein Übriges und füllte die geometrischen Formen mit Leben, Assoziationen mit der wirklichen Welt. Es nahm nicht Wunder, wenn die Benutzer dieser Zauberei die Pappröhre nicht vom Auge nehmen wollten. Sie erzeugte mit einfachen Mitteln ein suchtähnliches Verhalten, und die kritischen Beobachter sahen darin teils ein hervorragendes Mittel zur ästhetischen Erziehung der Jugend, teils eine gefährliche Ablenkung von den Aufgaben des Alltags.

Mit der beliebigen Reproduzierbarkeit und Verfügbarkeit von Bildern im 20. Jahrhundert verlor das Kaleidoskop seinen Reiz. Es sank vom Amüsement der Salons zum Kinderspielzeug, ein Spielzeug, das für die Kleinen auch schnell an Interesse einbüßte, denn mit dem Fernsehen standen nun auch für sie bewegte Bilder im Kinderzimmer zur Verfügung. Kaleidoskope fi ndet man heute nur noch auf Flohmärkten.

Sind die Kaleidoskope aus unserer Welt verbannt? Nein, es gibt sie noch, sie haben nur ihr Aussehen verändert. Das Kaleidoskop des 21. Jahrhunderts heißt Internet. Ein Mausklick genügt, und es tut sich ein Universum von Bildern auf. Es ist egal, wo man beginnt – jedes Bild hat einen Link zu neuen Bildern, und was dann auf dem Bildschirm erscheint, hat mit dem vorhergehenden Bild oft nichts mehr zu tun, eröffnet eine neue Perspektive auf neue Gegenstände des Staunens.

Vom Brandenburger Tor geht es über den Pariser Platz nach Paris. Dort lächelt die Mona Lisa, und Leonardos Unterseeboot zieht uns in den Nahostkonfl ikt. Abbas trifft Mursi, und in Indonesien gibt es auch Muslime. Batavia verbindet in die Niederlande – so sah also Spinoza aus. Das Mikroskop wurde erfunden und zeigt nun wuselige Tierchen und grazile Kristalle, dann der Schmuck der englischen Königin und

Diamantengruben in Südafrika, Bergbau in Magadan und Stalins Gulag, FDJ-Treffen in Berlin und Woodstock, Joan Baez und wer hat noch an dem Tag Geburtstag, Elvis einen Tag davor, dann die Anatomie der Hüfte inklusive Operationstechniken, ein Stern wird geboren, Friedhöfe in Prag und eine Haftanstalt in Kalifornien, Fußballweltmeister und ein Fallrückzieher in der Kreisliga, Blumenwiesen, Familie Wuttke auf Mallorca, Surfen in Portugal und Wandern in Bayern, barocke Klöster und Jakobsmuscheln, auch zum Essen, und dann…

Viele Stunden können so verbracht werden, ganze Tage. Der Strom der Bilder reißt den Betrachter mit sich. Mit Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun, auch wenn es Wirklichkeit vorspiegelt. Manche nennen es Sucht, das Vergessen der Realität. Es ist ein Spiel, das zum Träumen und Erschrecken führt. Die Faszination des Bildes nimmt gefangen. Es ist wie mit dem Kaleidoskop. Die Bildfolge ist nie die gleiche und nie zu Ende. Das Spiel ist das gleiche geblieben. Nur das Spielzeug hat sich gewandelt.

n Manfred Wolff

Teile einer „Karte“ des Internets, basierend auf Daten von opte.org am 15.01.2005.

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Heeeei-Jo!Berlin blamiert sich Jahr für Jahr mit einem unterbesuchten Faschingsumzug

Sind wir mal ehrlich: Karneval passt so gut nach Berlin wie ein rechtzeitig fertig gestelltes Großbauprojekt – zum vorher veranschlagten Preis. Oder einstellige Arbeitslosenzahlen. Und

überhaupt, für wen ist so ein Karnevalsumzug eigentlich gedacht? Für den an einer ständigen Unterdosis Humor und Lockerheit leidenden Ber-liner? Zugegeben, das wäre ein Grund, den Umzug staat- und stadtlich zu verordnen. Damit wenigstens einmal im Jahr alle Berliner ausgelassen und fröhlich sind, sich in die Arme fallen und Hände und Kamelle werfend freundlich grüßen. Aber mit Anordnungen hat es der Berliner eh nicht so. Dit jefällt ihm nich, wa. Hätte also keinen Zweck. Zumal diese Faschingsfröhlichkeit dann noch aufgesetzter wirken würde, als sie es für Nichtrheinländer, die ohne das Karnevalsgen geboren wurden, ohnehin schon tut.

Also für die Touristen? Ich bitte Sie! Wer kommt schon nach Berlin, um sich einen Faschingsumzug anzusehen? Das ist so abwegig, wie wegen sauber geteerter Straßen nach Venedig zu fahren. So irrsinnig wie hundekotfreie Gehwege und Parks (in Berlin oder Venedig). Wie BVG fahren ohne verprügelt zu werden. Wie perfekter und höflicher Service. Nein, dafür kommt niemand nach Berlin. Das erwartet auch niemand.

Gesetzlicher SchalldämpferAn eine Anordnung hält man sich dann aber doch: die des Landes-Immissi-onsschutzgesetzes. Das untersagt nämlich Veranstaltungen, die nicht als „historisch, kulturell oder sportlich bedeutsam“ eingestuft sind, einen bestimmten Lärmpegel zu überschreiten. Und so muss der Faschings-umzug die vier Kilometer leiser als ein Dyson Staubsauger durch die Straßen ziehen. Welch ein Spaß!

Da müsste man sich gleich zwei Fragen stellen: Erstens, wer entscheidet eigentlich, was kulturell bedeutsam ist, und zweitens, warum lassen wir uns das bieten?! Denn Karneval, Fasching, Fastnacht hat in Deutschland, ja sogar in Berlin, durchaus eine lange Tradition und dürfte deshalb auch

als „Kultur“ bezeichnet werden, in jedem Fall aber als historisch gelten. Karneval hat eine viel längere Tradition als Schwulsein, Integration und Techno. Und für letztere drei gibt es mit dem Christopher Street Day, dem Karneval der Kulturen und der Loveparade große und gern gefeierte Feste in Berlin, für die die Stadt im In- und Ausland bekannt ist. Ach, richtig, die Loveparade gibt es nicht mehr, weil niemand für

die Aufräumarbeiten nach der Sause aufkommen wollte. Aus demselben Grund darf der Faschingsumzug übrigens keine Konfetti mehr schmeißen und Süßig-keiten nur, wenn sie gleich wieder durch Kinderhände aufgesammelt werden.

Obwohl die Aberkennung des Prädikats Kulturgut für den Karneval der sonst so lautstark geforderten Integration zuwi-der läuft, ist sie dennoch nachvollziehbar. Schließlich war man kürzlich schon fast davor, den Schwaben ihre Esskultur zu verbieten. Hinter der aussterbenden Karnevalskultur in Berlin kann ergo nur einer stecken: Thierse!

Cologne is coolIn Köln jedenfalls feierte man dieses Jahr gleich drei Jubiläen. Der Kölner Rosen-montagszug wurde 190 Jahre alt, und vor 90 Jahren zog am Karnevalssonntag der erste Veedelszoch durch die Stadt. Das sind die Karnevalszüge der einzelnen Stadtteile, die von Stammtischen und Vereinen betrieben werden. Vor 60 Jahren schließlich übertrug der Nord-westdeutsche Rundfunk (NWDR) zum ersten Mal den Rosenmontagsumzug im Fernsehen. In schwarz-weiß zwar und nur

auf ein paar Tausend verkaufter Geräte, aber immerhin bei schönem Wetter. In Berlin hingegen hat das Stadtfernsehen RBB beschlossen, den Umzug dieses Jahr nicht mehr zu übertragen. Das hat bestimmt mit den Zuschauerzahlen zu tun. Denn während in Köln dieses Jahr wieder eine Million Jecken an der rund sieben Kilometer langen Zugstrecke standen – die gesamte Stadt also – war in Berlin noch nicht mal jeder zehnte Einwohner auf den Beinen. Es ist zwar die Hauptstadt der Umzüge, aber eben mit Robben & Wientjes statt Prinz & Prinzessin.

n Boris „Narrenkappe“ Nowack

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Nein, das ist nicht das Oktoberfest!

Ja ist denn heut‘ schon Ostern?

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11Spielzeug von damals und heuteWomit der Mensch spielt

Eins fällt mir bei der Recherche für diesen Artikel sofort auf: Nur zum Spaß, zum Vergnügen und Zeitvertreib spielen, nein, immer werden vom Erwachsenen weitere Erklärungen verlangt. Beim

Schachspielen lässt sich der Verstand trainieren. Kartenspiele fördern Taktik und Erinnerungsvermögen. Ballspiele die körperliche Fitness und das Sozialverhalten.

Die Geschichte des Spielzeugs ist so lang, wie die Menschheit alt ist. Beeinflusst durch die Lebens-art, die Erfordernisse und Möglichkeiten der jeweiligen Zeitalter, erfand der Mensch eine Unzahl von Spielgeräten. Von einigen Wenigen soll hier die Rede sein.

Mit einem klei-nen Maßstab seiner selbst, der Puppe, beginnt die Geschichte. Sie gehört mit Stein und Stock zum ältesten Spielzeug des Menschen. Im Mittelalter werden Puppen erstmals speziell für Mädchen angefertigt. Frisierbar, mit gemaltem Gesicht und selbst anzukleiden soll so das Kind auf eine spätere Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Das Schaukelpferd stammt aus dieser Zeit und auch Spiele mit einem aus Stroh geflochtenen Ball gehören zu den damaligen Vergnügungen.

Mit der Industrialisierung verändern sich die Möglichkeiten in der Produktion. Die maschinelle Fertigung und der Einsatz von Fließbändern machen kleine Menschen- und Tierfiguren aus Blech erschwinglich. Bald halten kleine Dampfmaschinen und später dann auch dampfbetriebene Eisenbahnmodelle Einzug in die bürgerlichen Kinderzimmer. Mechanisches Spielzeug, dass sich dank einer raffinierten Konstruktion aus Metallfedern und Zahnrädern „wie von selbst“ bewegt, fasziniert die Menschen der Oberschicht. Beliebt durch alle Gesellschaftsschichten ist das Reifen-treiben, bei dem ein weiter Metall- oder Holzring durch das Schlagen mit Hand oder Stock vorangetrieben wird.

Der Pädagoge Friedrich Fröbel (1782-1852) entwickelt das erste erzieherisch-wertvolle Spielzeug. Uns z. B. in Form der Baukästen bekannt, die noch heute die Fantasie von groß und klein anregen. Besonders ausgefallenes oder seltenes Spielzeug dient als Statussymbol, wird den Kindern vor-enthalten und nur vor Gästen gezeigt und benutzt.

Die Erfindung des Kunststoffs revolu-tioniert die Möglichkeiten in der Herstellung noch einmal. Die modernen Produktionsme-thoden ermöglichen es zum Niedrigstpreis zu produzieren und welt-weit und en masse zu liefern. Damit hat sich der soziale Unterschied, wie er sich bis jetzt in Qua-lität und Verfügbarkeit der Spielzeuge zeigte weitgehend aufgehoben. In Deutschland sind in Nürnberg und im Erzgebirge noch Holzspielzeug produzierende Betriebe zu finden.

Die alten Karten-, Brett- und Ballspiele sind geblieben.

Neue und alte Sport- und Spielarten aus aller Welt bereichern und ergänzen

heute täglich die westeu-ropäische Kultur.

Der Personal Computer – das totale Spielzeug

Mit der Erfindung des PCs und der flächende-ckende Versorgung mit Smartphones, ist es

nun jedem möglich, von zu Hause und überall aus, eine sich täglich erweiternde Anzahl von

Spielen zu entdecken. Das Gerät bietet was man gerade braucht und das sofort. Ablenkung aber

auch Vergnügen. Bildung und Lernen genauso wie stundenlangen, unkritischen Konsum.

Das Computerspiel ist in seiner Funktion und Wirkung ein vollwertiges Mitglied der Spiel-Gemeinschaft. Beim 100-Meter-

Sprint werden hier irgendwann die Finger müde. Das (Online-)Pokerspiel wird schwieriger, da unpersönlicher. Doch

ist der Wettkampf mit der künstlichen Intelli-genz nicht weniger spannend. Für einen

halb-persönlichen Kontakt sorgt, wenn gewünscht das Internet. Viele Spiele bieten die Möglichkeit online miteinander und gegeneinander zu spielen. Der Natur nachempfunden, versuchen Spielentwickler alles, damit ihr Werk an diese heranreicht.

Alles, um den virtuellen Kosmos und das angebotene Erlebnis noch realistischer zu

gestalten. Wo mensch doch eigentlich nur einen Stock braucht, um sich als Polizist, Pirat

und Ritter - und so vieles mehr zu fühlen.n Gregor Wilcewski

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olzspielzeug.de

Spielecomputer 1987: Amiga A500

Oben: Vogel Singing Bird mit Stimme, Blechspielzeug LEGLER „Bauklötzewagen Lucas“

Quelle: www.maxi-holzspielzeug.

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l Was ist denn mit Käpt‘n Kotti los?Warum Käpt‘n Kotti auch mal

abtauchen muss

Jeder Kapitän kommt in seiner Dienstzeit ab und zu in die Lage, wo er inne und Rückschau halten muss. Auch ein

Käpt‘n ist halt nur ein Mensch! Diese jetzige Bestandsaufnahme von Käpt‘n Kotti beruht auf mehreren Faktoren.

Der erste Faktor ist mein werter Chefredakteur. Als gelernter Journalist ist er auch so etwas wie ein Kapitän der schreibenden Zunft, denn er versucht gern, uns freie Amateur-Autoren zu Höchstleistungen anzuspornen. Das kostet oft viel geistige Kraft und führt zumindest beim Käpt’n dazu, dass er sich ab und zu mal eine Auszeit nehmen muss. Diese ist zwingend nötig, damit ich mich was die persönlichen Themen angeht, über die ich als Autor gern schreiben möchte, neu orientieren kann.

Der zweite Faktor sind persönliche Dinge des Alltags, wie zum Beispiel eine berufl iche Rehabilitation, die der Käpt’n gerade im ganz realen Leben machen muss. Die läuft allerdings schon zwei Jahre länger als all-gemein üblich ist, und das zerrt verdammt an meinen Nerven, sodass ich gezwungen bin, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem, Sie glauben es kaum, habe ich als Käpt’n Kotti arge Probleme mit dem Vermieter: Der will mich – einen Altmieter! – nach der Haussanierung gern aus meiner Wohnung vertreiben. Was er im Schilde führt, das bleibt einem Käpt’n wie mir natürlich nicht verborgen: Er will meine Kajüte neu vermieten und das noch teurer als heute schon! Doch da hat er nicht mit dem ausgebufften Käpt’n Kotti gerechnet! Denn die Sanierungsvereinbarung, die ich vor der Haussanierung unterschrieben habe, beinhaltet, dass ich als Altmieter nicht einfach gekündigt werden kann und für zwanzig Jahre eine Mietpreisbindung habe. Dennoch versucht der Vermieter nun, mich mittels psychologischer Taschenspielertricks zum freiwilligen Auszug zu bewegen. Doch nicht mit dem Käpt’n!

Ich erzähle Ihnen mal ein Beispiel: Ein Mitarbeiter der Hausverwaltung hat bei der Kontrolle der Wohnung, es ging um die Garantieleistung der Fliesenleger, die das Bad bei der Sanierung erneuert hatten, einfach ohne den Käpt’n zu fragen, Fotos von einer Kajüte gemacht. In diesem Zimmer standen noch Umzugskartons, die in den Keller sollten. Diese Kartons wurden nun zum Anlass genommen, um den ehrbaren und ordnungsliebenden Käpt’n Kotti als „Messi“ zu betiteln! Heiliger Klabautermann, der Käpt’n ein Messi! Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, dass ich einen doppelseitigen Hüftschaden habe, den ich mir auf einer meiner Kaperfahrten

zugezogen habe. Deshalb darf ich nicht mehr schwer heben oder tragen. Das bedeutet in dem Fall, dass ich die Umzugskartons nach meinem Einzug nicht sofort und schon gar nicht in vollem Zustand in den Keller hätte bringen können. Zumal sie ja auch in bestimmten Bereichen erst hätten sortiert werden müssen.

Der dritte Faktor sind die Werbeagentur DOJO und ihr Modelabel „Muschi Kreuzberg“: Für das stadtbekannte Label bin ich als männliches Chef-model (oder als Dressman, wie ich auch genannt werde!) hin und wieder im Einsatz. Nun ja, die Planung der Agenturchefs für die Modenschauen lässt ein wenig zu wünschen übrig. Obwohl, ich muss ja zugeben: Die Hauptaufgabe der Werbeagentur ist ja, coole Werbung für ihre Kunden zu kreieren; die eigene Werbung mit dem Modelabel läuft deshalb nur nebenbei. Man kann von einer Werbeagentur nun mal nicht unbedingt

verlangen, dass sie die Kollektionen ihres frisch-frechen Labels alljährlich gleich auf vier oder fünf Modenschauen vorführt! Aber, ehrlich gesagt, der Käpt’n und seine Kollegen würden das sehr begrüßen! Denn diese Modenschauen machen echt viel Spaß und lenken auch den Käpt’n von seinem harten Alltag auf der Spree ein wenig ab. Andererseits: Wäre es noch Spaß, wenn wir öfter über die Bretter, die Welt bedeuten, traben dürften?

Der vierte Faktor ist der familiäre: Auch wenn Käpt‘n Kotti immer noch ein Junggeselle ist, was viele Seeleute bis zu einem gewissem Alter sind, so ist er doch nicht ohne familiären Anhang und dies benötigt auch seine Zeit. Und – der Käpt‘n hat nun mal auch seine Hobbys, die nicht unbedingt etwas mit dem Wasser zu tun haben müssen. Was das genau ist, wird hier noch nicht verraten.

Demnächst gibt’s an dieser Stelle sicher viele krasse Neuigkeiten zu der wichtigen Frage zu berichten: Was ist denn mit Käpt‘n Kotti los?n Ahoi, sagt Käpt‘n Kotti für heute

So ein Käpt’n hat’s nicht leicht!

Strenger Blick, starker Auftritt!

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lDie Kehrseiten von Spezialisierung und ArbeitsteilungEntweder „Fachidioten“ oder Ahnungslose

Offenkundig steigern Spezialisierung und Arbeitsteilung die Produkti-

vität der Wirtschaft. Denn bei der Herstellung und Verteilung der für einen angemessenen Lebensunter-halt erforderlichen Güter leistet jedes Gruppenmitglied überwiegend nur noch das, was es am besten beherrscht. Man ist nicht mehr, wie in den Anfängen der Menschheit, ein totaler Selbstversorger, der grundsätzlich alles selber produzieren muss, was zum Leben gehört: Nahrung, Bekleidung, Behausung usw. - Der Verfasser als gelernter Jurist hat z. B. infolge nur unzulänglich aus-gebildeter Feinmotorik große Schwierigkeiten, einen Hemdenknopf anzunähen – das dauert ca. 45 Minuten, und es fl ießt meistens Blut -, während er beim Vermeiden und Schlichten von Rechtsstrei-tigkeiten, so meinen jedenfalls seine Freunde, recht effektiv und erfolgreich arbeitet; also viel produktiver ist als beim Nähen.

Spezialisierung und Arbeitsteilung erhöhen also den Lebensstandard der Gruppe. Aber auch bei diesem Vorteil gilt das Naturgesetz des Aus-gleichs. An einer anderen Stelle muss ein irgendwie gearteter Nachteil gegenüberstehen. Der Volksmund sagt: „Wo es einen Gewinner gibt, gibt es auch einen Verlierer“, oder „Alles muss sich im Gleichgewicht befi nden“. Das Prinzip der Balance, der Kaufmann nennt es „Bilanz“, durchzieht die gesamte Schöpfung.

Der Nachteil der Spezialisierung besteht in einem Rückgang – bis hin zu einem Verlust – der Kenntnisse bezüglich der Tätigkeiten, die der Spezia-list nun nicht mehr selber ausführt. Hatte vorher jedes Gruppenmitglied zumindest ein Grundwissen von fast allen Aktivitäten, die zum Leben gehören, geriet dieses in die Gefahr, mit zunehmender Spezialisierung verloren zu gehen; denn das machten ja jetzt andere Fachleute. Insofern fand eine Verarmung statt, ein Verlust an Allgemeinbildung. Viele Spezialisten interessierten sich fortan nur noch für ihr eigenes Gebiet und überließen die übrigen Fachbereiche anderen Experten.

Dieser Rückzug hatte Folgen. Viele Spezialisten verloren den Bezug zum Allgemeinen. „Davon verstehe ich nichts. Das überlasse ich den anderen…“, hieß es. Man übersah dabei aber, dass das Spezielle seine (Daseins-)Berechtigung nur aus seinem Verhältnis zum Allgemeinen, zum Ganzen, erhält. Ohne die Beziehung zu den anderen werden sie zu sogenannten „Fachidioten“; hoch spezialisiert und intelligent, aber ohne ein Gespür dafür oder gar Wissen davon, wie sich ihr Beitrag zum Ganzen auf andere gesellschaftliche Bereiche auswirkt.

Man braucht dazu keine Extremfälle heranzuziehen, dass z. B. Nukle-arphysiker zwar eine Atombombe bauen, aber das moralische Problem ihrer Anwendung den Politikern und Militärs überlassen. Es genügt schon der „ganz normale Wahnsinn“, dass Betriebswirte im Dienste des Geldkapitals beim Wirtschaften nicht die Bedarfsdeckung in den

Mittelpunkt ihres Strebens stellen, sondern die Gewinnmaximierung zugunsten einiger weniger – und dabei Millionen von Menschen in die Sinn- und Arbeitslosigkeit schicken; und auch noch die Natur ruinieren.

Wer von den durchschnittlich gebildeten Normalbürgern hat denn noch eine halbwegs fundierte Vorstellung von so wichtigen Lebensbereichen wie Religion, Politik, Wirtschaften, Geldwesen? – Man verlässt sich auf die sogenannten Spezialisten, wird selber zum Ahnungslosen und verfällt weitgehend in Trägheit. Die Experten ergreifen die sich bietende Gelegenheit, um darauf eine Machtposition gegenüber den Ahnungs-losen zu errichten und diese zu beherrschen. Seien es die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften, die Wirtschaftsbosse, die Bänker usw. „Wissen ist Macht“, wusste schon Ferdinand Lassalle (1825-1864), dieser hoch gebildete Sozialdemokrat.

Spezialisierung und Produktivitätssteigerung können – richtig gehandhabt – den Menschen genügend Freizeit und die Möglichkeit verschaffen, sich in Lebensbereichen außerhalb seines unmittelbaren Familien- und Berufsumfeldes zu entfalten. Er könnte der verbreiteten Ahnungslosigkeit und Trägheit entkommen, müsste sich aber vor den Verlockungen der Unterhaltungs- und Ablenkungsindustrie hüten. Dann gäbe es gute Chancen, den mündigen Bürger zu bekommen und die Demokratie zu beleben.

n Bernhardt

Rubiks Zauberwürfel

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Spezialisierung und ArbeitsteilungEntweder „Fachidioten“ oder

ffenkundig steigern Spezialisierung und Arbeitsteilung die Produkti-

vität der Wirtschaft. Denn bei der Herstellung und Verteilung der für einen angemessenen Lebensunter-halt erforderlichen Güter leistet jedes Gruppenmitglied überwiegend nur noch das, was es am besten beherrscht. Man ist nicht mehr, wie in den Anfängen der Menschheit, ein totaler Selbstversorger, der grundsätzlich alles selber produzieren muss, was zum Leben gehört: Nahrung, Bekleidung, Behausung usw. - Der Verfasser als gelernter Jurist hat z. B. infolge nur unzulänglich aus-gebildeter Feinmotorik große Schwierigkeiten, einen Hemdenknopf anzunähen – das dauert ca. 45 Minuten, und es fl ießt meistens Blut -, während er beim Vermeiden und Schlichten von Rechtsstrei-tigkeiten, so meinen jedenfalls seine Freunde, recht effektiv und erfolgreich arbeitet; also viel produktiver

Spezialisierung und Arbeitsteilung erhöhen also den Lebensstandard der Gruppe. Aber auch bei diesem Vorteil gilt das Naturgesetz des Aus-gleichs. An einer anderen Stelle muss ein irgendwie gearteter Nachteil gegenüberstehen. Der Volksmund sagt: „Wo es einen Gewinner gibt, gibt es auch einen Verlierer“, oder „Alles muss sich im Gleichgewicht befi nden“. Das Prinzip der Balance, der Kaufmann nennt es „Bilanz“, durchzieht die gesamte Schöpfung.

Der Nachteil der Spezialisierung besteht in einem Rückgang – bis hin zu einem Verlust – der Kenntnisse bezüglich der Tätigkeiten, die der Spezia-

Mittelpunkt ihres Strebens stellen, sondern die Gewinnmaximierung zugunsten einiger weniger – und dabei Millionen von Menschen in die

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Spezialisierung und ArbeitsteilungEntweder „Fachidioten“ oder

einen angemessenen Lebensunter-halt erforderlichen Güter leistet jedes Gruppenmitglied überwiegend nur noch das, was es am besten beherrscht. Man ist nicht mehr, wie in den Anfängen der Menschheit, ein totaler Selbstversorger, der grundsätzlich alles selber produzieren muss, was zum Leben gehört: Nahrung, Bekleidung, Behausung usw. - Der Verfasser als gelernter Jurist hat z. B. infolge nur unzulänglich aus-gebildeter Feinmotorik große Schwierigkeiten, einen Hemdenknopf anzunähen – das dauert ca. 45 Minuten, und es fl ießt meistens Blut -, während er beim Vermeiden und Schlichten von Rechtsstrei-tigkeiten, so meinen jedenfalls seine Freunde, recht effektiv und erfolgreich arbeitet; also viel produktiver

Spezialisierung und Arbeitsteilung erhöhen also den Lebensstandard der Gruppe. Aber auch bei diesem Vorteil gilt das Naturgesetz des Aus-gleichs. An einer anderen Stelle muss ein irgendwie gearteter Nachteil gegenüberstehen. Der Volksmund sagt: „Wo es einen Gewinner gibt, gibt es auch einen Verlierer“, oder „Alles muss sich im Gleichgewicht befi nden“. Das Prinzip der Balance, der Kaufmann nennt es „Bilanz“, Rubiks Zauberwürfel

Quelle: W

ikipedia

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l Theater war kein Kindheits-traumJana Olschweski über die Arbeit mit der Theater-gruppe „Unter Druck“

Seit Juni 2012 arbeitet Jana als MAE-Mitarbeiterin. Eine ihrer Hauptarbeiten ist die Unterstützung der Theatergruppe von

„Unter Druck – Kultur von der Straße e. V.“. Für den strassenfeger unterhielt sich Detlef Flister mit ihr über die Theaterarbeit.

Detlef Flister: Wie kommt man eigentlich dazu, dass man Schauspielerin wird? Jana: Spät – sehr spät ging‘s los! Nicht schon in der Pubertät wie bei vielen anderen, die schon als Kind in der Schule gespielt und davon geträumt haben, Schauspielerin zu werden. Ich habe nach dem Abi erst einmal Krankenschwester gelernt und zehn Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Ich war mit Anfang zwanzig fünf Jahre in der Kabarettgruppe „Lampenfieber“. Da habe ich sozusagen Blut geleckt, viel Zustimmung bekommen, so dass ich Freude an der Schauspielerei gewonnen habe. Ich habe mir dann überlegt, eine Schauspielausbildung zu machen. Die machte ich selbst finanziert neben dem Beruf, dreieinhalb Jahre in einer Schauspielschule, die auch staatlich anerkannt ist.

D. F.: Bei der Probe zum Stück „Der Untergang“ bist Du dann aufgetaucht und hast erst Jan unterstützt und später die Regie übernommen. Hattest Du vorher irgendwelche Ängste?Jana: Mir ist der Umgang mit Laien-schauspielern nicht unvertraut. In der Kabarettgruppe hatten auch alle andere Berufe, so wie ich Krankenschwester war. Ich habe aber auch schon Theater in einer Suchteinrichtung gemacht. Deshalb war mir solche Arbeit vertraut und ich wusste, dass ich mit anderen Erwartungen an die Sache herangehen musste. Ich habe um Eure Methode gewusst, dass ihr eben keine fertigen Stücke macht. Ich fand interessant, wie Jan das machte, dass er ein Thema im Kopf hat und dazu mit euch etwas erarbeitet. Ich habe daraus gelernt und finde es spannend aus einen Thema mittels Improvisation etwas herauszuholen. Wenn bestimmte Emo-tionen gespielt werden sollten, fiel mir ein, was ich Euch dazu sagen konnte, wie ich Euch weiterhelfen kann. Wo man auf der Bühne noch deutlicher sein kann und

wie. Das hat gegenseitig gefruchtet: Ich habe von euch Improvisation gelernt und konnte euch immer wieder ein paar Tipps geben.

D. F.: Du hast mir gesagt, Du hättest zum ersten Mal Regie geführt. Warst Du sehr aufgeregt? Jana: Ich bin da langsam hineingewach-sen. Hätte man mir gesagt, dass ich hierherkommen und eine Theatergruppe leiten muss, hätte ich bestimmt Muffen-sausen bekommen, weil ich mich nicht als die Leiterin mit den tausend Ideen und dem tollen Handwerk sehe. Zumal Arbeit mit Laien eigentlich Theaterpädagogen machen, die extra dafür ausgebildet sind. Da hatte ich schon etwas Aufregung und die Befürchtung, dass ich Euch nicht auf die Sprünge helfen kann. Das hat aber auch mit „Unter Druck“ zu tun. Hier wird keiner gezwungen, und es hat sich alles von allein gefunden. Ich habe einfach mitgemacht. Dann hatten wir das Stück von Richard (Das Stück „Unter Druck“, Anm. der Redaktion) geprobt. Da hat sich aus der Aufgabenverteilung ergeben, dass jemand das Stück leitet. Da habe ich es aus der Not heraus einfach gemacht. Wenn man vorher nicht so über eine Sache nachgedacht hat, fällt es leichter. Man hat keine Angst.

Jana unterstützt die Theatergruppe von „Unter Druck“

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D. F.: Du arbeitest hier mit Laien. Welchen Unterschied siehst Du zu den Profi s?Jana: Denen gelingt es oft mehr, mich zu berühren, weil sie weniger Handwerk haben und nicht so in der Lage sind, sich professionell zu schützen. Sie sind einfach weniger maskiert als Profi s, was gerade ihren besonderen Wert ausmacht. Sie haben zwar nicht dieses Repertoire. Sie können nicht auf Bestellung, auf Knopfdruck Halli-Galli machen, sind daher freier heraus. Das fi nde ich gerade interessant an Laien. Es ist interessant, ihnen etwas zu zeigen. Und sie haben immer etwas Authentisches – eine unfreiwillige Authentizität! Ihnen passieren mehr Fauxpas, die Profi s nie passieren würden. Aber gerade das macht sie menschlich und irgendwie liebenswert. Das Publikum weiß das auch, und das hat einen Charme, eine Faszination, den in dieser Art die Profi s nicht mehr haben. Bei denen ist das schon weggeschult!

D. F.: Bei „Unter Druck“ spielen ja auch Obdachlose und Alkoholiker. Da ist die Arbeit bestimmt schwieriger als bei Profi s?Jana: Das ist auf jeden Fall so. Vor allem in den Pausen fällt das auf. Die Gruppendynamik ist etwas anders. Die Leute sind auch bei „Unter Druck“ sensibler, auf ihre Art oft aber auch trotzdem sehr zielgerichtet. Es ist auch etwas anderes in einem Treff für Wohnungslose wie „Unter Druck“, die Leute überhaupt zu locken, zu begeistern für Theater. Das war recht schwierig und es hat lange gedauert, die Leute zu bei der Stange zu halten. Ich glaube, dass das sehr viel mit „Unter Druck“ zu tun hat, dass jeder einfach gelassen wird, wie er ist. Auch ich kann sehen wie Leute sind und sie so zu lassen wie sie eben sind. Ohne sie zu verändern und anzupassen. Es ist sich nicht immer leicht zu proben. Ich habe nie einen Grund gesehen, Euch die Leviten zu lesen oder Euch anzumeckern. Mancher Profi regisseur hätte sicherlich versucht über strenge Regeln mehr Disziplin in die Truppe zu bringen. Ich glaube, das Schöne ist, wenn man Disziplin nicht fordert, sondern wenn sie von selber kommt.

D. F.: Hast du denn Befürchtungen bezüglich deiner Arbeit gehabt, als Du hier angetreten bist?Jana: Ich habe mir „Unter Druck“ unter acht Möglichkeiten selbst ausgesucht, habe den Verein nicht gekannt, hätte auch zu „Akut“gehen können, wenigstens ein richtiges Theater, auch in die Lehrter Straße, aber irgendwie hat mich das am meisten gepackt und interessiert. Kultur von der Straße, wow! Dass es hier im Wedding Theater mit Wohnungslosen gibt, habe ich gar nicht gewusst. Aber gerade, weil ich es nicht kannte, bin ich hier hergekommen.

D. F.: Manchmal gab es bei „Unter Druck“ Situa-tionen, wie bei der Generalprobe. Bekommt man da das Gefühl, aufzugeben oder zu sagen, ich will nicht mehr?Jana: Nein, dieses Gefühl hatte ich eigentlich nie, obwohl ja eines der Mitglieder mächtig ausrastete und wir – auch dadurch einfach irgendwie nicht weiterkamen. Irgendwie blieben der Wille, die Kraft und Zuversicht immer erhalten und wurden mir nie – auch nur andeutungsweise – genommen. Das war zwar ein unheimlicher Druck, auch weil ich in meiner Position mich um sehr viel kümmern musste. Normalerweise kümmert sich einer um Kostüme, der andere macht Regie, ein anderer Regieassistent. Das blieb ja fast alles an mir hängen. Den Druck erhörte auch die Tatsache, dass wir Projektförderung hatten und daher unbedingt etwas präsentieren mussten. Gerade die letzten zwei, drei Wochen hatte ich immer irgendetwas im Kopf und dann kam auch noch Jan und forderte: Du musst das jetzt zu Ende führen, gerade regie-mäßig, damit das überhaupt noch etwas wird.

D. F.: Das war ja sehr schwierig bei den Proben, noch wenige Tage vor der ersten Vorstellung konnten wir kaum eine Szene selbstständig spielen. Bei mir war es immer das Ding, dass ich gedacht habe, das führst Du zu Ende. Notfalls gehst du eben mit fl iegenden Fahnen unter. Wie war es bei Dir?Jana: Ja, ihr seid als zweite Theatergruppe „Unter

Druck“ erst vier Wochen vorher eingesprungen. Das war echt die Sicher-heitsleine für uns. Den Gedanken „Werden wir überhaupt noch etwas hinkriegen, oder werden wir Grund haben, uns hinterher zu schämen“ hatte ich schon. Aber, ich habe gesehen, dass es möglich ist. Ich habe gedacht: Machen wir das Beste aus der Situation und viele andere Gott sei Dank auch. Dann ist es doch noch richtig gelungen. Gerade die Schwierigkeiten, auch bei der Generalprobe, haben uns vorher noch fester zusammenkommen lassen. Vieles war noch unklar. Aber jeder kämpfte um das Projekt und war an seinem Gelingen interessiert. Ein paar Tage vorher, konnte man da nicht mehr viel erklären. Jeder musste jetzt seine Rolle so angehen wie er sie verstanden hat. Es ging eigentlich nur noch darum, alles grob so hinzukriegen, dass das Publikum das Stück halbwegs versteht. Da sind denn plötzlich Wunder passiert. Leute sind in ihren Rollen aufgegangen und haben dadurch das ganze Stück getragen. Es war was ganz, ganz toll, das zu sehen.

D. F.: Was kannst Du Dir denn als Schauspielerin so mitnehmen?Jana: Das Wichtigste war den Sinn und Wert der Improvisation zu begrei-fen. Ich habe das als Fach in meiner Schauspielausbildung gehasst. Ich hatte zwar auch Ehrgeiz, wollte meine Rolle gut spielen und ausfüllen, aber die Fähigkeit sich noch mehr auf Rollen einzulassen und das, was andere sagen, bezüglich der Spielmöglichkeiten einer Rolle, ist dadurch größer geworden

D. F.: Willst Du den Lesern des strassenfeger noch etwas mit auf den Weg geben?Jana: Die meisten, die ich wegen Theaterspielen angefragt habe, haben immer geantwortet, dass sie zu Hause schon genug Theater hätten. Ich kann sie nur ermuntern, einfach mal in die Probe von „Unter Druck“ hineinzuschauen. Viele haben erst einmal Angst, wenn sie aufgefordert werden. Aber es kann auch eine Chance sein andere Leute kennenzuler-nen, sich soziale Kontakte aufzubauen, Spaß zu haben, mal mit etwas Anderen beschäftigt zu sein und auf ein Ziel hinzuarbeiten. Das ist ein sehr schönes Gefühl. n

Plakat „Unter Druck“

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Sein Leben ist der Stoff, aus dem Roadmovies und Entwicklungsromane sind Klaus Staeck zum 75. Geburtstag

Er ist Jurist und Karikaturist, Verleger und Kolumnist, Aktivist und Galerist, Gastdozent und AdK-Präsident, Unter-nehmer, Ironiker, Satiriker und Grafiker, ein Meister der kurzen Form, der seine

Botschaften in einer Millionenauflage verbrei-tet, immer in Bewegung, denn seit fast einem Jahrhundert unermüdlich und medienwirksam unterwegs in Sachen Kunst, Politik und Demo-kratie kreuz und quer durch die geteilte und dann wiedervereinigte Republik: Klaus Staeck ist ein Mensch, der sich nie in den Vordergrund drängt, und doch im Mittelpunkt des Geschehens steht. Er ist vorsichtig und risikobereit, beschei-den und prominent, analytisch und utopisch, altmodisch und seiner Zeit häufig voraus,

halt ein Prophet im eigenen Land, obwohl er bestreitet, ein Hellseher zu sein. Klaus Staeck ist politisch, ohne sich von der Politik verein-nahmen zu lassen, er provoziert und schlichtet, er fällt nicht auf – und hat durch die Art, sich

zu kleiden: dunkelblaues Sakko, dunkelblauer Pullunder und blau oder rot gestreiftes Hemd, manchmal ein roter Schal um den Hals – einen hohen Wiedererkennungswert. Sein randlos bebrillter Blick ist ernst und spöttisch, ironisch und mild, kritisch und doch mit viel Nachsicht für die Schwächen und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur. Klaus Staeck ist also eine Person, die scheinbar unvereinbare Gegensätze vereinbart und einsetzt, um seine zahlreichen Aktivitäten mit einer schier übermenschlichen Energie, Disziplin und ja, Sendungsbewusstsein fortzuführen und sich neuen Aufgaben zu stellen. Das gelingt dem in Pulsnitz bei Kamenz unweit von Dresden geborenen Sachsen vor allem deshalb, weil er großen Wert darauf legt, unabhängig zu bleiben. „Für mich ist finanzielle Unabhängigkeit die wirkliche Unabhängigkeit“, betont er. „Alles andere ist Gerede.“

Am 28. Februar wird Klaus Staeck 75. Sein Leben, das wie eine Mischung aus Roadmovie und Entwicklungsroman anmutet, kennt keinen Stillstand und trotzt der Zeit, denn das Geburts-tagskind scheint nicht zu altern. Vielleicht, weil der Mann keine Zeit dazu hat wegen der vielen Pflichten und Rollen, dem Präsidieren und Repräsentieren, dem Pendeln zwischen Berlin und Heidelberg, dem Agieren für mehr Demokra-tie und Gerechtigkeit, dem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Bilder und Worte, und vor allem daran, dass das, was er, der überzeugte Aufklärer, tut, wichtig ist für andere Leute. So wichtig und gefragt, dass er als Künstler ins Guinness-Buch der Rekorde gehört: Seit 1962 hat er 350 Plakate und Postkarten entworfen

und in einer Auflage von etwa 30 Millionen Exemplare produziert! Seine Arbeiten: Plakate, Fotos und Multiples wurden bisher in rund 3.000 Einzelausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Somit ist Klaus Staeck sicherlich der auflagenstärkste Grafiker sowie ein Künstler mit den meisten Ausstellungen in Deutschland, womöglich sogar weltweit, einer, der von Anfang an die Kunst als Massenware vertreibt und präsentiert, um seine singulären Botschaften unters Volk zu brin-gen. So wie er als Mensch viele widersprüchliche Fähigkeiten und Begabungen in sich vereint, hat er stets ein sicheres Gehör und einen unverstellten Blick für die Wirklichkeit, deren Absurdi-täten, Brüche und Widersprüche er nur mit Ironie ertragen und sichtbar machen kann. Als Auto-didakt beginnt er in den 1960ern, abstrakt zu malen und geome-trische Holzschnitte zu machen, die ihn jedoch nicht zufrieden stellen. Es sind turbulente Zeiten, in denen neue Freiheiten erobert und alte Grenzen überwunden werden, ein allgemeiner Aufbruch,

von dem auch die Kunst erfasst, verändert und demokratisiert wird. Die Kunst ist damals eine zu ernste Angelegenheit, um sie wie bisher den Akademikern und Bildungsbürgern zu überlassen.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Klaus Staeck ist neben seinem Freund und Weggefährten Joseph Beuys der Künstler, der zur Erweiterung des Kunstbegriffs und Verbrei-tung der Kunst in einem bis dato unbekannten Ausmaß beigetragen hat. Anfang der 1970er Jahre entdeckt er die Fotomontage aus Bild und Schriftzug als sein eigenes Ausdrucksmittel und Markenzeichen. Er kombiniert bekannte Motive aus der Kunstgeschichte, aus den Zeitungen, aus dem gesellschaftlichen und politischen Alltag mit Texten, die sich tief ins Gedächtnis einprä-gen, weil sie subversive oder leicht verständliche Inhalte ironisch vermitteln. Die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit nutzt Staeck, um eine Kunst zu schaffen, die für alle zugänglich ist, die die Gesellschaft und Politik

aus ihrer Routine zu wecken und aufzurütteln vermag, die Diskussionen anregt, Gedanken-prozesse und Veränderungen in Gang setzt. Seine Plakate, Postkarten und Aufkleber sind eine Sensation, denn sie werben weder für eine Veranstaltung noch für ein Produkt, sondern zeigen auf eine manchmal subtile, manchmal sehr direkte Weise die Wirklichkeit und wie

sie von den Medien und Politikern verfälscht, verbogen oder schöngeredet wird. Klaus Staeck hat nicht nur ein Gespür für Themen, die in der Luft liegen und die Menschen in beiden Teilen Deutschlands bewegen, sondern eine außer-gewöhnliche Begabung, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Dieser richtige Ort ist der öffentliche Raum, die Straße, die Litfaßsäule, die Hauswand, der Zaun. Somit ist Klaus Staeck wohl der erste Vertreter der Street Art, lange Zeit bevor dieser Begriff erfunden wird.

Parolen und Praxis

Banner mit Sprüchen, welche die Werktätigen zu mehr Leistung und Engagement anspornen sollen und ihnen eine Beteiligung am gesell-schaftlichen, politischen und Wirtschaftsleben vorgaukeln, kennt der spätere Plakatkünstler aus seiner Zeit in der DDR. Seine Kindheit und Jugend verbringt er in Bitterfeld, dem Zentrum der chemischen Industrie im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“, von dem es heißt: „Auf allen Märkten der Welt

– Chemie aus Bitterfeld!“ In Wirklichkeit ist die

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Sein Leben ist der Stoff, aus dem Roadmovies und Entwicklungsromane sind Klaus Staeck zum 75. Geburtstag

schwer leben lässt. Also studiert er von 1957 bis 1962 Jura in Heidelberg, Hamburg und Berlin, wonach er, nach dem Ersten und Zweiten Staats-examen, 1968 eine Zulassung als Rechtsanwalt in Heidelberg und Mannheim erhält. Doch bereits drei Jahre zuvor gründet er die Edition Tangente in Heidelberg, in der er Multiples und Druckgrafi ken von Künstlern veröffentlicht, die später zu den Stars und Koryphäen des internationalen Kunstmarkts zählen werden: Beuys, Polke, Panamarenko, Dieter Roth, Wolf Vostell, Nam June Paik, Daniel Spoerri und viele andere. Denn außer der Gabe, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, hat Klaus Staeck auch das Talent, die richtigen Leute zu treffen.

„Diese Künstler haben mich interessiert, weil sie die Kunst nicht auf den engen Galerierahmen beschränken, sondern sie mit dem Leben zusam-menbringen wollten“, sagt er. „Ich bin immer mehrgleisig gefahren – als Verleger, Jurist und Künstler. Die Edition (Tangente und danach bis heute Staeck) war eine Geschäftsidee, denn ich habe mir nie Illusionen gemacht, dass man ohne Existenzgrundlage funktionieren kann.“

Ein Politiker zerreißt ein Plakat Klaus Staeck nennt das, was er macht, „Demo-kratiebedarf“, denn für einen Menschen mit

Diktaturerfahrung ist die Demokratie ein kost-bares Gut, das ständig beschützt, verteidigt und aufgemischt werden muss. Weil der Künstler ein politischer Mensch ist, dessen Herz trotz oder wegen der Jugend in der DDR links schlägt, gehört er seit dem 1. April 1960 als ein treues Mitglied der SPD an, die er mit seinen Mitteln und Möglichkeiten immer wieder unterstützt, ohne parteiisch zu agieren. Doch sein größter Feind und Helfer war die CDU. Das waren noch Zeiten, als die Kunst solche Reaktionen hervorrief, dass sich der längst vergessene Politiker Philipp Jenninger am 30. März 1976 dazu hinreißen ließ, ein Staeck-Plakat, nämlich das mit der Aufschrift „Seit Chile wissen wir, was die CDU von der Demokratie hält“, zu zerreißen, wofür er im Nachhinein zu einer Schadensersatzzahlung von … 10 DM an den Künstler verurteilt wurde. Die Ausstellung in der Parlamentarischen Gesell-schaft in Bonn wurde noch am selben Abend geschlossen. So merkte Klaus Staeck damals nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, dass es auch in einer Demokratie nicht leicht ist, ein kritischer Künstler zu sein: Insgesamt 41 Prozesse wurden gegen seine Kunst geführt, doch er hat sie alle erfolgreich überstanden und gewonnen.

Empathie für Lebenskünstler

Die Zeiten, als die Kunst solche Leidenschaften entfachte, Juristen auf den Plan rief und für große mediale Aufmerksamkeit sorgte, sind vorbei. Klaus Staeck ist ein Pionier der Street Art und ein Klassiker, der in der Ver-gangenheit für viel Aufsehen gesorgt und der kritisch-ironischen Kunst zu einem Durchbruch verholfen hat. Der mehrfache Teilnehmer der documenta (5, 6, 7 und 8) sowie Gastdozent an der Gesamthochschule Kassel und an der Kunstakademie Düsseldorf wurde Ende April 2006 überraschend zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt – und bekleidet dieses Ehrenamt nach dem Willen der fast 400 Akademiemitglieder bereits in dritter Amtszeit, was auch rekordverdächtig zu sein scheint. Er ist ein Präsident und ein Künstler mit einer großen Empathie für Lebenskünstler, die ihr Dasein auf der Straße oder ohne festen Wohnsitz fristen. Wie die Verkäuferinnen und Verkäufer des strassenfeger, die er in der Aktion „Ein Dach über dem Kopf“ unterstützt. Und er schätzt unsere soziale Straßenzeitung auch als ein Magazin, in dem es fundierte und professionelle Kunsttexte gibt. Deshalb stand er uns immer wieder als Gesprächspartner zur Verfügung und wählte den strassenfeger zum Medienpartner der AdK: 2008 bei der Heinrich-Zille-Ausstellung „Ein Berliner Leben“ und 2011 bei der außergewöhnlichen Schau „Sigmar Polke. Eine Hommage. Bilanz einer Künstlerfreundschaft Polke/Staeck“, die am Pariser Platz 4 unter großer Publikumsbetei-ligung stattfand, worüber der strassenfeger in aller Ausführlichkeit und wiederholt berichtete. Wir wünschen also dem Jubilar noch viel Kraft, Energie und Gesundheit, damit er seine Aufga-ben wie gewohnt in Superlativen erledigen kann. Möge er, wie man in Polen sagt, „Sto lat – Hun-dert Jahre“ leben, um uns mit neuen Ideen aus dem „Demokratiebedarf“ zu überraschen und zum gemeinsamen Handeln zu bewegen.

n Urszula Usakowska-Wolff

Wirtschaft wie überall in der DDR unterentwickelt, das elektrochemische „volkseigene“ Kombinat vergiftet das Volk und verpestet die Umwelt. Obwohl er aus Bitterfeld bereits mit 18 Jahren über Wuppertal nach Heidelberg fl üchtet, hatte ihn die dort verbrachte Zeit gelehrt, genau hinzuhören, ob die Parolen mit der Praxis übereinstimmen. Und auf diese Kluft genau hinzuweisen, auch in Westdeutschland. Klaus Staeck verlässt die DDR, um unabhängig zu sein und ein Künstler zu werden, doch sein nüchtern-analytischer Verstand sagt ihm, dass er zuerst einen Brotberuf erlernen soll, denn Kunst ist zwar schön, macht aber bekanntlich viel Arbeit, von der es sich meistens nicht oder sehr

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Klaus Staeck

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Recht auf Wohnen oder WohnungsmarktWohnen wird in Berlin Luxus

Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) vom 19. Dezember 1966 erkennt ein Recht eines Bürgers in den Vertragsstaaten auf angemessene Unterkunft an

im Artikel 11 „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unter-bringung, sowie stetige Verbesserung der Lebensbedingungen“. Die Bundesregierungen haben diesen Pakt am 19.10.1968 unterzeichnet und am 17.12.1973 ratifi ziert. In Kraft getreten ist er am 03.01.1976 (BGBl 1976 II, 428). Recht auf Wohnen ist Teil des Rechtes auf angemessenen Lebensstandard nach Art. 11.

Der Wohnungsmarkt in Berlin hat sich in den letzten Jahren zum akuten Wohnungsmangel gewandelt. Die Mieten steigen. In einer Studie des Immobilienverbandes IVD heisst es, dass sich der Anstieg der Mieten in Berlin beschleunigt. Die Schwerpunktmiete für die Standardwohnlage lag 2006 bei 5,50 €/m², 2007 bei 5,60 €/², 2008 5,75 €/m², 2009 5,80 €/m², 2010 6,00 €/m², 2011 6,20 €/m² und 2012 6,70 €/m².

Es gibt nicht genug Wohnungen- schon gar nicht für Menschen mit geringem EinkommenDer Wohnungsmarkt in Berlin ist angespannt, wir haben mehr Haushalte als Wohnungen. Im Jahr 2002 gab es in Berlin 1.858.000 Privathaus-halte. Bis Ende 2011 ist die Zahl der Haushalte um 137.000 auf 1.995.231 angestiegen. Für die 1.995.000 Haushalte stehen 1.90.000 Wohnungen zur Verfügung. 92.000 Haushalte können nicht versorgt werden. Die

3.499 Wohneinheiten, die 2011 errichtet worden sind, entlasten den Wohnungsmarkt in Berlin nicht. Die angespannte Situation trifft nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichmäßig. Es fehlen vor allem kleine preiswerte Wohnungen.

Mangelsituationen treffen ökonomisch schwache Haushalte in einem besonderen Maß. Arme Mieter verdrängen bereits ganz arme. Bereits im Juli 2011 hat das „MieterEcho“ in einem Interview mit der Sozialwis-senschaftlerin Emsal Kilic von der „Initiative gegen Gewalt an Frauen e.V.“ darauf hingewiesen. Der Beitrag heißt „Wohnungsmarktprobleme treffen ökonomisch benachteiligte Gruppen“.

Die Aktivisten von der Koepi lassen sich nicht vertreiben!

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Finanzindustrie verschärft Situation auf Berliner WohnungsmarktBerlin ist vor München und London der Immobilienmarkt in Europa. Bereits 2011 deutete sich das an.

Der Senat von Berlin hat im Jahr 2004 das damals hoch verschuldete Wohnungsbauunternehmen GSW an Fonds der Investmentgesellschaften „Goldman Sachs“ und „Cerberus“ verkauft. Die GSW war mit 65.000 Wohnungen die größte kommunale Wohnungsbaugesellschaft in Berlin. Sie war hoch verschuldet und die Investmentgesellschaften haben die Schulden übernommen. Mit dem Verkauf hat das Land Berlin Einfluss auf dem Wohnungsmarkt verloren. Die seit Monaten anhaltenden Proteste gegen die Geschäftsgebaren der GSW zeigen, die beim Verkauf geäußerten Befürchtungen der Mieterorganisationen sind nicht unbegründet. Jetzt, da der Woh-nungsmarkt angespannt ist, zeigt sich, die Rechte, die die Mieter vor dem Eigentümerwechsel hatten, sind beim Verkauf auf der Strecke geblieben. Die Investoren „Cerberus“ und „Goldman Sachs“ haben die GSW mit außerordent-lich guter Rendite an die Börse gebracht. Auf Kosten der Mieter.

Der Verzicht des Senats von Berlin, für Sozialwohnungen, die aus der Förderung entlassen werden, eine Anschlussför-derung zu schaffen, macht Mieterhöhungen, wie sie die GSW in Kreuzberg erheben wollte, möglich. Die einzige Grenze, die der Gesetzgeber für solche Sozialwohnungen vorgesehen hat, ist die Kostenmiete. Hier werden nach Angaben von Seba-stian Jung durch Verordnungen ermöglicht, bei der Ermittlung des Mietzinses Kosten geltend zu machen, die abgeschrieben sind und der aktuelle Eigentümer gar nicht aufbringen musste.

Eingriffe in den Markt sind unumgänglichDer soziale Wohnungsbau ist ein Kind des I. Weltkrieges. Die gesundheits-schädlichen Verhältnisse in den feuchten, engen, überbelegten Woh-nungen sollten der Vergangenheit angehören. Damals. Wohnen wurde als Recht anerkannt und der Staat gab, um das Recht zu gewährleisten, Geld aus. Die Siedlungen der Moderne, die damals errichtet wurden, sind jetzt Kulturerbe. Auch nach dem II. Weltkrieg war es sozialdemokratische Politik, mit staatlichen Interventionen in den Markt einzugreifen. Zurzeit

haben die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften einen Anteil von 16 Prozent am Bestand der Mietwohnungen in Berlin. Die Wohnungsbau-genossenschaften haben einen Anteil von elf Prozent. Die Marktmacht der in der BBU zusammen geschlossen Wohnungsunternehmen ist in Berlin begrenzt. Hier sind ein sozialer Wohnungsbau und ergänzende Maßnahmen wie beispielsweise Belegungsrechte erforderlich.

Das geht nicht ohne Mittel der öffentlichen Hand. Doch der Berliner Senat hat im November 2011 mit dem „Sanierungsprogramm des Landes Berlin 2012 – 2018“ die kontinuierliche Kürzung der Mittel von 460 Mio. Euro für 2011 bis 2016 um 311,7 Mio. Euro beschlossen.

Im Bericht des Bundesfinanzministeriums vom November 2010 über die Finanzsituation der Kommunen wurde der Schuldenstand der Kommunen in der Bundesrepublik auf 111 Mrd. Euro beziffert, Tendenz steigend. Die Finanzausstattung der meisten Kommunen sorgt dafür, dass die Städte und Gemeinden hilflos auf Änderungen des Wohnungsmarkts reagieren und die Menschen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen mit ihren Sorgen allein lassen. Das Bündnis „umFairteilen“ hat Vorschläge gemacht, hier für nachhaltige Verbesserung zu sorgen. Die Vorschläge werden aus ideologischen Gründen abgetan. Der Wissenschaftler Dr. Achim Truger von der Hans-Böckler-Stiftung hat die Einnahmeausfälle für 2012 durch die „Steuerreform“ der Bundesregierung von 2000 bis 2005 in seinem Beitrag „Finanzpolitisches Streichkonzert“ für das „MieterEcho“ 01/11 „Leere Haushaltskassen“ mit 50 Mrd. Euro beziffert.

Für Berlin kommt eine Besonderheit hinzu: Die Berlinpräferenz. So lange die Mauer stand, wurde Berlin mit Bundesmitteln am Leben gehalten. Die Art der Berlinförderung verhinderte eine nachhaltige Struktur der Industrie- und Gewerbeansiedlungen. Die Kappung quasi von einem Tag auf den anderen hat Berlin in die Schuldenfalle geführt.

Signale der LokalpolitikAn dem Thema Wohnen kommt die Politik in Berlin nicht vorbei. Die Politik hat reagiert, mit dem „Bündnis für soziales Wohnen und bezahl-

bare Mieten“. Das kann ein richtiger Schritt in die richtige Richtung sein, muss es aber nicht. Ein Pferdefuß an diesem Bündnis ist, dass der Einfluss der kommunalen Wohnungsbauge-sellschaften auf dem Wohnungs-markt gering ist. Der Ausverkauf kommunalen Eigentums hat den Anteil am Wohnungsmarkt auf 16 Prozent schrumpfen lassen. Die Begrenzung der Miete, zu der die kommunalen und genos-senschaftlichen Wohnungs-baugesellschaften vertraglich verpflichtet wurden, schützen einkommensschwache Mieter nur unzureichend. Um Mieter vor Vertreibung zu schützen, sind weitergehende Eingriffe in den Wohnungsmarkt unumgänglich. Die Politik tut sich schwer damit.

FazitBerlin ist nur die Spitze. In anderen Großstädten sieht es auf dem Wohnungsmarkt nicht wesentlich besser aus. Die Bundesrepublik Deutschland kommt nur unzureichend seinen Verpflichtungen aus dem Inter-

nationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nach, ökonomisch schwache Haushalte vor sozialen Risiken ausreichend zu schützen. Das Recht auf Wohnen wird nur unzureichend gewährt. Die Abwälzung der finanziellen Folgen sozialer Risiken auf die Kommunen entwertet zusammen Austeritätspolitik („Sparsamkeit“), die in der so genannten Schuldenbremse gipfelt, die in der Vergangenheit geschaf-fenen Instrumente zur Gewährung der Rechte.

n Jan Markowsky

Auch am „Kotti“ wird gegen Vertreibung gekämpft

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8 www.strassenfeger.org 8 www.onewarmwinter.org 8 www.dojofuckingyeah.de und 8 www.groupon.de

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„One Warm Winter – Das Leben ist kein U-Bahnhof!“ Eine famose Spendenkampagne für die Obdachlosen in Berlin!

Diesmal waren keine Stars am Start. Stattdessen waren es „nur“ die Macher und Organisatoren unserer Spen-denkampagne „One Warm Winter – Das Leben ist kein

U-Bahnhof“, die an einem kalten Montagnachmittag am Vertriebswagen des strassenfeger vor der Bahnhofsmission Flagge zeigten und die Herzen vieler Obdachloser ein wenig erwärmen konnten. Im Klartext: Mitarbeiter des strassen-feger, die Jungs von der Kreuzberger Werbeagentur DOJO sowie Sophie Guggenberger, Unternehmenssprecherin von „Groupon“, verteilten warme Winterjacken, kuschlige Thermounterwäsche, Sweatshirts, T-Shirts, Wollsocken, Handschuhe und Mützen an hunderte von obdachlose und arme Menschen. Diese Kleidungsstücke haben wir von den Einnahmen der Spendenkampagne „One Warm Winter“ gestemmt.

Mittlerweile zum dritten Mal sammeln die soziale Straßen-zeitung strassenfeger und die Werbeagentur DOJO Geld für warme Winterklamotten ein. Unser Motto in diesem Jahr: „Das Leben ist kein U-Bahnhof!“ Denn: Der Winter in Berlin ist bekanntermaßen kalt. Oft sogar sehr kalt. Im vergangenen Jahr wurden Temperaturen weit unter minus 10°C gemessen und auch in diesem Jahr hält der Winter uns schon lange in seinem eisigen Griff. Für ungezählte Obdachlose in der Hauptstadt bedeutet dies nicht nur die schwerste Zeit des Jahres – viele erkranken wegen permanenter Unterkühlung. Der Grund: De wenigen Notunterkünfte sind häufig überfüllt, und an den meisten Ausgabestellen herrscht akuter Mangel an ausreichender Winterkleidung. Deshalb wollen wir auch 2013 wieder helfen. Mit dabei in diesem Jahr ist das Online-Rabatt-Portal „Groupon“. Die Idee dahinter: Der junge, populäre Anbieter von Online-Rabatt-Aktionen unterstützt „One Warm Winter“ mit einem Charity-Deal. Nutzer konnten über die Plattform einen Euro spenden. Zwischen dem 10. und 20. Januar erzielte der „One Warm Winter“-Charity-Deal eine beachtliche Summe in Höhe von 35.000 Euro.

Übrigens: Die Kampagne läuft natürlich weiter. Gerade haben wir von dem bereits gespendeten Geld weitere Winterjacken und warme

Unterwäsche gekauft, die wir zeitnah ausgeben werden. Leider ist es gar nicht so einfach, enagierte Unterstützer zu finden. An dieser Stelle deshalb auch ein großes Dankeschön an die Bekleidungsfirmen „H&M“ und „Zalando“, die diese Aktion kräftig unterstützt haben! Und natürlich an alle Unterstützer und Spender! Ihr habt den Winter ein wenig wärmer für viele Menschen gemacht!

n Andreas Düllick

Mehr Infos dazu auf den Webseiten von:

Ausgabe von Kleiderspenden am Bahnhof Zoo

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8 www.pnn.de/potsdam/722158/8 http://de.wikipedia.org/wiki/Opus_Dei

Geschlechtsgetrennte Privatschulen sind zulässig!Geht es nach dem BVG Leipzig, dann erhält Potsdam die erste reine Jungenschule der neuen Bundesländer

Am Mittwoch den 30. Januar dieses Jahres fällte das Bundesverwaltungsgericht ein nicht unumstrittenes Grundsatzurteil über die Geschlechtergerechtigkeit

auch in der Schulbildung. Über fast ein Jahrzehnt dauerte der Rechtsstreit eines dem Opus Dei nahe stehenden Bil-dungsträgers mit dem Land Brandenburg über die Errichtung einer reinen Jungenschule in Potsdam. Brandenburg lehnte den Antrag ab und verwies dabei nicht zu Unrecht auf den §§ 3 des Landesschulgesetz, wonach Schulen im Land so zu gestalten sind, „dass gleicher Zugang, unabhängig von der wirtschaftlichen und sozialen Lage, der nationalen Her-kunft, der politischen oder religiösen Überzeugung und des Geschlechts, gewährleistet wird“. Gegen viele Erwartungen gelangte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu einer anderen Überzeugung und versagte dem Land Brandenburg das Argument der geschlechterunabhängigen Bildungsgleich-berechtigung. Guido Fahrendholz sprach für den strassenfeger darüber mit Stefan Breiding, Pressesprecher des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg.

strassenfeger: Was spricht gegen den Paragrafen 3 ihres Landesschul-gesetzes? Stefan Breiding: Die Richter am Bundesverwaltungsgericht haben augenscheinlich, die garantierte Privatschulfreiheit höher bewertet als unsere rechtlichen Regelungen, im Besonderen das Landesschulgesetz des Landes Brandenburg, was wir außerordentlich bedauern. Wir sind auch weiterhin davon überzeugt, dass die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen in unseren Schulen, eine Grundvoraussetzung ist, um sie optimal auf eine heterogene und vielfältige Gesellschaft vorzubereiten und dies auch ein entscheidender Beitrag ist zur Geschlechtergerechtigkeit. Der Gleichheitsgrundsatz des Paragraphen drei des Schulgesetzes ist unzweifelhaft.

sf: Dieser Rechtsstreit hat fast zehn Jahre gedauert. Hat der Ausgang nun auch Signalwirkung auf ähnliche Entwicklungen in den anderen Bundesländern?S. B.: Ich glaube, dass dieses Urteil tatsächlich eine bundesweite Rele-vanz hat. Die Tatsache, dass sich das Bundesverwaltungsgericht diesen Fall auf den Tisch gezogen hat und hier eine grundsätzliche Entscheidung getroffen hat, lässt davon ausgehen, dass diese Frage letztinstanzlich ausgeurteilt ist.

sf: Dem Land Brandenburg wurde von Seiten der Trägerschaft und der Eltern oft vorgeworfen, ihre Nähe zu Opus Dei hätte die ablehnende Haltung zu einer reinen Jungenschule begründet?S. B.: Für die Bewertung des Antrags der Träger war es nicht relevant, welche Weltanschauung der Träger hat. Das steht uns laut geltender Rechtslage auch gar nicht zu, darüber zu befi nden. Es sei denn, wir können nachweisen dass ein Träger nicht mehr auf den Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung agiert und diese sogar abschaffen möchte. Wir nehmen aber zur Kenntnis, dass Opus Dei als Einrichtung hoch umstritten ist.

sf: Dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes lässt keine weiteren juristischen Entscheidungen darüber mehr zu. Wie geht‘s nun weiter?S. B.: Wir haben eine Grundsatzentscheidung darüber bekommen, über die Argumentation zur Ablehnung einer reinen Jungen und/oder Mädchenschule. Das heißt, wir dürfen einen Antrag darüber nicht mehr ablehnen. Natürlich bleibt es aber dabei, dass der Träger nun einen erneuerten Antrag vorlegen muss. Darin muss er eine Reihe von formal rechtlichen und schulfachlichen Anforderungen erfüllen. Dabei geht es

um den Nachweis der ausreichenden Qualifi kation der Lehrer die dort eingesetzt werden, um das schulpädagogische Konzept und es geht mit Sicherheit auch darum, dass der Träger nachweisen muss, wie er Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in angemessener Art und Weise seinen Schülern an einer reinen Jungenschule vermitteln will. #

Zusätzliche Infos:

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www.strassenfeger.org

Prenzlauer Allee 87Telefon: 030 - 24 62 79 35Email: [email protected]

Montag bis Freitag: 8.00 Uhr — 18.00 Uhr

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Planetarium

Bezirks-amt

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Die Bedürftigkeit muß unaufgefordert nachgewiesen werden!

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Musik„Orgelvesper“

An jedem Samstag gibt es Musik in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Bei den Abendmusiken mit freiem Eintritt handelt es sich um Orgelvespern und Bach-Kantaten-

gottesdienste. Die Orgelvespern bieten ein abwechslungsreiches Programm mit Gastorganisten aus dem In- und Ausland. In den Bach-Kantate-Gottesdiensten werden vollständige Bach-Kantaten in liturgischer Form durch den Bach-Chor, durch das aus Mitgliedern der großen Berliner Orchestern beste-hende Bach-Collegium und durch hochkaratige Gesangssolisten unter der Leitung von Achim Zimmermann aufgeführt.

Samstags, um 18 Uhr

Eintritt frei! Aber um eine Spende wird gebeten.

Kaiser-Wilhelm-GedächtniskircheBreitscheidplatz10789 Berlin

Info: www.gedaechtniskirche-berlin.de

Bildnachweis: www.orgelgalerie.de

Ausstellung„Die Fragilität des Seins”

Die Künstlerin Sandra Strack zeigt ihre Arbeiten zum Thema „Die Fragilität des Seins“ in der Galerie „Kunst-Projekt Forma:t“. Thematisch ähnlich angesiedelt sind die Arbeiten der Gastkünstler Christoph Damm aus Berlin und Craig Mussman aus Kansas City, USA. Die im Kunstzimmer eins gezeigten Objekte und Bilder von Sandra Strack beschäftigen sich mit der Fragilität des Seins, mit der Kraft aber auch mit der Endlichkeit des Lebens, sowie mit dem immer-währenden Prozess des Werdens und Zerfallens. Amorphe Formen erzeugen hier Assoziationen von Skeletten, Korallen, Wurzelsyste-men, Gefäßsystemen, Radiolarien. Intensiv beschäftigt sich die junge Künstlerin mit dem Kreislauf des Lebens, welcher darin besteht, dass ständig etwas vergeht, zerfällt, sich auflöst, in andere Materie übergeht und wieder etwas Neues entsteht. Dinge entwickeln sich, wachsen, gedeihen, um dann auch wieder zu zerfallen. Das Spiel mit dem Schwebezustand zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Leben und Tod, spiegelt das Leben als Prozess, als ein Mysterium des Universums wider und lässt die Kraft aber auch die Zerbrechlichkeit des Lebens spüren.

Noch bis zum 2. März,

Dienstags bis samstags jeweils von 14 Uhr bis 19 Uhr

Eintritt frei!

Galerie Kunstprojekt Forma:tBülowstr. 5210783 Berlin

Info und Bildnachweis: www.kpf2012.com

Kinder„Bettina bummelt“

Auf ihrem Weg von der Schule nach Hause wird Bettina vom Schau-fenster des Spielzeugladens, einer kleinen Katze oder Blumen abge-lenkt, pünktlich zum Mittagessen zu erscheinen. Jeden Tag ärgert sich die Mutter darüber und jeden Tag muss Bettina alleine das lauwarme

Essen zu sich nehmen. Als dann die Mutter eines Tages nicht pünktlich nach Hause kommt, erfährt Bettina, was es heißt, warten zu müssen. Mit poetischen und humorvollen Mitteln untersucht die 2010 für den „IKARUS“-Preis nominierte Choreografie die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Kindern und Erwachsenen. Das Stück ist geeignet für Kinder ab fünf Jahren.

Am 24. und am 25. Februar, am 24. Februar um 11 Uhr und am 25. Februar um 9 Uhr

Eintritt: Erwachsene: zwölf Euro/ermäßigt: neun EuroKinder bis zwölf Jahre: sieben EuroSozialticket: drei Euro

Kartenbestellung: per E-Mail unter [email protected]

Theater an der ParkaueParkaue 2910367 Berlin

Info und Bildnachweis: www.parkaue.de

Performance„surnature - anatomie du erdboden“

Die Verkörperung zweier Naturen in Koexistenz. Heterogene Stücke kriechen, gleiten, graben, atmen, ERDBODEN! Fruchtbarkeit, Feuchtigkeit Humusbildung, ein kleines Leben, krude mikrobische Dekomposition. Warten, heben, fallen wachsen, für eine brandneue Kreation. Der Performer und Autor Roland Walter und die Tänzerin der Butoh-Disziplin, des Tanztheaters, und Choreografin Yuko Kaseki trafen sich bei der Performance „KUUGE-HimmelBlume“ vom „Thea-ter Thikwa“. Yuko war auf der Bühne, Roland im Publikum. In „surnature“ treffen sich beide auf gleicher Ebene, um die Körper zu mischen und Vergangenheit zur Gegenwart zu machen. Eine biologische For-schung, ein Vorurteil, basierend auf Roland Walters Biografie „König Roland– Im Rollstuhl durch das Universum”. Am 3. März gibt es im Anschluss an die Performance ein Publikumsgespräch mit Dr. Christel Weiler von der FU Berlin.

Am 2. und am 3. März, um 20.30 Uhr

Eintritt: zwischen sieben und zwölf Euro

Ticketbestellung: per Telefon unter 030- 21800507 oder per E-Mail unter [email protected]

UferstudioUferstudio 7Badstraße 41aUferstr. 8/2313357 Berlin

Info und Bildnachweis: www.uferstudios.com

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Zusammengestellt von Laura

Schicken Sie uns Ihre schrägen, skurrilen, famosen und preiswerten Veranstaltungstipps an:

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Vorgelesen„Schwartzsche Villa”

Die Teilnehmer betreten den Kleinen Salon einer schönen Stadtvilla im Südwesten Berlins. In den Reihen blau gepolsterter

Stühle wartet ein bunt gemischtes Publikum auf den Aufritt des ersten Autors oder der ersten Autorin des Abends. Es ist ein kleiner Kreis von Literaturbegeisterten, aufmerk-sam, konzentriert, nicht selten streitlustig. Vom Medizinstudenten über die Bankkauffrau, von der Literaturwissenschaftlerin bis zum Hausmann, vom Zivildienstleisten-den bis zur Rentnerin. Die Auto-rinnen und Autoren des Abends lesen aus ihren bislang unver-öffentlichten Kurzgeschichten, Gedichten, Erzählungen, Romanen, manchmal auch aus Theaterstü-cken und stellen nicht sich selbst, sondern ihre Texte der Kritik. Die Texte werden nach der Lesung des Autors auf handwerkliche Stärken und Schwächen „abgeklopft“. Es geht im Forum daher weniger um weltanschauliche Debatten. Im Idealfall hat der Autor nach einer Lesung und der Kritik verstanden, wo die Stärken und Schwächen seines Textes liegen, woran es seinem Text noch fehlt, was er ändern sollte und wo er bei seiner Überarbeitung ansetzen kann. Der Abend endet gegen 23 Uhr.

Immer am Montag, um 20 Uhr

Eintritt frei!

Schwartzsche VillaGrunewaldstr. 55 12165 Berlin

Info und Bildnachweis: www.autorenforum-berlin.de

Workshop„Akademie der Autodi-dakten“

Eines der bekanntesten Off-Theater Deutschlands lädt wieder zum Lernen ein: Künstler aus dem Netz-werk des „Ballhaus Naunynstraße“ werden im Februar im Rahmen der Akademie der Autodidakten meh-rere Workshops geben. Die Kurse geben den Teilnehmern die Gele-genheit, in verschiedene künstle-rische Bereiche hinein zu schnup-pern, Neues zu entdecken und auszuprobieren. Diesmal werden Workshops in den Bereichen Film, Schnitt, Schauspiel und Tanz in Verbindung mit Bildender Kunst angeboten. Jeder ist eingeladen vorbeizukommen und sich von Profis Rat zu holen. Damit sich die Teilnehmer einen Eindruck von den Arbeiten der Akademie der Auto-didakten machen können, haben die Veranstalter eine Ausstellung mit Installationen vorbereitet,

die den ganzen Februar über zu sehen sein wird. Wer Gefallen an den Workshops findet, hat die Mög-lichkeit, in der Zukunft regelmäßig auch an anderen Theater, Film- und Musikprojekten der Akademie der Autodidakten, wie dem Format Kiez-Monatsschau oder Projekten wie der Sound- und Filmcollage „Urban Sounds Clash Classic“ teil-zunehmen.

Am 23. und 24. und am 26. und 27. Februar, von 12 Uhr bis 18 Uhr

Eintritt frei!

Anmeldung: [email protected]

Ballhaus NaunynstrasseNaunynstrasse 2710997 Berlin

Info und Bildnachweis: www.ballhausnaunynstrasse.de

Comedy„Lisa Feller: Der Teufel trägt Pampers“

Im Volksmund heißt es: Die Stimme des Teufels hört sich süß an. Was der gehörnte Verführer allerdings sonst noch so alles auf Lager hat,

erfährt Lisa Feller erst nach der Geburt ihres Kindes. Denn: „Der Teufel trägt Pampers“. Wie lässt es sich sonst erklären, dass eine junge Mutter jeden Tag vor teuflischen Fragen steht wie: Pampers oder Party? Zwieback oder Zalando? Krabbelgruppe oder Krabben-suppe? Wem gehören meine Brüste und warum eigentlich nicht mehr mir? Und gibt es ein Leben für die Frau ab 30Plus neben der Familie?

Am 27. Februar, um 20 Uhr

Eintritt: zwischen 22 Euro und 27,70 Euro

Ticketbestellung: www.ticketma-ster.de

Quatsch Comedy ClubFriedrichstraße 10710117 Berlin

Info und Bildnachweis: www.quatsch-comedy-club.

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Tanztheater„Swan lake reloaded“

„Schwanensee“ ist der Inbegriff des Balletts. Seit der Uraufführung 1895 war Tschaikowskys Meister-

werk stets Inspiration und

Herausforderung für Generationen von Choreografen und Regis-seuren. Eine völlig neue Facette fügt nun Fredrik Rydmans „Swan Lake Reloaded“ dem klassischen Stoff hinzu. Diese neue Vision modernen Tanztheaters versucht, die technisch und akrobatisch anspruchsvollen Choreografien einer Streetdance-Show in ein künstlerisches und erzählerisches Konzept einzubinden. Hochkultur und Entertainment verschmelzen zu einem audiovisuellen Gesamt-kunstwerk. Handlung und Musik erhalten hier einen Neuanstrich, dazu eine Tanzchoreografie, die mit ihren modernen Streetdance-Elementen perfekt die Handlung widerspiegelt

Am 22., am 23. und am 24. Februar, am 22. und am 23. Februar um 20 Uhr, am 24. Februar um 14 Uhr

Eintritt: zwischen 41,57 Euro und 51,66 Euro

AdmiralspalastFriedrichstr. 10110117 Berlin

Info: www.admiralspalast.de

Bildnachweis: www.swan-lake-reloaded.de

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ell Von Troja nach Mali

Bis 2014 zieht Deutschland seine Kampftruppen aus Afghanistan ab. Aus tausenden deutschen Soldaten hat der Einsatz seelische Wracks gemacht

„Er hat so verteufelt geschrien. Und überall lagen Körperteile von ihm. […] Er lag da und hatte keine Beine mehr. Ich kann das nicht vergessen. Es ist sieben Jahre her. Jeden Tag sehe ich das. Nachts wache ich auf, wenn ich davon träume.“ Das sagt John Rambo, gespielt von Silvester Stallone im Film „Rambo I“ im Jahr 1982. Man vermutet es nicht, aber zumindest in diesem ersten Rambo-Film verbirgt sich hinter der muskelbepackten Kampfmaschine ein traumatisierter Vietnamveteran, der unfähig ist, ein normales Leben jenseits des Krieges zu beginnen. Man kennt sie ja auch aus anderen amerikanischen Vietnamfilmen, diese vormals großmäuligen harten Kerle, aus denen der Krieg seelische Wracks gemacht hat.

Ärzte würden heute bei ihnen eine PTBS ausmachen, eine Posttrau-matische Belastungsstörung. PTBS ist die Bezeichnung für etwas, was es seit Menschengedenken gibt – den Zusammenhang von Krieg und Trauma -, aber erst seit einigen Jahrzehnten so genannt wird. Jonathan Shay, amerikanischer Psychiater, hat 1998 ein Buch über seine Arbeit mit Vietnamveteranen geschrieben. Es heißt „Achill in Vietnam“. Mit dem Verweis auf das Geschehen im antiken Troja verweist Shay auf die Zeitlosigkeit des Themas. Achill ist der antike Held in Homers Ilias, der durch den Tod seines Freundes Patroklos zum rasenden Berserker wird. Ganz ähnlich, so Shay, seien seine Patienten zu Berserkern geworden – weil ihre Kameraden vor ihren Augen wegstarben, weil sie die Kriegsgräuel nicht mehr ertrugen.

Schätzungen gehen von bis zu 20.000 traumatisierten ehemaligen Soldaten in Deutscchland aus

Seit einigen Jahren gehen auch Deutschland traumatisierte Sol-daten wieder etwas an. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges kommen wieder Soldaten psychisch verwundet aus einem Krieg oder Auslandseinsatz zurück. Von bis zu 20.000 Traumatisierten gehen Schätzungen aus. Die meisten von ihnen waren in Afghanistan ein-gesetzt. Nur die Hälfte von ihnen holt sich laut einer im letzten Jahr veröffentlichten Studie in den zwölf Monaten nach dem belastenden Auslandseinsatz Hilfe.

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Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wird die Nationale Volksarmee (NVA) in Teilen aufgelöst, in Teilen in die Bundes-wehr eingegliedert.

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird in das diagnostische Handbuch (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung aufgenommen.

Aus dem Vietnamkrieg kehren hunderttausende schwer trau-matisierter amerikanischer Sol-daten zurück. Die Erkenntnisse im therapeutischen Umgang mit ihnen ebnen den Weg zu einer modernen Psychotraumatologie.

Gründung der Bundeswehr nach langer gesellschaftlicher und politischer Debatte. Vereidigung der ersten 101 Freiwilligen.

Sich als Angehörige des „Täter-volkes“ mit den psychischen Folgen des Krieges ausein-anderzusetzen gilt nach dem Zweiten Weltkrieg lange als Tabu. Psychische Störungen von KZ-Überlebenden führen Mediziner Jahrzehnte lang auf vermeintliche Vorschädigungen zurück.

Aus dem Ersten Weltkrieg kehren viele traumatisierte Soldaten als sog. „Kriegszitte-rer“ zurück. Psychiater sehen in ihnen Simulanten und Wil-lensschwache und behandel-ten sie u.a. mit Stromstößen und Isolationshaft.

Krieg und Trauma

Obdachloser Veteran in New York, 2008

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Aktu

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Das Leid, das eine PTBS mit sich bringt, ist gewaltig. Betroffene beschreiben vor allem die plötzlich auftretenden Erinnerungen, so genannte Flashbacks, als äußerst qualvoll. Unerwartet läuft das, was damals so uner-träglich war, erneut vor dem inneren Auge ab. Viele leiden zudem unter Albträumen, finden keinen Schlaf. Die Unfähigkeit, Beziehungen aufrechtzuerhalten lässt Ehen und Familien auseinanderbrechen. Alkohol hilft beim Betäuben, auch Gewalt kommt häufig mit ins Spiel. Am unteren Ende der Abwärtsspirale geraten manche in die Obdachlosigkeit. Viele äußern den Wunsch nicht mehr leben zu wollen.

Die Stationen in den Bundeswehrkranken-häusern, auf denen traumatisierte Soldaten behandelt werden, sind Psychiatriestationen. Die Therapie, die die Soldaten durchlaufen, ist eine moderne Psychotraumatologie, die auch in zivilen Krankenhäusern angewandt wird und mehrere Wochen dauert. Ihr Kernelement ist das so genannte EMDR (Eye Movement Desensi-tization and Reprocessing), eine Methode, mit der das Gehirn veranlasst werden soll, erlebte traumatische Situationen zu verarbeiten.

Obwohl deutsche Soldaten bereits seit Mitte der 90er Jahre in militä-rischen Operationen eingesetzt sind, hat niemand mit den Traumati-sierten gerechnet. Die Bundeswehr hat es jedenfalls nicht. Irgendwann gab es die „verschärfte Sicherheitslage“ in Afghanistan, klar, aber Traumatisierung, das war doch ein Thema, das nur Amerikaner und Briten betraf. Seit 2003 tauchten dann die ersten bei den Bundeswehrärzten auf und man wusste nichts mit ihnen anzufangen. Ein ehemaliger Soldat schildert 2011 seine Erfahrung im Deutschlandradio: „Zu meiner Zeit damals wurde das immer abgewiegelt, wurde gesagt, das kann nicht sein, das gibt es nicht, so was existiert nicht in Deutschland, da wo kein Krieg ist, da ist auch keine PTBS.“

Wer von „moderner Einsatzarmee“ spricht, mag nicht von Traumatisierung sprechen

Wer von einer „modernen Einsatzarmee“ spricht und zudem künftige Soldaten anwirbt, mag lieber nicht von Traumatisierung und Psychiatrie sprechen. Es entbehrt ja auch nicht einer gewissen tragischen Ironie, dass ausgerechnet diejenigen, deren Image und Selbstbild geprägt ist von Stärke, Belastbarkeit und Widerstandswillen zu den Allerschwäch-sten werden und sich in psychiatrische Behandlung begeben müssen.

Januar: Die Bundeswehr beteiligt sich mit drei Transportflugzeugen und bis zu 75 Soldaten am Einsatz in Mali. „Niemand kann heute sagen, ob der Einsatz in Mali ein, zwei oder drei Jahre dauern wird und welche Anforderungen die Lage in zwei Jahren stellt“, sagt Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Tagesspiegel.

Im Bundeswehrkrankenhaus Berlin wird ein „Psychotraumazentrum“ eröffnet. Darin werden „psychosoziale Forschung und psychiatrisch-psychotherapeu-tische Versorgung von Bundeswehrsol-daten erstmals vereinigt.“

Gründung des „Bund deutscher Veteranen“. Eine Vielzahl weiterer Selbsthilfeorganisationen entsteht.

Verteidigungsminister zu Guttenberg sagt, man könne „umgangssprachlich von Krieg“ in Afghanistan sprechen.

Bei einem schweren Anschlag auf einen Bundeswehr-Konvoi sterben am 7. Juni in der Nähe von Kabul vier deutsche Soldaten. 29 werden zum Teil schwer verletzt.

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Beginn des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan

Am 12. Juli urteilt das Bundesverfas-sungsgericht: Die Bundeswehr darf sich weltweit an Maßnahmen kollektiver Frie-denssicherung beteiligen. Bedingung: Der Bundestag muss Einsätzen „bewaffneter Streitkräfte“ vorher zustimmen.

Die Strukturen zur Hilfe von PTBS-Betroffenen, die die Bundeswehr in den letzten Jahren geschaffen hat, sind unter anderem zwei Inter-netseiten zum Thema und eine anonyme Telefon-Hotline, zudem hat man einen General zum PTBS-Beautragten ernannt und im Berliner Bundeswehrkrankenhaus ein „Psychotraumazentrum“ eröffnet.

Tatsächlich scheint der relativ offensive Umgang mit dem Thema einen Teil der betroffenen Soldaten zu erreichen. Die seit Jahren ansteigenden Zahlen derer, die sich in den Bundeswehrkrankenhäusern mit einer PTBS behandelt lassen, gehen vermutlich auch auf sich abschwächende Berührungsängste der Betroffenen mit dem Thema zurück. 2012 waren es nach Angaben des Verteidigungsministeriums 1.143 Personen, die mit einer PTBS in einem Bundeswehrkrankenhaus behandelt wurden.

Vor hundert Jahren, zur Zeit des Ersten Weltkrieges, verstanden sich Psychiater nicht als Verbündete ihrer Patienten, vielmehr sahen sie ihre Aufgabe darin, deren Simulantentum und Willensschwäche zu brechen. Heute sind sind Militärpsychiater Verbündete ihrer Patienten. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, ob Psychiater der Bundeswehr, die immer auch einen militärischen Rang haben, vor allem die Genesung des Patienten im Blick haben oder ob es ihnen nicht immer vorrangig um die Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit geht oder gehen muss.

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Bundeswehrkrankenhaus Berlin

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Ein zuckersüßer Sieg für den deutschen Ballsport – endlich ein Erfolg gegen SpanienFüchse Berlin entzaubern spanische Handball-Weltmeister

31:30 lautete das sensationelle Endergebnis im bislang wohl wichtigsten Spiel der Füchse Berlin gegen den großen

Favoriten FC Barcelona in der Handball Champions League. In der mit 13.333 Zuschauern ausverkauften O2-Arena am Ostbahnhof gelang den Füchsen sozusagen stellvertretend für den deutschen Handball die Revanche für die bittere Viertelfinal-Niederlage gegen Spanien bei der WM in Saragossa vor ein paar Tagen. Sieben amtierende Weltmeister standen in den Reihen von Barcelona; somit war die Ausgangslage klar. Alles andere als ein klarer Sieg für die Spanier schien außerhalb jeder realistischen Vorstellung.

Die Katalanen bewiesen schon in den ersten Minuten ihre Extraklasse. Durch ihr äußerst variables Angriffsspiel und die absolut kompromiss-lose Deckung schienen sie den Berliner anfangs haushoch überlegen zu sein: In der 17. Minute lagen die Füchse bereits 6:10 im Rückstand. Besonders den weißrussischen Rückraumstar Siarhei Rutenka (6 Tore) bekamen die Füchse nicht richtig in den Griff – man konnte schon ein kleines Debakel befürchten. Doch das Team von Trainer Dagur Sigurdsson ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken und hielt die Spanier auf Schlagdistanz. Hätten nicht ein paar kleine Unkonzentriertheiten in Angriff und Abwehr der Berliner Barcelona in die Karten gespielt, dann hätte wohl schon zur Pause eine Führung der Füchse auf der Anzeigetafel gestanden. So aber ging es mit 14:16 in die Kabine, die Spanier schienen schon auf der Siegerstraße.

Doch sie hatten die Rechnung ohne die Füchse gemacht, die noch motivierter und entschlossener aus der Kabine zurückkamen. Vier Treffer in Folge durch die Gastgeber, dabei gab es kein einziges Gegentor, drehten den Spielstand schnell auf 18:16. Übrigens: In den Reihen der Berliner standen mit Silvio Heinevetter und Sven-Söre Christophersen zwei deutsche WM-Fahrer, die diese bittere Niederlage in Spanien hatten wegstecken müssen. Vor allem Torwart Heinevetter schien noch eine ganz dicke Rechnung mit den Spaniern offen zu haben. Voll konzen-triert und mit mehr als 100 Prozent motiviert ging „Heine“ deshalb ans Werk: Am Ende standen 19 Paraden für ihn zu Buche, mit denen er den spanischen Weltmeistern äußerst wirkungsvoll den Schneid abkaufte. Mit seiner letzten Parade in den Schlusssekunden hielt er den Berliner Sieg ganz fest. Selbst der sonst so coole Trainer Sigurdsson wurde ungewohnt euphorisch: „Das war unglaublich, wie Silvio den letzten Wurf genommen hat.“ Heinevetter selbst war absolut begeistert über die Atmosphäre in der Arena: „Ich hatte viele Super-Momente mit den Füchsen, aber das war mit anderen nicht zu vergleichen – unglaublich!“

Und in der Tat: Die enthusiastischen Fans trieben ihre Mannschaft zur absoluten Höchstleistung an: Die Abwehr stand wie ein Bollwerk und organisierte das eine und andere Mal perfekte Konterzüge im Expres-stempo über Johannes Sellin (5 Tore). Dazu kamen die individuelle Klasse und das Durchsetzungsvermögen von Bartholomej Jaszka (5), Konstantin Igropulu (4), Kreisläufer Evgeni Pewnow (5) und Ivan Nincevic. Letzterer war mit sechs Treffern der erfolgreichste Torschütze der Füchse. Aber es war das gesamte Team der Berliner, das absolut entschlossen und selbstbewusst wirkte, mit breiter Brust auf der Platte stand, ohne jeglichen Respekt vor den großen Spaniern. Es gab kaum eine Phase, in der nicht der unbedingte Torerfolg gesucht und gefunden wurde. Mal abgesehen von den klitzekleinen Unkonzentriertheiten in der ersten Hälfte spielten die Mannen von Trainer Sigurdsson auf einem extrem konstanten und hohen Niveau. 31 Tore gegen den bis dato in der Champions League unbesiegten FC Barcelona sprechen eine deutliche Sprache.

Das fand auch Victor Tomas, der zwar selbst wieder mit acht Toren brillierte (bei der WM gegen Deutschland war der quirlige Rechtsaußen einer der Sieggaranten mit sieben Toren!), aber die Niederlage seines Teams letztlich verdient fand. Auf der Pressekonferenz analysierte Tomas das Spiel seiner Mannschaft messerscharf: „Das erste Spiel, in dem wir in dieser Saison mehr als 25 Gegentore bekamen. Wenn wir mehr als 25 Gegentore kriegen, können wir die Spiele nicht gewinnen. Wir treffen uns dann im Final 4-Turnier der Champions League wieder!“ Trainer Sigurds-son und der Ex-Barcelona-Spieler Konstantin Igropulo bekamen während dieser smarten Analyse das Lächeln gar nicht mehr aus dem Gesicht. Für Sigurdsson war es denn auch eines der drei Topspiele der Füchse und seiner Regie. Auch der umtriebige Füchse-Manager Bob Hanning jubelte: „Das war wieder ein kleiner Meilenstein in der Geschichte der Füchse.“ Was er damit meinte, ist klar: Es war einer der größten Erfolge der Vereinsgeschichte. Beide Mannschaften waren übrigens bereits vor der Partie für das Achtelfinale qualifiziert. Doch jetzt gilt es wieder, die Spannung hoch zu halten für die Spiele in der Handball-Bundesliga, denn die Berliner wollen auch in der nächsten Saison wieder Champions League spielen. Denn gerade nach einem solchen historischen Sieg sind alle Gegner heiß auf die Füchse. Das weiß auch Trainer-„Fuchs“ Sigurdsson: „Dieses Spiel wird uns für die Bundesliga helfen. Aber wir haben ein heftiges Programm vor uns und müssen jetzt auf dem Boden bleiben.“

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So ein Sieg macht wirklich Spaß!

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tEin zartbitteres Remis zwischen Hertha BSC und dem 1. FC UnionKeine Sieger, keine Gewinner im Hauptstadtderby

Dieses Ergebnis stellte am Ende niemanden so richtig zufrieden: Die

Eisernen aus Köpenick nicht, weil sie durch leichtfertige Fehler zwei wichtige Punkte im Kampf um den Aufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga verschenkten. Die blauweißen Herthaner nicht, weil sie wieder einmal fast 75 Minuten komplett verschliefen und dadurch einen möglichen Sieg und die damit verbundene Tabellenführung verspielten. Und die 74.244 Fans (davon geschätzte 25.000 Unioner!) im ausverkauften Olympiasta-dion sowieso nicht, schließlich ging es um die inoffizielle Stadtmeisterschaft, um Stolz und um Ehre. Wie wichtig den Fans das ist, zeigten sie schon eindrucksvoll vor Spielbeginn: In der Ostkurve entfalteten die Hertha-Fans ein riesiges Plakat, auf dem folgende Botschaft an die Unioner zu lesen war: „Hertha, Hertha, Du ganz allein, sollst der Stolz von Spreeathen sein!“ Die Union-Ultras ließen sich nicht lumpen und zündeten erst einmal ein paar Bengalos als Kampfansage.

Union bringt Hertha an den Rand einer NiederlageAuch auf dem Platz ging es gleich von Beginn an voll zur Sache. Beide Mannschaften gingen mit großem körperlichen Einsatz in die Zwei-kämpfe und versuchten so dem Gegner den Schneid abzukaufen. Doch Schiri Florian Meyer unterband von Anfang an jedes überharte Spiel. Ein wenig aus dem Nichts heraus gingen die Gäste schon nach acht Minuten in Führung. Vorangegangen war ein katastrophaler Fehler des wieder genesenen Rechtsverteidigers Peter Pekarik, den darauffolgenden strammen Schuss von Union-Kapitän Mattuschka konnte Herthas Torwart Kraft gerade noch parieren. Doch dann standen sich die Verteidiger Brooks und Bastians gegenseitig im Weg; gegen den Nachschuss von Terodde war Kraft dann machtlos. Hertha rannte danach ungestüm an, aber gegen das gut eingestellte 4:4:2-Bollwerk der Unioner blieben die Hausherren viel zu ideen- und planlos. Spielerisch ging fast gar nichts. Union dagegen verlegte sich auf Konter und konnte die Hertha ein paar Mal empfindlich in Gefahr bringen. Die einzig gute Hertha-Chance versemmelte Allagui in der 32. Minute. Völlig frei stehend vor Union-Torwart Haas köpfte er diesen den Ball aus sieben Metern direkt in die Arme.

Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit erzielte Adam Nemec das 2:0 per Kopf. Die Vorlage kam natürlich wieder einmal von Union-Legende Torsten Mattuschka. Hertha war geschockt. Auch die Fans. Plötzlich hatten die Unioner das Olympiastadion voll in ihrer Hand. Doch statt weiter energisch dagegen zu halten, stellte sich Union nur noch hinten rein. Neuhaus: „Wir hatten dann zu viele Spieler mit körperlichen Problemen.“ Bei Hertha dagegen blies der Trainer dagegen nun voll auf Offensive. Er setzte mit Ben Hatira und Wagner mutig auf zwei frische Stürmer für die letzten Minuten. Er sollte belohnt werden.

Die letzten15 Minuten gehören wie immer Hertha Und wieder einmal war der Brasilianer Ronny die „Lebensversicherung“ von Hertha: Erst bediente er in der 73 Minute seinen Kumpel Adrian

Ramos mit einem präzisen Eckstoß. Der fackelte nicht lange und jagte einen harten Kopfball ins Tor. Dann kam, was einfach kommen musste: Hertha erkämpfte sich einen Freistoß nahe des Strafraums. Ronny nahm sich den Ball und alle im Stadion wussten: Den macht er jetzt rein. Und genauso kam es auch. Er spitzelte den Ball über die Mauer hinweg ins rechte Eck. Union-Trainer Uwe Neuhaus war bedient: „Bei der Ausführung sind ein paar Spieler nicht hochgesprungen, haben nicht mit allem Einsatz versucht, den Ball nicht ins Tor gehen zu lassen. Wenn die noch mal zusammenrücken als Mauer, sich auf die Zehnspitzen stellen, leicht anspringen, ich glaube, dann wäre dieses Tor auch zu verhindern gewesen.“ Für seinen Kollegen Luhukay war es dagegen wieder der

„Goldjunge“ Ronny, der ihn und das Hertha-Team rettete. „Ronny war der goldene Spieler, der uns zurück ins Spiel gebracht hat“. Mit seinem Saisontor Nr. 12 liegt Ronny jetzt an der Spitze der Torjägerliste. Wer hätte ihm das vor ein paar Monaten zugetraut.

ResümeeIn der Pressekonferenz analysierte Luhukay das Spiel dann messerscharf: „Uns fehlte die letzte Konsequenz, sich gegen den Ball zu befreien. Ich weiß nicht, ob es Angst war, der Druck, die Erwartungshaltung. Aber andererseits hat unsere Serie gehalten. Es geht weiter für uns.“ Stimmt. Die Stadtmeisterschaft hat die Hertha in dieser Saison für sich entschieden. Und: Hertha ist nunmehr in 19 Spielen ungeschlagen. Der Aufstieg ist in greifbarer Nähe. Ronny ist derzeit unverzichtbar für die Mannschaft. Wird man ihn in Berlin halten können, wenn andere Klubs mit Millionen locken? Doch das Beispiel seines Bruders Raffael sollte ihn waren. Und er sollte nicht vergessen, wem er es zu verdanken hat, dass er momentan auf diesem irre hohen Niveau spielt,

Union ist auf einem sehr guten Weg. Vielleicht ist sogar noch der Sprung auf den Relegationsplatz 3 drin. Daran glaubt auch Uwe Neuhaus: „Wir sind zufrieden mit unserem Auftreten und haben gezeigt, dass wir mit allen Mannschaften in der zweiten Liga konkurrieren können. Wir wollen bis zum Saisonende in der gleichen Art und Weise weiterzumachen, dann wird es sicher schwer uns zu schlagen. Ich glaube, dass wir im nächsten Jahr kein Derby in der zweiten Liga erleben werden.“ Ja, aber vielleicht in der 1. Fußball-Bundesliga, und das wäre einfach wunderbar!

n Andreas Düllick

Die Herthafans haben sich was Feines ausgedacht

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Der Fotograf Eberhard Klöppel ist seit 1962 als Fotograf tätig, Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, 1976-1992 Bildreporter der „Neuen Berliner Illustrierten“, arbeitet seitdem als freier Fotograf für verschiedene Zeitungen und Institutionen.

Eberhard Klöppel „Berlin – Ecke Schönhauser“, 24,90 Euro, Lehms-tedt Verlag Leipzig

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Gelebte Geschichte in Schwarz-Weiß Eberhard Klöppel: „Berlin – Ecke Schönhauser“

Ich lebe seit 1978 in Berlin. Mit gerade mal 19 Jahren machte ich mich aus dem gemütlichen Provinzstädtchen Schwerin hoch im Norden auf in die pulsierende Metropole Berlin. Gelandet bin ich

zu meinem großen Glück sofort im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Der war damals noch nicht als Szenebezirk verschrien, sondern strömte den morbiden Charme eines Arbeiterbezirks aus, in dem sich zahllose

„Lebens“-Künstler ihre perfekte Nische gesucht hatten.

Ganz besonders geliebt habe ich immer den U-Bahn-Viadukt in der Schönhauser Allee. Wunderbar diese nietenbeschlagene Stahl-konstrukte, über die sich aberwitziger Weise die Untergrundbahn ratternd bewegt. Einer der aufregendsten Orte dort war für mich immer Konnopkes Currwurstbude unter der U-Bahn. Wie oft sind wir dort nach einem amüsanten Besuch einer Nachtbar aufgeschlagen und haben den Morgen mit einer heißen Brühe und ’ner Currywurst begrüßt, lange bevor die Touristen aus aller Herren Länder sich dort amüsierten. Ich erinnere mich tatsächlich aber auch noch sehr gut an das alte Gaswerk an der Greifswalder Straße, das den Nordberlins mehr als 100 Jahre lang mit Gas versorgte. Als diese Dreckschleuder dann abgerissen wurde, stank es ziemlich widerlich nach Gas. Doch als dieses Bauwerk dann durch die Ernst-Thälmann-Siedlung mit modernen Plattenbauten ersetzt wurde, begannen wir, uns ein wenig nach dem alten Gaswerk zurückzusehnen. Zwar waren dort ein von uns stark frequentierter Jugendclub, das aufregende Planetarium und die Schwimmhalle gebaut worden. Doch vorher war es dort irgendwie viel schöner.

Mir würden noch ein paar andere, aufregende Orte hier in meinem Kietz einfallen, doch darum geht es ja eigentlich gar nicht. Vielmehr soll hier auf ein sehr schönes Buch aufmerksam gemacht werden. Der Fotograf Eberhard Klöppel, Jahrgang 1940, hat gerade im wunderbaren Lehmstedt Verlag einen hübschen Bildband herausgebracht. Darin zeigt Klöppel zwar auch die Orte, die mir ans Herz gewachsen sind. Er tut es aber auf eine etwas andere Art und Weise als viele andere Bildchronisten. In den vergangenen drei Jahren war er an der Schönhauser Allee und in den angrenzenden Straßen unterwegs und versuchte, das Hier und Jetzt mit der Kamera einzufangen.

In einer Besprechung von Danuta Görnandt (kulturradio) fand ich eine Passage, die das, was Klöppels Buch ausmacht, sehr treffend beschreibt: „... Straßenszenen, die mit ihren Schaufenstern, Dekora-tionen, Werbeflächen und den Straßencafés absolut heutig und aktuell sind. Da sieht man das bunte und lebendige Gemisch aus Jungen und

Alten, aus Ur-Berlinern, Zugezogenen und Gästen, auch aus Wohlsitu-ierten und eher Abgestürzten. Das sind Momentaufnahmen, vielleicht auch Schnappschüsse. Manche davon wird man später genau dieser Zeit, also der Jahre um 2010 herum zuordnen, wieder andere werden das große Mosaik von der Ecke Schönhauser weiter auffüllen. Im Buch wechseln Porträts von Menschen wie einem Antiquitätenhändler oder einem Wirt, einer Blumenfrau, einem Ladeninhaber usw. mit reinen Architekturfotos: Der Wasserturm mit seinen Nebengebäuden, die Barlachplastik vor der Gethsemanekirche, natürlich der Magistratsschirm oder fast an Industriefotografie erinnernde Fassaden oder Brandmauern. Dazwischen wieder Straßenszenen, Kneipen, Punks und Kinder, Bilder von Konzerten und Aufführungen rund um die Kulturbrauerei oder im Mauerpark.“ Besser könnte ich es nicht beschreiben. Info:

Straßenmusiker auf der Schönhauser Allee-Brücke

Antifa-Demonstration Oderberger Straße Ecke Churiner Straße

Obdachlose auf dem Arnimplatz

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Page 29: Ausgabe 04 2013 Kaleidoskop - strassenfeger

Rechtsanwältin Simone Krauskopf

im Kaffee Bankrott bei mob e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin

Jeden Montag von 11 bis 15 Uhr

Bei Bedürftigkeit wird von der Rechtsanwältin ein Beratungsschein beantragt. Bitte entsprechende Nachweise mitbringen (z. B. ALG-II-Bescheid)!

Allgemeine Rechtsberatung

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Ratg

eberACHTUNG!

Für die Richtigkeit der Aussagen kann keine Garantie übernommen werden.

Mehr zu Alg II und Sozialhilfe

›› Der NEUE Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z ›› istda!•StandJuni2011

Im Büro von mob e.V., Prenzlauer Allee 87 für 11,– Euro erhältlich oder zu bestellen bei: DVS, Schumanstr. 51, 60325 Frankfurt/M, Fax 069/74 01 69, www.dvs-buch.de, [email protected]

›› www.tacheles-sozialhilfe.de›› www.erwerbslosenforum.de

Sanktionen Teil 7

Bei Sanktionen dürften die Kosten für Unterkunft und Heizung bei Betroffenen, die weder Einkommen noch Schonvermögen haben eigentlich nicht gestrichen werden. Mehrmals wird in den Durch-

führungshinweisen (DH) der BA auf Ermessensentscheidungen zur Ver-hinderung von Obdachlosigkeit hingewiesen! Neben den im letzten Teil genannten Randziffern zur möglichen Verkürzung bzw. Abschwächung der Sanktion bei der Verpflichtung zum zukünftigen Wohlverhalten oder auch Kadavergehorsam, ist in Rdz. 31.51 zu Ermessensentscheidungen klar formuliert: „Auch Verschuldungsproblematiken und drohende Wohnungslosigkeit sind relevante Ermessensgesichtspunkte.“

Wer geldwerte und/oder Sachleistungen benötigt, muss sie BEANTRAGEN. Dieses Thema habe ich schon in einem der letzten Teile ausführlich behandelt. Doch selbst, wenn die Miete bei Sanktionen vom Jobcenter direkt an den Vermieter noch gezahlt werden müsste, muss das vom Betroffenen unbedingt überprüft werden!

Dieser Absatz gilt übrigens für alle, bei denen das Jobcenter die Mietzah-lungen übernommen hat. Egal ob die Betroffenen selbst darum gebeten haben oder das Jobcenter die Zahlung zwangsweise übernimmt, ob mit oder ohne Sanktionen. Sind zum zweiten Mal Mietschulden entstanden, darf der Vermieter fristgerecht beim zweiten Mal schon kündigen, wenn einen Monat lang Mietschulden in Höhe einer kompletten Miete entstanden sind! Dies hat kürzlich der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil (Az: VIII ZR 107/12) vom 10.10.2012 verkündet. Dass das Gesetz eine Kündigung erst nach zwei Monaten erlaubt, hat die Richter nicht interessiert! In Zeiten wachsender Armut und steigender Wohnungslosigkeit muss ja schließlich das Eigentum der Vermieter geschützt werden und nicht die Armen!

Übrigens wurden die Mietschulden in diesem, vor dem BGH verhandelten Prozess ZWEIMAL vom Jobcenter verursacht, ohne dass der Mieter sank-tioniert wurde. Der Mieter verlor nach 40 Jahren seine Wohnung! Durch dieses Urteil werden noch mehr Alg II beziehende Mieter obdachlos werden als bisher. Es spielt dabei keine Rolle, ob die vom Jobcenter

verursachten Mietschulden versehendlich entstanden sind! Dies ist besonders fatal für Mieter, mit denen der Vermieter im Streit liegt, weil sie sich seiner Profitmaximierung in Form von Luxussanierung u.ä. entgegenstellen.

Beim vollständigen Wegfall des Alg II werden auch die Mehrbedarfe nach § 21 sanktioniert. Darunter fallen u.a. Mehrbedarfe für Schwangere, Alleinerziehende, erwerbsfähige Behinderte, Kranke, die einer kosten-aufwändigen Ernährung bedürfen, sowie die, die einen unabweisbaren laufenden besonderen Bedarf haben. Ebenso fällt der Mehrbedarf zur dezentralen Warmwassererzeugung weg.

Im Gegensatz dazu fallen die Bedarfe nach § 24, 27 und 28 auch bei völliger Streichung nicht weg. Hier gibt es auch immer wieder Fehler und Irrtümer, sowohl bei den Jobcentern wie auch bei den Betroffenen, die bei Sanktionen solche Bedarfe nicht beantragen, weil sie meinen, die würden ihnen wegen des Wegfalls von Alg II nicht zustehen. Fakt ist: Diese Leistungen zählen nicht zum Alg II. Sie werden unabhängig davon unter der Voraussetzung der Bedürftigkeit auch an Personen gezahlt, die kein Alg II erhalten. Dessen ungeachtet sind sie im SGB II eingeordnet.

„§ 24 Abweichende Erbringung von Leistungen“:

• Erstausstattungen für die Wohnung einschließlich Haushaltgeräten,• Erstausstattungen für Bekleidung und bei Schwangerschaft und

Geburt,• Anschaffung und Reparatur von orthopädischen Schuhen, Reparatur

von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten.

„§ 27 Leistungen für Auszubildende“ und„§ 28 Bedarfe für Bildung und Teilhabe“:

•Kinder in Kindertageseinrichtungen, sowie Schüler und Schüle-rinnen erhalten die tatsächlichen Aufwendungen für Kita- oder Schulausflüge, mehrtätige Kita- oder Schulausflüge, sowie bei gemeinschaftlicher Mittagsverpflegung. Bis einschließlich 18. Lebensjahr zehn Euro monatlich für Mitgliedsbeiträge für Sport, Spiel, Kultur oder Unterricht in künstlerischen Fächern und vergleichbaren angeleiteiteten Aktivitäten sowie die Teilnahme an Freizeiten.

Für Schüler und Schülerinnen gibt es noch den persönlichen Schulbedarf (70 Euro zum 1.8. und 30 Euro zum 1.2.) sowie Lernförderung, also Nachhilfeunterricht. Ebenso kann es Geld für die Schülerbeförderung geben.

Im 8. Teil werden die letzten sieben Teile kurz zusammengefasst. n Jette Stockfisch

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„Wenn du eine schöne Frau siehst, schlage sie nieder – die Augen“, riet man früher angehenden katholischen Priestern, damit sie nicht auf unkeusche Gedanken kommen. Wenn ich mir die Diskussion um den Herrn Brüderle und seine Vorstellungen von einer passenden weiblichen Kleidung anschaue, fürchte ich, dass das bald für alle Männer gilt.

Wenn ein Mann künftig mit einer Journalistin spricht, soll er am besten so tun, als schwebe da ein körperloser Kopf vor ihm. Immer nur in die Augen gucken, aber kein Wort dazu wie „Sie haben aber schöne große Augen!“, denn das könnte schon wieder eine böse Anspielung sein. Wenn schon ein Kompliment angezeigt erscheint, dann vielleicht „Sie beherrschen auf bezaubernde Weise den Konjunktiv!“. Und die Testosteronsättigung kann auch durch einen Abstand von wenigstens zwei Metern unter Beweis gestellt werden, weil das davon zeugt, dass man noch keine Hörhilfe braucht.

Es ist nur schwer zu verstehen, warum die Wahrneh-mung weiblicher Reize so ein schwerer Sündenfall sein soll. Schließlich arbeitet die Bekleidungsindustrie doch fortwährend an diesem Schaufenstereffekt. Das von Brüderle ins Spiel gebrachte Dirndl (schreckliches Wort, kann man als Nord-deutscher nur schwer aussprechen) lebt davon und nicht etwa von den dazugehörigen Schürzen. Wer darauf abfährt, ist nicht nur ein Schürzenjäger, und seine unkeuschen Blicke werden nach Meinung der meisten Frauen mit der Höchststrafe belegt: lebenslänglich.

Im Karneval, diesem staatlich gelenkten Anarchismus, gelten solche Einschränkungen natürlich nicht. Da singen alle aus voller Kehle: „Es sind noch Möpse da“, und Politiker aller Couleur schlagen sich dabei vergnügt auf die Schenkel - oder sind das nicht immer die eigenen?

Auch Brüssel macht uns mal wieder Freude. Unsere Helden vom Was-sertisch haben gekämpft wie die Löwen, um die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe rückgängig zu machen, da kommt aus Brüs-sel die Forderung, geradewegs in in die entgegengesetzte Richtung

zu marschieren. Das Trinkwasser soll europaweit ausgeschrieben werden mit dem Ziel, möglichst vielen privaten Bietern den Zugang zu unseren Wasserhähnen zu ermöglichen. Sicher bekommen wir dann aus der Regie von Großkonzernen richtiges Markenwasser. Ist doch toll, wenn wir unseren Rasen dann mit Aqua Dolce (hoffentlich ist das als Handelsmarke noch nicht eingetragen, kommt aber sicher bald) sprengen, die Badewanne mit Premiumwasser füllen, das Auto an der Leitung von Wodaprom waschen und den Kaffee mit L’eau de Café aufbrühen. Das kostet natürlich etwas mehr, aber es wird immer noch preiswerter sein als das Mineralwasser aus dem Supermarkt.

Wenn man in Brüssel das Wasser privatisieren will, ist sicher als nächstes der Sonnenschein an der Reihe. Wer sich auf unbeschatteten

Flächen aufhält, zahlt dann an die Firmen, die durch Bauverzicht diesen Genuss möglich gemacht haben. Liegewiesen der

Marke Solarprompt werden das Doppelte kosten. Weil es Regionen gibt, in denen die Sonne nicht so oft scheint, regeln Angebot und Nachfrage den Preis.

Damit unsere Straßen den Haushalt des Senats nicht mehr belasten, werden die sicher auch bald europaweit ausgeschrie-

ben und privatisiert. Es wird dann entweder Mautstationen geben, oder jeder muss gut sichtbar einen Mautbutton tragen, wenn er den Straßenraum betritt. Demos in den Straßen verstoßen natürlich gegen das Hausrecht der Eigentümer und sind untersagt.

Frische Luft ist ein unverzichtbares Lebensmittel, das seinen Preis haben muss, damit man es wertschätzt. Da der Verbrauch individuell unterschiedlich ist, wird in einer unbürokratischen Lösung jeder alle zwei Jahre zum Atmungs-TÜV (gebührenpfl ichtig!) zitiert, damit man das Lungenvolumen misst und danach eine Verbrauchsabgabe berechnet.

Wenn diese Regulierungen aus Brüssel erst mal in Kraft treten, sage ja keiner, das stinke zum Himmel. Das wäre eine Verunglimpfung der Frischluftindustrie und zöge mit Sicherheit empfi ndliche Strafen und Schadenersatzforderungen nach sich.KptnGraubär

AQUA DOLCE

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Frauenverband Courage, e.V.Berlin-Mitte 30.1.2013

Offener Brief

An die uns unbekannte Frau,die am 27.1.2013 in der Rostocker Straße brutal misshandelt wurde

Liebe Unbekannte,mit Entsetzen erfuhren wir von Ihrer brutalen Vergewaltigung und Misshandlung, bei der Sie fast umgebracht wurden. Sie müssen unvorstellbare Qualen und Ängste durch litten haben! Wir möchten Ihnen unser Mitgefühl und unsere Solidarität aussprechen!

Wir sind Frauen vom Frauenverband Courage e.V. in Berlin-Mitte und die meisten von uns wohnen in Moabit. Das Verbrechen an Ihnen geschah sozusagen vor unserer Haustür.

Es ist ein Skandal, dass sich Männer an einer Frau derartig vergreifen.

Es ist ein Skandal, dass Frauen wie Freiwild behandelt werden, besonders wenn sie schutzlos sind. Das ist die abnormste Form von Sexismus, der gesellschaftlich allgegenwärtig ist.

Es ist ein Skandal, dass Sie keine Wohnung haben und Unterschlupf in diesem Haus suchen mussten.Es ist ein Skandal, dass der Besitzer des Hauses Rostocker Str. 25, eine Immobiliengesellschaft aus Duisburg, das Haus leer stehen lässt, obwohl der Bedarf an Wohnungen groß ist.

Wir sagen seit jeher der Gewalt an Frauen den Kampf an! Es müssen mehr Schutzeinrichtungen für obdachlose Frauen in Berlin geschaffen werden! Wir brauchen mehr preisgünstigen Wohnraum!

Wir wünschen Ihnen sehr, dass Sie im Krankenhaus in guten Händen sind und Ihre körperlichen und seelischen Wunden heilen mögen! Dafür wünschen wir Ihnen viel Kraft und Unterstützung!

Mit den allerbesten Wünschen, im Namen des Frauenverbands Courage, Berlin-Mitte,Der Ortsvorstand Karola Kücken, Alexandra Bisbicus, Dorothea Grossmann

Anm. d. Red.: Wir können uns da nur anschließen!

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ab 4. März 2013 Vorschau

Der Fotograf Harald Hauswald

Berlinale 2013 – Der Rückblick

Das 11mm-Fußballfi lmfestival

Ausgabe 05/2013 „Flimmern & Rauschen“

Photomat am „Kotti“

ISSN 1437-1928

Herausgebermob – obdachlose machen mobil e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 46 79 46 11Fax: 030 - 46 79 46 13E-Mail: [email protected]

Vorsitzende: Dr. Dan-Christian Ghattas, Lothar Markwardt, Andreas Düllick (V.i.S.d.P.)

Chefredakteur Andreas Düllick

Redaktionelle Mitarbeit Andreas Düllick, Laura F., Guido Fahrendholz, Detlef Flister, Mara, rwf, Bernd Hack, Jutta H., Käpt’n Kotti, Christoph Mews, Jan Markowsky, Boris Nowack, OL, Andreas P., Manuela P., Andreas Prüstel, Urzsula-Usakowska-Wolff, Manfred Wolff

Titelbild Collage: Guido Fahrendholz

Karikaturen Andreas Prüstel, OL

Satz und Layout Ins Kromminga

Belichtung & Druck Union Druckerei Berlin

Redaktionsschluss der Ausgabe 13. Februar 2013

Namentlich genannte Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Es war nicht möglich, bei allen Bildern die Urhe-berrechte festzustellen. Betroffene melden sich bitte bei uns. Für unverlangt eingesandte Fotos, Manuskripte oder Illustrationen übernehmen wir keine Haftung.

Der strassenfeger ist offen für weitere Partner. Interessierte Projekte melden sich bei den Herausgebern.

RedaktionPrenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 41 93 45 91E-Mail: [email protected]

Abo-Koordination & Anzeigenmob – obdachlose machen mobil e.V.Tel.: 030 - 41 93 45 91

Treffpunkt Kaffee Bankrott Prenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 44 73 66 41Öffnungszeiten: Mo. – So. 8:00 – 20:00 UhrZeitungsverkauf: bis 20:00 UhrKüchenschluss: 19:00 Uhr

NotübernachtungPrenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 41 93 45 93Öffnungszeiten: 17:00 – 8:00 UhrAnmeldung: 17:00 – 23:00 Uhr

Trödelpoint bei mob e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlingegenüber dem S-Bahnhof Prenzlauer AlleeMo – Fr: 8:00 – 18:00 UhrTel.: 030 - 246 279 35E-Mail: [email protected]

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Die Aktion »Ein Dach über dem Kopf« wurde von uns ins Leben gerufen, um Mitmenschen, die in Not und ohne Bleibe sind, wirksam helfen zu können. Damit wir diesen Menschen weiterhin helfen können, benötigen wir nach wie vor Ihre Hilfe und Unterstützung.

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Stefan Liebich, Bundestagsabgeordneter DIE LINKE, unterstützt die Spendenaktion „Ein Dach über dem Kopf“!