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Einleitung Die muskuloskelettalen Erkrankungen sind ein erheblicher Kos- tenfaktor fɒr die moderne Gesellschaft, insbesondere die lumba- len Rɒckenschmerzen, deren Ursachen bislang nur wenig ver- standen sind und deren Therapie oft erfolglos verlȨuft. Derzeit sind keine geeigneten Modelle zur ErklȨrung der unspezifischen Rɒckenschmerzen verfɒgbar, was u. a. auch an den Modellen sel- ber liegen mag. In den letzten Dekaden konzentrierte sich die Forschung bei den lumbalen Rɒckenschmerzen auf anatomische Strukturen, wel- che die Schmerzen verursachen und erklȨren kɆnnten: eine Su- che nach Schmerzquellen und weniger nach funktionellen kine- matischen Beziehungen. Dabei wɒrde aber ein funktioneller Ansatz zu einem besseren VerstȨndnis der Ursachen von LWS- und Beckenschmerzen fɒhren. Mit anderen Worten: wir mɒssen unser Wissen ɒber die komplexen kinematischen Verknɒpfun- gen verbessern, insbesondere ɒber die Bedeutung der motori- schen Kontrolle zur Optimierung der KɆrperfunktionen. Zu Beginn unserer klinischen lumbopelvinen Studien wurden wir in unserer Forschungsgruppe durch unser eigenes, ɒberwiegend die topographische Anatomie umfassendes Wissen behindert. Dieser Anatomiezweig wurde zur Kartierung und Einteilung des KɆrpers entwickelt. Komplexe Fragen, wie diejenige, warum der- art viele Patienten unter lumbalen Rɒckenschmerzen leiden, oder wie WirbelsȨule, Becken und Beine als integriertes System arbei- ten, lassen sich mittels der topographischen Anatomie nur unzu- reichend beantworten. TatsȨchlich verwirrt die Zuordnung zu Wirbelsäule und Becken eher. Die „WirbelsȨulenmuskeln“ sind ausgeprȨgt mit dem Becken und BȨndern der Iliosakralgelenke (ISG) verbunden. Letztere liegen zwischen dem Os sacrum sowie rechtem und linkem Os ilium und sind somit ein Teil des Beckens. Offiziell werden die Beckengelenke und -bȨnder jedoch den Bei- nen zugeordnet. Klassifikationen wie Beine, Becken und Wirbel- säule kɆnnen einen didaktischen Zweck erfɒllen, behindern aber unser VerstȨndnis der funktionellen Mechanismen, die in diesem Bereich wirksam sind. Bei der Ƞberprɒfung der Literatur ɒber WirbelsȨule und Becken erweckten die Studien des amerikanischen Therapeuten DonTi- gny [17] sowie von Bowen und Cassidy [9] unsere Aufmerksam- keit. Ersterer berichtete immer wieder, dass die ISG fɒr ein Ver- stȨndnis der WirbelsȨulenfunktion essenziell sind, wȨhrend Bowen und Cassidy eine besondere Knorpelstruktur der ISG be- schrieben. Allerdings finden sich in der Literatur keine weiteren Hinweise zum VerstȨndnis der Mechanismen, die „unspezi- fische“ lumbale Rɒckenschmerzen verursachen. Wir konzentrierten unsere Untersuchungen zunȨchst auf die ISG- Funktion, da diese entscheidend an der Weitergabe des Gewichts von der WirbelsȨule an die Beine beteiligt sind. Das Becken wurde dabei als wichtigste knɆcherne Plattform betrachtet, die mit drei Hebelsystemen verbunden ist: der WirbelsȨule und den beiden Beinen, die bei sich verȨndernden Bedingungen stabilisiert wer- den mɒssen. Neuere Studien zeigen, dass sich die ISG verȨnderten Belastungsverteilungen anpassen, indem sie sich unterschiedlich stark versteifen (Abb. 1 u. 2a–c). Dies war eine revolutionȨre Aus- sage, da Gelenke allgemein dadurch charakterisiert sind, dass sie geschmeidig funktionieren. Neuere Untersuchungen erbrachten jedoch reichliche Belege dafɒr, dass die ISG ihre Festigkeit ebenso wie andere Gelenke auch bei sich Ȩndernden Belastungen ver- Ȩndern kɆnnen. Dieses Konzept ermɆglicht einen anderen Ansatz zum VerstȨndnis der Stabilisationsmechanismen des mensch- Bedeutung des Beckengɒrtels als Verbindung von WirbelsȨule und Beinen 1 Teil 1 A. Vleeming Importance of the Pelvic Girdle as Conjunction between Spine and Legs Korrespondenzadresse Dr. Andry Vleeming · Spine and Joint Center · Westerlaan 10 · NL-301CK Rotterdam Bibliografie Manuelle Therapie 2006; 10: 176–185 # Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York DOI 10.1055/s-2006-927024 ISSN 1433-2671 1 Aus: Hildebrandt, LendenwirbelsȨule # Elsevier GmbH, Urban & Fi- scher Verlag Mɒnchen. Mit freundlicher Genehmigung der Elsevier GmbH. Fachwissen: Funktionelle Anatomie 176 Heruntergeladen von: FH Campus Wien. Urheberrechtlich geschützt.

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Einleitung

Die muskuloskelettalen Erkrankungen sind ein erheblicher Kos-tenfaktor f�r die moderne Gesellschaft, insbesondere die lumba-len R�ckenschmerzen, deren Ursachen bislang nur wenig ver-standen sind und deren Therapie oft erfolglos verl�uft. Derzeitsind keine geeigneten Modelle zur Erkl�rung der unspezifischenR�ckenschmerzen verf�gbar, was u. a. auch an den Modellen sel-ber liegen mag.

In den letzten Dekaden konzentrierte sich die Forschung bei denlumbalen R�ckenschmerzen auf anatomische Strukturen, wel-che die Schmerzen verursachen und erkl�ren k�nnten: eine Su-che nach Schmerzquellen und weniger nach funktionellen kine-matischen Beziehungen. Dabei w�rde aber ein funktionellerAnsatz zu einem besseren Verst�ndnis der Ursachen von LWS-und Beckenschmerzen f�hren. Mit anderen Worten: wir m�ssenunser Wissen �ber die komplexen kinematischen Verkn�pfun-gen verbessern, insbesondere �ber die Bedeutung der motori-schen Kontrolle zur Optimierung der K�rperfunktionen.

Zu Beginn unserer klinischen lumbopelvinen Studien wurden wirin unserer Forschungsgruppe durch unser eigenes, �berwiegenddie topographische Anatomie umfassendes Wissen behindert.Dieser Anatomiezweig wurde zur Kartierung und Einteilung desK�rpers entwickelt. Komplexe Fragen, wie diejenige, warum der-art viele Patienten unter lumbalen R�ckenschmerzen leiden, oderwie Wirbels�ule, Becken und Beine als integriertes System arbei-ten, lassen sich mittels der topographischen Anatomie nur unzu-reichend beantworten. Tats�chlich verwirrt die Zuordnung zuWirbels�ule und Becken eher. Die „Wirbels�ulenmuskeln“ sindausgepr�gt mit dem Becken und B�ndern der Iliosakralgelenke(ISG) verbunden. Letztere liegen zwischen dem Os sacrum sowierechtem und linkem Os ilium und sind somit ein Teil des Beckens.Offiziell werden die Beckengelenke und -b�nder jedoch den Bei-

nen zugeordnet. Klassifikationen wie Beine, Becken und Wirbel-s�ule k�nnen einen didaktischen Zweck erf�llen, behindern aberunser Verst�ndnis der funktionellen Mechanismen, die in diesemBereich wirksam sind.

Bei der �berpr�fung der Literatur �ber Wirbels�ule und Beckenerweckten die Studien des amerikanischen Therapeuten DonTi-gny [17] sowie von Bowen und Cassidy [9] unsere Aufmerksam-keit. Ersterer berichtete immer wieder, dass die ISG f�r ein Ver-st�ndnis der Wirbels�ulenfunktion essenziell sind, w�hrendBowen und Cassidy eine besondere Knorpelstruktur der ISG be-schrieben. Allerdings finden sich in der Literatur keine weiterenHinweise zum Verst�ndnis der Mechanismen, die „unspezi-fische“ lumbale R�ckenschmerzen verursachen.

Wir konzentrierten unsere Untersuchungen zun�chst auf die ISG-Funktion, da diese entscheidend an der Weitergabe des Gewichtsvon der Wirbels�ule an die Beine beteiligt sind. Das Becken wurdedabei als wichtigste kn�cherne Plattform betrachtet, die mit dreiHebelsystemen verbunden ist: der Wirbels�ule und den beidenBeinen, die bei sich ver�ndernden Bedingungen stabilisiert wer-den m�ssen. Neuere Studien zeigen, dass sich die ISG ver�ndertenBelastungsverteilungen anpassen, indem sie sich unterschiedlichstark versteifen (Abb.1 u. 2a–c). Dies war eine revolution�re Aus-sage, da Gelenke allgemein dadurch charakterisiert sind, dass siegeschmeidig funktionieren. Neuere Untersuchungen erbrachtenjedoch reichliche Belege daf�r, dass die ISG ihre Festigkeit ebensowie andere Gelenke auch bei sich �ndernden Belastungen ver-�ndern k�nnen. Dieses Konzept erm�glicht einen anderen Ansatzzum Verst�ndnis der Stabilisationsmechanismen des mensch-

Bedeutung des Beckeng�rtels als Verbindungvon Wirbels�ule und Beinen1

Teil 1 A. Vleeming

Importance of the Pelvic Girdle as Conjunction between Spine and Legs

KorrespondenzadresseDr. Andry Vleeming · Spine and Joint Center · Westerlaan 10 · NL-301CK Rotterdam

BibliografieManuelle Therapie 2006; 10: 176–185 � Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New YorkDOI 10.1055/s-2006-927024ISSN 1433-2671

1 Aus: Hildebrandt, Lendenwirbels�ule � Elsevier GmbH, Urban & Fi-scher Verlag M�nchen. Mit freundlicher Genehmigung der ElsevierGmbH.

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lichen K�rpers in Ruhe und Bewegung und insbesondere der Ursa-chen lumbopelviner Schmerzen.

Es liegen immer mehr Studienergebnisse vor, wonach die Be-ckenstabilit�t durch die gemeinsamen Funktionen von Wirbel-s�ule, Becken, Beinen und sogar Armen gew�hrleistet wird. ImFolgenden werden die Auswirkungen verschiedener Situationen,wie Stehen, Sitzen, Gehen und kraftvolle Rumpfrotation betrach-tet. Abschließend werden die Entstehungsfaktoren von Becken-g�rtelschmerzen betrachtet.

Verbindungen zwischen Wirbels�ule und Becken

Bei allen Vier- und Zweibeinern bildet der Beckeng�rtel eine fes-te Verbindung zwischen Wirbels�ule und unteren Extremit�ten.Zur Verbesserung der Stabilit�t sind die sakralen Wirbelk�rperzum Os sacrum verschmolzen, dem sakralen Anteil der ISG.

Damit der aufrechte Gang des Menschen m�glich wurde, musstedas Becken bestimmte Ver�nderungen durchlaufen, wie das Auf-stellen der Ossa ilii in die Sagittalebene, wodurch der M. glutaeusmedius als wichtiger Muskel zur Beckenstabilisierung eine bes-sere laterale Ansatzfl�che findet als bei Vierbeinern. Durch seineextrem vergr�ßerte Ansatzfl�che ver�nderte sich der M. glutaeusmaximus von einem beim Schimpansen eher gering ausgepr�g-ten Muskel zu einem der gr�ßten Muskeln des menschlichenK�rpers [39].

Neben den muskul�ren Verbindungen zwischen dem mensch-lichen Os sacrum und den Ossa ilii, beispielsweise durch die un-teren lumbalen Mm. multifidi, die am Os sacrum sowie am me-dialen kranialen Anteil des Os ilium ansetzen, durch denM. glutaeus maximus, der mit dem Os sacrum und dem Lig. sa-crotuberale verbunden ist, sowie durch die Mm. coccygeus undpiriformis, existieren ausgedehnte ligament�re Verbindungen,wie die Ligg. interossei, welche einen iliakalen Vorsprung umge-ben, der in eine dorsale sakrale Aush�hlung passt [3], die ventra-len und dorsalen ISG-B�nder, die sakrotuberalen und sakrospina-len B�nder sowie B�nder zwischen Os sacrum und LWS (Lig.

longitudinale anterius). Außerdem gibt es direkte fibr�se Verbin-dungen zwischen dem Os ilium und LWK4/5, die Ligg. iliolumba-les. Vor kurzem wurde eine Beschreibung ver�ffentlicht, wonachdie iliosakralen und die iliolumbalen B�nder teilweise ver-schmolzen sind [54].

Aufgrund dieser muskul�ren und ligament�ren Verbindungenbeeinflusst eine Bewegung des Os sacrum gegen�ber der Ossailii und umgekehrt die Gelenke in H�he L5/S1 sowie auf h�herenlumbalen Niveaus. Daraus l�sst sich ableiten, dass eine strikteUnterscheidung zwischen der Funktion und Schmerzen des Be-ckeng�rtels sowie lumbalen Schmerzen unrealistisch ist. Anato-mische und funktionelle St�rungen von Becken und LWS-Bereichbeeinflussen einander.

Da die Bandverbindungen des ISG �ußerst fest sind und auchaufgrund seiner spezifischen Struktur, ist die Mobilit�t des ISGnormalerweise stark eingeschr�nkt, wobei aber Verschiebungenauftreten, was wissenschaftlich gut belegt ist [20, 36, 47, 66, 68,69, 78, 80, 88]. Die wichtigsten Bewegungen sind eine Vorw�rts-kippung des Os sacrum im Verh�ltnis zu den Ossa ilii (auch alsNutation bezeichnet) sowie die R�ckw�rtskippung des Os sa-crum im Verh�ltnis zu den Ossa ilii (Counternutation). Es konntegezeigt werden, dass es selbst in fortgeschrittenem Alter (etwa72 Jahre) v�llig normal ist, dass die kombinierte Bewegung ausNutation und Counternutation des ISG 48 erreichen kann, ob-wohl normalerweise Bewegungen weniger als 28 betragen. EinISG mit nur minimaler Beweglichkeit zeigte eine radiologischdeutlich sichtbare Arthrose [79]. Eine Ankylose konnte selbstbei �lteren Menschen nur in Ausnahmef�llen nachgewiesen wer-den, was auch Stewart [47] und Miller et al. [67] feststellten.

Unter Belastung, beispielsweise im Stand, ist die Nutation (Vor-w�rtskippung) verst�rkt, insbesondere bei LWS-Lordosierung[20, 68, 88]. Die Counternutation (R�ckw�rtskippung) tritt nor-malerweise in nicht gewichtsbelasteten Situationen auf, wiedem Liegen (auf Bauch oder R�cken) und nimmt zu, wenn dieLWS abgeflacht wird. Die Counternutation kann in R�ckenlagever�ndert werden, indem die Beine in den H�ften maximal ange-winkelt werden, wie bei der Geb�rposition. Sobald der Kopf desKindes in das kleine Becken eingetreten ist, ist eine ISG-Nutationvorteilhaft, da der kaudale Anteil des Os sacrum nach dorsal ver-lagert und Raum f�r das Kind geschaffen wird.

Beckenstabilit�t und Selbststabilisierungsmechanismusdes ISGDie ISG sind relativ flach im Gegensatz zu den Kugelgelenken derH�fte. Flache Gelenkfl�chen sind anf�llig f�r Scherkr�fte, sodassdas Vorhandensein dieser Gelenkform im Becken �berrascht. Eswerfen sich zwei Fragen auf:– Warum hat die Natur scheinbar instabile flache ISG konstru-

iert? Im menschlichen ISG findet der Transfer starker Kr�ftestatt, und flache Gelenke sind tats�chlich gut dazu geeignet,starke Biegekr�fte zu �bertragen [63, 64]. Eine weitere M�g-lichkeit der effektiven Last�bertragung w�re eine feste Ver-bindung zwischen Os sacrum und Ossa ilii, beispielsweisedurch eine ISG-Ankylose, wie sie bei leichtgewichtigen Zwei-beinern wie V�geln (z.B. Eulen) vorhanden ist. Offensichtlicherf�llt das flache ISG des Menschen einen bestimmten Zweck:Es optimiert den Gang, absorbiert St�ße und Abscherungen

Abb. 1 Schematische Darstellung der Iliosakralgelenke mit Friktions-apparat.

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und erleichtert die Geburt von – evolution�r betrachtet –anormal großen Kindern.

– Welche Anpassungen sind erforderlich, um ein Abscheren die-ser Gelenke zu verhindern? Die ISG sind etwas Besonderes. IhrGelenkknorpel unterscheidet sich bereits vor der Geburt vondem anderer Synovialgelenke, und die Knorpeloberfl�che istnicht glatt. Zahlreiche Autoren haben Knorpelver�nderungenbeschrieben, insbesondere an der iliakalen Gelenkseite. Siewurden als Belege f�r eine degenerative Arthrose betrachtet[9, 59]. Derartige Knorpelver�nderungen sind bei M�nnern

ausgepr�gter als bei Frauen. Dieser Geschlechterunterschiedk�nnte mit der Geb�rf�higkeit zusammenh�ngen sowie mitder unterschiedlichen Schwerpunktlokalisierung im Verh�lt-nis zum ISG [16, 77]. Man sollte erwarten, dass diese „arthro-tischen“ Ver�nderungen insbesondere bei �lteren M�nnernSchmerzen oder ISG-Beschwerden verursachen, was abernicht der Fall ist. Daher geht man inzwischen davon aus, dasses sich eher um funktionelle Anpassungen handelt [77, 78].Die beschriebenen Ver�nderungen scheinen von der Zunahmedes K�rpergewichts w�hrend des pubert�ren Wachstums-

Abb. 2 a–c Frontalschnitte des ISG beim�nnlichen Leichenpr�paraten. Das S mar-kiert die sakrale Seite des ISG. a u. b 12-j�h-riger Junge. c �ber 60-j�hriger Mann. DiePfeile zeigen die einander entsprechendenKanten und Furchen. Sie sind von intaktemKnorpel bedeckt, was durch anschließendes�ffnen der Gelenke best�tigt wurde.

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schubes beg�nstigt zu werden und betreffen die grobe Knor-pelstruktur sowie die kantige und propellerartige Form derGelenkfl�che (Abb.1, 2a–c u. 11a–d).

Untersuchungen von frontalen Schnitten intakter Gelenke vonpr�parierten Leichen zeigen das Vorhandensein von knorpelbe-deckten kn�chernen Vorspr�ngen im Gelenk. Diese Vorspr�ngescheinen unregelm�ßig zu sein, sind aber tats�chlich einanderentsprechende K�mme und Furchen [77]. Sie sollen die Friktionerh�hen und entsprechen einer Adaptation an den aufrechtenGang des Menschen. Somit ist weniger muskul�re und ligamen-t�re Kraft erforderlich, um den Oberk�rper zu tragen (Abb. 2a–c).

Gelenkproben von normalen ISG mit grober Knorpelstruktur undeinander entsprechenden K�mmen und Furchen erhielten dieh�chsten Friktionskoeffizienten, insbesondere im Vergleich zuKnorpelproben des Knies [78].

Form- und KraftschlussUm die Bedeutung der Friktion im ISG zu veranschaulichen, wur-de die Theorie von Form- und Kraftschluss eingef�hrt ([77, 78];Abb. 4).– Beim Formschluss handelt es sich um das theoretische Kons-

trukt einer stabilen Situation mit genau passenden Gelenk-oberfl�chen, sodass keine zus�tzlichen Kr�fte erforderlichsind, um den Status quo in der aktuellen Belastungssituationaufrechtzuerhalten. W�rde das Os sacrum so in das Beckenpassen, dass es zu einem perfekten Formschluss k�me, w�renkeine lateralen Kr�fte erforderlich (Abb.1 u. 4).

– Beim Kraftschluss (der zur Versteifung und damit Kompressi-on f�hrt) sind eine laterale Kraft und Friktion erforderlich, umder vertikal einwirkenden Last zu begegnen (Abb. 3).

Die Abscherung des ISG wird durch eine Kombination unter-schiedlicher anatomischer Merkmale verhindert (Formschluss)sowie durch eine von den Muskeln und B�ndern erzeugte Kom-pression, die der jeweiligen Belastung angepasst werden kann(Kraftschluss). Dieses System zur Verhinderung einer Absche-rung aus Kraftschluss und Formschluss wurde als Selbststabilisie-rungsmechanismus bezeichnet. Eine Selbststabilisierung ist in ki-nematischen Ketten erforderlich, bevor eine Bewegung abl�uft.Es wird angenommen, dass der Selbstspannungsmechanismusnicht auf das ISG beschr�nkt ist, sondern einen wichtigen Stabi-lisierungsmechanismus aller Gelenke darstellt.

Wirken gr�ßere Hebelkr�fte auf Gelenke und/oder steht nur we-nig Zeit zur Verf�gung, um die Bewegung zu koordinieren, rea-giert das lokomotorische System allgemein mit einer Einschr�n-kung oder Blockade der Freiheitsgrade der kinematischen Kette,sodass die Kette durch den Kraftschluss immobiler und stabilerwird [33]. Der Selbstblockade des ISG vergleichbare Mechanis-men existieren auch f�r andere Gelenke, wie das kalkaneokuboi-de Gelenk [5].

B�nderF�r das selbststabilisierende Becken ist die ISG-Nutation essen-ziell, da sie die meisten ISG-B�nder spannt, auch die breiteninteross�ren B�nder zwischen Os sacrum und Ossa ilii unmittel-bar posterior der Hauptgelenkfl�che. Aufgrund der Spannung derinteross�ren, sakrotuberalen (und kurzen dorsalen sakroiliaka-

len) B�nder werden die posterioren Anteile der Ossa ilii zusam-mengezogen und die Kompression der ISG erh�ht.

Hodges et al. [29] bezeichneten die Nutation als vorbereitendeBewegung der LWS. Die Nutation wird als Verschiebung im ISGbetrachtet, um das Becken auf eine gr�ßere Gewichtslast vor-zubereiten. Durch die Nutation im ISG wird die Spannung derB�nder erh�ht und damit die Kompression und Selbststabilisie-rung des Gelenkes.

Zwei B�ndergruppen (Abb. 5a u. b) m�ssen bei der Selbststabili-sierung des Beckens aus bestimmten Gr�nden besonders beach-tet werden: die sakrotuberalen B�nder [75, 76, 89] und die lan-gen dorsalen Iliosakralb�nder [82]. In der Literatur existierenkeine Daten zur funktionellen und klinischen Bedeutung der lan-gen B�nder. In mehreren anatomischen Atlanten und Lehr-b�chern werden das Lig. sacroiliacum posterius longus und dasLig. sacrotuberale als durchgehend dargestellt. Im Allgemeinenerwecken die Zeichnungen den Eindruck, dass die B�nder diesel-be Funktion haben. Wie durch die entgegengesetzten Wirkungenvon Nutation und Counternutation auf diese B�nder gezeigt wur-de (siehe unten), trifft dies nicht zu. Insbesondere das Lig. sacroi-liacum posterius longus verbindet Os sacrum und Spina iliacaposterior superior, w�hrend der Hauptteil des Lig. sacrotuberaleOs sacrum und Tuber ischiadicum verbindet. Allerdings verlau-fen einige Fasern vom Tuber ischiadicum aus zum Os ilium. Siewerden meistens als Teil des sakrotuberalen (dorsalen iliosakra-len) Bandes angesehen, obwohl die Bezeichnung tuberoiliakalesBand zutreffender w�re. In den Nomina anatomica existiert keinderartiges Band.

Abb. 3 Nutation im ISG-Gelenk. Die Ossa ilii werden durch B�nderaufeinander zugezogen und komprimieren die Iliosakralgelenke (obereschwarze Pfeile). Der obere (anteriore) Teil der Symphyse wird dabeiebenfalls komprimiert.

Abb. 4 Modell des Selbststabilisierungsmechanismus. Die Kombina-tion aus Formschluss und Kraftschluss stellt die ISG-Stabilit�t her.

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Ligamentum sacrotuberaleBei pr�parierten menschlichen Leichen konnten wir einen direk-ten Zusammenhang zwischen Nutation und Spannung des Lig.sacrotuberale belegen (Abb. 5a). Nach Durchtrennung des Ban-des nahm die Nutation ab, was insbesondere auf die Zunahmeder Knochenkontaktkr�fte und der Gelenkkompression zur�ck-zuf�hren ist [75, 76]. Es steht zu erwarten, dass das Gegenteil(verminderte Bandspannung) die Nutation verst�rken wird. Of-fensichtlich sind die sakrotuberalen B�nder gut dazu geeignet,die Nutation zu begrenzen.

Ligamentum sacroiliacum posterius longusIn Anbetracht der Bedeutung der sakrotuberalen B�nder bei derBeschr�nkung der Nutation stellten wir uns die Frage, welcheB�nder die Counternutation einschr�nken k�nnen. Aufgrund sei-ner Verbindung mit der Spina iliaca posterior superior und demlateralen Anteil des Os sacrum (Abb. 5b) gingen wir davon aus,dass das Lig. sacroiliacum posterius longus diese Funktion erf�l-len w�rde. Dieses Band ist leicht unmittelbar kaudal der Spinailiaca posterior superior zu ertasten. Es ist von besonderer Be-

deutung, da Schwangere mit lumbopelvinen Schmerzen dieseoft innerhalb der Grenzen dieses Bandes angeben [43, 50, 82].Auch M�nner geben regelm�ßig Schmerzen in diesem Bereichan. Da dieses Band den meisten �rzten �berraschenderweise un-bekannt ist, sollen hier kurz die Daten einer anatomischen, bio-mechanischen Studie [82] wiedergegeben werden.

Die Studie sollte die Funktion des Bandes ermitteln, wozu dessenSpannung bei zunehmender Belastung biomechanisch relevan-ter Strukturen gemessen wurde (n = 12). Es wurden mehrereStrukturen, einschließlich dem M. erector spinae, der posterio-ren Schicht der Fascia thoracolumbalis, dem Lig. sacrotuberaleund dem Os sacrum zunehmend belastet (mit Kr�ften von0– 50 N). Das Os sacrum wurde in zwei Richtungen, unter Nuta-tion und Counternutation, belastet.

Anatomische AspekteKranial inseriert das Lig. sacroiliacum posterius longus an derSpina iliaca posterior superior und dem angrenzenden Teil desOs ilium, kaudal an der lateralen Kante des dritten und viertenSakralsegmentes. Bei einigen Menschen ziehen die Fasern auchzum f�nften Sakralsegment. Von den Ansatzstellen am Os sa-crum ziehen Fasern zum Os coccygeum, die nicht als Teile deslangen Bandes betrachtet werden.

Die laterale Ausdehnung des langen Bandes unmittelbar kaudalder Spina iliaca posterior superior betr�gt 15 – 30 mm. Die zwi-schen Spina iliaca anterior posterior und drittem und viertem Sa-kralsegment gemessene L�nge betr�gt 4– 75 mm. Der lateraleAnteil des Bandes ist durchg�ngig und enth�lt Fasern des Lig. sa-crotuberale, die zwischen Tuber ischiadicum und Os ilium hin-durchziehen. Allerdings besteht eine große Variationsbreite. Diemedialen Fasern des langen Bandes sind mit der Lamina profun-da der posterioren Schicht der Fascia thoracolumbalis sowie mitder Aponeurose des M. erector spinae verbunden. Nach Durch-trennung der Aponeurose des M. erector spinae werden die Ver-bindungen zwischen dem Ligament und den Fasern des M. mul-tifidus sichtbar.

Biomechanische AspekteDie forcierte zunehmende Nutation des ISG reduziert die Span-nung im Lig. sacroiliacum posterius longus, w�hrend eine forcierteCounternutation sie erh�ht. Die Spannung im langen Iliosakral-band nahm bei Belastung des ipsilateralen Lig. sacrotuberale unddes M. erector spinae zu. Bei Traktion am M. glutaeus maximusnahm sie hingegen ab, ebenso wie bei der Traktion am ipsi- undkontralateralen posterioren Anteil der Fascia thoracolumbalis ineiner Richtung, welche die Kontraktion des M. latissimus dorsiausl�st. Offensichtlich hat das Lig. sacroiliacum posterius longusenge anatomische Beziehungen mit den Mm. erector spinae undmultifidi, der posterioren Lage der Fascia thoracolumbalis und ei-nem bestimmten Teil des sakrotuberalen Bandes (Lig. tuberoilia-cum). Funktionell stellt es eine wichtige Verbindung zwischenBeinen, Wirbels�ule und Armen dar. Das Band wird bei ISG-Coun-ternutation gespannt, und es entspannt sich bei Nutation. EinNachgeben des langen dorsalen Iliosakralbandes kann vom sakro-tuberalen Band und dem M. erector spinae ausgeglichen werden.

Schmerzen innerhalb der Abgrenzung des langen Bandes k�nnenunter anderem darauf hinweisen, dass eine Wirbels�ulenaffektion

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Abb. 5 a u. b a Die Nutation spannt das Lig. sacrotuberale (Pfeil).b Die Counternutation spannt das Lig. sacroiliacum posterius longus(Pfeil).

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mit andauernder Counternutation des ISG vorliegt. Bei der Diag-nostik von Patienten mit spezifischen lumbalen R�ckenschmerzenoder Beckeng�rtelschmerzen sollte das Lig. sacroiliacum posteriuslongus niemals außer Acht gelassen werden. Selbst bei einer ISG-Arthrodese kann die Spannung im langen Band noch immer durchverschiedene Strukturen beeinflusst werden.

Diese Beobachtung legt nahe, dass die Spannung im langen Bandsowohl durch eine ISG-Verschiebung als auch durch die Aktivit�tverschiedener Muskeln ver�ndert werden kann. Offensichtlichl�st die ISG-Nutation eine Relaxation des langen Bandes aus,w�hrend eine Counternutation seine Spannung erh�ht. Im Ge-gensatz dazu erh�ht die Nutation die Spannung des Lig. sacrotu-berale, w�hrend es bei Counternutation nachgibt (Abb. 5b). Dieerh�hte Spannung im Lig. sacrotuberale bei Nutation kann Folgevon ISG-Bewegungen sein sowie von einer erh�hten Spannungim M. biceps femoris und/oder dem M glutaeus maximus. DieseMechanismen tragen zur Nutationskontrolle bei. Da die Counter-nutation die Spannung im langen Band erh�ht, kann dieses einerCounternutation entgegenwirken.

Zwischen B�ndern mit entgegengesetzter Funktion wie dem Lig.sacroiliacum posterius longus und dem Lig. sacrotuberale existie-ren offensichtlich komplexe Interaktionen. Schließlich f�hrt auchdie Belastung des sakrotuberalen Bandes zu einer geringf�gig er-h�hten Spannung im langen Band. Dieser Effekt wird Folge der Ver-bindungen zwischen langem Band und tuberoiliakalem (Teil dessakrotuberalen Bandes) Band sein sowie vermutlich eines counter-nutierenden Momentes durch Belasten des sakrotuberalen Bandes.

Eine vergleichbar komplexe Relation k�nnte f�r das lange Bandund den M. erector spinae bzw. den M. multifidus gelten. Da derM. multifidus mit dem Os sacrum verbunden ist [40, 41], f�hrtseine Aktion zur Nutation. Infolgedessen gibt das lange Bandnach. Allerdings zeigt die vorliegende Studie eine Spannungs-zunahme im langen Band nach Traktion am M. erector spinae.Dieser ausgleichende Effekt ist Folge der Verbindungen zwi-schen dem M. erector spinae und dem langen Band und wirktder Relaxation entgegen. In vivo wird dieser Effekt geringer aus-gepr�gt sein, da das auf das Os sacrum wirkende Kraftmomentdurch den Zug des M. erector spinae erh�ht und die daraus resul-tierende Kompression der Wirbels�ule verst�rkt wird [64]. ImRahmen der Studie wurde keine spinale Kompression ausgel�st.Die beiden antagonistischen Mechanismen – zwischen dem Lig.sacroiliacum posterius longus und dem Lig. sacrotuberale sowiedem M. erector spinae – dienen vermutlich dazu, eine extensiveRelaxation des langen Bandes zu verhindern. Derartige Mecha-nismen k�nnen f�r ein flaches Gelenk wie das ISG essenziell sein,das anf�llig gegen�ber Scherkr�ften ist [63, 64]. Man kann davonausgehen, dass die Beeintr�chtigung eines Teils dieses verfloch-tenen Bandsystems schwer wiegende Auswirkungen auf das Ge-lenk haben wird, da die Last�bertragung von der Wirbels�ule aufdie H�ften und umgekehrt prim�r �ber das ISG erfolgt [63, 64].

Wie in der Studie von Vleeming et al. [82] gezeigt, beeinflussteine Traktion am M. biceps femoris die Spannung des langenBandes kaum. Dies steht im Gegensatz zu der Wirkung des M. bi-ceps auf das Lig. sacrotuberale [75, 76, 91]. Diese Beobachtungenk�nnen im Zusammenhang mit der Spiralform des sakrotubera-len Bandes stehen. Die meisten medialen Fasern des Bandes set-

zen am kranialen Anteil des Os sacrum an, w�hrend die meistenFasern vom lateralen Anteil des Tuber ischiadicum eher zumkaudalen Anteil des Os sacrum ziehen (Abb. 5a). Die Fasern derBizepssehne, die zu einem eher lateralen Anteil des Tuber ischia-dicum ziehen, ziehen �berwiegend am kaudalen Os sacrum vor-bei. Daher kann der Effekt einer Traktion des M. biceps femorisauf die Spannung des langen Bandes nur begrenzt sein.

Offensichtlich ist der Einfluss des Lig. sacroiliacum posterius lon-gus auf die Spannung der posterioren Lage der Fascia thoracolum-balis von der Richtung der Kraft abh�ngig, in der sie auf die Fasziewirkt. Die k�nstliche Traktion an der Faszie, die die Aktion desM. transversus abdominis nachahmen sollte, hatte keinen Effekt.Eine kraniolaterale Traktion im Sinne einer Aktion des M. latissi-mus dorsi f�hrte zu einem signifikanten Spannungsabfall im ipsi-und kontralateralen Lig. sacroiliacum posterius longus. Wie in ei-ner anderen Studie gezeigt wurde [81], beeinflusst die Traktion amM. latissimus dorsi die Spannung in der posterioren Lage derFascia thoracolumbalis sowohl ipsi- als auch kontralateral undinsbesondere unterhalb von L4. Daher kann ein Nachgeben deslangen Bandes Folge einer erh�hten Spannung in der posteriorenLage durch den M. latissimus dorsi sein. Dies allein kann schonzur Nutation f�hren, die wiederum zu einer st�rkeren Kompres-sion und Kraftschluss am ISG f�hrt. Wie in dieser Studie gezeigtwurde, kann ein Spannungsabfall im langen Band auch durch dieAktion des M. glutaeus maximus hervorgerufen werden, der sichin einer idealen Lage befindet, um das ISG zu komprimieren.

Man neigt schnell dazu, voreilige Schl�sse zu ziehen, wenn diePalpation unmittelbar kaudal der Spina iliaca posterior superiorschmerzhaft ist, was aus folgendem Grund nicht getan werdensollte: Schmerzen in diesem Bereich k�nnen �bertragenemSchmerz aus dem ISG entsprechen [21, 22] oder einer ISG-Coun-ternutation. Letztere kommt bei einer Abflachung der LWS zustan-de [20, 36, 68], wie sie insbesondere in der Sp�tschwangerschaftauftritt, um das Gewicht des Feten auszugleichen [62]. Eine der-artige Haltung in Kombination mit einer Counternutation kannauch Folge einer schmerzhaften Ausweichbewegung bei einer Be-eintr�chtigung an anderer Stelle des Systems sein. Daher kann nurspezifischer Schmerz mit einer Abgrenzung entlang der Grenzendes langen Bandes als diagnostisches Kriterium herangezogenwerden. Ein Beispiel f�r eine derartige Ausweichreaktion ist derpostnatale Symphysenschmerz [43], der die normale lumbale Lor-dose verhindert und damit auch die Nutation. Die lumbale Lordo-se bewirkt eine Nutation im ISG [20, 36, 68, 88]. Eine Nutationsetzt voraus, dass linke und rechte Spina iliaca posterior superiorsich einander geringf�gig ann�hern, w�hrend die Symphyse nachkaudal ausgedehnt und komprimiert wird ([36, 85]; Abb. 3). Indiesem Beispiel wird die Patientin versuchen, eine Nutation zuverhindern und die untere Wirbels�ule flacher stellen, was zudauerhafter Spannung und Schmerzen im langen Band f�hrt.

Zusammenfassend kann das Lig. sacroiliacum posterius longus,das leicht unmittelbar kaudal der Spina iliaca posterior superiorzu ertasten ist, anatomisch als Beckenstruktur betrachtet wer-den. Allerdings steht das Band in enger Beziehung unter ande-rem zu den Mm. erector spinae und multifidus, der posteriorenLage der Fascia thoracolumbalis und dem Lig. sacrotuberale. Da-her stellt es eine funktionell bedeutsame Verbindung zwischenBeinen, Wirbels�ule und Armen dar. Das lange Band wird bei

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ISG-Counternutation gespannt und bei ISG-Nutation entspannt.W�hrend der Nutation k�nnen der M. erector spinae und das sa-krotuberale Band das Nachgeben des langen Bandes auffangen.Die anatomischen Verbindungen zwischen B�ndern und Mus-keln mit entgegengesetzten Funktionen k�nnen dazu beitragen,das exzessive Nachgeben von B�ndern zu verhindern.

Im Falle der lumbalen und Beckeng�rtelschmerzen sollte das lan-ge Band in die diagnostischen �berlegungen einbezogen werden,da ein lokalisierter Schmerz, der auf das lange Band begrenzt ist,auf eine spinale oder Beckenaffektion hinweisen kann, die zu einerandauernden ISG-Counternutation f�hrt. Ist der Schmerz jedochnicht auf das lange Band begrenzt, sondern dehnt sich auf den me-dialen Ges�ßbereich aus, k�nnte er Teil eines typischen Schmerz-�bertragungsmusters aus dem ISG sein [21, 22].

Fascia thoracolumbalisBei zehn pr�parierten menschlichen Leichen konnte die poste-riore Lage der Fascia thoracolumbalis belastet werden, indemdie Aktionen verschiedener Muskeln imitiert wurden [81].

Anatomische AspekteDie posteriore Schicht der thorakolumbalen Faszie bedeckt dieR�ckenmuskeln von der Kreuzbeinregion �ber den thorakalenBereich bis zur Nackenfaszie. In H�he L4/5 und des Os sacrumbestehen starke Verbindungen zwischen der Lamina superficia-lis und profundus. Die Mm. transversus abdominis und obliquusinternus inserieren indirekt �ber ein dichtes Netz mit der mitt-leren Schicht sowie beide Laminae der posterioren Schicht ander Fascia thoracolumbalis [6]. Dieses „laterale Netz“ [6, 7] liegtlateral des M. erector spinae und kranial der Crista iliaca.

Lamina superficialis (Abb. 6)Die Lamina superficialis der posterioren Schicht der thorakolum-balen Faszie geht in die Mm. latissimus dorsi, glutaeus maximus,Teile des M. obliquus externus und den M. trapezius �ber. Kranialder Crista iliaca wird die laterale Grenze der Lamina superficialisdurch ihren �bergang in den M. latissimus dorsi gebildet. Die Fa-sern der Lamina superficialis verlaufen von kraniolateral nachkaudomedial. Lediglich wenige Fasern der Lamina superficialis ge-hen in die Aponeurose der Mm. obliquus externus und trapezius�ber. Die meisten Fasern entstammen der Aponeurose des M. la-tissimus dorsi und setzen an den supraspinalen B�ndern undDornforts�tzen kranial von L4 an. Kaudal von L4/5 ist die Laminasuperficialis meistens (allenfalls) locker an Mittellinienstrukturenbefestigt, wie den Ligg. supraspinalia, den Dornforts�tzen und derCrista sacralis medialis. Dabei kreuzen sie zur anderen Seite, wosie an Os sacrum, Spina iliaca posterior superior und Crista iliacaansetzen. Dies geschieht auf unterschiedlicher H�he, meistenskaudal von L4, gelegentlich aber auch schon in H�he L2/3.

Barker et al. [4] zeigten, dass die Lamina superficialis nach supe-rior in die Mm. rhomboidei �bergeht. Sie berichten, dass die Be-funde von Bogduk et al. [8] bez�glich einer Faszienverdickungund dem Vorhandensein von posterioren akzessorischen B�ndernnicht best�tigt werden konnten. Zum gleichen Ergebnis kamenVleeming et al. [81].

Auf Sakralebene geht die Lamina superficialis in die Faszie desM. glutaeus maximus �ber. Diese Fasern verlaufen von kranio-

medial nach kaudolateral. Die meisten der Fasern inserieren ander Crista sacralis medialis. Allerdings kreuzen die Fasern aufH�he L4/5 und bei einigen Menschen sogar noch kaudaler aufS1/2 vollst�ndig oder teilweise zur Gegenseite und setzen ander kontralateralen Spina iliaca superior posterior und der Cristailiaca an. Einige dieser Fasern verschmelzen mit dem lateralenNetz und mit Fasern aus der Faszie des M. latissimus dorsi. We-gen der unterschiedlichen Ausrichtung der Fasern der Mm. latis-simus dorsi und glutaeus maximus imponiert die Lamina super-ficialis in H�he L4/5 als kreuzschraffiert –, in manchenPr�paraten sogar auf H�he L5–S2. Insbesondere �ber der unterenLWS und den ISG wird die Lamina dicker und kr�ftiger.

Lamina profunda (Abb. 7)Barker et al. [4] konnten belegen, dass die Lamina profunda su-perior in die Sehnen der Mm. splenius cervicis und capitis �ber-geht. Auf den unteren lumbalen und sakralen Ebenen verlaufendie Fasern der Lamina profunda von kraniomedial nach kaudola-teral. Auf Sakralebene verschmelzen sie mit den Fasern der Lami-na superficialis. Da die Fasern der Lamina profunda in diesem Be-reich in das Lig. sacrotuberale �bergehen, existiert eine indirekteVerbindung zwischen diesem Band und der Lamina superficialis.Daneben gibt es eine direkte Verbindung mit einigen Fasern der

Abb. 6 Lamina superficialis (A = Faszie des M. glutaeus maximus,B = Faszie des M. glutaeus medius, C = Faszie des M. obliquus externus,D = Faszie des M. latissimus dorsi, 1 = Spina iliaca posterior superior,2 = Crista sacralis, LR = Teil des lateralen Netzes. Die Pfeile (links) mar-kieren von kranial nach kaudal Ort und Richtung der Traktion (50 N) aufden M. latissimus dorsi, den M. glutaeus medius und den M. glutaeusmaximus.)

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Lamina profunda. Im Beckenbereich ist die Lamina profunda mitder Spina iliaca posterior superior, der Crista iliaca und dem Lig.sacroiliacum posterius longus verbunden. Dieses Band zieht vomOs sacrum zu seinem Ansatz an der Spina iliaca posterior supe-rior. Im LWS-Bereich entstammen die Fasern der Lamina profun-da den Interspinalb�ndern. Sie setzen an der Crista iliaca ansowie weiter kranial am lateralen Netz, an dem auch der M. obli-quus internus befestigt ist. Bei einigen Menschen kreuzen Fasernder Lamina profunda zwischen L5 und S1 zur Gegenseite. In derKerbe zwischen Crista sacralis medialis, Spinae iliacae posterio-res superiores und Spinae iliacae inferiores verschmelzen die Fa-sern der Lamina profunda mit denen des M. erector spinae. Wei-ter kranial, im LWS-Bereich, wird die Lamina profunda d�nnerund frei auf den R�ckenmuskeln verschieblich. Im unteren BWS-Bereich verschmelzen Fasern des M. serratus posterior inferiorund seiner Faszie mit den Fasern der Lamina profunda.

Biomechanische AspekteTraktion an der Lamina superficialisAbh�ngig vom Ort der Traktion wurden �ußerst unterschiedlicheErgebnisse erzielt [81]:– Die Traktion an der kranialen Faszie und den Muskelfasern

des M. latissimus dorsi bewirkte eine begrenzte Verschiebungder Lamina superficialis (homolateral um bis zu 2 –4 cm).

– Die Traktion am kaudalen Anteil des M. latissimus dorsi f�hr-te zu einer Verlagerung bis zur Mittellinie. Der Mittellinienbe-reich ist 8 – 10 cm vom Traktionsort entfernt. Zwischen L4/5und S1/2 trat sogar kontralateral eine Verschiebung auf, wo-bei der Abstand zwischen dem Traktionsort und der sicht-baren Verschiebung bei 4– 7 cm lag.

– Der Effekt einer Traktion am M. obliquus externus war zwi-schen den Pr�paraten unterschiedlich.

– Bei allen Pr�paraten hatte die Traktion am M. trapezius nurgeringe Auswirkungen (bis zu 2 cm).

– Die Traktion an den medialen Glut�almuskeln hatte keineAuswirkungen.

Traktion an der Lamina profunda– Die laterale Traktion an der Sehne des M. biceps femoris f�hr-

te zu einer Verlagerung der Lamina profunda bis auf H�heL5/S1. Offensichtlich erfolgt diese Last�bertragung durch dassakrotuberale Band. Bei zwei Pr�paraten trat die Verschie-bung kontralateral auf, 1 –2 cm von der Mittellinie entfernt.

– Die mediale Traktion an der Sehne des M. biceps femoris ver-ursachte eine homolaterale Verlagerung der Lamina profundabis zur Crista sacralis medialis.

– Die Traktion am M. obliquus internus verursachte keine sicht-bare Verschiebung.

Wie durch die Traktionstests belegt wurde, kann die Spannung inder posterioren Schicht der Fascia thoracolumbalis durch Kontrak-tion oder Dehnung zahlreicher Muskeln beeinflusst werden. Ins-besondere Muskeln wie der M. latissimus dorsi und derM. glutaeus maximus k�nnen sich an der LWS und dem Beckenauch kontralateral auswirken. Dies legt nahe, dass die ipsilateralenMm. latissimus dorsi und glutaeus maximus die posterioreSchicht spannen k�nnen. Dadurch erm�glichen Teile dieser Mus-keln einen Weg der ununterbrochenen mechanischen �bertra-gung zwischen Becken und Rumpf. Man k�nnte ins Feld f�hren,dass sich die fehlende Verbindung zwischen der Lamina super-ficialis der posterioren Schicht und den supraspinalen B�ndernder LWS negativ auf die Stabilit�t auswirkt. Dies w�re jedoch nurder Fall, wenn Kraft, Koordination und die effektive Kopplung desM. glutaeus maximus und des kaudalen Anteils des M. latissimusdorsi gest�rt sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass eineKraftzunahme in den erw�hnten Muskeln durch Rumpftrainingdie Qualit�t der posterioren Schicht verbessern kann. Folgt mandiesem Gedanken weiter, kann die posteriore Schicht der thorako-lumbalen Faszie bei der Rumpfrotation und der Last�bertragungintegrierend wirksam werden und somit auch f�r die Instabilit�tvon LWS und Becken bedeutsam sein.

Barker et al. [4] merkten an, dass sich die posteriore Schicht in deridealen Lage f�r ein Feedback aus zahlreichen beteiligten Struktu-ren befindet, die an den lumbalen Bewegungen beteiligt sind unddie Bandspannung �ber ihre ausgedehnten Ansatzstellen von tie-fen stabilisierenden und weiter oberfl�chlichen Muskeln reguliert.Außerdem berichteten sie, dass die Faszie viskoelastische Eigen-schaften besitzt und daher ihre Struktur ver�ndern kann, um sicheinwirkenden Belastungen anzupassen. So wurde berichtet, dasssich die posteriore Schicht mit zunehmender Belastung versteiftund eventuell sogar adaptativ verdickt. Barker et al. [4] merkendazu an, dass die adaptative Verst�rkung der posterioren Schichtvermutlich durch �bungen unterst�tzt werden kann, welche die

Abb. 7 Lamina profunda (B = Faszie des M. glutaeus medius, E = Ver-bindungen zwischen der Lamina profunda und der Faszie desM. erector spinae, F = Faszie des M. obliquus internus, G = Faszie desM. serratus posterior �nferior, H = sakrotuberales Band, 1 = Spina iliacaposterior superior, 2 = Crista sacralis, LR = Teil des lateralen Netzes. DiePfeile (rechts) markieren von kranial nach kaudal die Traktion auf dieMm. serratus posterior bzw. obliuquus internus.

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dort ansetzenden tiefen und oberfl�chlichen Muskeln kr�ftigen.Daher d�rfte eine adaptative Kr�ftigung auftreten, sobald die ge-genseitige Extremit�t in die �bung einbezogen wird, also beimSchwimmen, Gehen und beim Rumpftraining. Außerdem kanndiese durch Reduktion der Muskelspannung und Verbesserungder Muskelfunktion (Mm. erector spinae und multifidi) im Rah-men lumbopelvikaler Stabilisations�bungen verst�rkt werden.

Bogduk et al. [8] stimmen nicht damit �berein, dass der M. latissi-mus dorsi an der Wirbels�ulenrotation beteiligt ist und merkenan, dass der Muskel dazu da ist, den Arm zu bewegen, sodass seinm�glicher Beitrag zur Spannung des ISG �ber die thorakolumbaleFaszie zu vernachl�ssigen ist. Im Gegensatz dazu konnten Kumaret al. [35] zeigen, dass zur axialen Rumpfrotation die agonistischeAktivit�t der kontralateralen Mm. obliqui externi erforderlich istsowie der ipsilateralen Mm. erector spinae und latissimus dorsials agonistischer Muskeln. Mooney et al. [49] setzten die anato-mische Beziehung zwischen dem M. latissimus dorsi und demkontralateralen M. glutaeus maximus ein, um deren gemeinsamenEffekt bei axialen Rotations�bungen und beim Gehen zu erfassen.Sie schlussfolgerten dies, weil die funktionelle Beziehung zwi-schen den erw�hnten Muskeln bei normalen Menschen, die auf ei-nem Laufband gehen, best�tigt werden kann. Bei 15 Probanden(12 Rechtsh�nder) wies der rechte M. glutaeus maximus imDurchschnitt eine deutlich geringere Signalamplitude auf als derlinke. Diese umgekehrte Beziehung der Muskeln entspricht dernormalen Zur�ckrotation der Schultern gegen�ber dem Beckenbeim normalen Gang.

Sie zeigten, dass der rechte M. latissimus dorsi bei der Rumpf-rotation signifikant aktiver ist als der linke, w�hrend der linkeM. glutaeus maximus aktiver ist als der rechte [49]. Bei Patientenmit ISG-Beschwerden wurde ein vollkommen anderes Aktivi-t�tsmuster ermittelt. So war der M. glutaeus maximus auf dersymptomatischen Seite weitaus aktiver als bei gesunden Men-schen. Das umgekehrte Verh�ltnis zwischen den Mm. latissimusdorsi und glutaeus maximus war jedoch weiterhin vorhanden.Nach einem intensiven Rotationskr�ftigungsprogramm konntebei den Patienten eine deutliche Kr�ftigung des M. latissimusdorsi nachgewiesen werden sowie eine verminderte Aktivit�tdes M. glutaeus maximus auf der betroffenen Seite.

Diese Ergebnisse k�nnten bedeuten, dass ein Rumpfrotations-muskeltraining insbesondere f�r die Stabilisierung von ISG undLWS wichtig ist. Außerdem widerlegen sie die Schlussfolgerungvon Bogduk et al. [8], wonach die einzige Funktion des M. latissi-mus dorsi in der Bewegung der oberen Extremit�t besteht.

Eine nicht optimale Stabilit�t des Beckeng�rtels kann verbessertwerden, indem ein Beckengurt getragen wird, mit dessen Hilfedas ISG „selbststabilisiert“ wird [80]. Durch Druck auf die untereLWS und das Becken geh�ren die posteriore Schicht der thorako-lumbalen Faszie und die daran ansetzenden Muskeln zu denStrukturen, die eine physiologische Selbstblockade erzeugenk�nnen. Dabei muss betont werden, dass – wie in dieser Studiegezeigt wurde – die gemeinsame Funktion von M. glutaeus ma-ximus und kontralateralem M. latissimus dorsi eine Kraft er-zeugt, die senkrecht zum ISG wirkt. Die Bedeutung der Mm.erector spinae und multifidi bei der Last�bertragung ist dabeibesonders interessant. Zwischen dem lateralen Netz (Raphe)

und den interspinalen B�ndern umschließt die Lamina profundadie beiden Muskeln. Eine Kontraktion entweder des M. erectorspinae oder des M. multifidus wird die Spannung in der Laminaprofunda longitudinal durch Zug erh�hen. Außerdem wird diegesamte posteriore Schicht der thorakolumbalen Faszie durchdie Kontraktion der Mm. erector spinae und multifidi „versteift“,�hnlich wie wenn ein Ball aufgeblasen wird [81]. Daraus kanngefolgert werden, dass ein Training der Mm. glutaeus maximus,latissimus dorsi, erector spinae und multifidi zur Verbesserungdes Kraftschlusses bzw. der Stabilit�t beitragen kann, indem dieposteriore Schicht der thorakolumbalen Faszie verst�rkt wird.

Zusammenfassend spielt die posteriore Schicht der thorakolum-balen Faszie bei der �bertragung von Kr�ften zwischen Wirbel-s�ule, Becken und Beinen eine wichtige Rolle, insbesondere beider Rumpfrotation und der Stabilisierung von unterer LWS undISG. Die Mm. glutaeus maximus und latissimus dorsi verdienenbesondere Beachtung, da sie Kr�fte �ber die posteriore Schichtnach kontralateral �bertragen k�nnen. Eine Kontraktion insbeson-dere des M. latissimus dorsi hat erhebliche Auswirkungen, da diein seinem kaudalen Anteil entstehenden Kr�fte vollst�ndig auf diethorakolumbale Faszie �bertragen werden. Aufgrund der Kopp-lung von M. glutaeus maximus und dem kontralateralen M. latis-simus dorsi �ber die posteriore Schicht der thorakolumbalen Fas-zie ist die Zuordnung von Muskeln zu Arm, Wirbels�ule oder Beinoft nicht m�glich. Die Rumpfrotation ist �berwiegend eine Funk-tion der Mm. obliquus externus. Allerdings tr�gt eine Konter-Mus-kelschlinge im R�cken dazu bei, dass sich die Wirbels�ule nichtverformt. Eine Rotation gegen erh�hten Widerstand aktiviert dieposteriore schr�ge Schlinge aus M. latissimus dorsi und M. gluta-eus maximus.

MuskelnAm Kraftschluss des ISG sind zahlreiche Muskeln beteiligt. Auf-grund der ISG-Funktion wollen wir uns hier auf vier Muskelnkonzentrieren: die Mm. erector spinae/multifidi, glutaeus maxi-mus, latissimus dorsi und biceps femoris (Abb. 8).

Der M. erector spinae ist der wichtigste Muskel f�r Belastung undStreckung von Wirbels�ule und Becken. Seine sakrale Verbindung(gemeinsame Sehnenaponeurose mit der Faszie und den Muskel-fasern des M. multifidus) zieht das Os sacrum nach vorne, wo-durch es zur ISG-Nutation und Spannung der inteross�ren, sakro-tuberalen und sakrospinalen B�nder kommt. Diese Nutation isteine Vorbereitung auf eine ISG-Belastung (vorbereitende Bewe-gung [29]). Der M. erector spinae hat eine doppelte Funktion, daseine iliakalen Verbindungen die posterioren Seiten der Ossa iliizueinander ziehen, was die Nutation erzwingt. Dies bedeutet,dass die kraniale ISG-Seite aufgrund der Aktion der Mm. erectorspinae und multifidi w�hrend der Nutation eher komprimiertwird, w�hrend die kaudale Seite sich eher weiter stellt. Letztereswird durch das sakrotuberale Band begrenzt, das bei der Nutationgespannt wird und direkte Faszienverbindungen mit demM. erector spinae besitzt. Ein vergleichbarer Prozess tritt in derSymphyse auf, wo das gr�ßte symphyseale Band kaudal des Ge-lenkes verl�uft.

Aufgrund der senkrechten Ausrichtung der ISG kann der M. glu-taeus maximus die Gelenke direkt und indirekt durch seine brei-ten muskul�ren Verbindungen mit dem sakrotuberalen Band

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komprimieren. Gibbons [24] vermutet, dass der kaudale Anteildes M. glutaeus maximus, der vom sakrotuberalen Band kommt,gemeinsam mit den Beckenbodenmuskeln arbeiten kann. Vlee-

ming et al. [81] stellten im Rahmen einer Studie zum ISG fest,dass die Kompression durch Kopplung von M. glutaeus maximusund gegenseitigem M. latissimus dorsi �ber die thorakolumbaleFaszie erreicht werden kann (Abb. 8).

Im Gegensatz zur g�ngigen Vorstellung konnte gezeigt werden,dass die Spannung des Lig. sacrotuberale durch kaudale Traktiondes langen Kopfes des M. biceps femoris erh�ht werden kann.Dies ist m�glich, da nicht alle Fasern des langen Bizepskopfesam Tuber ischiadicum inserieren: Die proximale Sehne geht teil-weise, manchmal auch vollst�ndig, in das sakrotuberale Band�ber (Abb. 8). Es stellte sich heraus, dass dieser Spannungs-mechanismus des M. biceps femoris von der K�rperhaltung ab-h�ngt [89]. Bei den meisten Leichenpr�paraten wurde in Flexion(geb�ckt) ein h�herer prozentualer Anteil der Kraft vom M. bi-ceps auf das sakrotuberale Band �bertragen als in Extension (imStand). Dies war zu erwarten, da das Flexionsmoment an derLWS zunimmt, wenn sich aus dem Stand geb�ckt wird. Folglichsind in gebeugten Haltungen gr�ßere Kompressionskr�fte erfor-derlich, um das Os sacrum daran zu hindern, nach vorne zu kip-pen. Diese Kraft stammt teilweise vom M. biceps femoris, aberauch von anderen Muskeln, die am sakrotuberalen Band anset-zen (dem sakralen Anteil der Aponeurose von M. erector spinaeund glutaeus maximus).

Der M. biceps femoris geh�rt zu den Ischiokruralmuskeln. Eben-so wie der M. erector spinae haben auch die Ischiokruralmuskelneine doppelte Funktion. Insbesondere bei gebeugter Haltung, imSitzen mit ausgestreckten Beinen und beim geraden Sitzen funk-tionieren die Ischiokruralmuskeln als Einheit und rotieren dieOssae ilii im Verh�ltnis zum Os sacrum nach hinten. Diese Nuta-tion [68] kann vom M. biceps femoris mit seinen Verbindungenzum sakrotuberalen Band erzwungen werden. Bei gebeugterHaltung tr�gt die Nutation dazu bei, eine �berlastung des poste-rioren Anteils der lumbalen Bandscheiben zu verhindern.

Diese multiartikul�re Kopplung von Muskeln ist auch am Arm zubeobachten, wo die lange Sehne des M. biceps humeri in das gle-nohumerale Gelenk integriert wird und eine Schl�sselfunktionbei dessen Stabilisierung hat.

(Teil 2 und Literatur folgen in Heft 5/06)

Abb. 8 Schematische dorsale Ansicht des lumbalen R�ckens. Dierechte Seite zeigt einen Teil der longitudinalen Muskel-Sehnen-Faszien-Schlinge. Unten ist der �bergang zwischen der Sehne des M. biceps fe-moris und dem Lig. sacrotuberale dargestellt, oben der M. erector spi-nae. Um den rechten M. erector spinae darzustellen, wurde ein Teil derthorakolumbalen Faszie entfernt. Die linke Seite zeigt ein Iliosakral-gelenk (Kreis) und den kranialen Anteil der schr�gen dorsalen Muskel-Faszien-Sehen-Schlinge: M. latissimus dorsi und thorakolumbale Fas-zie. In dieser Zeichnung wird der linke Anteil der thorakolumbalenFaszie durch den linken M. latissimus dorsi und den rechten M. gluta-eus maximus gespannt.

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