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Einleitung Jeder Mensch weist bestimmte Bewegungsmuster auf, die sich durch Muskeltonus und bei spezifischen Bewegungsabläufen zeigen. Demnach lassen sich Menschen leicht an ihrer Haltung und/oder Bewegung erkennen. Bei ein und derselben motori- schen Handlung bevorzugt jedes Individuum sein eigenes Bewe- gungsmuster. Somit besitzt jeder Mensch seine Bewegungsiden- tität, d. h. eine für ihn typische Art und Weise, sich zu bewegen. Diese Eigenart besteht zum Teil aus automatisierten Bewegungs- programmen, die angelegt und in der Wechselbeziehung mit der sich verändernden Umwelt durch adaptive Reaktion perfektio- niert werden (z.B. Central pattern generator [CPG] auf spinaler Ebene für das Gehen). Teilweise sind es aber auch erworbene aktivitätsspezifische Be- wegungsmuster (Beruf, Sport), die auf vorhandenen interneuro- nalen Reaktionen (z. B. Stellreaktionen) basierend im Laufe der Zeit automatisiert und im eigenen Bewegungsrepertoire gespei- chert werden. Diese Bewegungsmuster sind in ihrer Qualität nicht absolut festgelegt, sondern dynamisch und bedürfen der ständigen Aktualisierung. Tritt eine Störung auf (z. B. durch ein Trauma) findet eine Neuorganisation der Bewegungsmuster statt. Diese kann eine Heilung überdauern und sekundär zur Ent- stehung einer Dysfunktion führen [5]. Die Abweichungen der Bewegungsmuster von der „Norm“ zu er- kennen, ist Basishandwerk der Physiotherapeuten und wird bei der Arbeitshypothese als Kontrollparameter im klinischen Denk- Muskelsysteme Teil 2: Von der Muskeldysbalance zur myofaszialen Dysfunktion – Assessment S. Bacha Muscle Dysbalance to Myofascial Dysfunction – Assessment Korrespondenzadresse Salah Bacha · E-mail: [email protected] Manuskript eingetroffen: 15.10.2003 · Manuskript akzeptiert: 20.10.2003 Bibliografie Manuelle Therapie 2004; 8: 28–38 © Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York · ISSN 1433-2671 · DOI 10.1055/s-2004-812861 Zusammenfassung Bei der Evaluation der myofaszialen Dysfunktion (Muskeldys- balance) wird den Erkenntnissen über die Adaptationsmechanis- men und die strukturelle sowie funktionelle Kontinuität der Mus- kulatur und der Faszie Rechnung getragen. Weiterhin wird deutlich, dass Bewegung kein lokales Geschehen ist, sondern das Ergebnis einer Interaktion verschiedener Elemente des Bewe- gungssystems, die sich gegenseitig regulieren. Die Analyse der Dysfunktion wird anhand von praktischen Beispielen erläutert. Schlüsselwörter Myofasziale Adaptation · Haltungs- und Bewegungsanalyse · strukturelle Kontinuität · myofasziale Systeme · Stabilisation und Schwerkraft · neurale Modulation Abstract The evaluation of myofascial dysfunction (muscle dysbalance) takes into account knowledge of the adaptation mechanisms and the structural as well as functional muscular and fascial con- tinuity. In addition, it is clear that movement is not a local occur- rence but rather the result of an interaction between various ele- ments of the movement system which are regulated mutually. The analysis of dysfunction is explained on the basis of practical case studies. Key words Myofascial adaptation · posture and movement analysis · struc- tural continuity · myofascial systems · stabilisation and gravitiy · neural modulation Fachwissen: Muskulatur 28 Heruntergeladen von: FH Campus Wien. Urheberrechtlich geschützt.

Muskelsysteme teil 2

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Page 1: Muskelsysteme teil 2

Einleitung

Jeder Mensch weist bestimmte Bewegungsmuster auf, die sichdurch Muskeltonus und bei spezifischen Bewegungsabläufenzeigen. Demnach lassen sich Menschen leicht an ihrer Haltungund/oder Bewegung erkennen. Bei ein und derselben motori-schen Handlung bevorzugt jedes Individuum sein eigenes Bewe-gungsmuster. Somit besitzt jeder Mensch seine Bewegungsiden-tität, d. h. eine für ihn typische Art und Weise, sich zu bewegen.Diese Eigenart besteht zum Teil aus automatisierten Bewegungs-programmen, die angelegt und in der Wechselbeziehung mit dersich verändernden Umwelt durch adaptive Reaktion perfektio-niert werden (z. B. Central pattern generator [CPG] auf spinalerEbene für das Gehen).

Teilweise sind es aber auch erworbene aktivitätsspezifische Be-wegungsmuster (Beruf, Sport), die auf vorhandenen interneuro-nalen Reaktionen (z. B. Stellreaktionen) basierend im Laufe derZeit automatisiert und im eigenen Bewegungsrepertoire gespei-chert werden. Diese Bewegungsmuster sind in ihrer Qualitätnicht absolut festgelegt, sondern dynamisch und bedürfen derständigen Aktualisierung. Tritt eine Störung auf (z. B. durch einTrauma) findet eine Neuorganisation der Bewegungsmusterstatt. Diese kann eine Heilung überdauern und sekundär zur Ent-stehung einer Dysfunktion führen [5].

Die Abweichungen der Bewegungsmuster von der „Norm“ zu er-kennen, ist Basishandwerk der Physiotherapeuten und wird beider Arbeitshypothese als Kontrollparameter im klinischen Denk-

MuskelsystemeTeil 2: Von der Muskeldysbalance zur myofaszialen Dysfunktion – Assessment S. Bacha

Muscle Dysbalance to Myofascial Dysfunction – Assessment

KorrespondenzadresseSalah Bacha · E-mail: [email protected]

Manuskript eingetroffen: 15.10.2003 · Manuskript akzeptiert: 20.10.2003

BibliografieManuelle Therapie 2004; 8: 28–38 © Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York ·ISSN 1433-2671 · DOI 10.1055/s-2004-812861

Zusammenfassung

Bei der Evaluation der myofaszialen Dysfunktion (Muskeldys-balance) wird den Erkenntnissen über die Adaptationsmechanis-men und die strukturelle sowie funktionelle Kontinuität der Mus-kulatur und der Faszie Rechnung getragen. Weiterhin wirddeutlich, dass Bewegung kein lokales Geschehen ist, sondern dasErgebnis einer Interaktion verschiedener Elemente des Bewe-gungssystems, die sich gegenseitig regulieren. Die Analyse derDysfunktion wird anhand von praktischen Beispielen erläutert.

SchlüsselwörterMyofasziale Adaptation · Haltungs- und Bewegungsanalyse ·strukturelle Kontinuität · myofasziale Systeme · Stabilisationund Schwerkraft · neurale Modulation

Abstract

The evaluation of myofascial dysfunction (muscle dysbalance)takes into account knowledge of the adaptation mechanismsand the structural as well as functional muscular and fascial con-tinuity. In addition, it is clear that movement is not a local occur-rence but rather the result of an interaction between various ele-ments of the movement system which are regulated mutually.The analysis of dysfunction is explained on the basis of practicalcase studies.

Key wordsMyofascial adaptation · posture and movement analysis · struc-tural continuity · myofascial systems · stabilisation and gravitiy ·neural modulation

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prozess mit berücksichtigt. Die Evaluation setzt eine Norm alsReferenz voraus. Diese Norm basiert auf der Hypothese, dass esfür jede Bewegung eine ideale Variante gibt. Sie ist charakteri-siert durch Effizienz und Ökonomie, die ein langlebiges Funktio-nieren der beteiligten Strukturen ermöglichen [14]. Die idealeNorm setzt bestimmte Gesetzmäßigkeiten (Prinzipien) voraus.Sie zu kennen und ihre Interaktion zu verstehen, ist zum Ver-ständnis der Funktion des Bewegungssystems unabdingbar. Indiesem Aufsatz wird ausschließlich auf die Gesetzmäßigkeiteneingegangen, die die Muskelfunktion betreffen.

Muskelbalance

Bezogen auf die Muskulatur kann die Norm (Muskelbalance) alsdie Fähigkeit des ZNS definiert werden, die Muskeln selektiv inder richtigen Reihenfolge und Dosierung effizient handlungsori-entiert zu aktivieren. In der Klinik ist die Muskelfunktion einSchlüsselparameter bei neuromuskuloskelettalen Beschwerdenund nimmt eine extrem wichtige Rolle bei der Entstehung undfür den Fortbestand verschiedener Syndrome ein [12].

Obwohl jedes Individuum mit einer eigenen biopsychosozialenAntwort auf eine Dysfunktion reagiert, ist In Bezug auf die Musku-latur eine gewisse Gesetzmäßigkeit bei der Reaktion zu beobach-ten [1]. Übersteigen beim Bewegungsverhalten die Anforderungenan die Muskulatur ihre Adaptationsfähigkeit, antwortet sie unteranderem mit einer Dysbalance (Störung des Zusammenspiels zwi-schen den Agonisten und Antagonisten; [23]). Manche Muskelnreagieren mit Inhibition und/oder Schwäche, andere eher mit Ver-kürzung und Verlust ihrer Dehnfähigkeit [1]. Die Bewegungsmus-ter entsprechen nicht mehr der idealen Norm und tragen Mikro-traumen in sich, die durch repetitiven Gebrauch und zeitlicheSummation zu pathologischen Veränderungen führen können.

Den Erkenntnissen über die Funktionsweise der Muskulatur ausTeil 1 [1] muss sowohl bei der Befundaufnahme als auch bei derBehandlung (Teil 3: folgt in Manuelle Therapie, Heft 2, 2004)Rechnung getragen werden. Dabei gilt es, insbesondere folgendeParameter zu berücksichtigen:– Reaktiver Hypo-/Hypertonus bzw. Inhibition oder Hyperakti-

vität (Dominanz);– Adaptation der Muskulatur an die Funktionsstellung;– Muskelarchitektur;– Strukturelle Kontinuität;– Funktionelle Kontinuität: Klassifikation in myofaszialen Sys-

temen;– Neurale Modulation.

Reaktiver Hypo-/Hypertonusbzw. InhibitionoderHyperaktivität (Dominanz)Eine Muskeldysbalance, egal ob temporär oder dauerhaft, ist derAusdruck einer Fehlsteuerung des ZNS, die an einem Hyper- bzw.Hypotonus sichtbar werden kann. Angelehnt an Janda [12] liefertuns die Beobachtung der oberflächlichen Anatomie des Körpersnützliche Hinweise für die weitere Untersuchung. Hypertone/hy-peraktive Muskeln sind beispielsweise an einer Erhöhung/Ein-ziehung bzw. ein Hypotonus und/oder eine Inhibition werdendurch eine Abflachung sichtbar. Zur Bestätigung wird eine Palpa-tion der relevanten Stellen durchgeführt.

Beispiele:– Dorsale Ansicht des Schultergürtels (Abb. 1):

– Gut sichtbar der Hypertonus des M. trapezius pars descen-dens.

– Unterhalb des Angulus inferior scapulae ist eine Ab-flachung (Einziehung) zu sehen, die als eine Inhibition und/oder Atrophie des M. trapezius pars ascendens interpretiertwerden könnte.

Ventrale Ansicht des Rumpfes (Abb. 2):– Lateral des M. sternocleidomastoideus ist eine Abflachung

(Einziehung) zu sehen, die als eine Inhibition der tiefenHalsflexoren (M. longus colli) interpretiert werden kann.

Inhibition

Hypertonus

Abb. 1 Klinische Interpretation der Topographie: Hypertonus desM. trapezius pars descendens sowie Inhibition des M. trapezius parsascendens und M. serratus pars inferior.

Inhibition

Hypertonus

Abb. 2 Klinische Interpretation der Topographie: Hypertonus desM. pectoralis major und M. sternocleidomastoideus sowie Inhibitionder tiefen Flexoren.

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– Weiterhin ist ein hypertoner M. pectoralis major zu erken-nen.

– Gut sichtbar sind die Konturen des M. sternocleidomasto-ideus.

– Eine Palpation kann den Hypertonus bestätigen.Sagittale Ansicht der LWS (Abb. 3):– Vorwölbung unterhalb des Bauchnabels sowie des Quer-

streifens in der Mitte des Bauches suggerieren die Hypo-these einer Inhibition des M. transversus abdominis.

– Die vertikale Einziehung kann als eine Dominanz desM. obliquus externus abdominis interpretiert werden.

Klinische Relevanz: Der Muskelstatus der HWS und des Schulter-gürtels zeigt eine Dominanz der Mobilisatoren (M. trapezius parsdescendens und M. sternocleidomastoideus) zu Ungunsten derStabilisatoren M. trapezius pars ascendens und M. longus colli.

Addieren sich zusätzliche Parameter wie eine berufliche Tätig-keit mit Dominanz der Armtätigkeit hinzu, kann die Funktionbei schon vorhandener Hyperaktivität des M. trapezius pars des-cendens und Inhibition des M. longus colli zu einer Dysfunktionder HWS führen (z. B. Instabilität).

Die Topographie der Abb. 3 weist auf eine Dysbalance der LWS-Beckengürtel-Muskulatur mit einer Inhibition des lokalen myo-faszialen Systems hin (Test: Abb.16; [28]).

Adaptation der Muskulatur an die FunktionsstellungDie hypothetische Norm der aufrechten Haltung (Statik) ist in derAuseinandersetzung des Körpers mit der Schwerkraft als eine Stel-lung definiert, in der die Körpersegmente optimal gegen dieSchwerkraft und übereinander ausgerichtet sind. Sie ist durchÖkonomie, minimalen Energieverbrauch und maximale Effizienzcharakterisiert [14]. Die Kontrolle der Gelenkbeweglichkeit in ih-rer gesamten Amplitude durch die Muskulatur ist ein Merkmal ih-rer normalen Kontraktionsfähigkeit sowohl in der angenähertenals auch in der verlängerten Stellung. Eine dauerhafte Fehlhaltungkann zur Veränderung des optimalen Spannungs-/Längenverhält-

nisses der Muskulatur [13] und damit zu einem Verlust der ange-sprochenen Bewegungskontrolle führen.

Die Analyse der Statik mit der Fragestellung, welche Muskelnsich in einer verlängerten und welche in einer angenähertenStellung befinden, liefert eine Hypothese über die eventuelleAdaptation der betroffenen Muskeln [1] und kann Erklärungenüber deren Stellungsschwäche und/oder Verlust ihrer Verlänge-rungsfähigkeit geben (Abb. 4– 6).

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T. A

Abb. 3 KlinischeInterpretation derTopographie: Inhi-bition des M. trans-versus abdominisund Dominanz desM. obliquusexternus.

a

b

Abb. 4 Klinische In-terpretation derStatik. (a) VentraleRotation der Skapu-la, angenäherteStellung desM. pectoralis minor.(b) In RückenlageBestätigung desHypertonus desM. pectoralis minor(ventrale Rotationder Skapula bleibterhalten).

Abb. 5 KlinischeInterpretation derStatik: Innenrota-tionsstellung derArme – Hypotheseeiner Annäherungdes M. latissimusdorsi.

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Einerseits kann der Muskelstatus bei der Auswahl, wie undwelche Muskeln untersucht werden sollen, als Referenz dienen(z. B. beim Test der Kontraktionsqualität eines bestimmten Mus-kels in der Neutral-Null-Stellung, maximalen Annäherung oderin der verlängerten Stellung). Andererseits bietet seine klinischeInterpretation eventuell ein Erklärungsmodell für eine vorhan-dene Dysfunktion [13, 14].

Klinische Relevanz: Störung der Arthrokinematik des Glenohu-meralgelenks: Der M. latissimus dorsi kann dazu beitragen, dassbei der Elevation des Armes das Tuberculum majus ventral bleibtund damit am Proc. coracoideus anstößt. Der M. pectoralis minorseinerseits bewirkt durch die verursachte ventrale Rotation derSkapula eine Einengung des subakromialen Raumes. Die Bestäti-gung erfolgt durch Muskelfunktionsprüfungen (Abb. 7 u. 8).

MuskelarchitekturEine Abweichung der Statik von der hypothetischen Norm kanndie Orientierung der Muskelfasern in Bezug auf das von ihnenüberbrückte Gelenk und daraus folgend auch deren Aktion aufdas betroffene Gelenk verändern.

Klinische Relevanz: Die Flexoren werden eher zu den Mobilisato-ren, die Abduktoren (speziell der M. glutaeus medius) zu denStabilisatoren des Hüftgelenks gezählt. In der Standbeinphasekommt es darauf an, die Belastungskräfte auf das Hüftgelenkmöglichst gering zu halten. Besonders der M. glutaeus mediusmit seinen posterioren Fasern kontrolliert die Stellung des Fe-murkopfes im Azetabulum [6] und trägt durch seine Zentrierungzur Reduktion der Belastungskräfte bei. Die neue Orientierungder Muskelfaser bewirkt, dass neben dem M. tensor fasciae lataeauch mehr Fasern des M. glutaeus medius flexorisch statt abduk-torisch auf das Hüftgelenk wirken und so zu einer mangelhaftenStabilisation des Beckens in der Standbeinphase führen können(höhere Druckkräfte auf das Hüftgelenk; Abb. 9 a u. b). Weiter-

laufend nach kaudal und/oder kranial kann es durch Dezentrie-rung des Belastungslotes zu einer Fehlbelastung kommen (z. B.medialer Kollaps des Kniegelenks).

Die Kontraktionsrichtung des M. sternocleidomastoideus erhälteine kaudale und eine Kompressionskomponente. Damit ver-stärkt sie die bereits vorhandene Fehlstellung der Segmente derHWS (der oberen Segmente in Extension, der unteren in Flexion).Zusätzlich vergrößern die aktive Insuffizienz (Stellungsschwä-che) des M. longus colli und die passive Insuffizienz der kranio-zervikalen Extensoren die Translation des Kopfes (Abb. 10).

StrukturelleKontinuität: „myofasziale Bahnen“Muskulatur und Bindegewebe bilden auf lokaler Ebene einestrukturelle Einheit [1]. Die Betrachtung der Anatomie zeigt,dass die einzelnen Muskeln auch global bindegewebige Verbin-dungen eingehen, die sich sowohl vertikal als auch horizontalausdehnen. Diese strukturelle Kontinuität wird als myofaszialeBahnen bezeichnet, die von mehreren Autoren beschrieben wer-

Abb. 6 Klinische Interpretation der Sta-tik: Retroversion des Beckens und Neigungdes Oberschenkels nach vorne. Hypothe-se: Verlängerung des M. psoas.

Abb. 7 Der Test des M. latissimus dorsi zeigt eine deutliche Verkür-zung, da normalerweise die Arme auf der Unterlage liegen sollen.

Abb. 8 Der Testdes M. psoas in einerangenäherten Stel-lung zeigt dessenAktivierung in derinneren Bahn. DieFlexionsstellung desOberschenkels kannnur durch Substitu-tion (Neigung desRumpfes) aktiv ge-halten werden. Nor-malerweise sollteder Rumpf vertikalbleiben.

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den [3, 21, 26, 31]. Ihre Anzahl und ihr Verlauf differieren je nachAutor und basieren auf unterschiedlichen Erklärungsmodellen.

Nach Schultz [31] ist der Fetus im Uterus Spannungen aus-gesetzt, die als adaptive Reaktion eine Verdickung des Bindege-webes auslösen. Diese spezifischen Anforderungen werden imSchwerefeld bei der Entwicklung der Lokomotion weiter fort-gesetzt. Die Schwerkraft übt permanent Zug- und Druckkräfteauf den Körper aus, was beispielsweise an der Muskelverteilungdeutlich wird. Am Rücken sind eine große fasziale Platte (Fasciathoracolumbalis mit einer lumbosakralen Verdickung) und vent-ral die Faszie des Bauches sichtbar (Abb. 11).

Diese anatomische Besonderheit ist gemäß Hoepke [11] kein Zu-fall, sondern eine ökonomische Antwort des Körpers auf die In-teraktion zwischen Schwerkraft und Körpermasse, um denSchwerpunkt zu kontrollieren. Die Auseinandersetzung verlangteine dauerhafte Aktivität der Muskulatur, um die Teilgewichtedes Körpers räumlich zu stabilisieren. Da die Summe aller äuße-ren Kräfte auf den Körper so einwirken, als würden sie ihn in derNähe seines Schwerpunkts angreifen, könnte dies eine Erklärungfür die lumbosakrale Lokalisation des Bindegewebes liefern(Abb. 11). Nach Schultz [31] bildet das aus Bindegewebe beste-hende fasziale System eine Art 2. Skeleton, das dem Körper Volu-men gibt (ihn überspannt) und damit zur Stabilisation beiträgt.

An diese Hypothese angelehnt, hat Lardner [16] innerhalb desstabilisierenden Systems (wie es 1992 Panjabi [24, 25] beschrie-ben hat) das passive osteoligamentäre Subsystem auf die Faszieerweitert. Die verschiedenen Verbindungen auf globaler Ebene

übernehmen im Bewegungsverhalten eher eine posturale Auf-gabe und funktionieren nicht isoliert, sondern im Verbund mitanderen myofaszialen Bahnen. Diese werden je nach Autor un-terschiedlich bezeichnet: Myers [21] nennt sie Fascial meridians(Abb. 12 a) und Paoletti [26] spricht von Chaînes fasciales(Abb. 12 b).

Die Funktion verlangt vom Bindegewebe spezifische Anpassun-gen, die das Bewegungsverhalten relevant verändern können:– Eine Immobilisation führt beispielsweise zu einem Wasser-

verlust innerhalb der Grundsubstanz und somit zur Bildungvon Querbrücken (Cross-links) zwischen den kollagenen Fa-sern [4]. Die interzelluläre Matrix besteht aus einer Protein-substanz. Eine Eigenschaft der Proteine ist unter anderem de-ren strukturelle Umwandlung in einen flüssigen Zustand beiWärme/Bewegung und einen zähen Zustand bei Kälte/Ruhe-stellung.

– Nach dem Prinzip der Interaktion zwischen Struktur undFunktion hat eine vermehrte Beanspruchung des Bindegewe-bes dessen adaptive Proliferation zur Folge [4, 31].

a

b

Abb. 9 Interpre-tation der Statik –Muskelarchitektur.(a) Die Anteversiondes Beckens ver-ändert die Kraftrich-tung des M. tensorund M. glutaeusmedius (mehr flexo-rische Wirkung).(b) Bei der Abduk-tion des Beines do-miniert die flexori-sche Komponente.

M. semispinaliscapitis

M. levator scapulaeM. sternocleidomastoideus

M. scalenus anterior

Ideale Kopfhaltung

Chronische Vorwärtsneigung des Kopfes

M. rectus capitisposterior major

a

b

Abb. 10 Statik des Rumpfes in der Sagittalebene (nach Neumann[22]). Die ventrale Translation des Kopfes bewirkt eine vertikale Orien-tierung sowie eine Annäherung der Fasern des M. sternocleidomasto-ideus und eher eine Verlängerung der Fasern des M. longus colli.

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– Myofasziale Bahnen in der Statik: Die dorsale myofaszialeBahn (Abb. 12 a) ist durch die Anordnung der Gewichte inBezug auf die Schwerkraft im Sinne von Spannung ständig„aktiviert“ (Schwerpunkt des Kopfes liegt vor der sagittalenRotationsachse von C0–C1). Verlassen andere Körpersegmen-te das Lot, kommt es primär zu einem reaktiven Hypertonusder Muskulatur im Sinne einer Fallverhinderung (Klein-Vogel-bach 1999). Bleibt es bei der Abweichung, entsteht sekundäreine adaptive Verdickung des Bindegewebes, woraus eineFixation dieser Haltung einschließlich kompensatorischerStrategien im Bewegungsverhalten resultieren können.Klinische Relevanz: Die Interpretation der Statik hinsichtlichfaszialer Spannung kann einen zusätzlichen Hinweis übereinen eventuellen Beitrag der Faszien zu einer globalenDysbalance geben (Abb. 6: Statik in der Seitenansicht).Interpretation: Die dorsale Myofaszie scheint im Niveau Hüft-gelenk/HWS fest zu sein.

– Myofasziale Bahnen in der Dynamik: Die Proliferation desBindegewebes (intrinsisch und extrinsisch) führt zu lokaler

Festigkeit der myofaszialen Einheit [1]. Der Bewegungsimpulsinnerhalb einer weiterlaufenden Bewegung [14] pflanzt sichz. B. nach dem Prinzip Weg des geringsten Widerstands fort.Das bedeutet: Wo die Myofaszie fest ist, wird weniger Bewe-gung und kompensatorisch umso mehr Bewegung anderenStellen innerhalb der strukturellen Kontinuität stattfinden.Klinische Relevanz: Die Untersuchung der Muskulatur aufVerkürzung nach den standardisierten Methoden (z. B. [12])beurteilt vor allem die lokale Veränderung. Ergänzend wäredaher sinnvoll, während der Untersuchung die weiterlaufendeBewegung zu beobachten, um die Fixation bzw. das Nach-geben innerhalb der strukturellen Kontinuität zu beurteilen(Abb. 13).

Je nach Körperhaltung variiert dem Prinzip der Kontinuität fol-gend der Anspruch an die Dehnfähigkeit der Myofaszien. Somitist es naheliegend, auch die Dehnfähigkeit innerhalb des für denPatienten relevanten Bewegungsmusters zu untersuchen(Abb. 14).

Faszie desM. erector spinae(lumbal-dorsaleFaszie)

sakroiliakalerÜbergang

Faszie desM. glutaeus maximus

Tractus iliotibialis

Abb. 11 Adaptation der Faszien an dieSchwerkraft (nach Paoletti [26]).

a b

Abb. 12 (a) Fascial meridians nach Myers[21] vom Fuß bis zum Kopf.(b) Chaîne fasciale nach Paoletti [26).

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FunktionelleKontinuität: myofasziale SystemeKein Muskel lässt sich ausschließlich für sich alleine beurteilen,jede einzelne Kontraktion hat durch fasziale Verbindungen einelokale und ferne Wirkung. Diese Betrachtungsweise hat Relevanzsowohl für das Verständnis der Zusammenhänge beim Befundals auch beim nächsten Schritt, nämlich der Wahl der therapeu-tischen Intervention.

Das Konzept der Kraftübertragung von Panjabi [24, 25] – ur-sprünglich als Denkmodell zur Erklärung der Wirbelsäulenstabi-lisation konzipiert – lässt sich heute auf das ganze Muskuloske-lettalsystem übertragen [3, 17, 27, 35]. Die Zusammensetzungdieser Muskelgruppen hängt einerseits von der Funktion ab [1],anderseits ist sie handlungsorientiert und passt sich den Anfor-derungen des vielfältigen Bewegungsverhaltens an [22, 32].

Klinische Relevanz: Die Muskelfunktionsprüfung nach Janda [12]und Kendall [13] liefert wertvolle Informationen über die Akti-vierung einzelner Muskeln und deren Dehnungsfähigkeit (globa-

le Muskeldysbalance). Eine Dysfunktion der myofaszialen Sys-teme erkennen, heißt jedoch, ergänzend die Erkenntnisse überdie Funktionsweise der Muskulatur in myofaszialen Systemen[1] sowie deren struktureller Kontinuität in das Assessment dermyofaszialen Dysfunktion einfließen zu lassen (Abb. 15 a – d).

Angelehnt an die bis jetzt gewonnenen Erkenntnisse ergibt sichin der Beurteilung eine gewisse Priorität:

1. Vorrang hat die Diagnostik des lokalen myofaszialen Sys-tems. Die Dysfunktion der lokalen Muskeln führt zu einersegmentalen Instabilität und korreliert sehr stark mit mus-kuloskelettalen Schmerzen (z. B. [9]). Seine Funktion sichertdie Kontrolle der neutralen Zone der Gelenke sowie derenStellung bei Bewegung [24, 25]. Die Innervation dieserSynergien geschieht antizipatorisch bereits in der Phase derBewegungsplanung, deren Rekrutierung mit minimaler In-tensität reaktiv, von tonischer Qualität und unabhängig vonder Bewegungsrichtung ist (Abb. 16; [10]).

2. Das lokale myofasziale Stabilisationssystem in der Interak-tion mit der Schwerkraft: Bewegung bedeutet eine räumli-che Veränderung der Körpersegmente im Verhältnis zuei-nander und in Bezug auf die Schwerkraft. Die Aufgabe deslokalen Systems besteht darin, auch die Körpersegmenteökonomisch hinsichtlich der Schwerkraft selektiv zu stabili-sieren.– Durch das Einnehmen und Halten der Neutral-Null-

Stellung der Wirbelsäule soll die Kokontraktionsfähigkeitdes lokalen Systems beurteilt werden. Hier ist auf dasNiveau muskulärer Aktivität sowie auf Substitutions-muster (Qualität der Atmung, Einsatz der globalen Mus-keln) zu achten (Abb. 17 a u. b).

– Die Kontrolle der Körpersegmente soll in der Dynamikbeurteilt werden. Zur Kontrolle der Gewichte muss dieMuskulatur bei der Neigung des Rumpfes reaktiv durchselektive Kokontraktion die Anordnung der Körperseg-mente in ihrer neutralen Haltung sichern. Patienten mitRückenschmerzen neigen dazu, bei der Rumpfneigungnach vorne die neutrale Haltung der Wirbelsäule zu ver-lieren und zeigen stattdessen als Substitutionsstrategieeine lumbosakrale Flexion (Abb. 18; [8]).

Globales myofasziales stabilisierendes System:– Analyse der ventral-dorsalen Verbindung (Abb. 19 a). Die

Aktivierung der myofaszialen Verbindung zwischen Rü-cken und Bauch bewirkt eine Anordnung der Körper-abschnitte des Rumpfes übereinander [3].Eine Testmöglichkeit ist der Liegestütz (Abb. 19 b u. c),dessen Besonderheit neben der Aktivierung des lokalenSystems die synergistische Kokontraktion der Mm. rhom-boidei, M. serratus und der Bauchmuskulatur ist. Parame-ter der Beobachtung sind die Fixation der Scapulae aufdem Brustkorb und das Einordnen der KörpersegmenteBecken, Brustkorb und Kopf in die Körperlängsachse (Lotder Neutral-Null-Stellung der Wirbelsäule; [14]).

– Analyse des Verhältnisses der globalen stabilisierendenSynergien des Rumpfes zueinander: Patienten mit Rü-ckenschmerzen weisen häufig ein Missverhältnis in derAusdauer der verschiedenen Rückenmuskeln auf [20].Demnach ist klinisch relevant, diese Synergien in ihrerAusdauerfähigkeit zu vergleichen (Abb. 20 a – c).

Abb. 13 Beim Test der dorsalen myofaszialen Kontinuität geben dieOberschenkel, die LWS und die untere BWS innenrotatorisch nach,während die Myofaszie dorsal der Hüftgelenke und der HWS nichtnachgibt.

Abb. 14 Bei der Beurteilung der Dehnfähigkeit der ischiokruralenMuskulatur im Sitz gibt die LWS in Flexion nach.

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Aktivierung der globalen myofaszialen Systeme: Hierbeiwerden die Prinzipien der Kraftübertragung auf globalerEbene berücksichtigt. Es kommt darauf an, die Körperseg-mente kontrolliert in ihrer Richtung und Geschwindigkeitzu bewegen und zu halten (Abb. 21).– Kontrolle der Körpersegmente im konzentrischen/iso-

metrischen Modus.

M. multifidus

Diaphragma

M. transversus abdominis

SakrumPS

Beckenboden

ba

c d

Abb. 15 (a) Lokales myofasziales Stabilisa-tionssystem (nach Lee [17]). (b) Diagonalesmyofasziales Stabilisationssystem (nachPortfield [27]). Die diagonale Kraftüber-tragung von der Fascia thoracolumbaliszum M. latissimus dorsi ist deutlich sichtbar.(c) Test des diagonalen globalen Systems(Kraftübertragung zwischen M. latissimusdorsi und Glutäalmuskulatur; nach Lee[17]). (d) Muskelketten (nach Tittel [32];schwarz = extensorische, rot = flexorischeMuskulatur).

Abb. 16 Test des lokalen myofaszialen Systems (nach [28]). Der Pres-sure feedback objektiviert die Druckzunahme als Zeichen der Rekrutie-rung der globalen Muskeln.

a b

Abb. 17 (a) Beim Aufrichten wird die thorakolumbale Extension sicht-bar. Die Lumbosakralregion bleibt in Flexion. (b) Bei Aufrichten erfolgtals Substitution die Elevation des Schultergürtels.

Abb. 18 Kontrolleder Körpersegmentein der Dynamik:Nachdem derPatient mithilfe desTherapeuten dieNeutral-Null-Stel-lung der Wirbelsäulewahrgenommenhat, soll er sich nachvorne neigen. Dabeiwird der Verlustder Neutral-Null-Stellung deutlich(nach Klein-Vogel-bach [14]).

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– Kontrolle der Körpersegmente im exzentrischen/iso-metrischen Modus: Beurteilung, ob die moyfaszialenSysteme die Körpersegmente im exzentrischen Moduskontrollieren können (Abb. 22).

– Kontrolle der Körpersegmente in der Funktion: Analyseder für den Klienten relevanten Bewegungsmuster(Abb. 23).

Neurale ModulationReihenfolge der MuskelrekrutierungErzeugte Bewegungen werden nicht von einzelnen Muskeln aus-geführt, sondern von Muskelgruppen, und jeder Muskel steuert

einen in seinem Verhältnis genau vorherbestimmten Teil der Be-wegung [33]. Die Analyse von Bewegungsmustern ist oftmalsaussagekräftiger als das isolierte Testen eines Muskels [12].Überaktive Muskeln zeichnen sich eher durch eine verfrühteoder inhibierte als durch eine verzögerte Rekrutierung aus. Die-ses Timing der Muskelprogrammierung analysierte [12] durchEMG-Studien an einigen Bewegungsmustern und standardisierteihre Norm (Abb. 24 a u. b).

Sensomotorische KontrolleSie wird als eine unwillkürliche efferente Reaktion im Sinne ei-ner dynamischen Gelenkstabilisation auf ein afferentes Signaldefiniert. Ein Teil dieser Kontrolle im Bewegungsverhalten istdie Fähigkeit, Bewegungen vorauszusehen, um präventiv durchantizipatorische (Feed-forward) Programmierung der Muskula-tur Traumen zu verhindern (siehe Lokales myofasziales System).

Die Funktion und/oder Dysfunktion des myofaszialen Systems istvon den neuralen modulierenden Mechanismen nicht zu tren-nen. Eine periphere Störung führt häufig zu adaptiven Mechanis-men innerhalb des ZNS (und vice versa), die sich durch eine ver-änderte Bewegungsprogrammierung äußern. WissenschaftlicheArbeiten (z. B. [5, 18]) erklären die Zusammenhänge zwischen ar-tikulären Läsionen und den daraus resultierenden Muskelin-koordinationen.

Klinische Relevanz: Die reaktive Stabilisation der Gelenke durcheine funktionierende sensomotorische Kontrolle beugt präventivVerletzungen bzw. Mikrotraumen vor, die durch Summation zueiner Dysfunktion führen können. Für die Planung der therapeu-tischen Intervention sind Erkenntnisse über eine veränderteneurale Modulation von Bedeutung.

Testbeispiele:– Antizipation (Feed-forward; Abb. 25):

– Ausfallschritt.– Parameter der Beobachtung sind die Erhaltung der neutra-

len Stellung der Wirbelsäule und die axiale Belastung desvorderen Beines.

– Der Patient zeigt eine mangelhafte Stabilisation des Rü-ckens und den Verlust der neutralen Stellung der Wirbel-säule.

c

b

a

Abb. 19 (a) Vent-ral-dorsale Synergieder Bauchmuskula-tur, des M. serratusund des M. rhom-boidei (nach Bus-quet [3]). (b) Kokon-traktionssynergiedes ventral-dorsalenmyofaszialen Sys-tems M. rhom-boidei – M. serratus– Bauchmuskulatur(nach Klein-Vogel-bach [15]). (c) BeimTest der ventral-dorsalen Verbindungzeigen sich die man-gelhafte Veranke-rung der Scapulaeauf dem Brustkorbsowie der Verlust derAnreihung derRumpfsegmente(nach Klein-Vogel-bach [14]).

a

b

c

Abb. 20 Beurteilungsparameter bei denSynergietests ist jeweils die Ausdauer beider Stabilisation der Körpersegmente in derNeutral-Null-Stellung der Wirbelsäule (aus:McGill S. Low Back Disorders: Evidence-ba-sed Prevention and Rehabilitation. Cham-paign/IL: Human Kinetics; 2002). (a) Testder ventralen myofaszialen Synergie.(b) Test der lateralen myofaszialen Synergie:die laterale myofasziale Synergie ist deutlichbesser aktiviert als die ventral-dorsale.(c) Test der dorsalen myofaszialen Synergie.

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Gleichgewicht: Kontrolle des Schwerpunktlots innerhalb derUnterstützungsfläche.

– Evaluation im Einbeinstand (Abb. 26): Parameter der Beobach-tung ist die Analyse der bevorzugten Muskelstrategie zur Er-haltung der axialen Belastung der Gelenke des Standbeins(vor allem Qualität der Verankerung Becken– Bein).

Schlussfolgerungen

Die Evaluation der myofaszialen Dysfunktion bezieht die Inter-aktion vieler Komponenten des Bewegungssystems ein, von de-nen einige erwähnt wurden.

Bewusst wurde die Anamnese als wichtige Informationsquelleüber das Aktivitätsniveau, die individuellen Bewegungsmuster(Beruf, Sport) sowie das kognitive und vor allem das affektiveProfil des Patienten als Faktoren, die eine Dysfunktion auslösenbzw. unterstützen können, ausgelassen.

Die Diagnostik basiert auf dem Konzept der myofaszialen Adap-tation der Strukturen an die Belastung (Funktion und Schwer-kraft). Sie berücksichtigt die Idee der strukturellen Kontinuitätder funktionellen myofaszialen Systeme und der neuralen Mo-dulation.

Abb. 23 Funktions-test: Bei der Analyseder für den Patien-ten relevanten Be-wegungsmusterzeigt sich eine Inhi-bition der Stabilisa-toren des Becken-gürtels (M. glutaeusmedius).

Abb. 21 Bei der Aktivierung des globalen flexorischen myofaszialenSystems (Modus: konzentrisch-isometrisch) wird eine Dominanz desglobalen Systems bei der HWS (Translation statt Flexion des Kopfes)sichtbar.

Abb. 22 Bei der Aktivierung des globalen extensorischen myofaszia-len Systems (Modus: exzentrisch-isometrisch) werden die Qualität deraxialen Belastung des Beines sowie die Kontrolle des Rumpfes deutlich(aus: Bizzini M. Sensomotorische Rehabilitation nach Beinverletzun-gen. Stuttgart: Thieme; 2000).

a

b

Abb. 24 Reihenfol-ge der Rekrutierung.(a) Verfrühte Akti-vierung des M. tra-pezius pars descen-dens links (nachJanda [12]). (b) Ver-frühte Aktivierungdes M. trapeziuspars descendensbeim Funktionstest.

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Abb. 25 NeuraleModulation. BeimAusfallschritt ist dieKontrolle der Rumpf-segmente insuffi-zient.

Abb. 26 NeuraleModulation. Bei derGleichgewichts-kontrolle wird die In-hibition der Abduk-toren deutlich.

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