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NeuöZürcörZäitung Fahne: 640 Teil: 02 Farbe: Alle Farben FEUILLETON Donnerstag, 29. Juni 2000 Nr. 149 67 Im Namen der Rose Denis de Rougemont als Ghostwriter-Biograph? Consuelo de Saint-Exup´ ry, Ehefrau des Autors, der 1943 den «Kleinen Prinzen» herausgebracht e hatte, begann 1944 in New York mit der Niederschrift ihrer Memoiren. Im selben Jahr ver- schwand Antoine de Saint-Exup´ry. Consuelos Manuskript ist erst kürzlich aufgetaucht und liegt e nun als Buch vor. Es stellen sich Fragen bezüglich der Autorschaft. Sie war die Rose, die traurige, schöne Rose, die ihren kleinen Prinzen ziehen liess, als es diesem zu eng ward auf dem Asteroiden B 612. Sie war die Blume, einzigartig unter allen Blumen des Universums, die der Prinz noch mitten in der Wüste, auf dem fernen Gestirn der Erde, in sei- nem reuigen Herzen trug: «Ich hätte niemals flie- hen dürfen ! Ich hätte hinter all den armseligen Listen ihre Zärtlichkeit spüren müssen. Blumen sind so widersprüchlich! Aber ich war zu jung, ich wusste nicht, sie zu lieben.» - Consuelo de Saint- Exup´ ry fühlte sich oft von ihrem bis zur Selbst- e verleugnung geliebten Antoine verlassen. Flug- zeughangars, andere Frauen oder einfach nur die Literatur waren die fernen Sterne, zu denen er aufbrach, um dann doch immer wieder zu ihr zu- rückzukehren. Startbereit zu geistigen Höhenflügen: Antoine de Saint-Exup´ ry. (Bild key) e Das berühmteste Märchen des 20. Jahrhun- derts, Antoine de Saint-Exup´ rys «Petit Prince», e erschien 1943 im New Yorker Exil. Dort hatte der grosse Flieger und Schriftsteller im Jahr zuvor abermals seine Frau zurückgelassen, um sich in den Reihen der sistance zu engagieren. Im Jahr e danach, 1944, begann Consuelo, immer noch in New York, mit der Niederschrift ihrer Memoiren als Frau an der Seite einer Legende. Darin bot sie, die vielgeschmähte «comtesse de cin´ ma», die e von der Familie und den Schriftstellerkollegen ihres Mannes verstossene Lateinamerikanerin, eine eigene Lesart des Märchens: Antoine war der kleine Prinz, das ewige Kind, der Poet, der nicht wusste, was er wollte. Sie war die liebende Schwester und Mutter, die entsagungsvoll Sor- gende, die Muse, die Blume, deren Duft ihn - mit den Worten des «Petit Prince» - «umwehte und erleuchtete». Ihr Mann konnte ihr nicht mehr widersprechen. Am 31. Juli 1944 startete er von seinem korsischen Stützpunkt Borgo aus zu einem Aufklärungsflug über Savoyen - und verschwand spurlos. Damit verband sich das moderne Mär- chen vom Weltraumflieger «Petit Prince» mit dem alten Mythos des Ikarus. Zur Legendenbil- dung trug bei, dass Saint-Exup´ rys Flugzeug, eine e Lightning P38, unauffindbar blieb. Und wie Tou- risten in Schottland immer wieder einmal eine Flosse des Ungeheuers von Loch Ness erblicken, entdecken Fischer, Taucher und Angler im Mittel- meer regelmässig das Flugzeugwrack. Vor zwei Jahren das - immerhin authentifizierte - Namens- kettchen des Fliegers, vor wenigen Wochen, so heisst es, die ganze Lightning. Die stürmische Liebe aber zwischen dem Prin- zen und der Rose war wohl deutlich prosaischer verlaufen, als die 1979 verstorbene Consuelo zu- geben mochte. Am 29. März 1942 zum Beispiel, zwei Tage vor seiner Mobilisierung, hinterlässt «Saint-Ex» seiner Gattin folgendes Schriftstück: «Ich habe nicht einmal ein Hemd ohne Loch für Nordafrika, keine Socken, keine Schuhe, nichts (. . .) Und da kommen Sie mit neuen Kleidern nach Hause.» Szenen einer Ehe, die 1931 ge- schlossen worden war. Überhaupt schenken Fachleute wie Michel Quesnel, Herausgeber von Saint-Exup´ rys Werken in der «Pl´ iade», den e e Aufzeichnungen der recht stacheligen Rose wenig Glauben. Entgegen dem pathetischen Selbst- porträt der gottergebenen und stets missverstan- denen Pasionaria der wahren Liebe sei die junge, reiche und schöne Witwe des 1927 verstorbenen Schriftstellers und Diplomaten Gomez Carrillo eine Dame gewesen, die sich von grossen Fami- liennamen, Geld und literarischem Ruhm genau- so hingezogen fühlte wie von den Regungen der Liebe. Ein typischer Männerstandpunkt? Fest steht, dass dem brodelnden «Vulkan aus El Salva- dor» oft die Phantasie durchgeht. Da wird ein Kaninchenstall im Garten zur Angorafarm, ein Krankenhausaufenthalt in Paris zum Versuch Humanismus einen positiven Beitrag zur Wieder- herstellung des lädierten Menschenbildes. «L'Existentialisme est un humanisme», erklärte Sartre damals. Der Moralismus Saint-Exup´ rys e hatte dank seiner Beliebigkeit zunächst den Vor- zug, ideologisch ungleiche Kreise für sich einzu- nehmen. Während andere Protagonisten der «ethischen Generation» früher oder später Partei ergriffen, Bernanos als Katholik, Aragon als Kommunist, Malraux als Gaullist, entband der von ihm herausgeforderte Tod den Autor von sol- chem Engagement. Das wurde seiner «Philoso- phie» in der dann wieder zunehmend politischen Ideologisierung der Literatur zum Verhängnis. Trotz seiner Loyalität, trotz der visionären Bild- haftigkeit mancher Naturschilderungen vermoch- te sein Werk im Gesamten den Verlust nicht zu kompensieren, schon gar nicht durch seinen der Traditio n verpflichteten, nicht selten konventio- nellen Stil gegenüber einer antibürgerlichen Ästhetik, die sich nicht mehr an idealen Vor- bildern, sondern an einer neuen, ungewohnten und oft provokanten Literatursprache orientierte. Ein Klassiker der Moderne ist er nicht, konnte er nicht bleiben, obwohl er momentan als solcher galt. Aber seine Hinterlassenschaft verdient mehr als ein Achselzucken. Denn sie legt Zeugnis ab von den Hoffnungen einer Zeit, der wir kaum ent- wachsen sind. Und sie ist ein ungewöhnliches Beispiel für die Imponderabilien der Literatur. Manfred Gsteiger Der philosophierende Pilo t Zum 100. Geburtstag von Antoine de Saint-Exup´ ry e Sein Werk hat höchstes Lob und weite Verbreitung gefunden, aber auch Kritik und Ablehnung hervorgerufen. Jetzt ist es um den französischen Piloten und Schriftsteller still geworden. Kann der am 29. Juni 1900 geborene Antoine de Saint-Exup´ ry als Klassiker gelten, oder ist er besten- e falls ein Zeuge seiner Zeit? Sein Erstling «Courrier Sud» machte 1928 auf den jungen, im Flugdienst zwischen Frankreich und Nordafrika tätigen Piloten Antoine de Saint- Exup´ ry aufmerksam. 1931 versah Andr´ Gide e e den zweiten, im selben Jahr mit dem Prix Femina ausgezeichneten Roma n «Vol de nuit» mit einem rühmenden Vorwort, in dem er seiner «parado- xen Wahrheit» beistimmte, dass der Mensch nicht durch die Freiheit, sondern nur durch eine heroi- sche Moral der Pflicht glücklich werden könne. Kurz vor dem Krieg bestätigte der grosse Roman- preis der Acad´ mie fran¸ aise für «Terre des e c höheren Bestimmung des Menschen, von Brüder- lichkeit und Bereitschaft, die Stimme nicht eines besserwisserischen Pädagogen, sondern eines Mannes der Tat, der sich dem Abenteuer der Aviatik als einem Weg zur dichterischen Erkennt- nis ewiger Wahrheiten verschrieben hatte. Aber die Kanonisierung war zumindest vor- eilig. Kritik an seinem humanitären Pathos und mehr noch an der Legendenbildung um seine Person war nicht zu überhören. Sie erwies sich nach der postumen, selbst für manche Verehrer peinlichen Publikation seines Hauptwerkes «Cita- delle» gerechtfertigt. «Die Stadt in der Wüste», wie das Buch auf Deutsch heisst, ist das Manu- skript einer Tonbandaufnahme, an dem der Autor seit Jahren arbeitete und in dem sein Hang zu wortreicher Redundanz überdeutlich wird. An- stoss erregte nicht nur die Strukturlosigkeit der Folge von Aufzeichnungen und Meditationen, sondern auch die Verschwommenheit ihrer pseu- doreligiösen Botschaft. So konnte der Rezensent Robert Kanters bereits im Erscheinungsjahr 1948 den vom sagenhaften Berberfürsten, dem Alter Ego Saint-Exup´ rys, geforderten Bau der Zita- e delle des neuen Menschen als ein Gebilde aus Sand bezeichnen. Und im selben Mass, wie «nou- veau roman» und «nouvelle critique» das literari- sche Umfeld veränderten, wurde man auf die for- malen und gedanklichen Schwächen seiner frühe- ren Bücher aufmerksam. In der nächsten Beilage «Literatur und Kunst»: - Prosa aus Wolfgang Koeppens Nachlass - Ein autobiographischer Roman von Peter Weiss - Afroamerikanische Literatur übersetzen - ein Werkstattbericht - Zora Neale Hurstons Autobiographie - Warum Philosophen über Atome streiten - Kultur als philosophisches Problem Hommes», ein «Meisterwerk» (Luc Estang), die- sen Ruf; das Buch erschien unter dem Titel «Wind, Sand und Sterne» bald auch im damali- gen Deutschland. Nach dem Zusammenbruch von 1940, den er als Militärpilot miterlebte, ging der Autor in die USA; sein Kriegsbuch «Pilote de guerre» war als «Flight to Arras» ein amerikani- sche r Bestseller, die französische Originalausgabe wurde in Paris von den Deutschen verboten. 1943 publizierte er in New York «Lettre a un otage» ` und «Le Petit Prince», nahm in einer unter US- Kommando stehenden Kampfeinheit in Algerien Dienst und flog trotz seinem vorgerückten Alter von Sardinien, dann von Korsika aus hartnäckig mehrere Einsätze. Am 31. Juli 1944 kehrte er von der letzten Aufklärungsmission, die man ihm be- willigt hatte, nicht mehr zurück. Der Mensch, gross geschrieben Mit dem Älterwerden und dem Wiederlesen stellten sich auch für den einst jugendlichen Leser Fragen, Zweifel und schliesslich Widerspruch ein. Den Menschen begründen, an den Geist glauben, das Wesentliche erkennen, nach echter Grösse streben, Gott suchen ... Was meinte das alles konkret? Genügte es, «l'Homme» stets mit einer Majuskel zu schreiben, um deutlich zu machen, wie dieser Mensch beschaffen sein sollte? Da stand: «Ich verstehe die Leute in den Vorort- zügen nicht mehr, die glauben, Menschen zu sein.» Nicht jeder hatte eben ein Adelsprädikat, drei Fliegerbrevets und Gallimard als Verleger. «Allzeit bereit» galt bei Saint-Ex wie bei den Pfadfindern, aber «Meine Ehre ist Treue» war auch die Devise der SS. «Man sieht nur mit dem Herze n gut», lehrte der kleine Prinz. War das «Herz» nicht oftmals ein schlechter Ratgeber? In «Citadelle» ist die Rede vom gefährlichen Irrtum der Intellektuellen, die Sprache könne die Dinge «ergreifen» (und damit begreifen). Für einen Schriftsteller ein merkwürdiges Eingeständ- nis. Und weiter heisst es: «Ce qui est en moi, il n'est point de mot pour le dire.» Worte hatte er wohl, aber häufig so abstrakte Worte, dass sie fast alles und fast nichts mehr besagen. Auf dem Ge- fühl für das Positive lässt sich auf die Dauer kein literarisches Werk begründen. Das war Saint-Exu- ry selbst bewusst, wenn er in einem nachgelas- e senen Notizheft schrieb: «Ce qui me courage a e ` l'avance de cr´ er c'est que je ne sais pas ce que je e vais dire, ou plut^ t je ne sais pas comment b^ tir o a mon pont entre le monde informul´ et la con- e science.» Aus heutiger Sicht spiegelt die Rezeptions- geschichte Saint-Exup´ rys die Wandlungen, de- e nen das Verständnis des Schriftstellers im 20. Jahrhundert unterworfen war. Seine frühen Romane, vor allem «Terre des Hommes», ent- sprachen der «Vermenschlichung», die ein be- stimmtes Publikum von einem bloss technischen Fortschritt erhoffte und in der Gestalt des dichte- risch sensiblen Piloten, in seiner Synthese von Aktivismus und Besinnlichkeit begrüsste. Dazu kamen der dokumentarische Wert seiner Flug- schilderungen und, in «Pilote de guerre», die in ein mutiges «Dennoch» mündende Erfahrung der Niederlage von 1940. In der unmittelbaren Nach- kriegszeit erwarteten viele Leser im Zeichen des ihres fremdbestimmten Prinzen, sie zu internie- ren ... Aber es kommt noch schlimmer. Das Memoi- ren-Manuskript, wahrscheinlich im Jahre 1945 abgeschlossen, landete, so berichtet jetzt der Her- ausgeber Alain Vircondelet, in einem grossen Überseekoffer, der 1947, bei Consuelos Rückkehr nach Europa, ungeöffnet in den Keller ihres Pari- ser Wohnhauses verfrachtet wurde. Von da aus gelangte der Koffer nach dem Tod der Rose nach Grasse, in den Besitz ihres Universalerben Jos´ e Martinez-Fructuoso. Und dieser entschloss sich dann im letzten Jahr, anlässlich des 20. Todestags von Consuelo und des bevorstehenden 100. Ge- burtstags von Antoine, den Koffer endlich zu öff- nen. Zum Vorschein kam das Manuskript, das nun als Buch vorliegt. Hatte diese Geschichte schon etwas von Romananfängen aus alter Zeit, so wurde sie voll- ends barock, als der Schweizer Publizist Christian Campiche beim Vergleich von zwei Faksimiles im Anhang zu den «M´ moires de la rose» stutzig e wurde: Die Handschriften der ersten Seite des Manuskripts und eines zeitlich benachbarten Briefes von Consuelo an «Tonino, mon amour» vom 29. Juni 1944 seien, so befand er, nicht iden- tisch (was übrigens auch dem ungeübten Blick auffallen muss). Mehr noch: Die Handschrift des Memoirenskripts stamme eindeutig von - Denis de Rougemont! Dieser war in New York tatsäch- lich ein Nachbar und enger Freund der Saint- Exup´ rys; nachdem sich Antoine zu seiner letzten e Reise aufgemacht hatte, soll Consuelo bei ihm Trost und mehr gesucht haben. Ein graphologi- sches Gutachten des Kriminologischen Instituts Lausanne erhärtete den Verdacht des Rouge- mont-Spezialisten Campiche. Der «Figaro» war- tete daraufhin Anfang Juni mit einem Gegengut- achten von Christian Galantaris auf, das auf die graphologische Identität von handschriftlichen Zusätzen und Korrekturen im Daktyloskript der Memoiren und anderen Schriftproben der Rose schliesst. Nur: Von der Existenz eines Daktylo- skripts war bisher nie die Rede. Auch anderes wirkt recht ungereimt: Alain Vircondelet, Consue- los Biograph und Herausgeber, gibt durchaus zu, dass Denis de Rougemont, der auch an Consue- los Roman «Opp` de» (1945 bei Brentano's in e New York erschienen) mitgearbeitet haben soll, bei der Verfassung der Memoiren eine «inspirie- rende Rolle» gespielt haben mag. Aber die «Fri- sche» des Memoirenstils habe nichts von der «akademischen Schwerfälligkeit» des Schweizer Philosophen. Hat der gute Mann jemals «Liebe und Abendland» gelesen? Ein anderes Argument spricht, wenn denn die betreffenden Dokumente vorgelegt werden können, deutlicher gegen eine Autorschaft von Denis de Rougemont. Vircon- delet behauptet, das Manuskript von Hispanis- men und Französischfehlern (Syntax, Stil .. .) be- reinigt zu haben. Diese Arbeit hätte er sich mit einem Manuskript von Denis de Rougemont wohl nicht machen müssen. Und trotz den Ein- griffen des Herausgebers bleiben die Memoiren der Rose ein oftmals inkohärentes Buch, das man auch bei grosszügiger Auslegung des Begriffs nicht der Gattung Literatur zuschlagen möchte. Es bleibt das Mysterium der Handschriften. Hat Consuelo ihre Memoiren diktiert? Hat Denis de Rougemont das ganze Unternehmen als Rache für verlorene Schachpartien gegen den Rivalen in- szeniert? Und warum und von wem erhält Alain Vircondelet heute anonyme Drohbriefe? In Er- wartung einer Auflösung dieser Fragen könnte man wieder einmal zu einem Buch greifen, etwa von Antoine de Saint-Exup´ ry. e Jürgen Ritte Consuelo de Saint-Exup´ ry: moires de la rose. Plon, Paris e e 2000. 283 S., fFr. 118.-. 067 Auftrag: nzz Tag: Abs.: «Erzengel Saint-Ex»? Das Ende der Dritten Republik, die Jahre der Besetzung und die Lib´ ration liessen manche lite- e rarische Glorie der Zwischenkriegszeit verblassen, aber der Nachruhm des auf fast mythische Weise Verschollenen schien ins Ungemessene zu wach- sen. Existenzialismus und nationale Erneuerung, Katholiken, libertäre Marxisten und humanisti- sche Freigeister nahmen Saint-Exup´ ry in An- e spruch. Sartre stellte ihn als Vorläufer einer «litt´ - e rature de construction» der Konsumliteratur gegenüber. Für Maurice Merleau-Ponty verkör- perte er den modernen Helden, der sich bewusst allen Risiken und Wechselfällen der Zukunft aussetze. In der wichtigsten Bestandesaufnahme der Nachkriegsliteratur, Ga¨ tan Picons «Pan- e orama de la nouvelle litt´ rature fran¸ aise» (1949) e c ist er neben Bernanos, Malraux oder Aragon ein Hauptvertreter der «ethischen Generation», einer neuen Kunst antiromantischer Wirklichkeit und menschlicher Verantwortung. Der von ihm illus- trierte «Petit Prince» wurde zugleich als geniales Kinderbuch und als tiefgründige Parabel gelesen; weltweit folgten sich die Auflagen und Überset- zungen. Äusseres Zeichen der Klassizität, die ihm von vielen zugesprochen wurde, war die bereits 1953 erfolgte Aufnahme in die Biblioth` que de la e Pl´ iade. e Um sich für den «Erzengel Saint-Ex» zu be- geistern, brauchte es vor einem halben Jahrhun- dert nicht viel mehr als den Zukunftsglauben der Jugend. Da kündigte, unmittelbar aus einer ge- walttätigen und verworrenen Zeitgeschichte her- aus, eine Stimme vom Sinn des Lebens, von der Kulturnotizen Der Komponist Matthias Pintscher erhält den mit 20 000 Mark dotierten Hindemith-Preis des Musik-Fes- tivals Schleswig-Holstein. Der 28-jährige Pintscher schrieb mehrere Auftragskompositionen, unter anderem für die Sächsische Staatsoper in Dresden und das Festi- val «Hörgänge» in Wien. (dpa) «Ulysses» kehrt heim. Das Manuskript von James Joyces grossem Dublin-Roman, «Ulysses», wird erst- mals in der Stadt präsentiert, die das Werk inspirierte. Der Schriftsteller, der aus dem repressiven Klima des katholischen Irland ins Exil gegangen war, verfasste den Roman zwischen 1914 und 1921 in Italien, der Schweiz und Frankreich; das Manuskript verkaufte er noch vor der Veröffentlichung an einen amerikanischen Kunst- mäzen, und seit 1924 gehörte es zu den Beständen der Rosenbach Library in Philadelphia. Bis zum 1. Oktober ist es nun in der Chester Beatty Library in Dublin Castle ausgestellt. (pd) «Der junge Bach» in Erfurt. Die grösste Bach- Ausstellung seit 50 Jahren in Deutschland ist in Erfurt eröffnet worden. Die Sonderschau trägt den Titel «Der junge Bach - Weil er nicht aufzuhalten». Sie ist bis zum 3. Oktober zu sehen. Die Schau sei deutschlandweit eine der wichtigsten Ausstellungen im Bach-Jahr 2000, sagte Ministerpräsident Bernhard Vogel bei der Eröffnung in der Predigerkirche. Bach, dessen Todestag sich am 28. Juli zum 250. Mal jährt, habe seine künstlerisch und menschlich prägende n Jahre in Thüringen verbracht. (dpa) Neue Zürcher Zeitung vom 29.06.2000

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NeuöZürcörZäitung

Fahne:

640

Teil:

02

Farbe:

Alle

Farben

FEUILLETON Donnerstag, 29. Juni 2000 Nr. 149 67

Im Namen der RoseDenis de Rougemont als Ghostwriter-Biograph?

Consuelo de Saint-Exup´ ry, Ehefrau des Autors, der 1943 den «Kleinen Prinzen» herausgebrachte

hatte, begann 1944 in New York mit der Niederschrift ihrer Memoiren. Im selben Jahr ver-schwand Antoine de Saint-Exup´ry. Consuelos Manuskript ist erst kürzlich aufgetaucht und liegt

e

nun als Buch vor. Es stellen sichFragen bezüglich der Autorschaft.

Sie war die Rose, die traurige, schöne Rose, dieihren kleinen Prinzen ziehen liess, als es diesemzu eng ward auf dem Asteroiden B 612. Sie wardie Blume, einzigartig unter allen Blumen desUniversums, die der Prinz noch mitten in derWüste, auf dem fernen Gestirn der Erde, in sei-nem reuigen Herzen trug: «Ich hätte niemals flie-hen dürfen! Ich hätte hinter all den armseligen

Listen ihre Zärtlichkeit spüren müssen. Blumensind so widersprüchlich! Aber ich war zu jung, ichwusste nicht, sie zu lieben.»­Consuelo de Saint-Exup´ ry fühlte sich oft von ihrem bis zur Selbst-everleugnung geliebten Antoine verlassen.

Flug-zeughangars, andere Frauen oder einfach nur dieLiteratur waren die fernen Sterne, zu denen eraufbrach, um dann doch immer wieder zu ihr zu-rückzukehren.

Startbereit zugeistigen Höhenflügen: Antoine de Saint-Exup´ ry. (Bild key)

e

Das berühmteste Märchen des 20. Jahrhun-derts, Antoine de Saint-Exup´ rys «Petit Prince»,eerschien 1943 im New Yorker Exil. Dort hatte dergrosse Flieger und Schriftsteller im Jahr zuvorabermals seine Frau zurückgelassen, um sich inden Reihen der R´ sistance zu engagieren. Im Jahredanach, 1944, begann Consuelo, immer noch inNew York, mit der Niederschrift ihrer Memoirenals Frau an der Seite einer Legende. Darin bot sie,

die vielgeschmähte«comtesse de cin´ ma», diee

von der Familie und den Schriftstellerkollegen

ihres Mannes verstossene Lateinamerikanerin,eine eigene Lesart des Märchens: Antoine war derkleine Prinz, das

ewige Kind, der Poet, der nichtwusste, was er wollte. Sie war die liebendeSchwester und Mutter, die entsagungsvoll Sor-gende, die Muse, die Blume, deren Duft ihn­mitden Worten des «Petit Prince»­«umwehte underleuchtete». Ihr Mann konnte ihr nicht mehrwidersprechen. Am 31. Juli 1944 startete er vonseinem korsischen Stützpunkt Borgo

aus zu einemAufklärungsflug über Savoyen­und verschwandspurlos. Damit verband sich das moderne Mär-chen vom Weltraumflieger «Petit Prince» mitdem alten Mythos des Ikarus. Zur Legendenbil-dung trug bei, dass Saint-Exup´ rys Flugzeug, eineeLightning P38, unauffindbar blieb. Und wie Tou-risten in Schottland immer wieder einmal eineFlosse des Ungeheuers von Loch Ness erblicken,entdecken Fischer, Taucher und Angler im Mittel-meer regelmässig das Flugzeugwrack. Vor zweiJahren das­immerhin authentifizierte­Namens-kettchen des

Fliegers, vor wenigen Wochen, soheisst es, die ganze Lightning.

Die stürmische Liebe aber zwischen dem Prin-zen und der Rose war wohl deutlich prosaischerverlaufen, als die 1979 verstorbene Consuelo zu-geben mochte. Am 29. März 1942 zum Beispiel,

zwei Tage vor seiner Mobilisierung, hinterlässt«Saint-Ex» seiner Gattin folgendes Schriftstück:«Ich habe nicht einmal ein Hemd ohne Loch fürNordafrika, keine Socken, keine Schuhe, nichts(. . .) Und da kommen Sie mit neuen Kleidernnach Hause.» Szenen einer Ehe, die 1931 ge-

schlossen worden war. Überhaupt schenkenFachleute wie Michel Quesnel, Herausgeber vonSaint-Exup´ rys Werken in der «Pl´ iade», dene eAufzeichnungen der recht stacheligen

Rosewenig

Glauben. Entgegen dem pathetischen Selbst-porträt der gottergebenen und stets missverstan-denen Pasionaria der wahren Liebe sei die junge,

reiche und schöne Witwe des 1927 verstorbenenSchriftstellers und Diplomaten Gomez Carrilloeine Dame gewesen, die sich von grossen Fami-liennamen, Geld und literarischem Ruhm genau-

sohingezogen fühlte wie von den Regungen der

Liebe. Ein typischer Männerstandpunkt? Feststeht, dass dem brodelnden «Vulkan aus El Salva-dor» oft die Phantasie durchgeht. Da wird einKaninchenstall im Garten zur Angorafarm, einKrankenhausaufenthalt in Paris zum Versuch

Humanismus einen positiven Beitrag zur Wieder-herstellung des lädierten Menschenbildes.«L'Existentialisme est un humanisme», erklärteSartre damals. Der Moralismus Saint-Exup´ rys

ehatte dank seiner Beliebigkeit zunächst den Vor-zug, ideologisch ungleiche Kreise für sich einzu-nehmen. Während andere Protagonisten der«ethischen Generation» früher oder später Parteiergriffen, Bernanos als Katholik, Aragon alsKommunist, Malraux als Gaullist, entband dervon ihm herausgeforderte Tod den Autor von sol-chem Engagement. Das wurde seiner «Philoso-phie» in der dann wieder zunehmend politischenIdeologisierung der Literatur zum Verhängnis.

Trotz seiner Loyalität, trotz der visionären Bild-haftigkeit mancher Naturschilderungen vermoch-te sein Werk im Gesamten den Verlust nicht zukompensieren, schon gar nicht durch seinen derTradition verpflichteten, nicht selten konventio-nellen Stil gegenüber einer antibürgerlichenÄsthetik, die sich nicht mehr an idealen Vor-bildern, sondern an einer neuen, ungewohnten

und oft provokanten Literatursprache orientierte.

Ein Klassiker der Moderne ist er nicht, konnteer nicht bleiben, obwohl er momentan als solchergalt. Aber seine Hinterlassenschaft verdient mehrals ein Achselzucken. Denn sie legt Zeugnis abvon den Hoffnungen einer Zeit, der wir kaum ent-wachsen sind. Und sie ist ein ungewöhnlichesBeispiel für die Imponderabilien der Literatur.

Manfred Gsteiger

Der philosophierende PilotZum 100. Geburtstag von Antoine de Saint-Exup´ry

e

Sein Werk hat höchstes Lob und weiteVerbreitung gefunden, aber auch Kritik und Ablehnung

hervorgerufen.Jetzt ist es um den französischen Piloten und Schriftsteller still geworden. Kann

der am 29. Juni 1900 geborene Antoine de Saint-Exup´ ry als Klassiker gelten, oder ist er besten-e

falls ein Zeugeseiner Zeit?

Sein Erstling «Courrier Sud» machte 1928 aufden jungen, im Flugdienst zwischen Frankreichund Nordafrika tätigen Piloten Antoine de Saint-Exup´ ry aufmerksam. 1931 versah Andr´ Gidee eden zweiten, im selben Jahr mit dem Prix Feminaausgezeichneten R o m an «Vol de nuit» mit einemrühmenden Vorwort, in dem er seiner «parado-

xen Wahrheit» beistimmte, dass der Mensch nichtdurch die Freiheit, sondern nur durch eine heroi-sche Moral der Pflicht glücklich werden könne.Kurz vor dem Krieg bestätigte der grosse Roman-preis der Acad´ mie fran¸

aise für «Terre dese c

höheren Bestimmungdes Menschen, von Brüder-

lichkeit und Bereitschaft, die Stimme nicht einesbesserwisserischen

Pädagogen, sondern einesMannes der Tat, der sich dem Abenteuer derAviatik als einem Weg zur dichterischen Erkennt-nis ewiger Wahrheiten verschrieben hatte.

Aber die Kanonisierung war zumindest vor-eilig. Kritik an seinem humanitären Pathos undmehr noch an der Legendenbildung um seinePerson war nicht zu überhören. Sie erwies sichnach der postumen, selbst für manche Verehrerpeinlichen Publikation seines Hauptwerkes «Cita-delle» gerechtfertigt. «Die Stadt in der Wüste»,wie das Buch auf Deutsch heisst, ist das Manu-skript einer Tonbandaufnahme, an dem der Autorseit Jahren arbeitete und in dem sein Hang zuwortreicher Redundanz überdeutlich wird. An-stoss

erregte nicht nur die Strukturlosigkeit derFolge von Aufzeichnungen und Meditationen,sondern auch die Verschwommenheit ihrer pseu-doreligiösen Botschaft. So konnte der RezensentRobert Kanters bereits im Erscheinungsjahr 1948den vom sagenhaften Berberfürsten, dem AlterEgo Saint-Exup´ rys, geforderten Bau der Zita-edelle des neuen Menschen als ein Gebilde ausSand bezeichnen. Und im selben Mass, wie «nou-veau roman» und «nouvelle critique» das literari-sche Umfeld veränderten, wurde man auf die for-malen und gedanklichen Schwächen seiner frühe-ren Bücher aufmerksam.

In der nächsten Beilage

«Literatur und Kunst»:­Prosa ausWolfgang Koeppens Nachlass­Ein autobiographischer Roman

von Peter Weiss­Afroamerikanische Literatur übersetzen­ein Werkstattbericht­Zora Neale Hurstons Autobiographie­Warum Philosophen über Atome streiten­Kultur als philosophisches Problem

Hommes», ein «Meisterwerk» (Luc Estang), die-sen Ruf; das Buch erschien unter dem Titel«Wind, Sand und Sterne» bald auch im damali-gen Deutschland. Nach dem Zusammenbruchvon 1940, den er als Militärpilot miterlebte, ging

der Autor in die USA; sein Kriegsbuch «Pilote deguerre» war als«Flight to Arras» ein amerikani-

scher Bestseller, die französische Originalausgabe

wurde in Paris von den Deutschen verboten. 1943publizierte er in New York «Lettre a un otage»`

und «Le Petit Prince», nahm in einer unter US-Kommando stehenden Kampfeinheit in Algerien

Dienst und flog trotz seinem vorgerückten Altervon Sardinien, dann von Korsika aus

hartnäckig

mehrere Einsätze. Am 31. Juli 1944 kehrte er vonder letzten Aufklärungsmission, die man ihm be-willigt hatte, nicht mehr zurück.

Der Mensch, gross geschrieben

Mit dem Älterwerden und dem Wiederlesenstellten sich auch für den einst jugendlichen LeserFragen, Zweifel und schliesslich Widerspruch ein.Den Menschen begründen, an den Geist glauben,

das Wesentliche erkennen, nach echter Grössestreben, Gott suchen . . . Was meinte das alleskonkret? Genügte es, «l'Homme» stets mit einerMajuskel zu schreiben, um deutlich zu machen,

wie dieser Mensch beschaffen sein sollte? Dastand: «Ich verstehe die Leute in den Vorort-zügen nicht mehr, die glauben, Menschen zusein.» Nicht jeder hatte eben ein Adelsprädikat,

drei Fliegerbrevets und Gallimard alsVerleger.

«Allzeit bereit» galt bei Saint-Ex wie bei denPfadfindern, aber «Meine Ehre ist Treue» warauch die Devise der SS. «Man sieht nur mit demHerzen gut», lehrte der kleine Prinz. War das«Herz» nicht oftmals ein schlechter Ratgeber?

In «Citadelle» ist die Rede vom gefährlichen

Irrtum der Intellektuellen, die Sprache könne dieDinge «ergreifen» (und damit begreifen). Füreinen Schriftsteller ein merkwürdiges Eingeständ-

nis. Und weiter heisst es: «Ce qui est en moi, iln'est point de mot pour le dire.» Worte hatte erwohl, aber häufig so abstrakte Worte, dass sie fastalles und fast nichts mehr besagen. Auf dem Ge-fühl für das Positive lässt sich auf die Dauer keinliterarisches Werk begründen. Das war Saint-Exu-p´ ry selbst bewusst, wenn er in einem nachgelas-

esenen Notizheft schrieb: «Ce qui me d´ courage ae `

l'avance de cr´ er c'est que je ne sais pasce

que jee

vais dire, ou plut^ t je ne sais pas comment b^ tiro amon pont entre le monde informul´ et la con-escience.»

Aus heutiger Sicht spiegelt die Rezeptions-geschichte Saint-Exup´ rys die Wandlungen, de-enen das Verständnis des Schriftstellers im20. Jahrhundert unterworfen war. Seine frühenRomane, vor allem «Terre des Hommes», ent-sprachen der «Vermenschlichung», die ein be-stimmtes Publikum von einem bloss technischenFortschritt erhoffte und in der Gestalt des dichte-risch sensiblen Piloten, in seiner Synthese vonAktivismus und Besinnlichkeit begrüsste. Dazukamen der dokumentarische Wert seiner Flug-schilderungen und, in «Pilote de guerre», die inein mutiges «Dennoch» mündende Erfahrung derNiederlage von 1940. In der unmittelbaren Nach-kriegszeit erwarteten viele Leser im Zeichen des

ihres fremdbestimmten Prinzen, sie zu internie-ren . . .

Aber es kommt noch schlimmer. Das Memoi-ren-Manuskript, wahrscheinlich im Jahre 1945abgeschlossen, landete, so berichtet jetzt der Her-ausgeber Alain Vircondelet, in einem grossenÜberseekoffer, der 1947, bei Consuelos Rückkehrnach Europa, ungeöffnet in den Keller ihres Pari-ser Wohnhauses verfrachtet wurde. Von da ausgelangte der Koffer nach dem Tod der Rose nachGrasse, in den Besitz ihres Universalerben JoseMartinez-Fructuoso. Und dieser entschloss sichdann im letzten Jahr, anlässlich des 20. Todestags

von Consuelo und des bevorstehenden 100. Ge-burtstags von Antoine, den Koffer endlich zu öff-nen. Zum Vorschein kam das Manuskript, dasnun als Buch vorliegt.

Hatte diese Geschichte schon etwas vonRomananfängenaus alter Zeit, so wurde sie voll-

ends barock, als der Schweizer Publizist ChristianCampiche beim Vergleich von zwei Faksimiles imAnhang zu den «M´ moires de la rose» stutzig

ewurde: Die Handschriften der ersten Seite desManuskripts und eines zeitlich benachbartenBriefes von Consuelo an «Tonino, mon amour»vom 29. Juni 1944 seien, so befand er, nicht iden-tisch (was übrigens auch dem ungeübten Blickauffallen muss). Mehr noch: Die Handschrift desMemoirenskripts stamme eindeutig von­Denisde Rougemont! Dieser war in New York tatsäch-lich ein Nachbar und enger Freund der Saint-Exup´ rys; nachdem sich Antoine zu seiner letzteneReise

aufgemacht hatte, soll Consuelo bei ihmTrost und mehr gesucht haben. Ein graphologi-

sches Gutachten desKriminologischen Instituts

Lausanne erhärtete den Verdacht desRouge-

mont-Spezialisten Campiche. Der «Figaro» war-tete daraufhin Anfang Juni mit einem Gegengut-

achten von Christian Galantaris auf, das auf diegraphologische Identität von handschriftlichenZusätzen und Korrekturen im Daktyloskript derMemoiren und anderen Schriftproben der Roseschliesst. Nur: Von der Existenz eines Daktylo-skripts war bisher nie die Rede. Auch andereswirkt recht ungereimt: Alain Vircondelet, Consue-los Biograph und Herausgeber, gibt durchaus zu,

dass Denis de Rougemont, der auch an Consue-los Roman «Opp` de» (1945 bei Brentano's ineNew York erschienen) mitgearbeitet haben soll,bei der Verfassung der Memoiren eine «inspirie-

rende Rolle» gespielt haben mag. Aber die «Fri-sche» des Memoirenstils habe nichts von der«akademischen Schwerfälligkeit»

des SchweizerPhilosophen. Hat der gute Mann jemals «Liebeund Abendland» gelesen? Ein anderes Argumentspricht, wenn denn die betreffenden Dokumentevorgelegt werden können, deutlicher gegen eineAutorschaft von Denis de Rougemont. Vircon-delet behauptet, das Manuskript von Hispanis-

men und Französischfehlern (Syntax, Stil . . .) be-reinigt zu haben. Diese Arbeit hätte er sich miteinem Manuskript von Denis de Rougemont

wohl nicht machen müssen. Und trotz den Ein-griffendes

Herausgebers bleiben die Memoirender Rose ein oftmals inkohärentes Buch, das manauch bei grosszügiger Auslegung

desBegriffs

nicht der Gattung Literatur zuschlagen möchte.Es bleibt das Mysterium der Handschriften.

Hat Consuelo ihre Memoiren diktiert? Hat Denisde Rougemont das ganze Unternehmen als Rachefür verlorene Schachpartien gegen den Rivalen in-szeniert? Und warum und von wem erhält AlainVircondelet heute anonyme Drohbriefe? In Er-wartung einer Auflösung dieser Fragen könnteman wieder einmal zu einem Buch greifen, etwavon Antoine de Saint-Exup´ ry.

e Jürgen RitteConsuelo de Saint-Exup´ ry: M´ moires de la rose. Plon, Parise e

2000. 283 S., fFr. 118.­.

Kurztext:

067

Feuilleton

Auftrag:

nzz

Ausgabe:

29.06.00

Tag:

29.06.00

08:51:16

Abs.:

«Erzengel Saint-Ex»?Das Ende der Dritten Republik, die Jahre derBesetzung und die Lib´ ration liessen manche lite-e

rarische Glorie der Zwischenkriegszeit verblassen,

aber der Nachruhm des auf fast mythische WeiseVerschollenen schien ins Ungemessene zu wach-sen. Existenzialismus und nationale Erneuerung,Katholiken, libertäre Marxisten und humanisti-sche

Freigeister nahmen Saint-Exup´ ry in An-espruch. Sartre stellte ihn als Vorläufer einer «litt´ -erature de construction» der Konsumliteraturgegenüber. Für Maurice Merleau-Ponty verkör-perte er den modernen Helden, der sich bewusstallen Risiken und Wechselfällen der Zukunftaussetze. In der wichtigsten Bestandesaufnahmeder Nachkriegsliteratur, Ga¨ tan Picons «Pan-eorama de la nouvelle litt´ rature fran¸aise» (1949)e cist er neben Bernanos, Malraux oder Aragon einHauptvertreter der «ethischen Generation», einerneuen Kunst antiromantischer Wirklichkeit undmenschlicher Verantwortung. Der von ihm illus-trierte «Petit Prince» wurde zugleich als geniales

Kinderbuch und als tiefgründige Parabel gelesen;

weltweit folgten sich die Auflagen und Überset-zungen.Äusseres Zeichen der Klassizität, die ihm

von vielen zugesprochen wurde, war die bereits1953 erfolgte Aufnahme in die Biblioth` que de laePl´ iade.e

Um sich für den «Erzengel Saint-Ex» zu be-geistern, brauchte es vor einem halben Jahrhun-dert nicht viel mehr als den Zukunftsglauben derJugend. Da kündigte, unmittelbar aus einer ge-walttätigen und verworrenen Zeitgeschichte her-aus, eine Stimme vom Sinn des Lebens, von der

KulturnotizenDer Komponist Matthias Pintscher erhält den mit

20 000 Mark dotierten Hindemith-Preis des Musik-Fes-tivals Schleswig-Holstein. Der 28-jährige Pintscherschrieb mehrere Auftragskompositionen, unter anderemfür die Sächsische Staatsoper in Dresden und das Festi-val «Hörgänge» in Wien. (dpa)

«Ulysses» kehrt heim. Das Manuskript von JamesJoyces grossem Dublin-Roman, «Ulysses», wird erst-mals in der Stadt präsentiert, die das Werk inspirierte.

Der Schriftsteller, der aus dem repressiven Klima deskatholischen Irland ins Exil gegangen war, verfasste denRoman zwischen 1914 und 1921 in Italien, der Schweizund Frankreich; das Manuskript verkaufte er noch vorder Veröffentlichung an einen amerikanischen Kunst-mäzen, und seit 1924 gehörte

es zu den Beständen derRosenbach Library in Philadelphia. Bis zum 1. Oktoberist es nun in der Chester Beatty Library in Dublin Castleausgestellt. (pd)

«Der junge Bach» in Erfurt. Die grösste Bach-Ausstellung seit 50 Jahren in Deutschland ist in Erfurteröffnet worden. Die Sonderschau trägt den Titel «Derjunge Bach­Weil er nicht aufzuhalten». Sie ist bis zum3. Oktober zu sehen. Die Schau sei deutschlandweit eineder wichtigsten Ausstellungen im Bach-Jahr 2000, sagteMinisterpräsident Bernhard Vogel bei der Eröffnung inder Predigerkirche. Bach, dessen Todestag sich am28. Juli zum 250. Mal jährt, habe seine künstlerisch undmenschlich prägenden Jahre in Thüringen verbracht.

(dpa)

Neue Zürcher Zeitung vom 29.06.2000