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Leseprobe aus: Ursula Keller, Natalja Sharandak Lew Tolstoj Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

Ursula Keller, Natalja Sharandak

Lew Tolstoj

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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inhalt

«Dieser junge Offizier 7macht uns alle zu Nieten . . .»

Suche nach dem Weg. Erste Erfolge 9Jasnaja Poljana . « Kindheit » . « Knabenjahre » .

« Jugend » . Der Krieg in seiner wahren Gestalt

Reisen. Verliebtheiten. Pädagogik 32

Sonja. Familienglück 40« Krieg und Frieden » . « Anna Karenina »

Suche nach dem Sinn des Lebens 65« Beichte » . Moskau . «Worin besteht

mein Glaube ? » . «Was sollen wir denn tun ? »

Kompromisse 80Prophet . Die Tolstojaner . Szenen einer Ehe .

« Die Kreutzersonate »

Das Reich Gottes ist in euch 95Dienst am Volke : Die Hungersnot . Die seltsame

Liebe Sofja Andrejewnas . «Was ist Kunst ? » .« Auferstehung » . Exkommunikation

Lebender Mythos 113Töchter und Söhne . Krim . Tolstoj und die

Revolution 1905 . « Ich kann nicht schweigen » .Wallfahrtsort Jasnaja Poljana

Der letzte Weg 130« Fliehen muss ich, fliehen . . .»

Anmerkungen 139

Zeittafel 143

Zeugnisse 146

Bi blio gra phie 148

Namenregister 155

Über die Autorinnen 157

Quellennachweis der Abbildungen 157

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Lew Tolstoj als Offizier. Mit Aquarellfarbenkolorierte Porträtaufnahme von Sergej Lewitskij, 1856

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« D i e s e r j u n g e O f f i z i e rm a c h t u n s a l l e z u N i e t e n . . . »

Im September 1854 gehen auf der Halbinsel Krim 50 000britische, französische und türkische Soldaten an Land. DerKrimkrieg, der Europa seit der Kriegserklärung des Osma-nischen Reiches gegen Russland im Herbst 1853 erfasst hatund zu einem der grauenvollsten Kriege wurde, den Europa bisdahin erlebt hat, erreicht seinen Höhepunkt mit der 349 Tagewährenden Belagerung der Stadt Sewastopol, des wichtigstenStützpunkts des Russischen Reiches am Schwarzen Meer.

Gebannt verfolgt die russische Bevölkerung die Nach-richten vom Süden der Krim, einem der schönsten LandstricheEuropas, einem Paradies, in das der Krieg eingebrochen ist. Inder führenden Literaturzeitschrift der Liberalen, dem «Sowre-mennik» (Zeitgenosse), erscheinen in regelmäßiger Folge li-terarische Berichte aus der Kriegshölle der eingeschlossenenSeefestung, deren Autor den Krieg nicht in seinem geordneten,schönen Gewande, mit Musik, Trommelschlagen, wehenden Fahnen,sondern in seiner wirklichen Gestalt, mit Blut, Qualen und Tod vorden Augen der Leser erstehen lässt. Ganz Russland, dessen Sol-daten sich furchtlos dem Feind entgegenwerfen, bereit zu ster-ben, nicht für die Stadt, sondern für das Vaterland, vergießt Tränenüber der Epopöe Sewastopols, deren Held das russische Volk war(Sewastopol im Dezember).

Der Name des Autors ist dem literarischen Publikum be-reits geläufig: Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj. Mit dem Er-scheinen der Sewastopoler Erzählungen wächst der Ruhm desschriftstellernden Offiziers ins Unermessliche.

«Ihre Erzählungen sind genau das, was die russische Ge-sellschaft zum jetzigen Zeitpunkt braucht», schreibt ihm derDichter und Herausgeber des «Sowremennik», Nikolaj Ne-krassow, «die Wahrheit, eine Wahrheit, deren es seit Gogols Todin der russischen Literatur nur noch so wenig gibt. [. . .] Diese

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Wahrheit, in jener Gestalt, in welcher Sie sie in die Literaturbringen, ist etwas hier bei uns in Russland ganz und gar Neues.Ich kenne in unseren Tagen keinen anderen Schriftsteller, demähnliche Verehrung und Wohlwollen entgegengebracht wür-de wie Ihnen.» 1

Die Erstürmung des Forts Malachow durch die Franzosenam 27. August / 8. September 1855 bedeutete denSieg der Alliierten über die Verteidiger Sewastopols.Farblithographie, 19. Jahrhundert

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S u c h e n a c h d e m We g .E r s t e E r f o l g e

Am 28. August 1828 wurde Lew Tolstoj als viertes von ins-gesamt fünf Kindern einer der besten Familien der russischenAristokratie geboren. Der grüne Diwan, auf dem er und späterauch seine Kinder das Licht der Welt erblickten, hat bis heuteeinen Ehrenplatz im Arbeitszimmer des Schriftstellers imHaus seines wenige Kilometer von der altrussischen Gouver-nementshauptstadt Tula entfernten Landguts Jasnaja Poljana.

Das sagenumwobene Jasnaja Poljana, das noch zu Leb-zeiten Tolstojs zum Wallfahrtsort seiner Anhänger wurde, wareinst im Besitz des Großvaters des Schriftstellers, dem FürstenNikolaj Sergejewitsch Wolkonskij. Unter Zarin Katharinader Großen hatte er große Verdienste erworben, unter ihrem

Jasnaja Poljana. Foto von Sofja Tolstaja, 1897

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Nachfolger Pawel I. quittierte er den Dienst und ließ sich aufdem Land nieder, wo er mit seiner einzigen Tochter Maria, diefrüh die Mutter verloren hatte, ein zurückgezogenes Lebenführte.

Nach dem Tod des Vaters wurde für die Tochter, die bereitsdie dreißig überschritten hatte, ein Bräutigam gefunden. Siewar von bester Herkunft und Bildung, diese Vorzüge wurdenjedoch von einem Makel gemindert: Maria war keine Schön-heit und stand in dem Ruf, eine «hässliche alte Jungfer zusein». Am 9. Juli 1822 wurde sie die Frau des ehemaligen Of-fiziers und verarmten Grafen Nikolaj Iljitsch Tolstoj.

Die Genealogie der Familie Tolstoj lässt sich bis ins14. Jahrhundert zurückverfolgen. Peter der Große hatte seinemeinstigen Weggefährten Pjotr Andrejewitsch Tolstoj, einem dergebildetsten Männer seiner Zeit mit einer glänzenden Karriereals Diplomat im Osmanischen Reich, am Krönungstag seinerGattin Katharina I. im Mai 1724 den Grafentitel verliehen.Sein Nachkomme Ilja Andrejewitsch Tolstoj, der Großvater

Maria Wolkonskaja.Das einzige erhalteneBildnis der Mutter Tolstojsaus Kindheitstagen mitseiner Unterschrift:«Meine Mutter / L. T.».Scherenschnitt

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des Schriftstellers, brachte das Vermögen der Familie durch.Nach seinem Tod hatte der Sohn Nikolaj für den Unterhalt vonMutter und Schwestern zu sorgen. Er war ein Schöngeist mitInteresse an Musik, Poesie und Malerei und führte, wie vieleMänner seiner Generation, nachdem er nach seiner Teilnahmeam Krieg gegen Napoleon den Offiziersdienst quittiert hatte,ein zurückgezogenes, aber unabhängiges Leben. Nicht genug,dass er unter Nikolaj I. nicht in Staatsdiensten stand, auch seineFreunde waren sämtlich Männer, die nicht in Staatsdiensten standenund sogar ein wenig die Regierung frondierten, schrieb Lew Tolstojüber seinen Vater.2

Da der Nachlass Ilja Andrejewitsch Tolstojs einzig ausSchulden bestand, suchte man für Nikolaj eine gute Partie.Die Wahl seiner Familie fiel auf die Gräfin Maria Wolkonska-ja. Sie war reich, nicht mehr jung, eine Waise; mein Vater war eincharmanter, brillanter junger Mann aus gutem Hause und mit Ver-bindungen, jedoch finanziell ruiniert, berichtet Tolstoj. Ich nehmean, dass meine Mutter meinen Vater geliebt hat, aber wohl eher als

Der Vater NikolajIljitsch Tolstoj.Pastell vonKarl Wilhelm.Bardu, um 1815

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ihren Ehemann und vor allem als Vater ihrer Kinder, doch sie warnicht verliebt in ihn.3

Bis zu ihrem frühen Tod schenkte Maria ihrem Mann Ni-kolaj in acht Jahren Ehe fünf Kinder: Nikolaj, Sergej, Dmitrij,Lew und Maria. Am 4. August 1830, ein halbes Jahr nach derGeburt der einzigen Tochter, starb sie. Was den Kindern vonihrer Mutter blieb, war ein Scherenschnitt, der sie im Alter vonetwa zehn Jahren zeigt.

Tolstoj, der knapp zwei Jahre zählte, als er die Mutter ver-lor, würde sie schließlich geradezu religiös verehren und zuridealen Ehefrau und Mutter stilisieren. Sie war in meiner Vor-stellung ein solch hohes, reines, geistiges Wesen, dass ich in meinerLebensmitte, im Kampf um die Überwindung der Versuchung, oft zuihr gebetet habe, sie um Hilfe gebeten habe, und dieses Gebet hat mirstets geholfen.4

Nach dem Tod der Mutter übernahm Tatjana Alexan-drowna Jergolskaja, Tantchen Toinette, die Erziehung derKinder, eine entfernte Verwandte des Vaters, die bis zu ihremTod im Jahr 1874 bei der Familie auf Jasnaja Poljana lebte. Dochschon im Juni 1837 starb auch Tolstojs Vater. Die Vormund-schaft der Kinder übernahm nun dessen älteste Schwester, Grä-fin Alexandra Iljinitschna von Osten-Sacken. Nach deren Tod1842 ging die Verantwortung für die jüngeren Kinder Dmitrij,Lew und Maria auf die Tante Pelageja Iljinitschna Juschkowaüber, die mit ihrem Mann, einem Obersten a. D. des Husaren-regiments, in Kasan lebte.

Seine Jugendzeit in Kasan bezeichnete Tolstoj später alsWüste der Knabenjahre, in der niemand ihm moralische Orien-tierung zu geben vermocht habe. Ich wünschte von ganzem Her-zen, gut zu sein; doch ich war jung, leidenschaftlich, ich war allein,vollständig allein, als ich das Gute suchte, heißt es in seiner Beichte.Jedes Mal, wenn ich das, was meine tiefsten Herzenswünsche aus-machte, auszusprechen versuchte, nämlich dass ich moralisch unfehl-bar sein wolle, traf ich auf Verachtung und Spott; aber wenn ich michden schlechten Leidenschaften hingab, lobte man mich und fördertedies. Ehrgefühl, Herrschsucht, Habsucht, Sinnlichkeit, Stolz, Wut,Rache – all dies wurde geachtet. 5

1830 1837 –42

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Nachdem er im zweiten Anlauf das Aufnahmeexamenbestanden hatte, nahm Tolstoj 1844 das Studium an der Fa-kultät für orientalische Sprachen an der Universität Kasanauf. Doch er war kein übermäßig fleißiger Student. Kasan galtin jener Zeit als das russische Dorado, und die Möglichkeitendes Amüsements waren zahllos. Als Enkel des einstigen Gou-verneurs einer angesehenen Familie entstammend, war derJunggeselle Tolstoj ein gerngesehener Heiratskandidat in denSalons der Gesellschaft. Da er sich selbst für unansehnlich undwenig anziehend hielt, blieb er jedoch gehemmt, tanzte nurungern, und die jungen Damen hielten ihn für hölzern undlangweilig, einmal musste er sich gar sagen lassen, er sei ein«sac de farine» (Mehlsack).

Seine vermeintlich mangelnde Attraktivität versuchteTolstoj durch mustergültige Manieren zu kompensieren, in-dem er sich comme il faut gab. Mein «comme il faut» bestand zu-

Ansicht vonKasan, imVordergrundder Toltschok-Basar und dieNikolajkirche.Gemäldevon AndrejRakowitsch,1846

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allererst und vor allem in einem ausgezeichneten Französisch, beson-ders der Aussprache. [. . .] Die zweite Bedingung des «comme il faut»waren lange, gut gefeilte und absolut reine Fingernägel; drittens dievollendete Verbeugung, der Tanz und die Konversation; viertens undebenfalls sehr wichtig, die Gleichgültigkeit gegen alles und der steteAusdruck eines vornehmen, verachtungsvollen Desinteresses. 6

Noch vor Beginn des Studiums, im Alter von knapp vier-zehn Jahren, hatten die älteren Brüder, einem üblichen Ini-tiationsritual folgend, den Heranwachsenden in ein Bordellgebracht, wo er seine ersten sexuellen Erfahrungen machensollte.

Die geistige Nahrung, die ihm die Vorlesungen an der Uni-versität nicht gaben, fand Tolstoj in der Beschäftigung mit derPhilosophie – Jean-Jacques Rousseaus «Confessions » warenseine Offenbarung. Bei seinen Aufenthalten auf dem Land in-szenierte er sich als Diogenes. Der einstige Stutzer, der nochvor kurzem größten Wert auf das dem gesellschaftlichen com-me il faut entsprechende Auftreten gelegt hatte und nirgendwoerschienen war, ohne feinste Handschuhe überzuziehen, trugnun, inspiriert durch seine philosophischen Studien, eine ArtSchlafrock aus Sackleinwand und plumpe Pantoffeln an denbloßen Füßen.

Der Wechsel an die Juristische Fakultät weckte keinenEnthusiasmus bei Tolstoj. Ihm fehlte die Disziplin für das Stu-dium, was einmal gar mit Arrest im Karzer endete. Am 12. April1847 reichte der Student sein Gesuch um Exmatrikulation beider Universitätsleitung ein, aufgrund gesundheitlicher Problemeund familiärer Umstände. Die Begründung war so fadenscheinigwie zutreffend. Im Monat zuvor hatte er sich wegen einer ve-nerischen Erkrankung im Universitätsklinikum einer Behand-lung unterzogen.

Tolstoj kehrte nach Jasnaja Poljana zurück, wo er nacheinem sich selbst auferlegten Programm ein nützliches undmustergültiges Leben zu verbringen gedachte. In seinem Tage-buch, das er im März 1847 zu führen begonnen hatte, schworer, sein Leben ganz dem tätigen und steten Streben nach diesemeinen Ziel zu widmen. 7 In der ländlichen Einsamkeit Jasnaja

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Poljanas, das ihm zusammen mit einigen anderen kleinerenGütern als Erbteil zugefallen war, wollte Tolstoj dem Selbststu-dium der juristischen Wissenschaft, der praktischen und theo-retischen Medizin, der Geschichte, Geographie, Mathematikund Statistik sowie der Sprachen nachgehen. Darüber hinausbeschloss der Neunzehnjährige, es sei seine heilige und dringen-de Pflicht 8, seinen leibeigenen Bauern Gutes zu tun. Im Morgeneines Gutsbesitzers hat er später seinen missglückten Versuchbeschrieben, die Leibeigenen mit der Freiheit zu beglücken.

Bereits vor Ablauf der Zweijahresfrist, die er sich selbstgesetzt hatte, trieb es Tolstoj im Herbst 1848 zurück in dieStadt. Zuerst nach Moskau, wo er beachtliche Summen beimKartenspiel verlor, und von dort nach Sankt Petersburg, wo ersich ins gesellschaftliche Leben stürzte. So gingen die nächs-

Lew Tolstojin SanktPetersburg,1849

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ten Jahre dahin – Glücksspiel, Frauen, Vorsätze für ein bes-seres Leben.

Im März 1851 begann er mit der Niederschrift seinesersten Werkes, der Geschichte des gestrigen Tages, indem er sichzum Ziel setzte, den Tag mit allen Erlebnissen und Gedanken, dieer mit sich bringt 9, aufzuschreiben. «Es könnte scheinen, alshabe Lew Tolstoj im Vorfrühling 1851 verwirklicht, was heu-te mit den Namen Proust und Joyce in Verbindung gebrachtwird » 10, bemerkte Viktor Schklowski über diese Fragment ge-bliebene literarische Arbeit Tolstojs, in welcher dieser das für

Lew Tolstoj und sein Lieblingsbruder Nikolaj.Daguerreotypie, Moskau 1851

1851

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seine späteren Werke charakteristische Verfahren des innerenMonologs der psychologischen Analyse bereits anwandte.

Kurze Zeit später beschloss Tolstoj seine Selbstverban-nung in den Kaukasus, um vor den Schulden und schlechten An-gewohnheiten zu fliehen 11. Am 29. April 1851 brach er gemein-sam mit seinem Bruder Nikolaj, der als Artillerieoffizier inder Armee diente, auf. Gerade so wie sein Protagonist Oleninin Die Kosaken – ein junger Mann, ohne Abschluss eines Studiums,der nirgends in Diensten gestanden [. . .], die Hälfte seines Vermögensdurchgebracht und bis zum Alter von vierundzwanzig Jahren kei-nerlei berufliche Laufbahn sich gewählt oder irgendetwas gearbeitethatte – mag Tolstoj sich gesagt haben, dass nun ein neues Lebenbeginnt, in dem es die alten Fehler und die anschließende Reue nichtmehr geben wird, sondern einzig Glück (Kap. 2).

Ein halbes Jahr später trat Tolstoj in den Militärdienstein und blieb bis zum Januar 1854 im Kaukasus, einer auchdamals schon krisengeschüttelten Region, deren rebellischeBergvölker sich nicht dem Großmachtstreben des zaristischenRussland unterwerfen wollten. Bereits kurze Zeit nach seinerAnkunft dort hatte er noch als Freiwilliger an einem Angriffauf eine tschetschenische Ansiedlung teilgenommen. Für vie-le der Soldaten war das Marodieren unter der Bevölkerung indiesem seit Jahrzehnten andauernden Krieg bereits alltäglich.Der junge Tolstoj jedoch war entsetzt. Seine Erzählung DerÜberfall, die 1853 erschien, ist der autobiographische Berichtseiner Erschütterung. Ist den Menschen die schöne Erde unter demunermesslich großen Sternenhimmel denn wirklich zu klein?, klagtder Volontär an, aus dessen Sicht der Kriegsbericht verfasst ist.Kann inmitten dieser bezaubernden Natur tatsächlich ein Gefühldes Ingrimms, des Rachedurstes und der Begierde, seinesgleichen zutöten, in der Seele eines Menschen erhalten bleiben? (Kap. 6)

Wie seine Schriftstellerkollegen Alexander Puschkin undMichail Lermontow vor ihm war Tolstoj vom Kaukasus mitseiner wilden Natur und der Mentalität der dortigen Bevöl-kerung fasziniert. Diese Eindrücke wurden ihm wichtige An-regungen für Werke wie Die Kosaken und Hadschi Murat. In derStaniza Starogladkowskaja lebte der junge Offizier im Haus des

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alten Kosaken Jepifan, eines verwegenen Reiters, der ihm spä-ter als Modell des Jeroschka in Die Kosaken diente; außerdemfreundete er sich mit dem gleichaltrigen Tschetschenen Sadoan, der ihm einmal das Leben rettete und ihn ein anderes Malvor einem großen finanziellen Verlust bewahrte, indem er diegewaltige Summe von 850 Rubel zurückgewann, die Tolstojbeim Kartenspiel verloren hatte.

Obwohl es ihm also nicht gelang, sich durch das freiwil-lige Exil im Kaukasus zu disziplinieren und schlechte Gewohn-heiten gänzlich abzulegen, begann Tolstoj dort zu schreiben.Sein Manuskript der Erzählung Kindheit schickte er an denHerausgeber der Monatsschrift «Sowremennik», den DichterNikolaj Nekrassow. «Ich habe Ihr Manuskript gelesen», ant-wortete dieser. «Es birgt so viel Interessantes in sich, dass iches drucken werde. [. . .] Mir scheint, der Autor hat Talent.» 12 DieVeröffentlichung der Erzählung in der Septembernummer derZeitschrift fand sowohl bei der Kritik als auch beim Publikumgroße Beachtung. Tolstoj begann nun ernsthaft zu schreiben.Knabenjahre (1854) und Jugend (1857) machten die Trilogiekomplett. Diese frühen Romane sind nicht nur autobiogra-phische Berichte, sondern eine Synthese aus Erinnerung undFiktion.

Der Autor fasst die Beschreibung der Kindheit in drei Tage:ein Tag auf dem Landgut mit Vorbereitungen zur Übersiedlungin die Stadt, ein Tag in der Gesellschaft Moskaus und ein Tagder Rückkehr aufs Land zum Sarg der Mutter. Der Blick auf dieWelt der Kindheit des Protagonisten Nikolenka Irtenjew er-folgt wie durch ein Mikroskop, kleine Details wirken groß undeindrucksvoll, und es scheint, als erzählte Tolstoj ganz aus derPerspektive des Kindes, der jedoch eine erwachsene Erzähler-stimme als Korrektiv gegenübergestellt wird. Die Welt Niko-lenkas beinhaltet freilich auch dunkle Seiten wie Ungerechtig-keit, Grausamkeit und – den Tod. Mit dem Verlust der Mutterendet die glückliche Zeit von Nikolenkas Kindheit.

Die Darstellung Nikolenkas mit Betonung ihrer Wider-sprüchlichkeit folgt bereits Tolstojs Grundprinzip der Per-sonenbeschreibung. Es ist schwierig und meines Erachtens un-

1854 1857

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