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Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg 1,50 EUR davon 90 CT für den_die Verkäufer_in No. 14, Juli 2015 ANSTRENGEND Walking Seattle (Seite 3) AUFREGEND Eine Urlaubswoche in Berlin (Seite 8) INSPirierend Jahrestagung des Internationalen Straßen- zeitungsnetzwerks (Seite 26) FERIEN

strassenfeger Ausgabe 14/2015 - URLAUB

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Page 1: strassenfeger Ausgabe 14/2015 - URLAUB

Straßenzeitung für Berlin & Brandenburg

1,50 EURdavon 90 CT für

den_die Verkäufer_in

No. 14, Juli 2015

ANSTRENGENDWalking Seattle (Seite 3)

AUFREGENDEine Urlaubswoche in Berlin (Seite 8)

INSPirierendJahrestagung des Internationalen Straßen-zeitungs netzwerks(Seite 26)

FERIEN

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 20152 | INHALT

strassen|feger Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdach-lose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe!

Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des stras-senfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entschei-den, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist.

Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treff punkt »Kaff ee Bankrott « in der Storkower Str. 139d.Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung.

Liebe Leser_innen,mit Riesenschritten nähern sich die Schulferien in Berlin und Bran-denburg, ab 16. Juli geht’s für viele Schüler in den wohlverdienten Urlaub. Gemeinsam mit den Eltern ins Ausland, allein ins Ferienla-ger, egal, Möglichkeiten gibt es viele. Gerade Berlin selbst, aber das wunderbare Umland mit den vielen märkischen Seen bieten ganz tolle Reiseziele. Unsere Autoren haben sich angesichts der heißen Temperaturen – es ist endlich mal wieder richtig Sommer (!) na-türlich sehr gern mit den diversen Möglichen, Urlaub zu machen, beschäftigt. Da ist z. B. die Idee, eine Woche lang die Metropole Berlin zu durchstreifen, ohne Leistungsdruck, dafür mit viel Spaß und Freude (S. 8). Es soll aber durchaus auch Menschen geben, die ziehen einen ganz entspannten Urlaub auf Balkonien vor (S. 10). Für viele Menschen ist ein Urlaub gar nicht drin, weil sie schlicht kein Geld dafür haben. Diese Menschen verreisen dann manchmal im Kopf, sie urlauben sozusagen virtuell (S. 7). Andere wiederum erfreuen sich an den wunderbaren Postkarten, die ihnen aus aller Herren Länder in den heimischen Briefkasten fl attern (S. 6). Leider sterben Urlaubspostkarten demnächst vielleicht aus, weil alle Leute nur noch mit dem Smartphone oder Tablet kommunizieren. Unsere Autoren haben sich übrigens auch mit alternativen Formen von Ur-laub beschäftigt, bei denen es vor allem auch um ehrenamtliches, soziales Engagement geht: Freiwilligenarbeit in Peru (S. 12) und Internationalen Workcamps (S. 14). Ich selbst durfte für ein paar Tage nach Seattle reisen. Dort fand das diesjährige Gipfeltreffen des Internationalen Netzwerks der Straßenzeitungen (INSP) statt (S. 26f). Natürlich nutzte ich die Chance, auch selbst ein paar Tage frei und Seattle und Umgebung unsicher zu machen. Es war wunderbar, insbesondere meine Whalewatch-Tour (S. 3ff).

In dieser Ausgabe geht es aber nicht um Urlaub, sondern auch um brennende soziale Probleme. Dieter Puhl, Chef der Bahnhofsmis-sion am Zoo, berichtet über den Mangel an medizinischen Einrich-tungen für obdachlose Menschen in dieser Stadt (S. 18ff). Im Sport-teil berichten wir über den wunderbaren European Homeless Cup, die Europameisterschaften der wohnungslosen Kicker, die auf dem Breitscheidplatz stattfand. Und schließlich waren wir live dabei, als Rupert Neudeck, das Flüchtlingswohnheim in der Storkower Straße 139C eröffnete. Dort soll auch unsere ganzjährig geöffnete Notübernachtung für Obdachlose einziehen. Die Räume sind seit zehn Wochen bezugsfertig, was fehlt ist ein fairer Mietvertrag zwi-schen dem mob e.V. und dem Landesamt für Gesundheit und Sozi-ales (LAGeSo). Diese Behörde ist jetzt am Zug (S. 21).

Viel Spaß beim Schmökern wünscht IhnenAndreas Düllick

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FERIENWalking Seatt le

Postkarten - Ein bisschen reist man mit

Man wird doch mal träumen dürfen

Eine Woche Aktiv-Urlaub in Berlin

Bären beobachten in Mecklenburg

Urlaub auf Balkonien

Radwandern

Freiwilligenarbeit statt Sommerurlaub

Couchsurfi ng

Interkultureller Austausch in Deutschland

Kleine Fluchten

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TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n fe g e rGérard Gartner oder Die Liebe zur Anarchie in der Galerie Kai Dikhas

B re n n p u n k tObdachlos und krank

Flüchtlinge und Obdachlose

K u l t u r t i p p sskurril, famos und preiswert!

S p o r tFußball-EM der Obdachlosen in Berlin

I N S P»Wir verändern die Welt« Global Street Paper Summit Seatt le 2015

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AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rUrteile des Bundessozialgerichts (2) Überbrückungsgeld nach Haft entlassung

K o l u m n eAus meiner Schnupft abakdose

Vo r l e t z t e S e i t eLeserbriefe, Vorschau, Impressum

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 FERIEN | 3

Typische Straßenszene in Seattle – Obdachlose dürfen nicht vorm »Starbucks« rauchen

Walking SeattleFlugangst, First Nation, Downtown, AirbnB, Seeadler, Orcas & andere Begebenheiten... B E R I C H T & F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k

Häuptling Noah Seattle, auch Sealth, Seathl oder See-ahth war ein kluger Mann. Er wurde vermutlich 1786 auf Blake Island (Washington) geboren

und starb am 7. Juni 1866 in der Suquamish-Re-servation Washington. Für damalige Begriffe soll er sehr groß gewesen sein, wohl über 1,85 m, die Franzosen in der Hudson’s Bay Company nann-ten ihn deshalb »Le Gros«. Außerdem soll seine gewaltige Stimme angeblich über einen Kilometer weit gereicht haben. Noah Seattle war Häuptling zweier Stämme der Küsten-Salish, der Suquamish und Duwamish. Er soll ein großer indianischer Anführer gewesen sein. Seine enge persönliche Beziehung mit David Swinson Maynard war we-sentlich für die Gründung der Stadt Seattle. May-nard war ein US-amerikanischer Pionier und der erste Arzt in Seattle, Händler, Indianervermittler, Friedensrichter. Er war es, der vorschlug vor, die Stadt nach Noah Seattle zu benennen. Das zumin-

dest vermeldete mir das Internetlexikon Wikipe-dia, als ich vor ein paar Wochen Informationen über Seattle suchte. Eine Reise stand an, die erste über den sogenannten Großen Teich, sprich über den Atlantik, seit mehr als zehn Jahren für mich. Na ja, ich wollte gut vorbereitet sein, und dann liest man halt viel.

Doch zurück auf Anfang. Anlass meiner Reise war, dass das Internationale Netzwerk der Straßenzeitungen (INSP) eingeladen hatte zum alljährlichen Jahrestreffen, das diesmal in Seattle an der Westküste der USA unweit von Vancouver stattfinden sollte. Ich beschloss, vor dem Gipfel ein paar Tage Urlaub zu machen. Wenn schon so eine weite Reise, von Berlin sind es 8 117 Kilome-ter, dann sollte es sich schon richtig lohnen.

F l u g a n g s t u n d G o t t v e r t r a u e nIch muss ehrlich zugeben, seit ein paar Jahren fliege ich nicht mehr so gern. Es ist nicht so

sehr eine greifbare Flugangst, eher ein gewisses flaues Gefühl im Magen, wenn ich ein Flugzeug besteige. Ich zweifle immer mehr an dem gren-zenlosen Technikvertrauen von uns Menschen oder vielleicht sollte ich besser sagen Gottver-trauen. Fliegen, dafür sind wir doch eigentlich nicht geboren, und – auch wenn ein Flugzeug nun wirklich ein technisches Meisterwerk ist und den Gesetzen der Physik gehorcht – was ist eigent-lich, wenn ein einziger abgebrochener Niet dafür sorgt, dass das mit dem Bernoulli-Effekt nicht mehr richtig hinhaut. Darunter versteht man, dass sich mit zunehmender Geschwindigkeit auf der Tragflächenoberseite infolge der größeren Strömungsgeschwindigkeit ein Unterdruck er-gibt. Wenn die diesem Unterdruck entsprechende Auftriebskraft so groß wie das Gewicht des Flug-zeugs ist, kann es sich fliegend in der Luft halten. Soweit die Theorie. Von menschlichem Versagen möchte ich hier lieber nicht sprechen.

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Egal, ich habe es getan und bin nach Seattle gejettet wie es so neudeutsch heißt. Von Berlin-Tegel ging es erst rund neun Stunden lang nach Chicago. Ich hatte mir wohlweislich einen XXL-Sitz gebucht, damit ich mich während die-ser unendlich langen Zeit richtig ausstrecken konnte. Kaum saß ich, schlummerte ich komi-scher Weise schon ein und verpasste den Start. Ich wachte erst wieder auf, als mich eine Stewar-dess mit einer Tasse Kaffee und einem Brötchen beglücken wollte. Über die Qualität des Essens an Bord eines Flugzeugs im Jahr 2015 breite ich lieber den Mantel des Schweigens. Irgendwie schaffte ich es, diese quälend langen Stunden zu überbrücken, es gab die Lieblingsmusik aus dem iPod, das Kinoprogramm der Airline auf dem Mi-nibildschirm – ich lies mich von den schaurigen Abenteuern des »Kleinen Hobbit« fesseln – und das Studium der unablässig die Bordtoilette auf-suchenden mitreisenden Passagiere. Irgendwann galt es dann auch das lästige Einreiseformular der US-Behörden korrekt auszufüllen, bevor der Pilot endlich die Landung ankündigte.

D i e A n g s t u n d d i e S i c h e r h e i tNach 9/11 ist in Amerika nichts mehr wie frü-her. Insbesondere die Einreise in die Vereinig-ten Staaten hat es in sich. Im Klartext: Selbst wir befreundeten Deutschen werden auf Herz und Nieren oder besser Iris und Fingerabdrücke geprüft. Ein biometrischer Reisepass ist Pflicht, ebenso die Einreichung einer sogenannten Elek-tronischen Einreiseerlaubnis (»Electronic Sys-tem for Travel Authorization«) bei den amerika-nischen Behörden. Selbst wenn man beides hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man auch einreisen darf. Darüber befindet einzig und al-lein der Officer des Departments of Homeland Security‘s responsibility. In meinem Fall war das so: Koffer vom Band holen und an einem der Einreiseschalter anstellen. Nicht lachen, nicht schwitzen, generell keine auffälligen Hand-lungen durchführen. Und vor allem sich nicht aufregen! Worüber? Nun ja, über die äußerst schleppende Abfertigung. Vor mir am Schalter standen 30 Personen, darunter Familien mit drei Kindern. Alle, ja alle, mussten ihre Fingerabdrü-cke abgeben und wurden gescannt. Das dauert. Als schließlich nur noch 15 Personen vor mir standen, winkte mich eine zuvorkommende Ser-vicekraft zu einem anderen Schalter. Dort warte-ten noch drei Personen. Der Schalterbeamte fer-tigte noch eine Person ab, dann machte er Pause oder Feierabend. Jedenfalls verschwand er. Ich wurde wieder gebeten, den Schalter zu wech-seln. Ich war genervt, ex trem genervt. Ich war der Letzte meines Fluges, der einreisen durfte. Es dauerte anderthalb Stunden. Aber wie ge-sagt, aufregen ist nicht. Sonst sitzt man schneller wieder im Flieger Richtung good old Germany als man denkt. Diese kleine Unannehmlichkeit führte dazu, dass ich in extreme Hektik verfiel, schließlich musste ich ja den Flieger nach Seattle kriegen. Doch das bedeutete: Ich musste erneut durch den Sicherheitscheck mit dem kompletten Gepäck. Und wieder hieß es anstehen und nicht murren. Ich schwitzte und fluchte und betete. Es half. Allerdings musste ich dann im Schweins-galopp zum Gate. Leider war es das falsche. Der Flug nach Seattle startete von einem Gate, das sich genau in entgegengesetzter Richtung be-

fand. Ach so – ich musste auch noch mit einer Art S-Bahn fahren. Der Chicago O’Hare Interna-tional Airport ist halt recht groß. Irgendwie habe ich es geschafft. Fragen Sie mich bitte nicht, wie.

E i n h e r z l i c h e s W i l l ko m m e n i n S e a t t l eNach weiteren Stunden, diesmal eingepfercht in einen normalen Sitz und bedrängt von einem far-bigen Mitreisenden, der vollkommen übermüdet immer wieder an meiner Schulter Halt suchte, erreichten wir Seattle. Ich war vollkommen be-dient und beschloss, nie wieder... Vollkommen entnervt schnappte ich mir ein Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse meiner Gastgeberin, bei der ich über das Internetportal »Airbnb« gebucht hatte. Leider hatte der Fahrer keinen Schimmer, wohin... Nun gut, er fuhr los, zückte sein Handy und versuchte per Navi den richtigen Ort zu fin-den. Letztlich gelang es ihm, und ich war froh, für schlaffe 15 Dollar endlich mein Ziel erreicht zu haben. Stephanie erwartete mich schon in ihrem entzückenden Holzhaus im typisch ame-rikanischen Stil. Kleiner Vorbau als Eingang, da-neben ein Carport fürs Auto. Vor dem Haus ein wunderbares und riesiges Holzdeck, ideal zum Frühstücken und für das abendliche Bier. Innen drin eine große Wohnküche, sehr geschmackvoll eingerichtet. Für mich gab es ein kleines Zim-merchen zum Schlafen. Alles passte. Auch der Preis. Für ein Hotel hätte mein Minibudget nie gereicht, zudem fanden gerade die US-Open im Golf statt. Die Hotels hatten deshalb die ohne-hin exorbitanten Preise verdoppelt. Vor allem aber passte Stephanie. 71 Jahre alt und klug und liebevoll und fast wie eine englische Lady. Sie sollte in den nächsten Tagen zu einer richtig guten Freundin werden. Zuallererst kutschierte Steph mich zu einem guten Restaurant. Ich hatte ein gutes Ribeyesteak im Sinn, doch die Speise-karte verhieß mir, es zu lassen. 30 Dollar und mehr erschienen mir ein wenig zu gewagt. Zumal das Bier zum Essen mit acht (!) Dollar zu Buche schlug. Mit den üblichen 20 Prozent empfohle-

nem bzw. erwartetem Trinkgeld landete ich dann doch bei knapp 50 Dollar. Ich war bedient – im wahrsten Sinne des Wortes. Glücklicher Weise sackte Steph mich wieder ein, so fiel ich nach mehr als 24 Stunden vollkommen erledigt ins Bett.

Ta g 2 – D o w n t o w n S e a t t l eÜber Tag 2 gibt es nicht so viel zu berichten. Der Einstieg war perfekt. Gemeinsames Frühstück auf dem Holzdeck mit Steph und einem Weiß-kopfseeadlerpärchen. Nun gut, die Adler saßen nicht mit am Tisch. Aber sie starteten und lande-ten in unmittelbarer Nachbarschaft und äugten immer wieder aus ihrem Nest auf unseren Früh-stückstisch. Atemberaubend! Steph fuhr mich dann zur S-Bahn und ich startete das klassische Touri-Programm. Das beginnt in Seattle immer mit dem Pike Place Market in Downtwon Seat-tle an der sogenannten Waterfront. Der 1907 eröffneten Pike Place Market einer der ältesten ohne Unterbrechung betriebenen Märkte der Vereinigten Staaten. Dort gibt es viele schöne Dinge wie frischen Fisch, frische Blumen und ein paar andere ganz vorzügliche Dinge. Es gibt aber auch viele vollkommen überflüssige Dinge für den Touristen. Eine klassische Touri-Falle halt. Egal, ich habe mir das Ganze ein paar Stunden gegeben. Dann habe ich Downtown von links nach rechts und von oben nach unten abgecheckt. Es waren gefühlte 50 Kilometer, ir-gendwann bekam ich Krämpfe, es war heiß und Trinken war angesagt. Gesagt getan: Eine Liter-flasche Orangensaft für einen stolzen Preis half. Dazu ein guter Kaffee in einem der unzähligen Starbucks Kaffeeshops, die ich eigentlich mei-den wollte. Doch angesichts der hohen Preise blieb mir keine andere Wahl. Selbst die Super-märkte bieten ihre Waren für deutlich mehr Geld an als die in Berlin. Auf das »Experience Music Project« (EMP), die »Bill und Melinda Gates Stiftung«, die »Spaceneedle« und andere touris-tische Sehenswürdigkeiten habe ich verzichtet. Ist eh nicht mein Ding. Extrem pflastermüde

First Nation – Indianer verdienen sich mit Schnitzkunst Almosen

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kehrte ich zu Steph zurück. Zur Belohnung gab es gute Getränke auf der Terrasse, dazu extrem gute Gespräche und ein wohlig weiches Bett.

Ta g 3 – R e i c h & a r m & o b d a c h l o s , Er verlief ähnlich wie Tag 2. Downtown Seattle auf und ab. Ein Besuch in einem Antiquariat war noch das herausragendste Erlebnis des Tages. Ich traf ein paar Straßenzeitungsverkäufer von »Real Change« und unterhielt mich lange mit ih-nen, an der Pier begegnete ich ein paar anschei-nend alkoholabhängigen Mitgliedern der First Nation, sprich Indianer, die aus Holz Totem-pfähle schnitzten und für eine Handvoll Dollar an Touristen verkauften. Und ich beobachtete und fotografierte aus einem Starbucks heraus eine Stunde lang das Leben auf der Straße. Das war extrem aufregend: Binnen dieser Stunde zog wahrscheinlich ein erklecklicher Schnitt durch die Bevölkerung Seattles an mir vorbei. Mittel-schicht, Arme, Obdachlose, nur ganz Reiche habe ich nicht gesehen. Der Tag war irgendwie schnell um. Am Abend erzählte ich Steph von meinen Studien, und dann schauten wir gemein-sam fern. Aber nicht sehr lange, denn viel mehr Spaß machte es uns, interessante Gespräche über Gott und die Welt zu führen. Mir half es außerdem, mein grottenschlechtes Englisch zu verbessern. Fast hätte ich es vergessen: Steph buchte mir für den Tag 4 eine Whalewatch-Tour. Das war mein größter Traum vor meiner Abreise gewesen: Einmal Wale in freier Wildbahn sehen! Sie werden es nicht glauben – nachts träumte ich von einem riesigen Buckelwal.

Ta g 4 – O rc a s g u c ke nDieser Tag sollte zum schönsten in Seattle wer-den. Nach einem guten Frühstück fuhren Steph und ich mit dem Auto nach Edmonds, weit au-ßerhalb von Seattle. Von dort sollte meine Wha-lewatch-Tour starten. Gemeinsam mit gut 20 anderen Freunden dieser klugen Säugetiere ging ich an Bord der »Chilkat Express«, dem mit 40 Miles pro Stunde schnellstem Boot im Nordwes-

ten der USA. Die Besatzung war durchweg weib-lich, selbst der Kapitän. Uns war versprochen worden, auf jeden Fall Wale zu sehen, schließ-lich wirbt das Unternehmen damit, die Crew mit der höchsten Erfolgsquote an Wal-Sichtungen zu sein. Zweieinhalb Stunden lang schipperten wir entlang an den traumhaftesten Ufern mit ganz wunderbaren Häusern, nun ja, wohl eher Villen im Millionen-Dollar-Bereich. Hier leben sie also, die Reichen von Seattle, dachte ich bei mir ein ums andere Mal. Ich nutzte die Zeit für ein klei-nes Interview mit dem Kapitän. Doch dazu in einem nächsten Artikel mehr.

Und dann waren sie endlich da, die Orcas oder Schwertwale. Es war unfassbar sie ein paar hundert Meter entfernt von unserem Boot schwimmen zu sehen. Es war eine Gruppe von Residents, Einheimischen sozusagen, die sich ständig in der Nähe der San Juan Island aufhal-ten. Sie schwammen und tauchten ab und wieder auf. Sie sprangen aus dem Wasser, sie spielten, ließen sich treiben – und das alles nur wenige Meter entfernt vom Ufer. Jeder der Passagiere versuchte dieses muntere Treiben für sich für immer festzuhalten, sei es im Herzen oder als Bild in der Kamera. Die Apparate klickerten vor sich hin, wahrscheinlich wurden tausende Bil-der geschossen zur Erinnerung an diese traum-haften Momente. Jeder von uns wäre gern noch sehr viel näher an diese klugen und geselligen Lebewesen gekommen, doch das verbot sich zum Schutz der Tiere. Eine gute Stunde durften wir verweilen. Diese Bilder brannten sich ins Herz, ich werde sie nie vergessen. Im Gegenteil ich werde wiederkommen, im Herbst, wenn au-ßer den Orcas noch tausende andere Wale, da-runter die singenden Buckelwale die Gewässer zwischen Seattle und Vancouver durchstreifen. 130 Dollar kostete der Ausflug, er war mir sehr viel mehr als diese Summe wert. Leider war mit diesem unvergesslichen Erlebnis mein Miniur-laub schon fast vorbei. Ich bedankte mich bei Steph mit einem kleinen Essen im Hafen von Edwards. Sie freute sich mit mir wie ein kleines

Kind, als ich von den springenden Orcas berich-tete und ihr meine Fotos zeigte.

Ta g 5 – I c h t re f fe m e i n e K o l l e g i n M a r aMara – meine Kollegin bei mob e.V., sie studiert noch und arbeitet ehrenamtlich für den Verein im Bereich Fundraising und Spendenmarketing, war unterdessen auch in Seattle eingetroffen.

Wir machten noch einmal gemeinsam Downtown unsicher, besuchten Seattles »Chinatown« und waren er-staunt über die vielen Obdachlosen und ihre klei-nen Zeltansiedelungen mitten in der Stadt. Ich nahm Mara dann mit auf die Terrasse zu Steph und den Seeadlern. Es waren schöne, glückliche Stunden. Am nächsten Tag sollte das Gipfeltref-fen des Internationalen Netzwerks der Straßen-zeitungen (INSP) beginnen. Das war ja der ei-gentliche Zweck unserer Reise. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, und dazu gibt’s mehr auf den Seiten 24 und 25 dieser Ausgabe. Der Mi-niurlaub jedenfalls war das Sahnehäubchen, das man ab und zu auch mal serviert bekommt.

First Nation – Indianer verdienen sich mit Schnitzkunst Almosen Orcas beobachten vor den San Juan Islands – unglaublich schön!

Straßenmusiker & obdachloser Mann – beide brauchen Hilfe

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 20156 | FERIEN

Ein bisschen reist man mitWer regelmäßig Postkarten aus aller Welt erhält, macht so seine Erfahrungen. Anmerkungen einer Postkarten-EmpfängerinT E X T & F O T O : J u t t a H e r m s

Ich war fast noch nie irgendwo. Nicht in New York, nicht auf Hawaii, wie Udo Jürgens das gesungen hat. Mit der Schulklasse war ich vor langer Zeit mal in Paris, später war ich

auch mal in Budapest, und heute komme ich in-nerhalb von Deutschland viel herum. Aber wenn ich mir Ausmaß und Weite unseres Erdballs vor-stelle, dann war ich noch nirgendwo. Dabei ist mein Sternzeichen Schütze, und Schützen sol-len, wie man irgendwo nachlesen kann, gerne und viel reisen. In der Tat schmerzt mich das Nicht-Reisen auch häufig. Aber ich habe einen Bekannten, der ständig reist, und der reist ein bisschen für mich mit.

Mein Bekannter muss sozusagen reisen. Er ist Wissenschaftler und eine solche Koryphäe auf seinem Gebiet, dass seine Expertise auf mehre-ren Kontinenten des Globus‘ nachgefragt wird. Ständig ist er irgendwo, hält Vorträge, besucht Projekte, berät Regierungen. Und überall, wo er ist in der Welt, schreibt er eine Postkarte an mich.

Meine große Pinnwand in meiner kleinen Woh-nung in Berlin ist inzwischen zu klein geworden für seine Grüße aus Daressalam, Bogotá und Kopenhagen. Ich bin dazu übergegangen, neu ankommende Postkarten mit Tesafilm an den Türrahmen zur kleben, der zu meiner Küche führt. Wenn ich durch ihn hindurchgehe, be-gleitet mich nun immer ein Gefühlsgemisch aus Freude über die Karten - und Fernweh.

Verstanden habe ich inzwischen, dass das mit der Transportzeit von Postkarten so eine Sache ist. Keinesfalls lässt sich von der Entfernung zwischen Briefkasten (in die mein Bekannter die Karte steckt) und (meinem Berliner) Briefkas-ten ableiten, wie lange die Karte für ihren Weg zu mir benötigt. Es kommt vor, dass mir mein Bekannter eine Karte aus Chicago schreibt und diese drei Tage später vom Berliner Postboten in meinen Briefkasten gesteckt wird. Dagegen ist manchmal eine Karte, insbesondere zum Bei-spiel aus Sevilla, innerhalb von Europa fast drei Wochen lang unterwegs zu mir. Und manchmal kommt es vor, dass eine Postkarte erst mehrere Monate, nachdem mein Bekannter sie irgendwo in den Briefkasten gesteckt hat, bei mir an-kommt. Das war letztens bei einer Karte aus Algier der Fall. Könnte die Postkarte sprechen, was hätte sie wohl zu erzählen?

In der Tat frage ich mich jedes Mal, wenn wie-der eine Karte aus der großen Welt im Brief-kasten meiner kleinen Wohnung liegt, auf wel-chem Weg sie wohl zu mir gelangt ist. Wurde die Karte aus Uganda vielleicht mit einem kleinen Buschflugzeug transportiert? Und wurde die Karte danach mit anderer Post an einem Hafen in einer Kiste zwischengelagert? Durch wessen Hände ist sie gegangen? Und woher stammt die kleine Dreckspur, die ich an ihrer Oberfläche ausgemacht habe?

Übrigens sind mir von den vielen Karten, die mir mein Bekannter inzwischen geschrieben hat, nicht die großen, glänzenden die liebsten. Mein Herz hängt eher an den kleinen, unschein-baren Karten. An denen, die aus Orten stam-men, deren Namen ich nie zuvor gehört habe. So war mein Bekannter kürzlich in Brno. Als seine Karte bei mir ankam, fragte ich mich zu-nächst, ob es möglich sein kann, dass sich ein Tippfehler im Städtenamen eingeschlichen ha-ben kann. Dann habe ich aber herausgefunden, dass Brno wirklich Brno heißt und in Tsche-chien liegt. Brno ist sogar die zweitgrößte Stadt des Landes und heißt auf Deutsch Brünn.

Das Schöne an Postkarten ist, dass sie einfach und persönlich sind. Und handgeschrieben. Ein ana-loges Stück festes Papier, das nicht Gefahr läuft, digital vereinnahmt zu werden. Von wegen! Vor ein paar Tagen erhielt ich eine – von meinem Be-kannten als »digital-analoge Karte« angekündigte - Postkarte aus Sao Paulo in Brasilien. Mit einem von ihm selbst gemachten Foto auf der einen Seite und einem – nicht handschriftlichen – Text von ihm auf der anderen Seite. Im Internet in Auftrag gegeben, hat die Karte es in einem Tag bis zu mir nachhause geschafft. Eindeutig: Ich habe mich über die Karte gefreut. Aber sollten Postkarten nicht aus dem Ort kommen, aus dem sie abgeschickt wurden? Und: Sollten sie nicht handgeschrieben sein?

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 FERIEN | 7

Eine Piña Colada bitte!Oder – man wird doch mal träumen dürfenB E R I C H T : A s t r i d ( a r b e i t e t e h r e n a m t l i c h i m V e r t r i e b d e s s t r a s s e n f e g e r ! )

Aufgewacht, aufgestanden, dann kurz mal ge-kniffen. Ja, ich bin wirklich immer noch in der Dominikanischen Republik. Ein Blick aufs Ther-mometer zeigt 26 lauschige Grad an. Perfektes Wetter, um im Meer baden zu gehen. Aber erst

Mal Frühstücken, hier im Hotel am Buffet. Also schnell ange-zogen, dann runter in den großen Frühstückssaal. Ich treffe meinen Strandnachbarn von gestern, wir lagen nebeneinander im weißen Sand am Meer. Er erklärt mir das Hotel, bietet Aus-flüge für die Gäste an, die wären auch nicht so teuer. Ob wir mal einen oder zwei zusammen machen wollen? Ich überlege, dann nicke ich. Warum nicht? Will ja nicht nur am Strand brutzeln. Dann wird das Frühstücksbüffet unter die Lupe ge-nommen, toll heute sind mal wieder Melonen dabei. Meine.

Nach unserem Frühstück verschwindet mein Strandnachbar an die Hotelrezeption und ich an den Strand. Mit seinem Handtuch, er wird nachkommen. Nach einer halben Stunde taucht er mit einigen Prospekten auf, wir cremen uns gegen-seitig ein und studieren dann die Prospekte. Bergsteigen ist nicht so mein Ding, also fliegen diese Prospekte auf die Seite. Oh, eine Floßfahrt auf einem Fluss durch den Dschungel. Ich deute, er liest und nickt. Dann hält er einen Prospekt hoch: Besichtigung einer Rumbrennerei? Hm, das könnte Spaß ma-chen. Ich nicke, dann heißt es: Ab ins Meer. Türkis und kris-tallklar ist das Wasser hier. Bunte Fische und auch mal ein, zwei seltsame Lebewesen kann man auf dem Grund und im Wasser sehen. Ich könnte glatt hier bleiben. Seufz.

Zum Mittagessen gehen wir ins Hotel zurück. Dann wird Siesta gehalten. Bis in den späten Nachmittag ist es einfach zu heiß für uns Nordeuropäer. Nach einer weiteren Tour am Strand und einem leichten Abendessen rennen mein Strand-nachbar und ich mal wieder ineinander. Wir überlegen, ent-scheiden uns dann, die Disco im Hotel neben dem unsrigen zu besuchen. Eine Stunde später stehen wir vor der Disco, sehen ungefähr zehn Leute aus unserem Hotel und gehen rein. Drei Stunden später haben wir, die anderen Leute aus unserem Ho-tel und einige andere Leute vier Tische zusammengeschoben, die kleinen Meckereien des Discochefs ignoriert und einen Heidenspaß. Die Sprache an unserem zusammengebastelten Tisch ist Englisch. Wir? Von deutsch (ich) über irisch (mein Nachbar) bis hin zu Australien ist alles vertreten. Jeder gibt mal ein Getränk aus, so wird die Rechnung auch nicht so teuer und ich lerne: Piña Coladas sind extrem lecker. Sichtlich an-geschickert trudeln mein Nachbar, die anderen Gäste und ich so um drei Uhr morgens dann wieder in unserem Hotel ein und trennen uns.

Ein paar Stunden später stehe ich gähnend vorm Hotel und verfluche die Tatsache, dass ich wegen der Floßfahrt um sechs Uhr aufstehen muss. Mit einem Bus sollen wir ins Landesinnere

gebracht werden. Gut, der Dschungel befindet sich nun mal nicht an der Küste, aber sooooo früh? Mein Nachbar taucht auch noch nicht so munter auf, dann kommt unser Bus, und ich kann sehen, wieso so früh. Der Bus muss wohl noch aus den Fünfzigern stammen. Er schnauft zum Stopp, dann krabbelt ein sehr gebräunter Mann raus und erklärt uns in Englisch, dass wir, die Leute aus dem Nachbarhotel und aus einem Hotel wei-ter eingesammelt und dann zum Anfangspunkt der Floßfahrt gebracht werden. Aha, wir steigen ein, und ich ergattere sofort ein Fenster. Klimaanlage? Fehlanzeige. Vier Stunden später ste-hen wir staunend vor den Flößen, die sind nämlich aus Bambus. Egal, es sind geschätzte 30 Grad, wir in Badekleidung, also rauf auf die Dinger. Dann werden wir auf dem langsam fließenden Wasser durch einen herrlich Dschungel gefahren. Prachtvolle Blüten, imponierende Bäume und jede Menge Tiere, darunter auch Papageien. Unser Flößer händigt uns Körner aus, die Pa-pageien kommen erst näher und dann sogar auf die Hände. Einer nimmt ein Korn von mir, sieht mich an und öffnet seinen Schnabel. Es ist wunderbar!

Plötzlich vernehme ich diese Worte: »Biste eingeschlafen?« Abrupt öffne ich die Augen und sehe einen strassenfeger-Verkäufer vor mir stehen, der mich angrinst. Ich sehe an ihm vorbei und in den grauen Berliner Himmel, der vor sich hin tropft. »Nein!« sage ich. »Aber träumen wird man wohl doch mal dürfen?«

Bronzekopf-Elvirakolibri (Foto: Guayacancr Wikimedia/GNU Free Documentation License)

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Auch ein Besuch auf dem Badeschiff an der ARENA lohnt sich! (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 20158 | FERIEN

Brückenfahrt, Märkisches Museum, »Heimathafen« und Crelle-MarktEine Woche Aktiv-Urlaub in BerlinB E R I C H T : A n d r e a s P e t e r s

Wer für mehrere Tage von Freun-den oder Verwandten einen Berlin-Besuch erwartet, sollte vorbereitet sein. Wer will als

Berliner schon das Brandenburger Tor foto-grafieren oder am Checkpoint Charlie eine Bratwurst essen? Warum also nicht statt den üblichen Touristenattraktionen ein individuel-les Programm vorbereiten? Zugegeben, in der Regel lasse ich den Besuch und sein Interesse auf mich zukommen, zumal, wenn der Besuch nicht bei uns nächtigt. Diesmal aber hat sich für die Woche vom 13. bis zum 19. Juli mein Jugendfreund mit seinem sechszehn-jährigen Sohn zum Besuch angemeldet. Und er hat mir ausdrücklich versichert, dass er nicht nur Essen gehen und Postkarten schreiben will, son-dern einen Aktiv-Urlaub in Berlin beabsichtigt. Das hat mich natürlich besonders angespitzt, etwas zu planen.

Herausgekommen ist eine kleine persönliche Auswahl an Berliner Attraktionen, die den Geldbeutel pro Person und Tag mit 20 bis 25 Euro einschließlich Fahrtkosten (ohne Verpfle-gung und Unterkunft) belasten. Das mag für manchen schon zu viel sein. Meine Devise bei der Planung war aber eher: Sparen lässt sich besser vor und nach dem Urlaub. Bin ich ir-gendwo im Urlaub, will ich nicht jeden Cent zweimal umdrehen. Neues entdecken und erle-ben, andere Menschen treffen, sich selbst etwas mehr als sonst verwöhnen, sich erholen und

auch mal etwas Anstrengendes unternehmen, das alles kann in Berlin zum Abenteuer werden, besonders in der schönen Sommerzeit.

Die meisten meiner geplanten Aktivitäten sind draußen an der frischen Luft. Zur Fortbewegung sind wir in der Woche drei Tage zu Fuß (montags, freitags und sonntags), zwei Tage mit BVG-Tages-ticket AB (je 6,80 Euro) und zwei Tage mit dem Fahrrad (dienstags und mittwochs, zwei Tage á 13 Euro) unterwegs. Einmal zu später Stunde wird uns wohl das Taxi (20 Euro) nachhause bringen.

Geplant ist montags von der Schönhauser Allee, über Kastanienallee, Hackeschen Markt und Mu-seumsinsel eine Sightseeing-Tour durch Berlin. Erst zu Fuß durch die quirligen und geschäftigen Straßen in Mitte, dann mit den attraktiven Busli-nien (100 und 200) und den touristisch interes-santen S-Bahnlinien (vom Osten in den Westen) zurück. Abends finden wir uns schließlich in einem Indischen Restaurant in Prenzlauer Berg ein. Es könnte zum Einstand ein längerer Abend werden. Unabhängig davon geht es Dienstag dann gegen 10 Uhr mit ausgeliehenen Rädern erst Richtung Treptow in den »Freischwimmer«, dann in den Kreuzberg-Neukölln-Kiez zum Wo-chenmarkt am Maybachufer.

Berlins Geschichte im Märkischen Museum inte-ressiert uns genauso, wie die Atmosphäre abends im Freiluftkino Friedrichshain. Am nächsten Tag radeln wir erst nördlich zum Russischen Denkmal in Schönholz, dann über eine ausge-

suchte Fahrradroute durch Berlins Mitte Rich-tung Schöneberg auf den Crellemarkt. Zeit für eine Pause inmitten eines Markttreibens, dass in der Stadt einmalig ist. Ruhe und Entspannung finden wir im Südgelände Tempelhofs, dann Kunst in der Berlinischen Galerie und abends gute Unterhaltung im Sprechtheater Kreuzberg. Vielleicht noch ein Wiedersehen im szenischen »Heimathafen« von Neukölln.

Etwas Ausschlafen danach sollte möglich sein. Am nächsten Tag fängt es ruhig an mit kurzwei-liger Ringbahnfahrt durch die Bezirke bis zum Waldhochseilgarten in Jungfernheide. Danach ist etwas Entspannung angesagt. Erst auf einem Restaurantschiff am Spreekanal, dann abends mit einer gemütlichen Brückenfahrt. Am nächs-ten Tag haben wir bestimmt Muskelkater. Aber, was soll’s, wir gehen in Wedding ordentlich früh-stücken in einem dieser tollen türkischen Res-taurants. Danach geht es in Berlins Unterwelt. Wenn wir das Tageslicht wieder erblicken, las-sen wir uns einfach nach Lust und Laune etwas durch Berlin treiben. Spätestens abends sind wir dann im »A-Trane« am grooven.

Das Frühstück am Samstag auf dem Boxhagener Markt darf ebenso wenig fehlen im Programm, wie die Fahrt vom Wannsee nach Kladow mit dem Schiff. Musikalisch geht es abends in den Berliner Dom und sonntags zur Matinee in den Tiergarten. Vielleicht ist anschließend noch etwas Platz im Café am Neuen See. Und wenn ich daran denke, ist mir fast wie eine Woche Urlaub.

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› www.baerenwald-mueritz.de

Anscheinend fühlt Bär sich wohl! (Foto: Andreas Peters)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 FERIEN | 9

»Bärenwald Müritz«Bären beobachten in Mecklenburg statt in KanadaB E R I C H T : M a n u e l a P e t e r s

Unweit der südlichen Spitze des Plauer Sees gibt es einen Wald, in dem Bären, die bisher unter unwürdigen Bedingungen lebten, ein neues Zu-hause finden, den »Bärenwald Müritz«. Der »Bä-renwald« ist ein Projekt von »VIER PFOTEN«

– Stiftung für Tierschutz. In einem 16 Hektar großen, einge-zäunten Waldstück mit Lichtungen und einem kleinen Fluss leben zurzeit 18 Bären. Hier können sie durch den Wald zie-hen, spielen, baden und schwimmen nach Herzenslust. Auch fürs Futter wird gesorgt.

Durch das Gehege führt ein eingezäunter Weg, der mich an-fangs irritierte. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte die Vor-stellung, dass alles offen ist. Vielleicht lag es daran, dass ich vor einigen Jahren mit meiner Familie durch Kanada gereist bin und wir eine Begegnung mit einem Bären hatten. Wir wa-ren nur durch einen kleinen Fluss voneinander getrennt. Auf der anderen Seite war der Bär mit der Jagd auf einen Lachs beschäftigt, der sich im Schwarm über eine sogenannte Fisch-treppe auf den Weg zu zum Laichplatz machte. Die zahlrei-chen Wanderer entlang des Flusses, die das Schauspiel be-obachteten, schienen ihn nicht zu interessieren. Mein Herz schlug trotzdem etwas schneller.

Wer in den Westen Kanadas reist, wartet förmlich während seiner ganzen Reise auf eine Begegnung mit diesem Tier in freier Wildbahn. Sie sehen so kuschelig aus, doch vor allem wenn sie mit ihren Jungen unterwegs sind, ist mit ihnen nicht zu spaßen. Doch der Bär war allein und es war schon Sep-tember, sodass er sich darum kümmern musste, Fett für den Winterschlaf anzufuttern.

Bären sind eben keine ungefährlichen Tiere. Mit einem Schlag können sie einen Menschen außer Gefecht setzen. Und so war mir klar, weshalb natürlich das Gelände ein-gezäunt sein musste. Welches Ende ein freilebender Bär in Deutschland nehmen konnte, fiel mir wieder ein, als wir am Gedenkstein von Bruno vorbeikamen. Jener Bär, der im Jahr 2006 in den Wäldern zwischen Österreich und Deutschland unterwegs war. Zunächst wurde eine Jagd auf ihn veranstaltet, dann sollte er gefangen werden, und schließlich wurde er erschossen.

Die Bären, die im »Bärenwald« ein neues Zuhause gefunden haben, haben eine Vergangenheit im Zirkus oder in beeng-ten Gehegen ohne Rückzugsmöglichkeiten in einem Tierpark hinter sich. Hier haben die Tiere das erste Mal in ihrem Leben richtig Platz und können ihre Bärennatur ausleben. Manches müssen sie erst lernen, wie z. B. eine Höhle bauen für den Winterschlaf oder überhaupt Winterschlaf zu halten. Doch sie schaffen es. Manchen Bären ist ihre Vergangenheit anzu-merken. So sahen wir einen Bären, der auf einem Weg immer hin und her ging, vor und zurück, manchmal lief er im Kreis, aber stets in einem festen Rhythmus. So wie er es offensicht-lich täglich getan hat, bevor er in den »Bärenwald« kam. Wir konnten aber auch einen Bären beim Baden und Schwimmen im Flusslauf beobachten oder andere beim Spielen und Höh-len bauen. Es war toll, den Tieren so nahe zu sein und sie in natürlicher Umgebung zu sehen.

Der »Bärenwald« ist in einzelne, miteinander verbundene Bereiche geteilt. Es hat jeder Bär sein Reich und kann auch mal zu den anderen schauen. Der zu beiden Seiten durch einen Zaun begrenzte Weg wird begleitet von Informations-tafeln, sodass wir nicht nur Bären beobachten konnten, sondern gleich noch Wissenswertes über sie erfahren haben und ihr Leid im Zirkus, in kleinen Gehegen oder ihrem Dasein als Tanz-bär aufmerksam gemacht wurden. Zum Austo-ben für die Kinder lädt ein Abenteuerspielplatz ein. Die Eltern können sich währenddessen ein wenig ausruhen und die schöne Umgebung ge-nießen. Besonders toll fanden wir das große Tipi, in dem wir uns wie echte Indianer fühlten.

An dem Nachmittag, den wir im »Bärenwald« verbrachten, sahen wir über acht Bären, wäh-rend unseres dreiwöchigen Urlaubs in Kanada blieb es bei der einen Begegnung. Allein dafür hat sich der Weg nach Stuer gelohnt.

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Balkon in der Via Frattina, Rom (Quelle: Per Palmkvist Knudsen / CC BY-SA 2.5 Wikipedia)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201510 | FERIEN

Warum denn in die Ferne schweifenUrlaub auf BalkonienK O M M E N T A R : J a n M a r k o w s k y

Urlaub, wir reden von Erholungsur-laub, soll der Wiederherstellung der Arbeitskraft der Arbeitnehmer die-nen. Typische Beschäftigungen sind

das Baden, Wandern, Radeln, Sport treiben, Re-laxen. Das geht auch zuhause. Ein verregneter »Badeurlaub« an der Nordsee weckt Sehnsucht: Italien hat mehr Sonne im Sommer als Deutsch-land, und die Sonne ist in Italien auch anders. Vielen Menschen gelingt es nicht, zuhause aus dem Alltag auszubrechen. Da ist eine Ortsver-änderung angesagt. Inzwischen ist das Reisen im Urlaub so selbstverständlich geworden, dass das hinterfragt werden muss. In Deutschland gibt es eine stetig wachsende Minderheit, die das ganze Jahr Urlaub hat. Die können sich teure Reisen in die Ferne nicht leisten. Auch zuhause können sie aus dem Alltag ausbrechen. Und in Berlin gibt es einiges zu entdecken. Auch Oasen der Ruhe.

Wa r u m i n d i e Fe r n e s c h w e i fe n ?

Als meine Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, ich war vom 7.Oktober 1949 bis 30.April 1984 Bürger der DDR, hatten Reisen den Anspruch, einen Teil der Welt zu sehen. Mein Vater hatte mit seiner Frau die DDR vor mir verlassen und wollte eigentlich viel Geografie nachholen. Er hatte viel gelesen, und manchmal drängte es ihn, das Gelesene zu entdecken. Ich war oft mit, und es hat mich beeindruckt, wie viel ein unschein-barer Rest eines Gebäudes zu erzählen hat. Des-halb war ich anfangs gespannt, was er von den Ausflügen in die neue Welt zu erzählen hat. Doch das mit Geografie nachholen hatte sich bald ge-geben. Bei ihrer ersten Reise nach Italien fanden sie eine Insel wie für sie geschaffen. Nach dem Fall der Mauer ist der Entdecker in ihm aufge-wacht, und er hat das Umland um Berlin erkun-det. Mein Vater ist mit seiner Frau viel gereist und hat doch von der Welt wenig gesehen.

Es geht noch krasser. Die Urlauber am Balneario Nr. 6 in Palma haben es in die Hoch-glanzmagazine geschafft. Nicht mit dem spani-schen Namen, sondern als Ballermann. Nach der Fußballweltmeisterschaft 2006 haben die Behörden das Treiben mit einem Alkoholverbot gestoppt. In den Flieger, um in Gemeinschaft zu saufen? Der spanische Rotweinpunsch ist auch im Discounter zu haben. Ich habe Verständnis,

wenn junge Menschen dahin fahren, »wo etwas los ist«. Auch wegen der Suche nach erotischen Abenteuern. Aber, um exzessiv zu saufen?

U r l a u b f ü r i m m e r, a b e r g a n z n a h

Berlin ist die Hauptstadt der Langzeitarbeitslo-sen und die Hauptstadt der prekären Beschäfti-gungsverhältnisse. Das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg hat im regionalen Sozialreport 2013 für Berlin eine Armutsgefährdungsquote von 15,2 Prozent ausgewiesen. Vor allem Langzeit-arbeitslose sind hier gefährdet, aber auch Allein-erziehende, Familien mit Kindern, Berliner mit Migrationshintergrund, Menschen mit geringer Qualifikation. Das Land Berlin profitiert von dem wirtschaftlichen Aufschwung und den damit ver-bundenen Einnahmen, doch die Armen der Stadt haben nichts davon. Im Gegenteil. Die Armen in Berlin müssen fürchten, ihre Wohnung zu verlie-ren. Die Unternehmen, die neu am Markt sind, haben ganz spezielle Anforderungen an die Qua-lifikation ihrer Mitarbeiter. Die Langzeitarbeitslo-sen haben da gar keine Chance. Das wird entspre-chend honoriert. Die neuen Mitarbeiter haben auf dem Wohnungsmarkt wesentlich bessere Chancen als die armutsgefährdeten Berliner. Renditeerwar-tungen der Investoren und ein Wandel der Richter in den Zivilgerichten haben den einst guten Mie-

terschutz ausgehöhlt. Die Richtlinien zur Über-nahme der Wohnkosten für die Empfänger sozia-ler Transferleistungen funktionieren nur bei einem entspannten Wohnungsmarkt. Zuschüsse für die Miete aus dem Regelsatz zum Leben sind noch nicht die Regel, aber beileibe keine Ausnahme. Immer mehr armen Menschen bleibt immer we-niger Geld zum Leben. Wer jeden Cent drei Mal umdreht, bevor er ihn ausgibt, kann sich Reisen nicht leisten. Da bleiben nur Ferien auf Balkonien.

U r l a u b a u f B a l ko n i e n

Urlaub zuhause kann schön und richtig erhol-sam sein. Bei »brigitte.de« bin ich auf Tipps für Genuss auf dem eigenen Balkon gestoßen. 100 Teelichter kosten weniger als fünf Euro. Die Bot-schaft ist klar: Auch daheim kann man es sich gemütlich machen. Und sich gut erholen. Und wenn Sie keinen Balkon haben, auf dem Hof ha-ben sie auch frische Luft. Da wir bei den Tipps sind: Wenn die Sonne so richtig brennt, hilft Laken nass machen und vor die offenen Fenster hängen. Die Verdunstungskühle macht die Tem-peratur in der Wohnung erträglich. Und wenn Sie allein sein wollen, auch da gibt es Stellen in Berlin, wo sie stundenlang allein sein können. Waren sie schon einmal in den Wäldern Köpe-nicks? Am Gosener Kanal?

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Radlertreffpunkt in Bad Kissingen (Foto: Sigismund von Dobschütz/Wikipedia)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 FERIEN | 11

Radwandern im UrlaubFahrradfahren einmal andersB E R I C H T : C a r s t e n D a h l e k e ( v e r k a u f t d e n s t r a s s e n f e g e r )

Es ist Urlaubszeit. Viele Menschen haben, weil sie Arbeitslosengeld II beziehen, nicht das Geld zu verreisen. Das wurde von den Erfindern des Harz IV einfach nicht berücksichtigt. Auch sonst ist der Harz IV-Satz auf eine Teilhabe der Betroffenen am

gesellschaftlichen Leben eher nicht ausgerichtet. Was kön-nen Harz IV-Empfänger also tun, um so etwas wie Urlaub zu erleben?

Man kann natürlich an Seen fahren und sich faul in die Sonne legen, am besten dort, wo es keinen Eintritt kostet. Natürlich geht dies nur bei schönem Wetter. Aber den ganzen Sommer an den Ufern der Berliner Seen zu liegen, kann mit der Zeit auch seinen Reiz verlieren. Natürlich gibt es noch andere Möglichkeiten, sich die Sommerurlaubszeit in Berlin zu ver-treiben. Welche man nutzt, ist natürlich jedem selbst über-lassen. Eine Variante möchte ich hier etwas näher vorstellen, das Radwandern. Es ist wie der kleine Bruder des normalen Wanderns. Oder wenn man etwas gehässig sein möchte, das Wandern für Lauffaule.

In meiner Jugend habe ich das praktiziert, sehr oft und mit viel Leidenschaft. Man braucht dazu eigentlich nicht sehr viel, Vo-raussetzung ist natürlich ein Fahrrad, das voll funktionstüch-tig sein muss. Das heißt, alles, was beim normalen Gebrauch eines Fahrrads im Stadtverkehr funktionieren muss, sollte beim Radwandern natürlich auch funktionieren! Man sollte nun nicht gerade ein Sonntagsfahrer sein, sondern schon mit dem Rad sehr gut umgehen können. Darüber hinaus ist hier noch wichtig, dass man noch ein gutes Reifenprofil auf dem Fahrradmantel haben sollte. Besonders wichtig ist dies, wenn man beabsichtigt, auch Wege zu nutzen, die nicht sehr befes-tigt sind. Für Menschen, die sonst sehr wenig Fahrrad fahren, empfiehlt es sich, wenigstens zwölf Wochen vor der geplan-ten Tour mit dem täglichen Radfahren zu beginnen und die Kilometerzahl dabei regelmäßig zu steigern. Macht man dies nicht, wird man schon nach den ersten Kilometern der Tour seine Beschwerden bekommen. Man spürt dann erst, was man alles an Muskeln hat und vor allem auch wo.

Für die Tour selbst macht es sich gut, wenn man vorher die Route im Internet heraussucht, man hat dort sogar die Mög-lichkeit, sich das Geländeprofil anzeigen zu lassen. Aus eige-ner Erfahrung kann ich nur empfehlen, Flickzeug und kleines Werkzeug mit einzustecken. Es kann zwar sein, dass man es nicht braucht. Aber hat man es nicht dabei, kann ein Fuß-marsch zum nächsten Ort mit kaputtem Reifen durchaus zur Tortur werden. Außerdem ist dies für Felge und deren Lebens-dauer nicht gerade förderlich.

Darüber hinaus sollte man an reichlich durstlöschende Flüs-sigkeit denken. Ein ganz spezieller Rat sei mir hier noch er-laubt. Es macht sich gut, wenn man Traubenzuckertafeln mit Magnesium dabei hat. Der Traubenzucker ist ein schneller

Energielieferant, und das darin enthaltene Magnesium ver-hindert, dass die Muskeln zu schnell verkrampfen. Auch ein Regencape im Gepäck zu haben, macht sich gut bei unvor-hergesehenen Regenschauern. Ansonsten richtet sich die wei-tere Zusammenstellung nach den persönlichen Bedürfnissen. Sollte man so eine Tour mit Kindern planen, ist natürlich noch viel mehr zu beachten. So sollten die Touren dann nicht so weit gehen und mit reichlich Pausen versehen sein.

In meinen Jugendjahren habe ich vieles davon nicht beachtet und wurde erst durch Schaden klug. Aber auch eine unvor-bereitete Radwanderung hat durchaus ihren Reiz. Allerdings nur, wenn man noch jünger und kräftiger ist. Es gibt hier in Berlin auch die Möglichkeit geführter Radwanderungen; die Hefte mit den angebotenen Touren bekommt man meist in den Fahrkartenausgaben der Berliner S-Bahn GmbH. Erklä-rungen zu diesen Touren gibt es dort im Heft, auch wo man sich bis wann anmelden muss. Radwandern ist eine tolle Art, Urlaub zu machen. Es kostet wenig, trainiert und man erfreut sich Stunde um Stunde an der herrlichen Natur. »Herz, was willst Du mehr?«

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Engagement statt Ferien (Quelle: Autorin)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201512 | FERIEN

Anstatt SommerurlaubDie luxuriöse Energie und Zeit für FreiwilligenarbeitB E R I C H T : H e l e n C l a r i s s a S c h l ü t e r ( S t u d e n t i n d e r S o z i a l - & K u l t u r a n t h r o p o l o g i e , F U B e r l i n )

Einleitend muss ich Folgendes sagen: Mit dem Ende der Schule »flüchteten« viele meiner Mitstreiter sich erst einmal an die spanischen Strände, manche sogar noch

weiter in das ferne Australien. Ich dagegen wollte die Kraft, die Motivation und Zeit, die mir für die-sen Moment luxuriös zur Verfügung standen, mit anderen Menschen teilen, sie nutzen, um etwas zu verwirklichen. Deshalb ging ich für ein Jahr nach Peru, besser gesagt in einen der Vororte der Hauptstadt Lima, und arbeitete an einer staatli-chen Schule. Doch auch in meinen Schulferien dort zog meine Tatkraft mich wieder weg und zwar in eine Kommune am Ufer des Amazonas. Was mir dort passierte, möchte ich hier auf meine ganz persönliche Art und Weise erzählen:

Am frühen Morgen startete ich zusammen mit einer anderen Freiwilligen von der letzten Stadt, die noch mit dem Bus erreichbar war. Im Land Rover fuhren wir acht Stunden nach Nieva, ei-nem Ort, der den Namen des Flusses trägt. Über den Nieva fuhren wir dann stromaufwärts im rat-ternden peque peque, einem kleinen Holz-Boot, um zwei Stunden später unser Ziel zu erreichen, die Kommune Nueva Esperanza (Neue Hoff-nung). Dort angelangt blieb mir fast das Herz stehen, als die ersten wilden Tiere aus den Bü-schen sprangen. Wild gemustert, schwarzes Ge-fieder, grunzende Laute von sich gebend. Doch lange konnten sie sich nicht tarnen, ich erkannte sie als Kuh, Truthahn und Schwein. In diesem Moment brach das Lachen aus mir heraus, doch wären die Tränen adäquater gewesen, denn die Artenvielfalt der Flora und Fauna ist an diesem Ort längst ausgerottet. Neben Kakerlaken, Kä-fern, giftgrünen Fröschen, Kröten und Ratten blieb einzig die Vielfalt an bunten Schmetterlin-gen oder die an meinem Gesicht vorbeisausen-den Fledermäuse in der Nacht.

Die leuchtenden Augen in der Dunkelheit waren weder Jaguar noch Tiger, sondern die klaren Kin-deraugen, die durch die Hüttenwandspalten späh-ten, sobald sie uns erahnten. Im Gebüsch hinter uns, uns raschelnd auf Schritt und Tritt folgend, wurde von uns doch achtsam die Distanz gehal-ten. Angst und Neugier miteinander ringend. Die Meinung über uns war gespalten: Invasoren, die ihre Kinder mit ihrem Weltbild von ihren Eltern weglocken oder junge Frauen, die ihre Zeit ihren Kindern widmen wollen. Einig waren sie sich nicht, ließen sich aber nichts anmerken.

Kinder, die auf die Frage, was das Wichtigste für sie ist, »estudiar« (zur Schule gehen) antworten. Kinder, die die Fragen, ob es Momente gibt, in denen es besser ist zu lügen, lautstark verneinen. Kinder, von denen achtzig Prozent mit einem durch Fehlernährung angeschwollenen Bauch zu kämpfen haben, deshalb nicht mehr wachsen.

Ihre eigenen Geschwister ersetzen Mutter und Vater, die den Tag über auf den Felder erntend, kaum eine Minute Zeit haben, um sich zu ver-gewissern, dass es Tochter oder Sohn gut geht.

In den Wochen, die wir dort waren, arbeiteten wir mit den Kindern an kleinen Projekten zum Thema Vertrauen, soziales Miteinander und Umwelt. In einem Simulationsspiel über die Ro-dung der Wälder und Jagd auf die Tiere erlebten sie hautnah den Moment des »ya no hay nada« (es gibt nichts mehr), die Unfähigkeit der wei-teren Überlebenssicherung. Und auch hier war die Antwort der Kinder auf die Frage nach den Konsequenzen beeindruckend. Jeder deutsche Schüler hätte in dem Alter wahrscheinlich »wir sterben« geantwortet. Doch was uns dort geant-wortet wurde, war »sufrimos« (wir leiden).

Die Kinder lernen in der Schule Spanisch, ihre Muttersprache ist jedoch Awajún. In meinen Oh-ren fremd klingend, lernte ich über die Tage doch so einige Wörter. Aber noch viel mehr weckte das linguistische Puzzle dieser Sprache mein In-teresse. Immer wieder registrierte ich spanische Wörter, für die es in Awajún keine Übersetzung gibt. Eins von ihnen war »pobreza« (Armut). Einmal mehr die Erkenntnis, dass der gebildete Mensch versucht, Gesellschaftsphänomene in Termini zu erfassen bzw. zu benennen, für die die Beurteilten keine Beschreibung haben, und nur über Fremdeinfluss von ihr erfahren. Ähnlich erging es auch einem Mann, der im Rahmen ei-ner Wahlkampagne in der Kommune auftauchte und ihnen in ökonomischer Fachsprache seine Ziele erläuterte. Er wurde nur deshalb von dem schamlosen Unverständnis geschont, weil das friedliche Schnarchen seiner Zuhörer nicht bis nach vorne zu ihm durchdrang. Nun, eine Welt frei von – der Pfarrer nannte es Verschmutzung durch Modernität –, der Soziologe auf meiner Reflexionswoche mit den anderen Freiwilligen sagte Partikularität, so mancher Eurozentriker würde sagen frei von Zivilisation.

Wird und kann es weiterhin Flüsse wie den Nieva geben, der das Ufer der Modernität von dem Ufer der Unschuld und der Kulturreinheit trennt? Im Hinblick auf den wachsenden natio-nalen Wassermangel würde der Umweltbiologe ihn als überlebenswichtig bezeichnen, doch was sagt der Soziologe? Und ich? Bin froh, diese Er-fahrungen gemacht haben zu dürfen, diese Men-schen getroffen zu haben, ein anderes Leben gesehen und sehr viel davon gelernt zu haben.

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› www.couchsurfing.com

Ein echter Cochsurfer! (Quelle: www.live-diverse.com)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 FERIEN | 13

CouchsurfingCiau – You’ve got friends in Italy (and all over the world)B E R I C H T : T h e r e s a H o h m a n n ( S t u d e n t i n d e r S o z i a l - & K u l t u r a n t h r o p o l o g i e F U B e r l i n )

Ciau – You’ve got friends in Italy (and all over the world) – mit diesem Satz lädt www.couchsurfing.com weltoffene und reisebegeisterte Menschen ein, sich einzuloggen oder anzumelden. Das kommerzielle und virtuelle Gastfreundschafts-

netzwerk steht jedem Interessierten frei zu Verfügung, um bei Reisen in andere Länder einen kostenlosen Unterschlupf und nette Hosts (Gastgeber) zu finden oder selbst Host zu werden und jemanden zu beherbergen und ihm seine Heimat zu zeigen. Eine kleine E-Mail an Studenten der Universität Reykjavik brachte das Ganze ins Rollen. 2003 gründete Ca-sey Fenton das Reisenetzwerk. Ab 2011 wurde das Netzwerk zunehmend kommerzialisiert. Das wurde von einigen Mitglie-dern aus verschiedenen Gründen kritisiert.

Heute steht Couchsurfing für eine Globale Gemeinschaft mit über zehn Millionen Menschen in mehr als 200 000 Städten.

Damit sorgten die Gründer für eine Revolution in der Reise-branche, zumindest unter vielen jungen Leuten. Jeder kann sich auf der Seite einloggen, sein Profil erstellen und entspre-chende Hosts in der jeweiligen Stadt anschreiben. Zu einem Profil gehören Name, Alter, Geschlecht, Reiseroute, ein nettes Foto und ein paar Sätze über sich selbst. Einstellen kann man ebenfalls die Auswahlkriterien für den möglichen Hosts, z. B. Geschlecht und Alter. Andere User können unter dem je-weiligen Host oder Reisenden einen positiven oder negativen Kommentar nach deren Besuch schreiben und somit anderen bei der Auswahl helfen.

Das Ganze verfolgt die Idee, einen kostenlosen Schlafort zu erhalten und neue Leute auf der ganzen Welt kennen zu ler-nen und vielleicht sogar Insider-Tipps von ihnen zu erhalten. Das war auch die Motivation von meiner Freundin und mir als wir letztes Jahr im Sommer nach Irland gefahren sind und dort mit großen Rucksäcken auf den Rücken eine Rundreise durch den Süden unternommen haben. Wir meldeten uns mit einem gemeinsamen Profil an und versuchten uns möglichst offen zu beschreiben, damit wir die bestmöglichsten Chan-cen hatten. Jedoch gestaltete sich die Suche relativ schwer. Bei vielen Profilen, meistens Männer, hatten wir oftmals kein gutes Gefühl. Viele hatten keine Referenzen und waren we-sentlich älter als wir. Hier ist auch Vorsicht geboten: Vor al-lem allein reisende Frauen sollten ihrem Gefühl vertrauen, da auch von einem Vergewaltigungsfall berichtet wurde, dem im englischen Leeds eine Couchsurferin aus Honkong zum Opfer gefallen ist. Referenzen und ein Beglaubigungsschein des Ausweises sind daher wichtig für Hosts damit sich Surfer sicher sein können.

An manchen Orten wie Cork oder Galway klappte es sofort mit einer Unterkunft. In Killarney oder Dublin war es sehr schwer, Unterschlupf zu finden. Wir fanden jedoch fast überall ein paar nette Leute und freuten uns auf die Reise. Allerdings ging in unserem Urlaub einiges durcheinander. Beispielsweise vergaß die WG in Cork an unserem Ankunftstag den Schlüs-sel für ihr Haus, nachdem wir etwas zu Essen geholt hatten, und wir mussten den Tag draußen verbringen bis ihr Mitbe-wohner schließlich von der Arbeit kam. Jedoch erkundeten wir dadurch die ganze Stadt. Alle waren sehr freundlich zu uns, und wir erhielten viele Erkundungstipps. Ein paar nega-tive Aspekte waren unvermeidbar. Bei unseren letzten Hosts in Galway war die Wohnung extrem dreckig, und die Mit-bewohner wussten am Anfang gar nicht, dass wir kommen. Auch sagte uns ein Mädchen in Limerick kurzfristig ab, und wir mussten unsere Reiseroute am Ende umändern und waren auf der verzweifelten Suche nach einem Hostel für die Nacht.

Aber alles in allem war es eine sehr spannende Reise und es geschahen viele unerwartete, aber meist positive Dinge. Für aufgeweckte, offene und abenteuerlustige Reisende ist es die perfekte Möglichkeit mit wenig Geld neue Länder zu erkun-den. Man sammelt neue Erfahrungen und lernt ein Land, eine Stadt und ihre Menschen nicht aus der Touristensicht kennen. Der Leitgedanke der Seite trifft somit hoffentlich bei jedem Surfer und Host zu: »We envision a world made better by tra-vel and travel made richer by connection. Couchsurfers share their lives with the people they encounter, fostering cultural exchange and mutual respect«.

Page 14: strassenfeger Ausgabe 14/2015 - URLAUB

Soziales Engagement macht anscheinend Spaß! (Quelle: Wikipedia)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201514 | FERIEN

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› www.yap-cfd.de

»yap-cfd« Aufgepasst – Interkultureller Austausch im heimischen DeutschlandB E R I C H T : L o r e n a S c h w a b

Liebe Leser, bitte wundern Sie sich nicht, wenn Sie im Sommer auf eine Gruppe von Menschen aus der ganzen Welt stoßen, die sich mehrere Wochen lang

selbst in den kleinsten Dörfern Deutschlands rumtreibt. Es könnte sich dabei um ein interna-tionales Workcamp für junge Erwachsene aus der ganzen Welt handeln. Falls dies der Fall sein sollte, rate ich Ihnen, mit der Gruppe in Kontakt zu treten. Das könnte sehr interessant für Sie werden, und es freut die jungen Menschen be-stimmt. Denn es geht im Workcamp darum, für zwei bis drei Wochen gemeinsam zu leben und an einem gemeinnützigen Projekt zu arbeiten.

In diesen Workcamps werden Projekte in den Bereichen Umweltschutz und ökologische Land-wirtschaft, Denkmalpflege, Kinder- und Jugend-arbeit, praktische Friedensarbeit und Aktivitäten zugunsten benachteiligter Menschen unterstützt. Sowohl das ehrenamtliche Engagement als auch die persönliche Erfahrung, die sich aus dem Zu-sammenleben mit Menschen aus verschiedensten Ländern ergibt, sind dabei wichtig. Es kann näm-lich sehr spannend werden, wenn 15 Teilnehmer aus bis zu sechs verschiedenen Ländern zwei Wo-chen lang zusammen leben, gemeinsam einkaufen und kochen, ihre Freizeit gestalten, arbeiten und sich kennenlernen. Dies kann für jeden einzelnen eine Lernerfahrung sein und zur Auseinanderset-zung mit Stereotypen und Vorurteilen beitragen.

Mit der Organisation »yap-cfd« finden in diesem Sommer 17 Workcamps in Deutschland und viele weitere bei den Partnerorganisationen in der ganzen Welt statt. Da die Teilnehmenden an gemeinnützigen Projekten arbeiten und nicht gerade in 5-Sterne-Hotels übernachten, fallen außer der Anreise nur geringe Kosten an und das lohnt sich vor allem für offene, neugierige und abenteuerlustige junge Erwachsene.

Ich selbst werde im August eines der Workcamps in Deutschland leiten und habe schon an einem vorbereitenden Seminar dazu teilgenommen. Dort habe ich vor allem erkannt, wie viel Orga-nisationstalent man dafür mitbringen muss. Als Leitender ist man rund um die Uhr für die Teil-nehmenden verantwortlich, und das kann auch sehr anstrengend sein. Doch ich habe vor allem auch Inspiration und Ideen für die Gestaltung des Workcamps mitgenommen und möchte ver-suchen, durch Spiele und andere Aktivitäten eine gute Gruppendynamik entstehen zu lassen. Da stehen dann schon mal Namens- und Kennlern-spiele, das Übersetzen von Wörtern in alle mög-lichen Sprachen und internationale Kochabende auf dem Programm.

Viele der Teilnehmer waren vorher noch nie in Deutschland und möchten das Land kennenlernen, doch auch wir sind auf Live-Berichte aus ihren Ländern gespannt. Außerdem finden an den Wochenenden Ausflüge in die nächst gelege-nen Städte statt, außerdem gibt es auch thematische Schwer-punkte. Ein Workcamp findet zum Beispiel unter dem Motto »Erinnern-Begegnen-Verstehen-Zukunft gestalten« statt, auf dem Programm steht ein Besuch im KZ Dachau sowie eine Auswertung und Auseinandersetzung mit dem Thema Ge-schichtsaufarbeitung. Bei einem anderen Workcamp wiede-rum findet die Arbeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber statt, dabei sollen die Teilnehmer durch ver-schiedene Aktivitäten mit den Bewohnern des Aufnahmezent-rums in Kontakt kommen und die aktuellen Entwicklungen in der Asylpolitik reflektieren. Die Lernerfahrung, sowohl durch Auseinandersetzung mit einem Thema als auch durch den internationalen Austausch, steht hier also im Vordergrund. Nebenbei lernt man aber auch neue Menschen kennen, führt mit Sicherheit interessante Diskussionen und hat zusammen jede Menge Spaß.

Es ist meiner Meinung nach besser, eine unglaublich wert-volle interkulturelle Erfahrung hier in Deutschland zu haben, als nach Spanien zu fahren und sich dort mit dem Kellner auf Deutsch zu unterhalten. Diese Workcamps sind aber noch viel mehr als ein internationaler Austausch, denn man lernt viel über weltweit diskutierte Themen, knüpft Kontakte und im Idealfall entstehen dabei sogar dauerhafte Freundschaften. In den nächsten Sommerferien geht es dann vielleicht schon in ein fernes Land, um die neue Bekannt-schaft zu Hause zu besuchen. Ich freue mich jedenfalls riesig auf diese drei Wochen intensive interkulturelle Erfahrung und auf die tolle Zeit!

Page 15: strassenfeger Ausgabe 14/2015 - URLAUB

(Quelle: Ins Kromminga)

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 FERIEN | 15

Karik

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Kleine FluchtenÜber die Möglichkeiten, den Alltag zu vergessenB E T R A C H T U N G : D e t l e f F l i s t e r

Es gibt immer wieder Momente im Alltag, die man einfach nicht ertragen kann, vor denen man ab-hauen möchte, weil sie unangenehm oder nur schwer zu bewältigen sind. Um solche Situationen zu bewältigen hat jeder Mensch seine Methoden,

die ihm helfen zu entkommen, sich mit den Unangenehmen nicht beschäftigen zu müssen. Eine meiner bevorzugten Fluchtwelten war früher das Kino.

Bei Zeichentrickfilmen von Walt Disney (»Dschungelbuch«, »Bambi«, »Schneewittchen«) konnte ich das Lachen und die Fröhlichkeit wieder erlernen, mit »Spidermann« und »Super-mann« aufregende Abenteuer erleben und das Böse besiegen. Und mit manchem Raumschiffskapitän konnte ich durchs Universum fliegen, außerirdische Wesen treffen und kennen-lernen, die ich häufig friedlich, aber oft genug auch feindlich erlebte. Meine Seele wurde dadurch befreit, und ich konnte in manchen Abenteuern mit den Filmhelden kämpfen und feiern, lachen und weinen, auch einig sein oder streiten. Es ging oft sehr aufregend zu, aber oft auch sehr emotional, bei-spielsweise wenn ich mit »Spiderman« gemeinsam wieder ei-nen Bösewicht besiegte oder auch mit »Alice im Wunderland« unterwegs war und die wirrsten und seltsamsten Gestalten traf. Die Abenteuer waren oft anstrengend, aber auch sehr ab-wechslungsreich und vor allem: Ich konnte etwas erleben und meinen trüben Alltag verlassen.

Meine Identifikation mit den Helden und Chronisten war meistens sehr groß, und ich zitterte und bangte in vielen Situ-ationen um sie, häufig auch um ihr Leben, wenn sie in Gefahr kamen. Wenn »Tarzan« mit bloßen Händen mit einem Kroko-dil kämpfte, stockte mir der Atem. Oder ich begann mitfüh-lend zu weinen, wenn eines meiner Idole traurig war. Wütend wurde ich besonders, wenn jemand ihnen ans Leder wollte. Ich bewunderte sie für die Art, wie sie sich retteten und mit Kraft und Cleverness jede nur erdenkliche Situation meisterten. Vor allem die Superhelden »Supermann«, »Batman« und »Spider-man«. So wie die waren, wollte ich auch mal sein, und ich emp-fand sie als cool und als nachahmenswerte Vorbilder. Wenn ich groß sein und meine Superkraft entwickelt haben würde, dann würde ich es allen zeigen, die mir wehgetan hatten. Die würden dann schon sehen, mit wem sie sich angelegt hatten.

Die Figuren aus den Filmen spukten durch meine Träume, wo sie mich schützen und durchs Leben geleiteten. Einmal, ich war so sieben Jahre alt, wollte eine Horde von Mitschülern mich ver-prügeln. Am Himmel kam »Supermann« angeflogen und rette mir die Haut, indem er die bösen Typen verjagte. Er sagte mir, er würde mir jederzeit helfen, wenn ich nach ihm rufen würde. In einem anderen Traum wollte mich Vater wieder einmal mit dem Gürtel verprügeln. Da ging die Tür auf und »Balou der Bär« aus dem Dschungelbuch biss meinem Vater in den Hintern. Aber ich träumte auch, dass ich der Mitschülerin Claudia die Jacke versteckt hatte und vom grünen »Hulk« dafür mächtig verprü-gelt wurde. Ja, meine Idole wachten auch darüber, dass ich alles richtig machte. Sie waren stets gerecht und unparteiisch, wenn sie mich beobachteten, bestraften mich, wenn ich Mist baute, belobigten und schützen mich wo es nötig war.

Mit meinen Freunden spielte ich oft die Filme nach. Wir verkleideten und maskierten uns auch entsprechend. Auch

dachten wir uns selbst neue Aben-teuer aus. Es gab oft genug richtige Debatten, wer welche Rolle spielen durfte. Nicht selten arteten sie in Handgreiflichkeiten aus. Die Straßen und Parks wurden unsere Bühne, und wir prügelten und verbündeten uns, feierten und trauerten. Oft kamen wir erschöpft und mit verschmutzter Klei-dung nach Hause, und manches Paar Schuhe ging dabei drauf. Stolz führten wir unsere in den Kämpfen entstande-nen Wunden vor. Ja, alles in allem war es eine schöne Sache, und wir hatten

unseren Spaß. In Grunde waren diese Abenteuer im Kino, im Kopf und im wahren Leben immer so etwas wie »kleine Fluchten«, die uns halfen, un-seren schwierigen und bedrückenden Alltag zu verlassen und zu vergessen. Aber es war schön, und deshalb taten wir es. Und vor allem: Wir schadeten niemandem, und vielleicht wurde da-mals ja auch die Grundlage für mei-nem Traumberuf Schauspieler gelegt. Heute lebe ich meinen Traum von der Theaterbühne bei »Unter Druck – Kultur von der Straße e. V.«.

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201516 | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n fe g e r

Gérard Gartner oder Die Liebe zur AnarchieIn der Galerie Kai Dikhas, dem »Ort des Sehens« im Aufbau Haus am Moritzplatz, wo ausschließlich die Kunst von Roma und Sinti gezeigt wird, findet erneut eine großartige Ausstellung statt, die keinesfalls verpasst werden darf. Unter dem Titel »Ultima Verba« lässt uns dort Gérard Gartner einen ersten und zugleich letzten Einblick in sein Kunstuniversum gewähren, bevor es nach dem Willen des Bildhauers den Weg alles Irdischen geht. R E Z E N S I O N & F O T O : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

Die Skulpturen und Reliefs sehen aus, als seien sie aus kostbaren Stoffen gefertigt: aus Bronze, Murano-Glas, Porzellan, Edelkeramik, Teak- und Ebenholz, Carrera-Marmor oder Achat. Ihre Formen zeichnen sich durch Vielfalt aus,

sie sind biomorph, schlängeln sich und wuchern, manche er-innern an Porträtbüsten, Masken, seltsame Tiere, Muscheln, Monstranzen, Kelche oder das Faltengewand einer Nike von Samothrake. Diese matten oder glänzenden Schmuckstücke sind monochrom oder mehrfarbig, wobei Erdtöne das Auge erfreuen. Die Plastiken sind gleichermaßen harmonisch und dynamisch, fest und filigran, strahlen Ruhe und Energie aus. Sie scheinen in Bewegung zu sein, ja, sie zelebrieren geradezu ekstatisch die Bewegung als Quintessenz des Lebens. Sie sor-gen dafür, dass man sich in ihrer Umgebung wohl, aber auch etwas verunsichert fühlt.

P re m i e re u n d D e r n i è re i n e i n e mDie Einzelausstellung des französischen Künstlers Gérard Gartner, die jetzt in der Galerie Kai Dikhas gezeigt wird, ist zugleich eine Premiere – und eine Dernière, eine grandiose Schau der Gegensätze. Gartners erste Personale in Deutsch-land ist nämlich auch die letzte Präsentation seiner Werke, die er als D.I.R. bezeichnet, überhaupt. Unter dem Titel »Ultima Verba« gewährt er uns einen Einblick in sein Kunstuniversum, bevor es sich, Anfang des nächsten Jahres, nach dem Willen des Bildhauers in Staub, besser gesagt, in Pulver auflöst. »Die letzten Worte« – das klingt recht subversiv und beinhaltet eine Prise schwarzen Humors. Denn jene »letzten Worte«, die von berühmten Männern und Frauen tatsächlich oder angeblich un-mittelbar vor ihrem Ableben ausgesprochen wurden – und von Zeugen für die Nachwelt kolportiert werden, treffen in diesem Fall nicht zu. Der Künstler steht ja mitten im Publikum, wirkt überaus munter und viel jünger, als er in Wirklichkeit ist. Er freut und wundert sich offensichtlich auch ein bisschen darü-ber, dass so viele Leute gekommen sind, um sein außergewöhn-liches und zur Kurzlebigkeit verurteiltes Œuvre zu goutieren.

P l a s t i ke n a u s P l a s t i k Das Außergewöhnliche an diesen knapp 50 Ob-jekten, die sehr edel und teuer wirken, sodass sie in den Wohnungen des Mittelstandes und den Salons der Oberschicht eine gute Figur ma-chen könnten, ist, dass sie aus außerordentlich gewöhnlichen Materialien geschaffen wurden. Das geheimnisvolle Akronym D.I.R, das Gérard Gartner für seine Plastiken erfand, steht für »Déchets Industriels Recyclés«, recycelte Indus-trieabfälle, also für all das Plastikzeug wie PET-Flaschen, Kanister, Einweggeschirr, Kämme, Säcke und Tüten, die irgendwann auf der Müll-halde landen, bestenfalls wiederverwertet oder in einer Müllverbrennungsanlage verheizt wer-den. Gérard Gartner ist ein Plastiker, der diesen Begriff wörtlich nimmt und aus Plastik Plastiken macht. Er holt sich den Plastikmüll, bevor der recycelt wird, und bearbeitet ihn, ohne Schutz-anzug, mit Bunsenbrenner, Lötlampe und Bohr-gerät zu Figuren, die, so Moritz Pankok, Kurator und künstlerischer Leiter der Galerie Kai Dikhas, »wie kühne und freche Lebewesen erscheinen.« Weil »kein Titel das Werk erklärt und uns eine Indiz für seine Form liefert, werden die Assozia-tionen des Betrachters umso mehr zugelassen, ja herausgefordert. Eine Eigenwelt eröffnet sich.«

G i p fe l d e r Fre i h e i t In der Tat ist Gérard Gartners »Eigenwelt« ei-gentümlich und einzigartig. Er ist ein Meister der Subversion und ein begnadeter Anarchist. Der Stoff, aus dem seine Kunst ist, hat eine ex-trem lange Lebensdauer. Um sich zu zersetzen, braucht eine Kunststoffflasche bekanntlich 450 Jahre. Doch dieser Künstler ist einer, der in menschlichen Dimensionen denkt und die ma-

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teriellen Dinge seiner »Eigenwelt«, auch die von ihm selbst erschaffenen, der Nachwelt nicht ver-machen möchte. Das ist zum einen Ausdruck sei-ner künstlerischen Bescheidenheit, zum anderen seine Referenz an einen Freund und Künstler, welcher für ihn der Größte ist und der ihn an die Bildhauerei heranführte: Alberto Giacometti. Zu dessen 50. Todestag am 11. Januar 2016 will Gérard Gartner die D.I.R. vernichten, also eigen-händig schreddern und pulverisieren. Das sind eine Radikalität, ein anarchistischer Akt und ein Manifest, die in der auf Ruhm über den Tod hinaus ausgerichteten Kunstwelt ihresgleichen suchen. Meistens überleben die Kunstwerke ih-ren Schöpfer und sorgen, wenn die Nachwelt es für richtig hält, für dessen ewige Gloria sowie für das Wohlergehen seiner Nachkommen. Und dieser Künstler wagt es, seinen fast unzerstörba-ren Kreationen noch während seines Lebens ein Ende zu setzen! Ein Künstler, der seine eigenen Werke überlebt: Das ist der Gipfel der künstleri-schen und individuellen Freiheit.

B o xe r, B o d y g u a rd , B i o g r a f, B i l d h a u e r Wie die Kunst, so das Leben: der Stoff, aus dem Romane und Filme sind. Gérard Gartner, des-sen Ausstellung in der Galerie Kai Dikhas et-was traurig macht, denn es ist die letzte Schau

seiner Werke, wurde am 22. Februar 1935 im Norden von Paris in einer Familie von Schrott-händlern geboren. Sein Vater war Rom, seine Mutter Manouche. Weil seine Eltern ums Über-leben kämpfen mussten, wuchs er bei seinem Großvater Luis, der Anarchist war, auf. Schon als Kind lernte er führende französische Anar-chisten kennen, zu denen die Sänger Charles d’Avray, Louis Lecoin und Georges Brassens gehörten. Unter dem Einfluss des berühmten Boxers Téo Médina, auch er ein Rom, wurde Gérard ein erfolgreicher Amateur- und Profi-boxer, arbeitete dann in den 1960er Jahren als Einbalsamierer, Schankwirt, Müllmann, Schau-spieler, Lastenträger und schließlich als Bo-dyguard des französischen Schriftstellers und Kultusministers André Malraux. In dieser Zeit betätigte sich Gérard nebenbei als Porträtmaler. Er freundete sich auch mit Giacometti an, der ihm riet, Bildhauer zu werden. Es sollten einige Jahre vergehen, bis er dessen Rat folgte. Im Mai 1985 organsierte Gérard Gartner in der Conci-ergerie von Paris die Aufsehen erregende und wegweisende Ausstellung »Première mondiale d’art tsigane« – mit Werken, unter anderem von Serge Poliakoff, Constantin Nepo, Torino Zigler, Natacha Goulesco und David Rauz Ka-bila: eine wahre Weltpremiere der Roma-Kunst, die er seitdem unermüdlich fördert und popu-

I N FO

Gérard Gartner »Ultima Verba«Noch bis zum 22. August

Galerie Kai Dikhas Aufbau Haus am Moritzplatz Prinzenstr. 84, Aufgang 2, 10969 Berlin

Mittwoch bis Samstag 12 – 18 Uhr Eintritt frei

› www.kaidikhas.com

larisiert. Gérard Gartner veröffentlichte auch mehrere Bücher, darunter die Biografie seines Freundes Matéo Maximoff, des ersten Roma-Schriftstellers in Frankreich, wofür er 2007 mit dem Prix Romanès ausgezeichnet wurde. Er war auch Mitentwickler des Mountainbikes. In den 1980er Jahren trat er endlich als Bildhauer in Erscheinung, wurde weltweit ausgestellt, doch er weigerte sich stets, seine Plastiken zu verkaufen. Als Anarchist lebt Gartner einfach immer wieder vor, dass es sich lohnt, ein Au-ßenseiter zu sein, denn als solcher muss und will er sich den Zwängen dieser auf Erfolg und Anhäufung von materiellen Dingen und Werten »fokussierten Welt« nicht beugen. Chapeau bas, frère Gérard! Vive l‘anarchie!

Gérard Jean Gartner, Galerie Kai Dikhas Berlin

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201518 | TAUFRISCH & ANGESAGT B re n n p u n k t

Was ist schlimmer als obdachlos zu sein – obdachlos und krank!Bernhard K., 54 Jahre alt: Dem Tod von der Schippe gesprungen. Vorerst.S C R I P T : D i e t e r P u h l , L e i t e r d e r B a h n h o f s m i s s i o n a m Z o o

Perspektive:Längst ist ein Therapieplatz für ihn ge-funden. Brandenburg, auf dem Land, mitten in einer schönen Pampa. Tiere,

Werkstätten, die Tischlerei hat es ihm ange-tan. Er kann dort mit seiner Suchtgeschichte, seinem Alkoholismus behandelt werden und es bestehen Chancen, er kann dort bleiben. 20 Jahre Obdachlosigkeit könnten ein Ende fin-den. Selten genug. Bernhard K. muss die Ein-richtung nur lebend erreichen. Rückschau:Meine Erinnerungen an ihn waren dünn, keine konkreten Fakten, eher Bilder. Die waren posi-tiv, ein angenehmer Zeitgenosse, fair, freundlich, umgänglich, Kumpel, ein feiner Kerl. Vor ca. 15 Jahren betreute ich ihn in der Wohnhilfe Chamis-soplatz der Berliner Stadtmission in Kreuzberg. Sogenannte Resozialisierungsarbeit mit vielen obdachlosen Menschen, die kaum eine Erstsozi-alisierung genossen hatte. Die Zusammenarbeit war wohl vermeintlich erfolgreich, Bernhard K. zog nach einem Jahr, mehr Zeit für eine sinnvolle Betreuung wollte der Kostenträger nicht bewilli-gen, in eine eigene Wohnung. Alles gut, könnte man meinen. Manchmal läuft das Leben wie in einem Film ab. CutIn den letzten Jahren lief mir Bernhard immer wieder über den Weg, mal traf ich ihn im Park, auf der Straße, in der U Bahn, später dann, seit knappen sechs Jahren arbeite ich in der Bahn-hofsmission Zoo, dort. Erneut obdachlos. Kurze Gespräche, kurze Hilfsangebote, kurze Verstän-digungen, karge Kommunikation. Er hielt sich, aber es ging ihm nicht gut. Man konnte das auch sehen. Sein Anblick tat meinem Gewissen nicht gut – da ist aber genügend Platz für weitere 5 000 – 6 000 Menschen, die in Berlin obdachlos leben und von denen 5 000 pro Jahr die Bahnhofsmis-sion Zoo aufsuchen. Gut geht es nicht einem von ihnen. Ich halte mich durchaus nicht für einen Klotz – 5 000 Lasten, Nöte, Schicksale erträgt mein Gewissen aber nicht. Ich schaue nicht weg, manchmal nur vorbei. CutImmer wieder Bernhard: Bahnhofsmission Zoo, vor zwei Wochen. Er saß, mehr er kauerte, auf der Straße, direkt vor der Tür und ich hatte ihn ca. zwei Jahre lang nicht gesehen und er sah aus wie Spucke. Körperlich angegriffen, ver-sehrt, gealtert, sehr gebrechlich, vorbeischauen konnte ich nicht mehr, er hatte Schmerzen und das war deutlich zu sehen. 20 andere sitzen da auch immer, sehen nicht einen Deut besser aus

und so dauerte es nur zwei Tage, bis ich ihn he-reinbat. »Er ist wohl etwas antriebsarm«, milde Beschreibung für eine ausgeprägte Depression, erinnerte ich mich – an eine der Beratungsstel-len für obdachlose Menschen mochte ich ihn nicht vermitteln, wäre er dort doch nie ange-kommen. Wen es interessiert, an Depressionen und anderen Erkrankungen der Seele leiden fast alle Menschen, die diese Nacht im Freien schlafen müssen. »Mehrfachbeeinträchtigun-gen« nennen das die Psychologen. Auftrag der Bahnhofsmission ist es aber, zu vermitteln, für mehr fehlen Fachpersonal und Zeit. CutVor gut zwei Jahren, wir wollten vor dem Elend und dem brutalen, sinnlosen Sterben direkt vor unserer Tür und in der gesamten Stadt nicht weiter einknicken. Wir wollten bei Trauerfei-ern nicht immer Abschied nehmen, an unserem Baum für verstorbene obdachlose Menschen, direkt vor unserem Eingang, nicht ein erneutes Abschiedsbändchen anbringen. Wir wollten nicht wieder einen Leichenschmaus für überle-bende Freunde ausrichten, bloß nicht wieder die Beatles mit »With a little help from my friends« hören. Wir gründeten das Projekt der Mobilen Einzelfallhelfer, um mit einem hohen Zeitkon-tingent für einige Wenige, aber immerhin, dieses Verrecken zu verhindern. Zwei Kolleginnen und

ein Kollege, jeder von ihnen lediglich mit einer Halbtagsstelle, aber mit Herz, Fachlichkeit, Empathie und ungeheurem Einsatzwillen, aus-gestattet, stemmen sich nun entgegen. Freunde haben das ermöglicht, arbeiten praktisch mit, geben sich ein, Netzwerken und begleiten, ha-ben zwischenzeitlich auch noch geholfen, andere Lücken im Hilfesystem zu schließen; unser Trä-ger, die Berliner Stadtmission konnte so ein Me-dizinisches Zentrum für obdachlose Menschen gründen, jüngst sogar ein wichtiges Beratungs-angebot für Menschen wie du und ich in Krisen in der Bahnhofsmission am Hautbahnhof. Die Deutsche Bahn Stiftung setzt sich für die Nicht-Wartezimmer-Tauglichen ein, das berührt uns, auch Einzelpersonen unterstützen überschau-bar, das nachhaltige Versorgen und Andocken eines total fertigen obdachlosen Menschen kos-tet nur 2 000 Euro.Hoffnungsschimmer, Rettungsanker – danke! CutBernhard zog in die Bahnhofsmission Zoo, die dafür gar nicht gedacht und ausgestattet ist. Dort gibt es neun Notbetten, für reisende Menschen, die in Not geraten sind, für Berlintouristen, de-nen die Geldbörse geklaut wurde, Scheckkarte weg, Reisepass auch und du kommst aus Südaf-rika oder Eckernförde. Das ist aber eine andere Geschichte. Zu welchen Notlösungen greifst du

Bernhard ist dem Tod von der Schippe gesprungen (Quelle: Bahnhofsmission am Zoo)

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aber, wenn es keinen gesellschaftlichen Plan A, keine Krankenstation für obdachlose Menschen in Berlin gibt? Und es sind sehr viele krank, 40 Prozent sind dringend behandlungsbedürftig. Sie sterben im Durchschnitt 30 Jahre eher als der Rest der Bevölkerung. Eine Krankenstation für Obdachlose gab es mal vor Jahren bei der Berliner Stadtmission, mit 20 Plätzen, sehr se-gensreich für die Betroffenen, denn wo legst du dich nieder, wenn du ausgezehrt, schlapp, krank, erkältet mit 40 Grad Fieber, bist, wenn du ein-fach in einem sauberen Bett sterben möchtest? Es waren wohl 270 000 Euro jährliches Defizit, weil niemand das ausreichend unterstützte, die uns veranlassten, das Projekt zu schließen. Nach Jahren im horrenden Minusbereich. CutEr hatte keinen Ausweis, er hatte von Allem nichts, und es ist Fleißarbeit, erfordert Finger-spitzengefühl, immerhin muss Vertrauen wach-sen, es ist Tüftelei, du brauchst dafür sehr viel Zeit – etliches wurde in die Wege geleitet, Pa-piere wurde besorgt, bearbeitet, Wege gemein-sam begangen. Unsere Mobilen Einzelfallhelfer waren am Ball, besser, Bernhard sehr nahe. Nur – er sah einfach nicht besser aus – noch immer wie nicht mehr richtig in dieser Welt – krümmte sich gelegentlich vor Schmerzen. »Ich mache einen kalten Entzug«, antwortete er, wenn ich ihn ansprach, kein leichtes, sogar ein gefährli-ches Unterfangen für einen alkoholerkrankten Menschen. Aber Bernhard machte das erfolg-reich. Er blieb trocken! Wir stellten ihn dabei einer Ambulanz vor. Blutdruck und die ande-ren Werte schienen okay zu sein. Dieser Entzug dauert aber nicht ewig.

CutGestern hatte ich einen Tag ohne Verabredun-gen, keinen Termin im Kalender, das kommt selten vor, ich genoss das. Plaudern mit etlichen Menschen, wenn man denn Zeit hat, das kann durchaus sehr sinnig sein. Und so stand ich rau-chend vor der Tür und mit vielen gab es Vieles zu besprechen.Und dann wieder Bernhard, aus den Augenwin-keln, er stand gekrümmt vor unserem Fenster und er sah wieder oder noch immer nicht gut aus. »Ich hatte die Faxen dicke« und ich hatte gestern Zeit und ich konnte mich nicht rausmogeln, de-legieren und ich hatte das Gefühl, ich bin gefor-dert. Schön, wenn man sich gut kennt, unsere Arztambulanz hatte noch einen Termin frei (oder kam mir kollegial entgegen – danke), wir setzten uns ins Auto und fuhren los. Die Wartezeit bei der Ärztin war gering, in das Behandlungszim-mer wollte ich nicht, das war mir zu intim. Vor der Tür kamen mir in der nächsten Stunde schon Zweifel, war Bernd gemessen an den anderen wirklich ein »Notfall«? Ich bin recht routiniert und erfahren – Hilfe – das war heftig, was ich da sah: Verirrte, Gezeichnete, Verpeilte (Menschen die auf einer anderen Frequenz senden), Not, Hilfeschreie – und ich mit Bernhard, im Vergleich zu den anderen sah er wie ein Durchstarter aus. »Vitalwerte gut, Lunge rasselt etwas, vermutlich eine Herzinsuffizienz, achtet darauf, sollte sich das verschlimmern sofort die 112 anrufen, die Viecher haben wir beseitigt, desinfiziere bitte Auto und Bett , hier die Mittel dazu, aber gut lüf-ten,« lautete sie klare und freundliche Ansage der Ärztin. »Blutwerte schicken wir ein.« Wir waren beruhigt, ab zur Bahnhofsmission, Bernd freute sich auf sein Essen.

CutUm 17.40 rief mich unsere Ärztin an, die ge-nommenen Blutwerte seien extrem besorgnis-erregend, der Hämoglobienwert liege bei 3,5 (normal bei Männern = 14-17 / Blutarmut bei < 13, gefährlich ab < 5, es bestünde die Gefahr von Einblutungen, es werde kritisch, wenn das Gehirn nicht mehr versorgt werde). Okay – dann bleibt nur die 112, und der Rettungswagen kam dann auch mit Blaulicht.

»Aber lass dich nicht abwimmeln«, lautete der letzte Ratschlag unserer Ärztin. Alle relevan-ten Angaben wurden dann von mir den Fahrern des Rettungswagens mitgeteilt, auch die Telefon-nummer unserer Ärztin für eventuelle Rückfra-gen. Ich habe Bernd, er war verunsichert, ängst-lich, nicht mitgeteilt, dass er vielleicht gerade innerlich verblutet. Blickte dem Krankentrans-port hoffnungsvoll hinterher. CutUm 21.40 Uhr erreichte mich der Anruf unse-rer Schichtleitung in der Bahnhofsmission Zoo. Bernd war aus der Klinik entlassen worden. Oder hatte die Klinik auf eigenen Wunsch entlas-sen? Ratlosigkeit bei uns, totale Verwunderung. Irrsinn. Was war los? Wieder war er in der Bahn-hofsmission – skurriler Heimathafen. CutDa war Elisabeth, 83 Jahre alt, sie saß im Roll-stuhl und war verwirrt aus Stuttgart nach Berlin gekommen, »mein Freund war nicht mehr res-pektvoll zu mir« und so zog es sie nach Berlin, weil es ihr dort 1948 so gut gefallen hatte. Die Stadt hatte sich aber verändert und Elisabeth nächtigte drei Nächte in Bahnhofshallen,

Täglich kommen rund 600 obdachlose Menschen zur Bahnhofsmission am Zoo, viele sind krank (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst)

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bis sie jemand in dasselbe Krankenhaus brachte. Sie erschien ihm verwirrt.

Da stand dann etwas von »mittelschwer ausgeprägter Demenz« in ihrem Arztbrief und den Entlassungspapieren – mit denen sie auf die Straße entlassen wurde.

Heiner, 58 und obdachlos, wurde vor drei Wo-chen aus einem anderen Krankenhaus »zur Weiterbehandlung in die Bahnhofsmission Zoo entlassen«, wer das bei uns wie machen sollte blieb uns ein Rätsel. Es gab keine Rücksprache mit uns.

Inge, verrückt und vermeintlich obdachlos und aus Holland stammend, sie drohte zu sterben, lebte über Monate bei uns, wir sind weder in-haltlich und konzeptionell dafür ausgestattet, Krankenhäuser entließen sie immer wieder zu uns. Vor zehn Tagen brachten wir sie aufgepäp-pelt zurück nach Antwerpen, sie hat dort eine eigene Wohnung. Als Berlintouristin wird sie uns zukünftig sicher wieder besuchen.

Jannek, 58 und Pole und obdachlos und nicht kran-kenversichert, verfaulte vor drei Jahren 50 Meter vor unserer Tür. Über Wochen. Von zehn gerufe-nen Krankentransportern nahmen ihn acht gar nicht mit. Wurde er im Krankenhaus aufgenom-men, wurde er stets nach wenigen Tagen entlassen.

Bestimmt zehn obdachlose Menschen wur-den in den letzten Jahren »zur Weiterbehand-lung« an uns entlassen, man vertraut uns, mit Steg oder Katheder. Wir wissen, Krankenhäuser werden Obdachlosigkeit in Berlin nicht behe-ben, sind überfordert. Aber auch dort gibt es Sozialdienste. Diese sollten es schaffen, bei ei-

ner dreiwöchigen Behandlung doch wenigstens ein Gespräch mit einem »sozial schwächelnden Menschen« zu führen. Habt Erbarmen! CutEin Anruf im Krankenhaus ergab, dem Kranken-haus und dem Arzt sind leider keine der relevan-ten Daten, die akute Lebensgefährdung, durch den Krankentransport weiter gegeben worden, auch nicht die Telefonnummer der zuvor be-handelnden Ärztin. Bernhard wurde im Kran-kenhaus untersucht, es sei nichts festgestellt worden, somit wurde er entlassen. Nachdem der Sachverhalt nun richtig gestellt war, bat uns die Klinik, ihn doch bitte wieder in das Krankenhaus zu schaffen, was meine Kollegin, sie hatte schon lange Feierabend, dann auch machte. NachbetrachtungLeider empört uns nichts in der vorliegenden Beschreibung wirklich, reiht es sich doch ein in eine unendliche Kette, wenn es um die me-dizinische Versorgung obdachloser Menschen in Berlin geht.

Wir wünschen Bernhard alles Gute, werden ihn auch gerne heute im Krankenhaus besuchen, uns um ihn kümmern. Haben nur Angst, er könnte heute bereits wieder entlassen sein. AbspannBahnhofsmission Zoo – Ein Stück Himmel am Bahnhof NachbetrachtungZwei Blutkonserven päppelten Bernhard auf. Es ging ihm besser. Gründlich untersucht wurde er nicht, es war ja Wochenende. Er hatte das

I N FO

Dieter PuhlLeiter der Evangelischen Bahnhofsmission

Jebensstraße 5 | 10623 Berlin

Telefon 030 / 3138088

Handy: 01637918717

[email protected]

Krankenhaus am Abend vorher übrigens nicht auf eigenen Wunsch verlassen, wie im Arztbrief vermerkt. Für einen Anruf in der Bahnhofsmis-sion, ob wir ihn denn abholen könnten, hatte niemand Zeit. Sein Fußweg, er hatte natürlich kein Fahrgeld, dauerte zwei Stunden und fiel ihm sehr schwer.

Wer auf der Straße lebt, wird oft krank (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst) Lebensmutig trotz ihres harten Lebens auf der Straße (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst)

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Ein gemeinsames Dach über dem Kopf für Flüchtlinge und ObdachloseRupert-Neudeck-Haus für Flüchtlinge feierlich eröffnet – Obdachlose müssen weiter warten!B E R I C H T : A n d r e a s D ü l l i c k

Rupert Neudeck, Mitgründer des Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte e.V. und Vorsitzender des Friedenskorps Grünhelme e.V. kam am 8. Juli höchstpersönlich in die Storkower Straße 139C. Und das aus gutem Grund, schließlich ist Neu-

deck der Namenspatron dieses Wohnheims für Flüchtlinge. Weltweit bekannt wurde Neudeck 1979 durch die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge im Chinesischen Meer mit der Cap Anamur. In einem ehemaligen Büroge-bäude ist nach umfänglichen Umbaumaßnahmen eine Ge-meinschaftsunterkunft für Flüchtlinge entstanden, die das erste Aufnahmeverfahren hinter sich haben und einige Mo-nate, aber auch bis zu mehreren Jahren dort wohnen wer-den. Zusätzlich zu den anspruchsberechtigten Flüchtlingen werden im Rupert-Neudeck-Haus auch Obdachlose unter-gebracht werden. Der mob – obdachlose machen mobil e.V. wird dort eine ganzjährig geöffnete Notübernachtung für 20 obdachlose Menschen eröffnen.

Das Gebäude, das frühere Stadtplanungsamt des Bezirks, stand jahrelang leer. Erst, als die soziale Straßenzeitung stras-senfeger diesen Leerstand öffentlich anprangerte, wurde das Land Berlin aktiv und beschloss, das Objekt als Flüchtlings-wohnheim zu nutzen. Der mob e.V. beantragte daraufhin so-fort beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Räume für seine Notübernachtung. Das LAGeSo stimmte zu.

Rupert Neudeck verwies in seiner Ansprache auf die Men-schen aus Eritrea, die aus ihrer Heimat verjagt werden und die durch Länder, die ihnen nicht freundlich gesinnt sind, unter schwierigsten Umständen hierher kommen. »Hier wer-den sie, da bin ich ganz sicher, eine gute Heimstatt finden.« Die zweite Gruppe von Flüchtlingen, die ihm sehr am Her-zen liegt, sind die Syrier. »Sie sind das ärmste Volk der Welt. Sie haben niemanden mehr auf dieser Welt. Die Hälfte der 22 Millionen Syrier sind zurzeit auf der Flucht. Wenn eine Mutter mit Kindern es überhaupt schafft, aus der Hölle von Aleppo rauszukommen, dann muss sie sich in den Nachbar-länder Libanon oder in Jordanien online bei der deutschen Botschaft um einen Gesprächstermin bemühen, um die Bitte für ein Visum für Deutschland vortragen zu können. Wenn sie diesen Termin überhaupt erhält, dann dauert das meist acht Wochen. Acht Wochen für eine Mutter mit Kindern, das ist gar nicht zu schaffen. Deshalb gibt es diese Schleuserbanden. Sie werden von uns fett gemacht.« Diese Menschen hätten nur eine Möglichkeit, d. h. mit einem Schleuserschiff über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. »Deshalb ist meine Freude sehr groß, dass das EJF es geschafft hat, dieses große, schöne Haus für Flüchtlinge einzurichten. Ich finde es auch sehr schön, dass hier auch obdachlose Menschen eine Zu-flucht bekommen werden.« Neudeck forderte die Politik auch auf, dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge früher arbeiten dürfen.

Das Heim ist seit 27. April 2015 geöffnet, bietet 255 Flüchtlin-gen Unterkunft, davon ca. 70 - 80 Kindern und Jugendlichen. Die Bewohner leben in 2-3-Bett-Zimmern und haben gemein-schaftliche Sanitäreinrichtungen und je zwei Küchen, Gemein-

schaftsraum und Essensraum in jeder Etage. Sie verpflegen sich selbst. Für die Kinder wird es ein Kinderspielzimmer geben. In den Außenanlagen ist ein Spielplatz geplant. Lokale Initiati-ven, Organisationen wie Schulen, Jugendfreizeiteinrichtungen und Kulturschaffende aus dem Mühlenkiez und dem Bötzow-Viertel haben bereits einen Unterstützerkreis gegründet. Wer die geflüchteten Menschen kennenlernen und sie bei ihrem An-kommen unterstützen möchte, z. B. als Hausaufgabenhilfe für Kinder, als Patenschaft für eine Familie, als Sprachmittler_in oder als Spendensammler_in, kann über die Emailadresse: [email protected] Kontakt zu den Unterstützer_innen aufnehmen. Der Unterstützungskreis für die Unterkunft in der Storkower Straße gehört zu einem bezirksweiten losen Will-kommensnetzwerk, das sich »Pankow hilft!« nennt und über die Homepage www.pankow-hilft.de zu erreichen ist.

Bedauerlicher Weise können im Haus bislang keine Obdachlo-sen übernachten. Das LAGeSo bzw. die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales hat es bis zum 8. Juli nicht geschafft, mit dem mob e.V. einen Mietvertrag abzuschließen. Im Klar-text heißt das, dass die fertiggestellten Räume bis heute nicht eingerichtet werden konnten, obwohl der Verein bereits Möbel im Wert von 21 000 Euro dafür angeschafft hat. Mehr als zwei Monate lang stehen diese schönen, neuen Räume nun schon leer! Wir möchten die Sozialverwaltung an dieser Stelle noch einmal ganz nachdrücklich auffordern, uns die Räume zeitnah zur Nutzung zu übergeben und einen fairen Mietvertrag mit dem Verein abzuschließen. Wir erarbeiten zurzeit einen An-trag zur Aufnahme der ganzjährig geöffneten Notübernach-tung in das Integrierte Sozialprogramm Berlins (ISP) ab 2016. Derzeit werden im ISP gerade einmal zwei ganzjährig geöff-nete Notübernachtungen gefördert, mit insgesamt 83 (!) Plät-zen. Solange der mob e.V. mit seiner Notübernachtung nicht ins ISP aufgenommen ist, müssen wir diese soziale Hilfeein-richtung komplett selbst finanzieren. Deshalb gibt es unsere Spendenkampagne »Ein Dach über dem Kopf«.

Jan Schebaum, Leiter des Flüchtlingswohnheims, Rupert Neudeck, der Namenspatron, und Dr. Andreas Eckhoff, Vorstandssprecher der EJF gemeinnützigen AGes EJF und Geschäftsführer des EJF e.V. (v.l.n.r.) (Foto: Andreas Düllick ©VG Bild-Kunst)

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201522 | TAUFRISCH & ANGESAGT K u l t u r t i p p s

skurril, famos und preiswert!Kulturtipps aus unserer RedaktionZ U S A M M E N S T E L L U N G : R e d a k t i o n

01 OPEN-AIR-AUSSTELLUNG

»Mauerpark. Güterbahnhof-Grenzstreifen-Grünanlage«Im Kaiserreich Güterbahnhof, später Todesstreifen, heute Ausflugsziel: Eine temporäre Ausstellung zeigt in großformatigen Fotos die wechselvolle Geschichte des Mauerparks. Sie ist sonntags ganz in der Nähe des Mauer-parkeingangs Eberswalder-/Ecke Bernauer Straße zu besichtigen. Die Schau ist zudem Ausgangspunkt für einen geführten Rundgang zu einer Reihe weiterer Sehenswürdigkeiten in Prenzlauer Berg. Mit Hilfe einer Tour auf der eigens für das Projekt entwickelten Homepage www.vommauerparkzummu-seum.de gelangen Besucher auf ihrem Weg zwischen Mauerpark und Wasserturm zu insgesamt sieben Sehenswürdigkeiten und Baudenkmälern.

Noch bis zum 30. August, Eintritt freisonntags 11 bis 18 Uhr

Mauerpark, Eingang Eberswalder Straße

Info: www.mauerpark.info

02 RADTOUR

»Luftfahrtgeschichte im Berliner Westen«Auf einer gut zweistündigen Radtour werden spannende und unbekannte Orte der Luftfahrtgeschichte in Gatow und Kladow angefahren. Der Weg führt durch den Neukladower Gutspark entlang der Havel, vorbei an den Gatower Feldern und wieder zurück zum Militärhistorischen Museum. Zur Sammlung des Museums gehören über 300 Luftfahrzeuge, Radar- und Flugabwehrsysteme, die auf dem weitläufigen Gelände des ehemaligen britischen Flughafens besichtigt werden können. Fahrräder der Bundeswehr stehen nur begrenzt nach Anmeldung zur Verfügung.

Am 19. & 26. Juli, Teilnahme kostenlosjeweils 15:30 bis 17:30 Uhr

Anmeldung: Tel: 030/3687-2601 oder E-Mail: [email protected]: Eingangscontainer

Militärhistorisches Museum Am Flugplatz Gatow 3314089 Berlin

Info: www.mhm-gatow.de

04 COMIC-W ORKSHOP

»Heldinnen gesucht«Wie werden Frauen und Mädchen in Comics dargestellt? In diesem Workshop können Jugendliche von zehn bis 17 Jahren ihre eigene Super-Heldin zeichnen. Vorkennt-nisse sind nicht nötig, mitzubringen sind lediglich Spaß am Zeichnen und eine Vorliebe für Comics. Der Workshop wird veranstaltet in Kooperation mit den digital-story-tellers.de.

17. Juli, 17 -18:30 UhrTeilnahme kostenlos

Eine Anmeldung ist nicht erforderlich

Amerika-Gedenkbibliothek, Kinderbibliothek Blücherplatz 1, 10961 Berlin

Info: www.digital-storytellers.de/schnupperkurse/

03 FÜHRUNG

»Pillen & Pipetten«Wieviel Chemie bestimmt unser alltägliches Leben? Können uns Arzneimittel jünger und gesünder machen? Ist Chemie immer nur negativ, ist Natur etwa auch Chemie? Diesen und anderen Fragen geht die Führung durch die Ausstellung »Pillen und Pipetten« im Technikmuseum nach. Die Ausstellung erläutert die Geschichte der chemischen und pharmazeutischen Industrie und die besondere Bedeutung Berlins als Wissenschafts- und Forschungsstand-ort am Beispiel der Firma Schering. Die Führung dauert ca. 60 Minuten.

19. Juli, 15 UhrKosten: MuseumseintrittKeine Anmeldung erforderlich

Treffpunkt im Foyer, neben der Kasse

Deutsches TechnikmuseumTrebbiner Straße 910963 Berlin-Kreuzberg

Info: www.sdtb.de

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VORSCHLAGENSie haben da einen Tipp? Dann

senden Sie ihn uns an:[email protected]

Je skurriler, famoser und preiswerter, desto besser!

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 TAUFRISCH & ANGESAGT | 23 K u l t u r t i p p s

05 FOTOGRAFIE

»Die Ränder des Dokumentarischen«Etwas zu dokumentieren heißt, sich etwas anzueignen. Einen Ort. Ein Leben. Ein Gefühl. In der Ausstellung »Die Ränder des Dokumentari-schen«, stellen sich neunzehn junge Fotografinnen und Fotografen aus dem Berliner Raum vor. Fotografien, Fotobücher, Installationen, Tonauf-nahmen und Texte sind zu Dokumenten ihrer künstlerischen Auseinander-setzung geworden, die ein weites Feld des Dokumentarischen aufspannen. Das Spektrum der thematischen Auseinandersetzung reicht vom städti-schen Raum über die Frage nach Identität bis hin zur verborgenen Sichtbarkeit. Alle Ausstellenden sind ehemalige Studierende von Wiebke Loeper, Professorin an der Fachhochschule Potsdam.

17.7. bis 6.9., Eintritt frei Vernissage am 16.9. um 19 Uhr

Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonntag 13 bis 18 Uhr

Kunstraum Potsdam, Schiffbauergasse 6, 14467 Potsdam

Info: www.waschhaus.de

08 STRASSENTHEATER

»Berlin lacht!«Non-Stop-Bühnenprogramm auf vier Bühnenflächen: Das internationale Straßentheaterfestival »Berlin lacht!« bringt außergewöhnliche Künstler aus verschiedenen Nationen nach Berlin. Junge Zirkuskompanien treten auf, Akrobaten und Akrobatinnen tanzen am Boden und in der Luft. Charakteristisches Clowntheater wird gespielt von Altmeister_innen und Newcomern. Exotische Musikcomedy, Puppentheater, und rasante Feuershows werden gezeigt. Varieté- und Zirkustraditionen werden wiederbelebt und zelebriert. Insgesamt werden bei »Berlin lacht« 150 Künstler und Künstlerinnen in 684 Shows auftreten.

23. Juli bis 9. August, jeweils 12 bis 22 Uhr, Eintritt freiSpenden sind willkommen

Berlin Alexanderplatz

Info: www.berlin-lacht.de

07 FAMILIE

»Seifenblasen, Spiele & mehr«Alle, die nicht in den Urlaub fahren und den Sommer in der Stadt verbrin-gen, können sich im FEZ entspannen: Bootfahren, Riesenspiele spielen, den Öko-Garten erkunden. Oder sich von den schönsten Riesenseifenbla-sen verzaubern lassen und sich selber als Seifenblasenkünstler erproben: Verschiedene Techniken führen zu immer neuen Größen, Formen und Farben. Zu den Angeboten des Familientages gehören auch ein Wasser-spielplatz und ein Lehmbackofen. Das FEZ-Berlin ist Europas größtes gemeinnütziges Kinder-, Jugend- und Familienzentrum.

18. & 19. Juli, 12 bis 18 UhrTicket: 2 Euro (erm. 1,50 Euro), Familienticket: 6,50 Euro (erm. 5 Euro) zzgl. Materialkosten

Straße zum FEZ 2, 12459 Berlin

Info: www.fez-berlin.de | Foto: Peter Pat06 SOMMERFEST

»Botanische Nacht«Mehr als 150 Mitwirkende warten in dieser Nacht mit einer Fülle an Darbietungen auf und ziehen Besucher mit Flamenco, Musette oder Jazz, mit Kabarett oder vor Ort Selbstgebranntem in ihren Bann. Auf verschlun-genen Wegen, in Hainen und an Quellen treiben Faune, kecke Fabelwe-sen und anmutige Naturgeister ihr Spiel. Mimen, Musiker und Märchener-zähler verzaubern auf Wiesen, in Innenhöfen und Pavillons mit ihrer Kunst und laden zum Verweilen ein. Für das Sommerfest werden die Wege des Botanischen Gartens auf insgesamt 16 km Länge aufwendig illuminiert. Der Berliner Botanische Garten in Dahlem gehört zu den bedeutendsten botanischen Anlagen der Welt.

18. Juli, Einlass ab 17 UhrKarten circa 35 Euro

Botanischer Garten Berlin-DahlemKönigin-Luise-Platz14195 Berlin

Info: www.botanische-nacht.de

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201524 | TAUFRISCH & ANGESAGT S p o r t

I N FO

› www.european-homeless-cup.org

› www.homelessworldcup.org

Kicken als LebenshilfeDie Fußball-EM der Obdachlosen in BerlinB E R I C H T : C h r i s t o p h M e w s

Das Fußballjahr 2015 in Berlin hatte nach dem DFB-Pokalfinale und dem Champions League-Endspiel am 26. Juni ein weiteres gewichti-ges Event zu bieten: den »European Homeless Cup«. Der Wettbewerb, der speziell für so-

zial benachteiligte Menschen geschaffen wurde, fand nach München 2013 zum zweiten Mal statt.

Gespielt wurde das nach Street Soccer-Regeln ausge-tragene Turnier mitten in Berlin, auf dem Breitscheidplatz. Direkt zwischen Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche-Kirche und Europa-Center, wo täglich tausende Berliner und Be-sucher der Stadt den Platz zwischen Kurfürstendamm und Budapester Straße passieren oder sich am Weltkugelbrunnen eine Pause gönnen, zeigten acht Wohnungslosen-Teams aus sieben Ländern was sie mit dem runden Leder so alles drauf haben. Organisiert wurde die Veranstaltung mit viel Engage-ment und Herzblut vom Verein »Anstoß! – Bundesvereini-gung für soziale Integration durch Sport« und dem Berliner Verein Gangway e.V. Team an Brennpunkten.

L i t a u e n s c h l ä g t Ö s t e r re i c h i m F i n a l eGewonnen hat das eintägige Event etwas überraschend Li-tauen durch ein 4:2 gegen Österreich. Das mit vielen jungen Spielern gespickte österreichische Team hatte sich noch in den Gruppenspielen mit zum Teil hohen Siegen in die Favoriten-rolle gekickt, scheiterte aber dann im Finale an der cleveren Spielweise der mit nur fünf Spielern angereisten litauischen Mannschaft. Dritter wurde Polen und der Fairness-Pokal ging an die belgische Mannschaft.

S o z i a l e I n t e g r a t i o n d u rc h Fu ß b a l lBeim »European Homeless Cup« geht es aber um mehr als Tore, Titel und Trophäen. Ziel der Veranstaltung ist neben dem gemeinsamen Fußballspielen auf Obdachlosigkeit und soziale Missstände aufmerksam zu machen, sie zu reduzie-ren und Entwicklungsarbeit zu leisten. Teilnehmer, Organi-satoren und Zuschauer kommen hier ins Gespräch und so können Vorurteile abgebaut werden. »Man erkennt einfach, das Menschen die obdachlos sind oder von Obdachlosigkeit bedroht sind, nicht nur Problemfälle sind, sondern auch was leisten können, was zeigen wollen« sagte Stephan von Dassel, Sozialstadtrat von Berlin-Mitte und Schiedsrichter ab dem Halbfinale im Interview mit radioeins.

Dass die richtige Motivation und sicherlich auch eine ge-hörige Portion Glück sehr viel im Leben eines Obdachlosen ändern kann, zeigt die fast märchenhafte Geschichte des Portu-giesen Bebé, der noch 2009 bei der Obdachlosen-Weltmeister-

schaft in Mailand spielte und im Sommer 2010 für neun Millionen Euro vom Fußballklub »Vitoria Guimaraes« zu »Manchester United« wechselte.

D i e S p i e l re g e l nÄhnlich wie bei den Deutschen Meisterschaften und den Weltmeisterschaften der Obdachlosen wird beim »European Homeless Cup« auf einem Kleinfeld – in Berlin mit grünem Plastikunter-grund - von gerade mal 22 mal 16 Meter gespielt. Ein Spiel dauert zweimal sieben Minuten und die teilnehmenden Mannschaften schicken jeweils drei Feldspieler und einen Torwart (plus vier Auswechselspieler, die fließend eingewechselt werden können) auf das Spielfeld. Die besten vier Teams der Vorrunde spielen das Halbfinale aus, die »Verlierer« die weitere Reihenfolge – in die-sem Jahr die Plätze fünf bis acht. Darüber hinaus bekommt jede Mannschaft nach dem Spiel vom jeweiligen Gegner Fairnesspunkte.

Voraussetzung für die Teilnahme an der Meisterschaft ist, dass mindestens die Hälfte ei-ner Mannschaft im letzten Jahr wohnungslos war oder in betreuten Wohnprojekten gelebt hat. Die anderen Spieler müssen diese Kriterien inner-halb der letzten vier Jahre erfüllt haben.

Wa s w a r m i t d e n d e u t s c h e n K i c ke r n ?Die deutsche Mannschaft, »Ocker Beige Berlin«, landete nach zwei Niederlagen zu Beginn des Tur-niers in der Platzierungsrunde der schwächeren Mannschaften. Dort steigerte sich das Team um Kapitän Christian, besiegte die Niederlande und belegte nach einer knappen Niederlage (6:8) ge-gen Ungarn, die wie die polnischen Mannschaft mit einem gemischten Team (Frauen und Män-ner) aufgelaufen sind, am Ende einen ehrbaren sechsten Platz. Gewonnen haben am Ende aber alle Spieler, neue Freundschaften, Selbstver-trauen und die Erfahrung, mal nicht im Abseits sondern mitten auf dem Platz zu stehen. Vom 12. bis 19. September findet in Amsterdam der Homeless Word Cup, die Weltmeisterschaft der wohnungslosen Fußballer, statt. Das Team Ger-many geht selbstverständlich auch wieder an den Start und wird hoffentlich wieder vom DFB mit Trikots etc. unterstützt. Angefragt haben wir!

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 TAUFRISCH & ANGESAGT | 25 S p o r t

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01 Der Kapitän von »Ocker Beige Berlin«, Christian, im Interview(Foto: rWerner Franke)

02 Bezirksstadtrat Stephan von Dassel bei der Siegerehrung (Foto: rWerner Franke)

03 Auch der strassenfeger war dabei (Foto: Christoph Mews)

04 Schnelle Spielzüge und tolle Tore im Spiel Litauen gegen »Ocker Beige Berlin« (Foto: Christoph Mews)

05 Der neue Europameister Litauen (gelbe Trikots) mit der Mann-schaft von »Ocker Beige Berlin« nach der Siegerehrung (Foto: rWerner Franke)

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01 Die Delegierten des INSP-Kongresses (Foto: Stacy Cassin)

02 Blick auf den Mt. Rainier

03 Laura Smith (INSP-Mitarbeiterin) und Maree Aldam (Geschäftsführerin des INSP)

04 Viele Freundschaften entstanden

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 TAUFRISCH & ANGESAGT | 27 I N S P

»Wir verändern die Welt« INSP2015 – Global Street Paper Summit SeattleB E R I C H T & F O T O S : A n d r e a s D ü l l i c k

Unter dem Motto »INSPired Together« und »Wir verändern die Welt« fand vom 23. bis 26. Juni in Seattle das jähr-liche Gipfeltreffen des Internationalen

Netzwerks der Straßenzeitung (INSP) statt.Der erste Gipfel des INSP auf US-amerika-

nischen Boden sollte ein sehr ambitioniertes Tref-fen der Straßenzeitungen der Welt werden, auf dem die Redakteure, Fundraiser, Vertriebsmitarbeiter etc., aber auch die Verkäufer selbst voller Leiden-schaft ihre Ideen und Innovationen austauschten.

Am Vortag der Konferenz hieß die stellver-tretende Bürgermeisterin von Seattle, Hyeok Kim, im Rathaus von Seattle 119 Delegierte von 44 Straßenzeitungen aus 22  Ländern herzlich willkommen. Kim brachte ihre Wertschätzung für die Arbeit der weltweit agierenden Straßen-zeitungen auf einem festlichen Empfang für die Delegierten wie folgt zum Ausdruck: »Es ist mir eine große Ehre, Ihnen anlässlich dieses großarti-gen Treffens hier den herzlichen Dank des Bürger-meisters von Seattle für Ihre unglaubliche Arbeit zu übermitteln.« Kim berichtete weiter darüber, dass das Stadtparlament von Seattle Anfang die-ses Jahres beschlossen hat, bis zu drei legale Ob-dachlosencamps in der Stadt zu genehmigen und empfohlen hat, 40 Millionen Dollar in die lokale Obdachlosenarbeit zu investieren einschließlich der Pläne, 150 neue Betten für Obdachlose in No-tübernachtungen zu schaffen. »All das wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht Organisationen wie die Straßenzeitung in Seattle, »Real Change«, und die anderen Straßenzeitungen auf der Welt unermüdlich dafür kämpfen würden, dass die passenden Mittel gefunden werden, denjenigen Menschen zu helfen, die keine andere Möglich-keit haben als auf der Straße oder unter Brücken zu leben«, fügte Kim hinzu.

»S e a t t l e h a t m e h r O b d a c h l o s e M e n s c h e n a l s j e z u v o r. W i r h a b e n e i n e M e n g e z u t u n h i e r. « Tim Burgess, der Vorsitzende des Stadtparla-ments von Seattle, unterstrich die Wertschätzung für die Delegierten der Straßenzeitungen, die Kim zuvor geäußert hatte, noch einmal. Er for-

der Bewegung der Straßenzeitungen müssen wir wertschätzen.« Harris verwies auch darauf, dass Seattle – obwohl es eine Stadt großer Innovatio-nen und Wachstums sei – mehr obdachlose Men-schen habe als je zuvor. Wir haben jede Menge zu tun!« Er betonte, die Stärke der weltweiten Bewegung der Straßenzeitungen könne zu Verän-derungen inspirieren: »Wir sind hier versammelt als eine Gruppe von Menschen aus aller Welt, um eine Bewegung für wirtschaftliche Gerechtigkeit zu schaffen, die Möglichkeiten für jeden Men-schen bietet. Hier in diesem Raum haben sich gerade eine Menge wirklich erstaunlicher Men-schen versammelt, und wir sind hier, um die Welt zu verändern.«

H i n t e rg r u n d d e s I N S PDas INSP unterstützt zurzeit 115 Straßenzei-tungen in 36 Ländern. Mit einer Leserschaft von insgesamt sechs Millionen Menschen pro Aus-gabe weltweit liefern soziale Straßenzeitungen innovative Lösungsansätze für Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit. Der in jedem Jahr vom INSP gemeinsam mit einer Straßenzeitung ver-anstaltete Gipfel ist das Highlight des INSP-Ka-lenders. Er ist ein einzigartiges Forum, auf dem sich die Kollegen der Straßenzeitungen treffen, Erfahrungen austauschen und Partnerschaften formen können. Viele Innovationen haben ihren Ursprung auf diesen Gipfeltreffen, so auch der erste Homeless World Cup, der nach einem Gip-fel 2001 in Kapstadt ins Leben gerufen wurde. Für viele Straßenzeitungen, die isoliert und mit sehr geringen Mitteln arbeiten müssen, liefert der Gipfel vitale Inspiration, Motivation, Ideen und Hilfe. Er ermöglicht außerdem die Arbeit an netzwerkweiten gemeinsamen Projekten. Da viele Straßenzeitungen nur eingeschränkte Res-sourcen haben, arbeitet der INSP-Vorstand hart am Fundraising um Reisestipendien bzw. kosten-freie Teilnahmen zu ermöglichen. Dafür bedarf es natürlich vieler Sponsoren, die ganz herzlich eingeladen sind, das INSP zu unterstützen.

Auf diesem Gipfel diskutierten die Dele-gierten insbesondere die Themen Verkäufer-angelegenheiten, Hilfe und Obdachlosig-

»Wenn ich in Japan arbeite, fühle ich mich manchmal sehr allein im Kampf gegen Obdach-losigkeit. Doch hier auf unserem Jahrestreffen fühlt es sich ganz anders an. Ich merke, es ist ein globales Anliegen, und wir kön-nen Obdachlosigkeit gemeinsam mit all unseren Straßenzei-tungen weltweit bekämpfen.« (Kayoko Yakuwa, »The Big Issue Japan«)

derte dazu auf, nicht nachzulassen und sich wei-ter leidenschaftlich als Verteidiger der Rechte der Armen und Vergessenen der Gesellschaft einzu-setzen. Fay Selvan, Vorstandsmitglied des INSP und CEO der britischen Straßenzeitung »Big Issue North« lobte das INSP dafür, diesen sehr speziellen weltweiten Event ermöglicht zu haben. »Armut ist ein internationales Problem, mit dem wir alle auf verschiedene Art und Weise konfron-tiert sind. Dieser Gipfel ist eine großartige Gele-

genheit für unser Netzwerk, sich hier zu treffen und miteinander zu sprechen und sich über die Neuerungen in unseren verschiedenen Straßen-zeitungen auszutauschen.« Tim Harris, Mitglied des Vorstands des INSP und Chef der Straßen-zeitung in Seattle, »Real Change« betonte: »Wir sind alle sehr verschiedene Straßenzeitungen und sind entsprechend der unterschiedlichen Heraus-forderungen und Erfahrungen, mit denen wir konfrontiert waren, gewachsen. Diese Vielfalt in

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201528 | TAUFRISCH & ANGESAGT I N S P

keit und tauschten sich über Strategien & Geschäftsentwicklungen, redaktionelle Arbeit & Design, Fundraising & Marketing aus.

G r u n d s a t z re fe r a t e g e b e n I N S P i r a t i o n Auf diesem Gipfel gab es drei sehr wichtige Grundsatzreferate zu den Themen Wirtschaft, Journalismus und Politik. Sie sollten die Dele-gierten anregen und motivieren. Eric Liu for-derte dazu auf, nicht nur die Stimme zu erheben, sondern auch Macht einzufordern. Liu ist der Gründer der Bürger-Universität, Bestseller-Au-tor, weltbekannter Journalist, Professor der Uni-versität von Washington und früherer Ghostwri-ter von EX-US-Präsident Bill Clinton.

Der frühere Redakteur der »Seattle Times« und Pulitzer-Preis-Gewinner Mike Fancher un-terstrich, dass Straßenzeitungen einen journa-listisches Modell der Zukunft seien. Er sprach in seiner Keynote auch darüber, wie Journalisten im digitalen Zeitalter ethische Standards setzen können. Fancher ist Interims-Direktor des Zen-trums für Journalismus, Innovation und Zivilen-gagement am der Universität von Oregon. Kyle Kesterson berichtete in seiner ermutigenden Rede über seinen schwierigen Weg aus der Ob-dachlosigkeit herauszukommen und schließlich zum Direktor seiner eigenen, sehr erfolgreichen Firma zu werden.

N e u e We b s e i t e d e s I N S P v o rg e s t e l l twww.INSP.ngo – das ist der Name der neuen Web-seite, die der INSP-Vorstand am ersten Tag des Gipfeltreffens stolz den Delegierten präsentierte. Die neue Webseite mit ihrem flexiblen, vielfältig nutzbaren und intuitiven Design soll der Hafen sein für alle Neuigkeiten und Berichte von und über das globale Netzwerk. Während der nächs-ten Monate wird der Vorstand mit seinen Mitar-beitern weiter am Mitglieder-Bereich arbeiten mit dem Ziel, dass alle Straßenzeitungen dort ihre vielfältigen Ideen und Ressourcen teilen können.

I N S P A w a rd s 2 0 1 5Die Gewinner der zwölf INSP Awards 2015 wurden auf einem Gala Dinner im »Campion Ballroom« der Universität von Seattle geehrt. In diesem Jahr kamen zu den alten Awards bezüg-

lich herausragender redaktioneller Leistungen neue Preise hinzu, die den Einfluss von Straßen-zeitungen hinsichtlich von Kampagnen, Marke-ting und Sozialwirtschaft würdigen. So wurde z. B. die jüngste Straßenzeitung des INSP, »Mi Valedor« aus Mexiko, mit dem Preis für das beste Design ausgezeichnet. Mit »The Curbside Chro-nicle« aus Oklahoma City erhielt eine weitere sehr junge Straßenzeitung den Preis für das beste Cover. Die griechische Straßenzeitung »Shedia« wurde für den am meisten nachgedruckten Arti-kel des INSP geehrt. Das Exklusiv-Interview mit dem englischen Fotografen Levon Biss »Soccer through a lens” von Thanos Sarris wurde dank des INSP News Service in Straßenzeitungen in Portugal, den USA, in Irland, Mexico, den Nie-derlanden, Deutschland, Japan und Polen ver-öffentlicht. Bestes Nachrichten-Feature wurde »Milano Centrale: a resting stop for refugees« von Jonas Füllner (Hinz&Kunzt Hamburg). Als bestes Kultur-Feature wurde »Sir David Atten-borough: 88 and still flying high« von Sylvia Pat-terson (The Big Issue UK) geehrt. Den Preis für das beste Foto bekam Juhan Kuus von »The Big Issue South Africa«.

N e u e Vo r s t a n d s m i t g l i e d e r d e s I N S P g e w ä h l tDas INSP hat auf seiner abschließenden Jahres-hauptversammlung zwei neue Mitglieder in den Vorstand gewählt: Thiago Massagardi aus Bra-silien von der Straßenzeitung »OCAS« und Tim Harris von der Straßenzeitung »Real Change«. Tim Harris hatte schon seit November 2014 im Vorstand kommissarisch gearbeitet. Tim betonte nach seiner Wahl: » Das INSP wird immer stär-ker und ich finde es sehr aufregend, mit dieser außerordentlichen Gruppe von Menschen daran zu arbeiten, diese großartige Bewegung weiterzu-entwickeln. Die besten Tage des INSP liegen noch vor uns.« Thiago ergänzte: » Es war ein großarti-ges Gipfeltreffen, und ich bin wirklich sehr auf-geregt, jetzt Mitglied des Vorstands des INSP zu sein. Ich freue mich riesig über die Unterstützung, die ich von den Delegierten bekommen habe. Si-cher, wir haben eine große Verantwortung und es gibt wirklich viel zu tun. Ich werde mein Bestes geben für das INSP und all die Straßenmagazine weItweit.« INSP Geschäftsführerin Maree Aldam

I N FO

› www.INSP.ngo

sagte: »Ich möchte mich bei Trudy Vlok (»Big Issue Südafrika«) ganz herzlich für ihre sechs-jährige Arbeit im INSP-Vorstand bedanken. Wir werden ihre Freundschaft und ihre Unterstützung vermissen und wir wünschen ihr alles Gute für die Zukunft. Unser neuer Vorstand – bestehend aus Menschen aus Großbritannien, der Schweiz, Brasilien und den USA – repräsentiert die große Vielfalt unseres Netzwerks. Er wird unterschied-lichste Fähigkeiten, Perspektiven und Erfahrun-gen einbringen und damit absichern, dass das INSP die bestmögliche Unterstützung für unsere Mitglieder liefern wird.«

Wer mehr über unsere Arbeit lesen möchte, kann gern die neue Webseite www.INSP.ngo besuchen. Dort findet man auch einige Infor-mationen zum nächsten Gipfel, der 2016 in der griechischen Hauptstadt Athen stattfinden wird.

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05 Besuch in der Obdachlosen-Zeltsiedlung 3

06 + 07 Verkäufer von »Real Change« aus Seattle

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Soziale Beratung( S c h w e r p u n k t H a r t z I V )

D i e n s t a g s 1 5 – 1 7 U h r

i n d e r S t o r ko w e r S t r. 1 3 9 d»A L L E A N G A B E N O H N E G E WÄ H R«

strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 AUS DER REDAKTION | 29 R a t g e b e r

I N FO

Mehr zu ALG II und SozialhilfeDer neue Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A–Z (Stand Juli 2013)

› erhältlich für 11 EUR im Büro des mob e.V., Storkower Str. 139d,, oder zu bestellen bei: DVS, Schumanstr. 51, 60325 Frankfurt am Main,

› Fax 069 - 740 169

› www.tacheles-sozialhilfe.de › www.erwerbslosenforum.de

Überbrückungsgeld nach HaftentlassungURTEILE DES BUNDESSOZIALGERICHTS TEIL 2R A T G E B E R : J e t t e S t o c k f i s c h

Das BSG hat am 28.10.2014 (B 14 AS 36/13 R) entschieden, dass Überbrückungsgeld im Mo-nat der Antragstellung zum Einkommen zählt und für vier Wochen nach Haftentlassung dem Lebensunterhalt dient und somit vorrangig ein-

gesetzt werden muss.

Aus dem Urteil: »Das Überbrückungsgeld ist aufgrund der öffentlich-rechtlichen Vorschrift des § 51 StVollzG eine Leis-tung die iS des § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II zu einem ausdrück-lich genannten Zweck erbracht wird. Denn das Überbrü-ckungsgeld soll nach § 51 Abs.1 StVollzG »den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsbe-rechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Haftentlas-sung sichern.« Damit dient es demselben Zweck wie das Alg II als eine der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II...«

Im verhandelten Fall war der Inhaftierte am 12.6.2012 ent-lassen worden. »Das dem Kläger am Haftentlassungstag aus-gezahlte Überbrückungsgeld ist eine einmalige Einnahme iS des § 11 Abs.3 SGB II. Bei diesen Einnahmen erschöpft sich das Geschehen in einer einzigen Leistung, anders als bei lau-fenden Einnahmen, die auf demselben Rechtsgrund beruhen und regelmäßig erbracht werden...« Somit wurde das Über-brückungsgeld vom 13.6.2012 bis zum 10.7.2012 als Ein-kommen angerechnet. Hervorzuheben ist, dass diese Zeit auf den Tag genau vier Wochen beträgt und nicht einen Monat.

Eigentlich hätte dieses Geld Vermögen sein müssen, denn es wurde vor dem Bezug von Hartz IV während des Gefängnis-aufenthalts angespart. Aber auch hier hat das BSG (auch in an-deren Fällen) einen Modus gefunden, Betroffene zu enteignen.

»Maßgebliches Differenzierungskriterium für die Abgren-zung zwischen Einkommen und Vermögen ist grundsätzlich der Zeitpunkt des tatsächlichen Zufl usses bereiter Mittel: Da-nach ist Einkommen iS des § 11 Abs.1 Satz 1 SGB II alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen iS des § 12 Abs. 1 SGB II das, was jemand vor Antragstellung bereits hatte... An der Maßgeblichkeit dieses Differenzierungskriteriums zwischen Einkommen und Vermögen ist auch für das Überbrückungsgeld nach § 51 StVollzG festzuhalten. Denn vor der Haftentlassung und Auszahlung durch die Justizverwaltung kann der Gefangene

über das Geld nicht frei verfügen; das Überbrü-ckungsgeld-Konto ist nicht mit einem Sparbuch vergleichbar, auf dem mit bereits erlangten Ein-künften von dem Gefangenen ein gezielter »Ver-mögensaufbau« betrieben wurde...«

ABER: Hätte der am 12.6.2012 Entlassene erst am 1.7. 2012 einen Hartz IV-Antrag gestellt, hätte er zwar im Juni von den 1335,22 Euro aus-gezahltem Überbrückungsgeld leben müssen, hätte aber dann ab 1.7.2015 Alg II in voller Höhe für den Monat erhalten. Denn dann wäre es Ver-mögen gewesen. Die Begründung des BSG, die ihn bei der Enteignung des Überbrückungsgel-des als Einkommen traf, greift dann nicht mehr, da das Überbrückungsgeld nicht im ANTRAGS-MONAT ausgezahlt wurde. Manchmal kann es eben sinnvoll sein, einen Hartz IV- Antrag später zu stellen. Ist das Überbrückungsgeld jedoch ge-ringer als der ALG II-Bedarf für vier Wochen, sollte der Hartz IV-Antrag sofort nach der Ent-lassung gestellt werden.

Kosten der UnterkunftObwohl es sich hier nicht um ein Urteil des BSG handelt, ist die Entscheidung des SG Mainz sehr wichtig. Das SG Mainz hatte den Mut, an das Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 100 Grundgesetz einen Vorlagebeschluss zu machen. Es hält den § 22 Abs.1 Satz 1 SGB II insofern für verfassungswidrig, als der Anspruch auf Über-nahme der Aufwendungen für die Unterkunft zwar begrenzt, aber nicht hinreichend bestimmt ist. Näheres dazu bei o.g. Adresse von Tacheles unter Rechtsprechungsticker 20.KW Nr.7. Wer sich mit den Kosten der Unterkunft näher be-schäftigen will: Lesenswerter Aufsatz von Bernd Eckhardt zu den ungedeckten Unterkunftskos-ten, sowie Empfehlungen des Deutschen Verein zu Miet- und Stromschulden ebenfalls bei Tache-les, Rechtsprechungsticker 20.KwW Nr.10.

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 201530 | AUS DER REDAKTION K o l u m n e

Karikatur: Andreas Prüstel

Aus meiner SchnupftabakdoseK O L U M N E : K p t n G r a u b ä r

Wir hatten mal einen Kanzler, der machte kur-zen Prozess. Basta! war sein Lieblingswort. Da wurde nicht lange diskutiert, da wurde entschieden, von ihm entschieden. Die Zei-ten sind vorbei. Nun wird bei Frau Merkel

auch nicht lange diskutiert, jedenfalls nicht mit ihr. Dafür hört sie still zu, wägt ab, was die Leute so alles sagen, und wenn sie schließlich einen eindeutigen Trend, der ihr gefällt, verspürt, sagt sie mit entschiedener Stimme »Ich auch!«. Das ist dann ihre Richtlinienkompetenz in der sanftesten Form. Die Leute mögen das, denn nichts ist dem Bürger mehr zuwider als Streit.

Die Geduld der Kanzlerin hat jedoch auch ihre Grenzen. Was sie überhaupt nicht ab kann, ist Dummheit. Dann macht auch sie kurzen Prozess. Das hat sie uns vorgeführt, als die grie-chische Regierung allen Ernstes durch eine Volksabstimmung entscheiden wollte, wie die Schuldenfrage zu lösen ist. Jeder Straßenbahnschaffner und Bergbauer, jede Hausfrau und jede Blumenverkäuferin, jeder Rentner und jeder arbeitslose Jugendliche sollte entscheiden, wie es mit dem griechischen Volk weitergehen soll. Eine größere Dummheit kann man sich doch wirklich nicht vorstellen.

Da geht es doch um Geld, viel Geld sogar. Wissen die Leute überhaupt, wie viele Nullen eine Milliarde Schulden machen? Es muss auch gerechnet werden. Wie sollen da Leute vernünftig abstimmen, die in der Schule im Kopfrechnen schwach waren? Was versteht ein Sonnenbrillenverkäufer am Strand von Kreta von den globalen Märkten? Wird bei solchen Abstimmungen überhaupt rational entschieden, oder wollen nur ein paar zu kurz Gekommene »denen da oben« mal eins auswischen?

Mit der Volksbefragung hat die griechische Regierung die Axt an die Wurzeln des europäischen Wertesystems gelegt. Nur ausgewiesene Fachleute können richtige Entscheidungen fäl-len. Wer das ist, wird nicht gewählt, sondern berufen. Darum spricht man ja auch von Berufspolitikern. Die sind so beschei-

den und sagen stets: »Ich hab mich nie gedrängt, ich bin stets berufen worden.« Diese Experten sagen uns, was gut für uns ist, auch wenn es nicht immer danach aussieht. Weil wir ihre weisen Ratschlüsse nicht verstehen, brauchen wir sie, denn wir sind ja offensichtlich zu dumm und uneinsichtig.

In Griechenland haben die Bürger nun gegen die Experten in Brüssel entschieden. Das wird schlimm enden. Natürlich werden die Experten jetzt böse sein und eine zusätzliche Lehr-stunde für die Griechen abhalten. Denn wenn sie das jetzt durchgehen lassen, kann das schnell in anderen Ländern und bei anderen Problemen Nachahmer finden. Unser schönes Eu-ropa würde zum Opfer einer neuen Politik, die die Griechen in ihrer Sprache schon δεμοκρατια nennen, und sie empfehlen uns, das nachzumachen. Als ob wir mit so fremden Dingen etwas anfangen könnten. Das gehört rechtzeitig eingedämmt.

Einige haben ja schon Blut geleckt und fordern nun solche Volksabstimmungen in ganz Europa. Können Zyprioten und Iren wirklich beurteilen, was für uns gut sein soll? Selbst in Deutschland wäre es doch problematisch, wenn Bayern, Schwaben und Rheinländer entscheiden wollen, was für Ber-lin und Brandenburg zweckmäßig und nützlich ist. Und mal ehrlich: Verstehen die Lichtenberger und Charlottenburger, was den Leuten in Lübars und Schmöckwitz auf den Nägeln brennt? Am besten entscheidet jede Familie für sich selbst, was für sie Gesetz sein soll.

Noch ging es ja bei Volksabstimmungen nur immer um Kleinig-keiten, um die paar Milliarden Euro, die es sowieso nur auf dem Papier gibt, oder bei uns um das Tempelhofer Feld, was nur eine große Brache ist. Wie gefährlich diese neue Form von Politik ist, werden wir erst merken, wenn es um wirklich Wichtiges geht, zum Beispiel um die Einführung einer Kehrwoche, das Links-stehen auf der U-Bahnrolltreppe oder die Bepflanzung von Baumscheiben. Hüten wir uns davor, und sollen die Griechen zusehen, wie sie mit ihrer δεμοκρατια weiter kommen.

Page 31: strassenfeger Ausgabe 14/2015 - URLAUB

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Sehr geehrtes Team vom strassenfeger,

bei meinem letzten Berlin-Besuch hab ich ein Exemplar Ihrer tollen Zeitschrift ergattert. Ich gestehe es war das erste und hoffentlich nicht das letzte Mal! Ich fi nde Ihre Arbeit und das, was Sie schaffen einfach wundervoll! Es sollte mehr Menschen geben, die anderen, die wenig oder nichts besitzen, eine Chance geben. Sie verdienen meinen höchsten Respekt und Achtung. Es ist immer schade, dass viele Ihrer »Mitarbeiter« nicht beachtet werden. Es macht mich ehrlich gesagt auch traurig. Wenn ich in Berlin leben würde (was vielleicht bald der Fall sein wird), würde ich Sie gerne unterstützen, vor Ort und mit den Menschen. Auch möchte ich Ihnen eine kleine Spende zukommen lassen.

Ich glaube, dass die Menschen, die Sie erreichen mit Ihrer Arbeit, Sie als Geschenk ansehen. Sie sind wie Engel, die anderen einen Lichtblick im grausamen Alltag geben, die Zuspruch geben, weiter zu machen, die einen Sinn geben, mit sich etwas anfangen zu können. Ich möchte mich jetzt nicht als typischen »Fan« darstellen, aber ich bewundere Ihre Arbeit und Ihren Dienst am Menschen sehr. Sie verdienen viel mehr Anerkennung!

Ich selbst bin Krankenschwester und erlebe, wie viel Leid Menschen im Leben ertragen müssen. Und es tut wirklich gut zu wissen, dass es besondere Juwelen wie Sie gibt, die dem Leben vieler einen Lichtblick geben. Ich möchte hiermit einfach »DANKE!« sagen und Sie bitten, diesen Weg weiter zu gehen! Danke, dass es Sie gibt!

Ganz liebe Grüße und alles Beste!Ihre Güliser Duru

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strassenfeger | Nr. 14 | Juli 2015 AUS DER REDAKTION | 31

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Leserbrief

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Ein Dach über dem Kopf

Die Spendenkampagne »Ein Dach über dem Kopf« wurde von mob – obdachlose machen mobil e.V. und der sozialen Straßenzeitung strassenfeger gestartet, um obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen wirksam helfen zu können. Damit mob e. V. und strassenfeger diese Menschen wirksam und nachhaltig unterstützen kann, brauchen wir dringend Ihre Hilfe!

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