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Christian Thies Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie Vorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 2009/10 (Zehnte Sitzung 22.12.2009)

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Christian Thies

Kultur-, Sozial- und Geschichtsphilosophie

Vorlesungan der Philosophischen Fakultät

der Universität Passauim Wintersemester 2009/10(Zehnte Sitzung 22.12.2009)

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22.12.2009 Christian ThiesVorlesung WS 2009/10

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Zehnter Termin (22.12.2009)

(1) Wiederholung – Ergänzungen – Fragen

(2) Jürgen HABERMAS

(3) Ausblick auf den nächsten Termin

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Klassische (deutsche) Geschichtsphilosophie

• KANT POPPER: wir können die Geschichte so betrachten, als ob es in ihr einen Fortschritt zu demokratischen Institutionen gibt – und entsprechend handeln

• HEGEL FUKUYAMA: wir sind am „Ende der Geschichte“ angelangt, weil es keine besseren normativ-politischen Ideen mehr gibt

• MARX WALLERSTEIN: die Geschichte ist weiterhin geprägt durch soziale Antagonismen

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Jürgen Habermas

1929 geboren1954 Promotion bei Rothacker

über Schelling1956 Assistent von Adorno1961 Professor Heidelberg1962 Habilitation bei Abendroth1964 Professor Frankfurt a. M.1971 Direktor Starnberg1983 Rückkehr nach Frankfurt1994 Emeritierung

Zahlreiche öffentliche DebattenZahlreiche Preise

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Die wichtigsten Schriften

1962 „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

1968 „Erkenntnis und Interesse“

1976 „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“

1981 „Theorie des kommunikativen Handelns“

1985 „Der philosophische Diskurs der Moderne“

1992 „Faktizität und Geltung“

2005 „Zwischen Naturalismus und Religion“

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Das Projekt der Moderne

• Weiterführung der Aufklärung• aber nicht in ihrer szientistischen und nicht in ihrer

individualistischen Variante• Anknüpfung an KANT: die Einheit der Vernunft in der Mehrzahl

ihrer Stimmen• Anknüpfung an HEGEL: die Entwicklung der Vernunft• Anknüpfung an MARX: der problemerzeugende Charakter der

kapitalistischen Ökonomie• „Aufhebung“ der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule• (seit 1970) „kommunikationstheoretische Wende“ (von

Subjektivität zu Intersubjektivität, vom Bewusstsein zur Sprache)

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Geschichte bei Habermas

1958: empirisch falsifizierbare Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht

1970er Jahre: Theorie der sozialen Evolution als Überwindung der klassischen Geschichtsphilosophie

1986/87: „Historikerstreit“

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Absetzung von der klassischen Geschichtsphilosophie

• kein Makrosubjekt „Gattung“aber Gesellschaften, die sich entwickeln bzw. lernen können

• keine Aussagen zum weiteren historischen Verlauf möglichaber Aussagen über Entwicklungspotentiale, die noch nicht

ausgeschöpft sind

• keine notwendige, kontinuierliche und unumkehrbare Entwicklungaber eine hierarchische Abfolge von Strukturen (Sequenz)

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Wichtige Merkmale

• Unterscheidung zwischen „Logik“ und „Dynamik“ der Entwicklungdie materielle Reproduktion löst Krisen aus, aber die Lösungen

müssen kognitiv vorbereitet sein

• mehrere voneinander unabhängige („eigensinnige“) Entwicklungsdimensionen (a) Arbeit technisch-ökonomischer Fortschritt („Weltbilder“)

(b) Interaktion sozial-integrativer Fortschritt (Konfliktregelungsmechanismen, Organisationsprinzipien)

(c) Selbstbilder Fortschritt der Identitätskonzepte

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Die Grundidee

Es gibt in einigen Bereichen eine Homologie zwischen

der Ontogenese und der Phylogenese.

Einschränkungen:• nur für Strukturen, nicht für Inhalte• nur für die Logik, nicht die Dynamik der Entwicklung• viele Individuen weichen vom Strukturniveau ab, viele eilen ihm

voraus ( Legitimationskrise)• frühe Stufen der Ontogenese haben kein phylogenetisches

Pendant

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Zusatz zur Grundidee

Die Homologie mit einer rational nachvollziehbaren

Ontogenese erlaubt die reflexive Rekonstruktion der

überwundenen phylogenetischen Entwicklungsniveaus.

nicht-empirischer Kern der Geschichtsphilosophie

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Rückgriff auf die Entwicklungspsychologie

• Ansatz eines „dynamischen Strukturalismus“• begründet von Jean PIAGET (1896-1980)• vor allem für den Bereich der kognitiven

Entwicklung(Entwicklung von Zeit- und Raumvorstellungen, des logisch-

mathematischen Denkens, naturwissenschaftlicher Kategorien

usw.)

• weiterentwickelt für die Dimension der normativen Entwicklung von Lawrence KOHLBERG (1927-1987)(Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz, vor allem bei

Gerechtigkeitsfragen)

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Ein abgewandeltes Stufenschema

Stufe Sozialer Horizont Normative Orientierung

1 Dyade Strafe und Gehorsam

2 Reziprozitätsbeziehungen beidseitige Bedürfnisbefriedigung

3 Gemeinschaft Beliebtheit durch Rollenkonformität

4 Gesellschaft Gesetz und Ordnung (Loyalität)

5 globale Kooperation Sozialvertrag

6 erweiterte Menschheit universale Prinzipien

7 … …

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Theorie der sozialen Evolution

Kohlberg-Stufe Organisationsprinzip Gesellschaftsformation

(2) Gegenseitige Bedürfnisbefriedi-gung

Verwandtschaftssystem Stammesgesellschaften

(3) Soziale Angemessenheit

Stratifizierte Gesellschaften

Archaische Hochkulturen

(Mesopotamien, Ägypten usw.)

(4) Recht und Ordnung

Imperien Entwickelte Hochkulturen

(etwa das Römische Reich)

(5) Universalismus Weltmarkt und Nationalstaat

Europäische Neuzeit

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Stufen der Rechtsentwicklung(vgl. Habermas, TdkH II: 260)

Niveau der normativen Entwicklung

Begründungs-modus

Recht und Staat

prä-konventionell

personal individuell verfügtes Recht

offenbartes Recht

konventionell 1. traditional

2. normbezogen

säkulares Recht

(und Gesetzesethik)

post-

Konventionell

prinzipienorientiert formales Recht

(und Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik)

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Abfolge von Legitimationsmodi1. mythisch

narrativ durch heilige Erzählungen (Differenz sakral/profan)(a) Weltschöpfung (b) Kulturentstehung (Natur-Kultur-Differenzierung)

2. metaphysisch-religiöstranszendente Legitimation (Differenz Immanenz-Transzendenz)(a) vom Polytheismus zum Monotheismus („mosaische Unterscheidung“)(b) Ausbildung einer Sphäre der Subjektivität (Innen-Außen-Differenz)

3. wissenschaftlichDifferenz überprüfbar/nicht überprüfbar(a) naturwissenschaftlich zweckrational (b) normativ wertrational (Differenz Sein-Sollen)

4. diskursivDifferenz subjektiv/intersubjektiv(a) Beschränkung auf konsensuell lösbare Fragen (Differenz Glück-Moral)(b) Inklusion aller Beteiligten und Betroffenen

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„Dialektik des Fortschritts“(vgl. Habermas 1976: 179-183)

Mit jeder Problemlösung tritt ein neues Problem auf.

1. Wildbeutergesellschaften – Kampf gegen die äußere Natur – Sieg durch komplexere Sozialverbände

2. Hochkulturelle Gesellschaften – Ringen um Rechtssicherheit – ermöglicht durch rationale Weltbilder (auch religiöser Art)

3. Industriegesellschaften – Streit um angemessene Verteilung des Reichtums – gemildert in demokratischen Wohlstands- gesellschaften

4. post-industrielle Moderne – Sinnverlust – ?

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„Historia magistra vitae“

Wie und was kann man aus der Geschichte lernen?(a) Sammlung nachahmenswerter Beispiele – weil

letztlich immer alles gleich bleibt

(b) Geschichtsmetaphysik – weil Vernunft alles bestimmt

(c) Historismus – das Eigene im Fremden erkennen

(d) Hermeneutik – Aneignung und Fortbildung einer wirkmächtigen Tradition

(e) Kritik – Wir lernen, was wir nicht tun sollten

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Zwei wichtige Defizite

in den Geschichtsphilosophien von Kant, Hegel und Marx sowie ihren Nachfolgern

(1) Fortschritt• Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Totalitarismus• Grenzen des Wachstums und ökologische Krise• generell Berücksichtigung der Kosten des Fortschritts

(2) Eurozentrismus• andere „Kulturkreise“• von der nationalen zur globalen Demokratie?• Begründung der normativen Maßstäbe