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2|2011 G 3777 FACHZEITSCHRIFT DES BDP ZEITSCHRIFT DES BERUFSVERBANDES DEUTSCHER PSYCHOLOGINNEN UND PSYCHOLOGEN E.V. 36. JAHRGANG FEBRUAR 2011 reportpsychologie WWW.BDP-VERBAND.DE Von Facebook, Twitter und einer Völker- wanderung ins Netz Forschungsthemen und Anwendungen der Positiven Psychologie Sozialrechtlicher Zwang zur Psychotherapie? WOGE WOGE

RP 2-2011 Leseprobe

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Report Psychologie 2/2011 Leseprobe: Von Facebook, Twitter und einer Völkerwanderung ins Netz.

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G 3777FACHZEITSCHRIFT DES BDPZEITSCHRIFT DES BERUFSVERBANDES DEUTSCHERPSYCHOLOGINNEN UND PSYCHOLOGEN E.V.36. JAHRGANGFEBRUAR 2011

reportpsychologieW W W . B D P - V E R B A N D . D E

Von Facebook, Twitterund einer Völker-wanderung ins Netz

Forschungsthemen und Anwendungen der Positiven Psychologie Sozialrechtlicher Zwang zur Psychotherapie?

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Von Facebook, Twitter und einerVölkerwanderung ins Netz BUKO 2010 in Hameln baute Vorurteile ab, entzündete Begeisterungund ermutigte zur Nutzung der Neuen Medien und ihrer Communitys

»handy&[email protected]« – so hatte dieSektion Schulpsychologie ihren jüngsten Bun-

deskongress überschrieben und sich dabei das Ziel ge-setzt, die Lebenswelten von Erwachsenen und Kindernund Jugendlichen ein Stück näher aneinanderzurücken.Damit das gelingen konnte, wurden aus Wissenschaftund Praxis eine ganze Reihe von Referenten gewonnen,die sich nicht nur mit dem Thema intensiv beschäftigen,also sachkundig darüber reden können, sondern dieauch selbst mit Begeisterung im Internet unterwegssind, die die Möglichkeiten der Neuen Medien täglichnutzen und geradezu ansteckend darüber berichteten.Ihre Faszination übertrug sich auf große Teile der Zu-hörer. Das Feuerwerk, mit dem Prof. Dr. Peter Kruse denBUKO eröffnete und in dem er in einem der Entwick-lung des Internets und der Communitys in diesem Netzangepassten Tempo Fakten über Fakten ausschüttete,dabei Politik, Wirtschaft und Bildung gleichermaßenberücksichtigte, erzeugte ganz unterschiedliche Reak-tionen. Viele Zuhörer verließen nach seinem Vortrag po-sitiv erregt den Raum, andere waren geradezu erschla-gen, und der eine oder andere musste sich insgeheimeingestehen, von etlichen der beschriebenen Entwick-lungen und Möglichkeiten keine Ahnung gehabt zu ha-ben. Und das galt nicht nur für die beiläufige Erwähnungder Tatsache, dass Facebook inzwischen die drittgrößte»Nation« der Welt ist und eine – durch Zahlen klar be-legte – regelrechte Völkerwanderung ins Netz stattfin-det. In den folgenden Tagen untermauerten und er-gänzten weitere Vorträge und Workshops diese außer-gewöhnliche Einführung.

Die Macht des Webs kann Beziehungen verändern und verwirrenStefan Drewes, Vorsitzender der Sektion Schulpsycho-logie, der den Kongress eröffnet hatte, sprach darüber,wie neue Medien die Beziehungen zwischen Schülernund Lehrern, aber auch zwischen Eltern und Kindern ver-ändert haben. Erwachsene hätten heute oft keine Vor-stellung davon, was in den Freiräumen ihrer Kinder ge-schieht. Während sie sich noch durch die Bedienungs-anleitung für ihr neues Handy quälten, bewegten sichKinder und Jugendliche virtuos durch die Welt derNeuen Medien. Das führe zu Verunsicherung, manchmalMisstrauen. Lehrer und Eltern bräuchten in dieser Si-tuation unbedingt Beratung. Wer beraten wolle, müsseaber selbst kundig sein. Er danke dem BDP für die Un-terstützung, die die Sektion seit Jahren erfahre und dieletztlich solche Kongresse möglich mache. Er verbanddies mit einem Appell, sich diesem einzigen Verbandpraktisch tätiger Psychologen anzuschließen und sich

mit dieser starken Kraft im Rücken für die Belange derSchulpsychologie und der Profession zu engagieren.Dank ging auch an alle Kolleginnen und Kollegen, die beider Vorbereitung aktiv waren, und an alle, die einen Fo-towettbewerb und eine Ausstellung organisiert hatten,in der Schulpsychologen ihren Arbeitsalltag aus ver-schiedenen Blickwinkeln und mit Humor abgebildet sa-hen.

Impulse für die eigene Arbeit und neue –teils überraschende – ErkenntnisseWas brachten die Vorträge von Peter Kruse, Uwe Ha-sebrink, Jens Hoffmann und vielen anderen sowie diezahlreichen Workshops, zwischen denen sich zu ent-scheiden oft schwerfiel, den Teilnehmern? Hier nur ei-nige wenige Stimmen, die für ein insgesamt sehr posi-tives Feedback stehen: Neue Impulse für die eigeneArbeit gewann nicht nur Sandra Rausch aus Mannheim.»Ich bin sehr zufrieden mit vielen neuen Ideen nachHause gefahren«, schreibt sie. Besonders imponiert habeihr die Sichtweise von Kruse, wonach das Internet sehrstark zu demokratischen Prozessen einlädt und dieseauch in neuen Formen ermöglicht. Im Workshop vonMoritz Becker sei ihr dann sehr deutlich geworden,dass das Internet zudem für Jugendliche Freiräume undGelegenheiten zu Abenteuern bietet, die in Zeiten derRundumbetreuung seltener geworden sind. Petra Schus-ter aus Hessen ist überzeugt, dass die Eindrücke und Er-kenntnisse vom Kongress ihren Arbeitsalltag beeinflus-sen werden. »Meine Einstellung gegenüber den NeuenMedien, die ich bisher zwar schon als Chance für einenschnellen Informationsaustausch gesehen habe, die ichim Hinblick auf Jugendliche aber auch als risikobehafteteingeschätzt habe, hat sich ein ganzes Stück zum Posi-tiven verschoben. Die Möglichkeit des sozialen Aus-tauschs birgt die Chance der Meinungsbildung undkann somit sicher ein Stück gelebte Demokratie sein,was ich bisher so nicht wahrgenommen habe.« DurchVorträge und Gesprächsrunden habe sie auch besserverstanden, wie wenig Jugendliche zum Teil zwischenrealer und virtueller Welt trennen. Es erscheint ihr wich-tig, dies bei der Beratung mit zu bedenken. Weiterschreibt sie: »Die Gefahren, die von Foren für Menschenmit Suizidgedanken bzw -absichten oder Essstörungenausgehen können, waren mir so nicht präsent. Die Ver-herrlichung des Suizids, das Erheben von Essstörungenzum Lifestyle hat mich erschreckt, und ich werde diesesWissen sicher auch in explorativen Gesprächen berück-sichtigen.« Auch Karin Ahrens gibt dem Kongress gute Noten. ImNachhinein würde sie einen anderen Titel wählen, z.B.

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r e p o r t fokus

»Vernetzte Junged – neue Bildungschancen, Lehr- undLernqualität, Motivation und Gefahren«. Die Vorträgeund Workshops seien inhaltlich anspruchsvoller gewe-sen, als sie beim Lesen des Themas erwartet hatte. »Be-sonders den psychologischen Komponenten wurdeRechnung getragen, das Für und Wider des Internet-einsatzes angemessen erörtert.«

Viele Gemeinsamkeiten trotz föderaler StrukturDr. Ute-Birgit Klaeger aus Sachsen-Anhalt erinnert sichbesonders an Prof. Hasebrinks Vortrag und die von ihmvorgestellten Daten aus den wissenschaftlichen Unter-suchungen zur Nutzung sozialer Netzwerke im Internetdurch Jugendliche, außerdem an die Vorstellung ein-zelner sozialer Netzwerke und Internetplattformen so-wie die Wiedergabe von Aussagen jugendlicher Nutzer.»Die gewonnenen Einsichten und Kenntnisse fließenunmittelbar in meine berufliche Praxis ein und machenmich in meiner beratenden Arbeit sicherer.« Das gelteauch für den Workshop von Susanne Fitzner und Dr.Walter Kowalczyk zu Feedbackprozessen in der Schule.»Ich konnte viele Anregungen für die praktische Ge-staltung solcher Prozesse mitnehmen, die insbesonderein der Fortbildung und in der Beratung von Lehrkräftenihren Niederschlag finden werden.«Für Hedi Plän zählte neben den bereits genannten As-pekten auch die Tatsache, dass die Teilnehmer trotzvieler Unterschiede aufgrund der föderalen Struktur derBundesrepublik viel Gemeinsames entdeckten, was An-knüpfungspunkte für die weitere Zusammenarbeit auchzwischen den Kongressen bietet. Ähnlich wie Franziskavon Gleichenstein aus Hachenburg und Meike Borgertaus Düsseldorf lobt sie mitreißende Referenten, span-nende Workshops (»keine ollen Kamellen aus demBauchladen der Schulpsychologie«), große, helle Ta-gungsräume, eine gute Organisation, gutes Essen undden anregenden Austausch unter Kolleginnen und Kol-legen, was alles zusammen in einer sehr angenehmenAtmosphäre mündete.

Beim »Jungen BUKO« wurde neues Wissen praktisch erprobtViel Zuspruch fand erneut der »Junge BUKO«, mit demdie Organisatoren sich an neue Kolleginnen und Kolle-gen im Berufsfeld Schulpsychologie wendeten. Eine vonihnen ist Katrin Dünnebier aus Hagen, für die es dererste »Junge BUKO« war. »Die Referenten haben durchGelassenheit, Echtheit, Witz und Professionalität einesehr angenehme Atmosphäre geschaffen, in der mansich ausprobieren und offen seine Gedanken äußernkonnte. Neben neuem Fachwissen habe ich viele Denk-anstöße bekommen und mehr Sicherheit in meinerRolle sowie im Umgang mit unklaren Aufträgen.« DasThema »Auftragsklärung« fand auch Anja Mommer ausAachen wichtig, die bereits zwei Jahre zuvor in Stuttgartdabei war. Angetan vom Planspiel zeigte sich AnnaCoeller aus Eschweiler, weil so gerade erworbenes neuesWissen zeitnah praktisch erprobt werden konnte. Na-talie Völker aus Aachen fand es gewinnbringend, wiedas Seminar 1 von Hans-Jürgen Kunigkeit (Leiter regio-nale Schulberatung des Rhein-Erft-Kreises) und Jürgen

Mietz (Schulberatungsstelle Hamburg) konzipiert war,nämlich als Mischung aus Theorieteilen, Rollenspielen,Einzelarbeit und Gruppenübungen. Ebenso schätzte sienach dem interessanten theoretischen Input die per-sönlichen Erfahrungen aus der Praxis und den Aus-tausch über Bundeslandgrenzen hinweg. Ihr Fazit: »Trotzder intensiven Arbeit habe ich die Atmosphäre als lockerund anregend empfunden und habe viele Anregungenfür meinen Berufsalltag mitgenommen. Es war zudembereichernd, auf so viele Kolleginnen und Kollegen ausverschiedenen Bundesländern zu treffen, die in ihrenersten Berufsjahren ähnliche Erfahrungen machen.«

KMK-Präsident Althusmann will Zahl der Schulpsychologen erhöhenDer niedersächsische Kultusminister, Dr. Bernd Althus-mann, inzwischen Präsident der Kultusministerkonfe-renz, hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich zumKongress zu erscheinen. Niedersachsen ist Schlusslichtin Deutschland, was die Ausstattung mit Schulpsycho-logen betrifft. Althusmann will das ändern, ein eigenesDezernat für Schulpsychologie und Gesundheit schaffen.Er steht noch unter dem Eindruck eines schweren Bus-unglücks mit Schülern, bei dem auch Schulpsychologensofort helfend zur Stelle waren. Andererseits gehe esnicht an, Schulpsychologie auf den Einsatz bei schwe-ren Unglücken und Amokläufen zu verkürzen. Schul-psychologen leisteten eine sehr wertvolle Arbeit, auchzur Unterstützung der Lehrkräfte im schulischen Alltag,so Althusmann.

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Der niedersächsische Kultusminister, Dr. Bernd Althusmann,richtete ein Grußwort andie Kongressteilnehmer.

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Willibald RuchRené T. ProyerUniversität Zürich, Schweiz

Positive Psychologie: Grundlagen, Forschungs-themen und Anwendungen

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r e p o r t fachwissenschaftlicherteil

Die Erforschung von positiven Emotionen ist ein zen-trales Thema in der Positiven Psychologie, da diese einenwesentlichen Beitrag zum Wohlbefinden leisten kön-nen. Ein möglicher Erklärungsansatz für die Wirkungpositiver Interventionen könnte in der Wirkung positi-ver Emotionen liegen. Manche der Übungen zielen auchdezidiert auf das Erleben bzw. Sich-wieder-in-Erinne-rung-Rufen positiver Emotionen ab.

Abschließende BemerkungenIm vorliegenden Beitrag konnte nicht das gesamte Feldder Positiven Psychologie in all seinen Facetten voll-ständig beschrieben werden. Es sollte aber ein Aus-schnitt vorgestellt werden, der die Relevanz der For-schung in diesem Bereich unterstreicht. Die PositivePsychologie sieht sich nicht als Gegenmodell zur »busi-ness as usual psychology,« sondern als eine For-schungsrichtung, welche die Psychologie komplettierenmöchte und den positiven Aspekten des menschlichenErlebens und Verhaltens stärkere Aufmerksamkeit in

unserer Disziplin zukommen lassen möchte — und dasfernab von Ideen aus der Psychologie als Happyologieoder simplifizierten Patentrezepten zum guten Leben,wie sie in der – vor allem nicht psychologischen – Rat-geberliteratur weitverbreitet sind. Unter dem gemein-samen Dach der Positiven Psychologie findet die For-schung zu Themen, die bislang nicht im Mainstream derAufmerksamkeit der Psychologie als Disziplin standen,verstärkte Aufmerksamkeit. Unter anderem kann manhier Forschung zu Humor, dessen Messung sowie hu-morbasierten Interventionen nennen (vgl. Proyer, Ruch,& Müller, 2010; Ruch, 2008; Ruch, Proyer & Weber,2010; Sommer & Ruch, 2009, oder ähnliche Beiträge zumSinn für das Schöne oder zur Dankbarkeit).An verschiedenen Orten wurde argumentiert, dass dasendgültige Ziel der Positiven Psychologie ist, sich selbstwieder überflüssig zu machen. Das wäre dann erreicht,wenn es in der Psychologie selbstverständlich wird,dass Forschung zu positiven und negativen Bereichendes Lebens gleich wichtig nebeneinanderstehen.

Within psychology, positive psychology is a movement that aims to study what makes life mostworth living. Characteristics and conditions that enable the »good life« are described and assessed.Theory and practice do not target clinical populationsbut address persons that are somewhere in themiddle range of a continuum of well-being and thatwant to improve their satisfaction with life. One important task of positive psychology is the develop-ment of positive interventions. These are aimed at enhancing the well-being of participants. The broaden-and-build theory of positive emotions is introduced as one example of a theory developedfrom positive psychology. Additionally, the role ofcharacter strengths and virtues is discussed. The Values-in-Action classification is described in detailand presented as a sort of »Anti«-DSM; i.e., a catalogue of positive characteristics of human beingsinstead of a list of symptoms.

A B S T R A C T

Die Positive Psychologie versteht sich als jene For-schungsrichtung innerhalb der Psychologie, die sichzum Ziel gesetzt hat, zu erforschen, was das Leben ammeisten lebenswert macht. Eigenschaften und Bedin-gungen, die zu einem guten Leben beitragen, sollen be-schrieben und gemessen werden. Forschung und Praxisorientieren sich nicht an klinischen Fragestellungen,sondern an Personen, die im Mittelbereich eines Kon-tinuums des Wohlbefindens angesiedelt sind und ihreZufriedenheit verbessern wollen. Eine wichtige Auf-gabe ist die Entwicklung von positiven Interventionen,die darauf abzielen, das Wohlbefinden der Teilnehmerzu steigern. Die Broaden-and-build-Theorie positiverEmotionen wird als ein Beispiel für eine Theorie aus derPositiven Psychologie vorgestellt. Darüber hinaus wirdvor allem auch auf die Bedeutung der Forschung zu Cha-rakterstärken und Tugenden eingegangen. Hier wirddie Values-in-Action-Klassifikation genauer beschrie-ben und als eine Art »Anti-DSM« (ein Katalog an posi-tiven Eigenschaften von Menschen anstelle von Symp-tomen) dargestellt.

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Personen, die bei freiberufli-chen Psychotherapeuten oderPsychologen mit dem Hinweis

erscheinen, sie seien gezwungen,eine Psychotherapie zu machen, umihren Sozialleistungsanspruch nichtzu verlieren, bedürfen eventuell zu-nächst einer Beratung über ihreWahlmöglichkeiten. Im formalenSinne kann niemand zu einer Psy-chotherapie gezwungen werden. Al-lerdings empfinden viele Betroffenekeine Wahlmöglichkeit, wenn ihnenbei Unterbleiben der Psychothera-pie der Verlust eines Sozialleistungs-anspruchs droht. 1) § 63 SGB I sieht grundsätzlich vor,dass jeder der »wegen Krankheitoder Behinderung Sozialleistungenbeantragt oder erhält, sich auf Ver-langen des zuständigen Leistungs-trägers einer Heilbehandlung unter-ziehen soll […]«, womit natürlichauch eine Psychotherapie gemeintsein kann. Liegt auch keine der Ein-schränkungen gemäß § 65 Abs. 1SGB I vor – kurz gesagt: Unange-messenheit oder Unzumutbarkeit –,dann regelt § 66 Abs. 2 SGB I dieFolge eines Verstoßes gegen dieseMitwirkungspflicht. Sie kann – grob

gesagt – äußerstenfalls auch der Ver-lust eines in § 66 Abs. 2 SGB I ge-nannten Sozialleistungsanspruchssein. Für den Tatbestand des § 63 undauch des § 64 SGB I ist charakteris-tisch, dass zwei Sozialleistungenmiteinander verknüpft werden. DerSozialleistungsträger nimmt einebeantragte oder gewährte Sozial-leistung zum Anlass, auf die Inan-spruchnahme einer anderen Sozial-leistung hinzuwirken, damit diekostspieligere erste Sozialleistungüberflüssig wird oder herabgesetztwerden kann. Auf dieser Konstella-tion baut der Folgenmechanismusdes § 66 SGB I auf: Die Versagungoder die Entziehung der beantrag-ten oder erbrachten Sozialleistungwird für den Fall angedroht, dassder die Psychotherapie betreffen-den Mitwirkungspflicht nicht nach-gekommen wird. In der Regel er-bringt der Sozialleistungsträger, derfür die beantragte oder gewährteSozialleistung zuständig ist, auch diePsychotherapie. Denkbar ist jedoch,dass auch ein anderer Sozialleis-tungsträger die Heilbehandlung si-cherstellen kann, wenn diese nicht

zum Leistungskatalog des zuständi-gen Sozialleistungsträgers gehört(vgl. Hauck-Noftz´ Kommentar zu §63 SGB I Rz. 2). 2) Durch die Einschränkung auf So-zialleistungen, die man »wegen«Krankheit oder Behinderung erhält,sind betroffen von der Regelung ins-besondere Antragsteller auf/Emp-fänger von Erwerbsminderungsren-ten nach dem SGB VI, Verletzten-geld und Unfallrenten nach demUnfallversicherungsrecht des SGBVII, von Versorgung der Kriegsopfernach dem Bundesversorgungsge-setz, Versorgung nach dem Sozial-versicherungsgesetz oder dem Op-ferentschädigungsgesetz, von Geld-oder Sachleistungen im Rahmen derPflegeversicherung nach dem SGBXI, Krankengeld nach dem SGB V,aber auch diejenigen, die die Zuer-kennung eines Nachteilsausgleichsoder die Feststellung eines be-stimmten Grades der Behinderungnach dem SGB IX begehren (ju-risPK-SGB I § 63 Rz. 21). 3) Bedeutung hat insbesondere diePsychotherapie als Maßnahme dermedizinischen Rehabilitation, diedurch einen bewilligenden Verwal-tungsakt »angeboten« wird. Zwarbedarf eine solche Reha-Maßnahmegemäß § 9 Abs. 4 SGB IX der Zu-stimmung des Leistungsberechtig-ten, wird diese jedoch verweigert,greift § 66 Abs. 2 SGB I. Dabei wirktsich der Verstoß gegen die Mitwir-

KOMMENTAR Der VPP hat sich immer fürdie Verbesserung der Ver-sorgung schwer psychisch

kranker Menschen durch innovati-ve Verträge eingesetzt. Die neuesteEntwicklung sehen wir aber als sehrproblematisch an: Das AMNOG(Gesetz zur Neuordnung des Arz-neimittelmarktes, verabschiedet am11. November 2010 im Bundestag)ermöglicht es nun Pharmaunter-nehmen, direkt mit den Kranken-kassen IV-Verträge abschließen.Bisher war dies Krankenkassen und

Leistungserbringern vorbehalten.Die Kammerwahlen in Hamburglaufen bereits seit 18. Januar, undauch die Wahlunterlagen für dieWahlen zur Delegiertenversamm-lung der Ostdeutschen Psychothe-rapeutenkammer wurden bereits imJanuar versandt. Bitte beteiligen Siesich an den Wahlen, und wählen Siedie Bündnisse, in denen der VPP fürdie Vertretung Ihrer Interessensorgt. In Hamburg tritt das »Integra-tive Bündnis für Psychische Gesund-heit« für die Vielfalt aller wissen-

schaftlich anerkannten Therapiever-fahren und für eine Politik ein, diedie gemeinsamen Interessen derPsychotherapeuten in den Mittel-punkt stellt, statt zwischen einzel-nen Gruppen zu polarisieren.Zum sehr erfolgreichen Ausgangder KV-Wahlen in Berlin möchtenwir der stellvertretenden Bundes-vorsitzenden des VPP, Eva Schweit-zer-Köhn, herzlich gratulieren: Siehat als Spitzenkandidatin von VPPund bvvp 600 persönliche Stimmenerhalten. Das war die höchste Stim-menzahl bei dieser Wahl über-haupt! Wir berichten in der kom-menden Ausgabe von »VPP aktu-ell« ausführlich über die einzelnenKV-Wahlergebnisse.Heinrich BertramBundesvorsitzender des VPP im BDP

Problematisch: IV-Verträge zwischen Krankenkassenund Pharmaunternehmen

Sozialrechtlicher Zwang zurPsychotherapie?

Sozialleistungen entfallen nicht automatisch

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kungspflicht im Sinne des § 63 SGBI (hier konkretisiert als Maßnahmeder medizinischen Rehabilitation)nicht auf die angeordnete Maß-nahme, also die Heilbehandlung,aus. Das wäre nämlich völlig wir-kungslos, denn der Betroffenemöchte die Heilbehandlung geradenicht. Die Folge des Verstoßes ge-gen die Mitwirkungspflicht kannsich vielmehr auf andere in § 66Abs. 2 SGB I genannte Sozialleis-tungen auswirken, z.B. auf den An-spruch auf Rente. 4) Kostenträger für eine angeord-nete Psychotherapie ist meist dieKrankenkasse als Reha-Träger. Nachwohl herrschender Auffassung giltaber die Psychotherapierichtlinie.Hingegen wird vertreten, dass eineKassenzulassung nicht Vorausset-zung ist (Knittel-Kommentar zu §26 SGB IX Rz. 38). Denkbar sindaber auch andere Sozialleistungs-träger, erkennbar aus dem anord-nenden Verwaltungsakt. Soweitdiese selbst spezialgesetzlich Psy-chotherapie anordnen können, giltgrundsätzlich nicht das Erforderniseiner Kassenzulassung, und even-tuell bedarf es sogar nicht der Be-rücksichtigung der Einschränkungenaus der Psychotherapierichtlinie. 5) Für ALG-II-Empfänger (»Hartz 4«)hat § 63 SGB I keine Bedeutung, weilman das ALG II wegen der Erwerbs-losigkeit und nicht ggf. wegen einerpsychischen Erkrankung erhält. In Eingliederungsvereinbarungen ge-mäß § 15 SGB II bzgl. Arbeitslosen-

geld II (ALG II)  mit dem Grundsi-cherungsträger (ARGE oder Kom-mune) kann nur eine Aufforderungerfolgen, sich zwecks Feststellung derArbeitsfähigkeit und/oder der Eig-nungsfeststellung für bestimmte Ar-beitsförderungsmaßnahmen psycho-logisch untersuchen zu lassen. EinVerstoß gegen eine solche Verpflich-tung kann gemäß § 31 Abs. 2 SGB IIzur Kürzung des ALG II führen. Im Maßnahmenkatalog der Einglie-derungsleistungen gemäß §§ 16 ff.SGB II ist die Psychotherapie hinge-gen nicht erwähnt. Sofern sich auseiner Eingliederungsvereinbarunggleichwohl eine Aufforderung zurPsychotherapie ergibt – was im Hin-blick auf die grundsätzliche Ziel-richtung der Eingliederungsförde-rung (§ 1 SGB II)  im Einzelfall durch-aus sinnvoll erscheinen mag –, kannsie nur ein Appell bzw. ein Vor-schlag sein. Werden an die Nicht-befolgung Nachteile wie die Kür-zung des ALG II geknüpft, ist dieEingliederungsvereinbarung nichtig:Das SG Braunschweig entschied ineinem Eilverfahren (S 21 AS 962/06ER vom 11.09.06), dass Psychothe-rapie keine zulässige Gegenleistungfür das ALG sei, weil sie nicht derEingliederung in den Arbeitsmarktdiene, sondern der Wiederherstel-lung der Erwerbsfähigkeit. 6) Wer als niedergelassener Psycho-therapeut einen Klienten/Patientenhat, der nur gekommen ist, weil ihmder Verlust von Sozialleistungendroht, sollte zunächst erfragen, ob

die Psychotherapie ausdrücklich an-geordnet worden ist, insbesondereob die Psychotherapie als medizini-sche Rehabilitation angeordnet wor-den ist. Droht ihm demnach tat-sächlich Kürzung oder Versagungvon bestimmten Sozialleistungen, istes zunächst ratsam, auf ein Einsehendes Patienten/Klienten hinzuwirken,denn in aller Regel ist diese Maß-nahme nicht beliebig angeordnetworden, sondern erfolgt als Ergebnisfachkundiger Diagnostik durch dafürqualifizierte Personen. Zwangsläufigkann dies angesichts noch ausste-hender probatorischer Sitzungen nurin allgemeiner Form geschehen. Lässt sich auf diese Weise die erfor-derliche Motivation für eine Psycho-therapie nicht herstellen, ist dem Pa-tienten/Klienten zu empfehlen, sichweiteren rechtlichen Rat einzuholen.Denn in obiger Darstellung ist ausGründen der Übersichtlichkeit eineReihe von Voraussetzungen für dieKürzung oder Versagung von be-stimmten Sozialleistungen nicht er-wähnt oder nur angedeutet worden,die zugunsten des Betroffenen wir-ken und die abgeprüft werden soll-ten. Es besteht keineswegs ein Auto-matismus dahin gehend, dass ohneWeiteres Sozialleistungen entfallen.Diese Beratung sollten sich Psycho-therapeuten nicht zumuten, und diesvon ihnen zu verlangen, würde auchden Rahmen nebenvertraglicher Auf-klärungspflicht bei Weitem sprengen. Jan FrederichsRechtsanwalt

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Am 13. November 2010 fand inHannover der 17. DeutschePsychotherapeutentag statt.

Neben einer ausführlichen Diskus-sion der Reform der Psychothera-peutenausbildung sind insbesonderezwei weitere Beschlüsse für PiA re-levant, welche im Vorfeld ausführlichvon der PiA-Bundeskonferenz vor-bereitet und über PiA-Delegierte desDPT eingebracht wurden. Der erste erfolgreiche Antrag diente

einer Stärkung der PiA-Bundeskon-ferenz. Zum einen kann nun nachRücksprache mit dem Vorstand derBPtK die PiA-Bundeskonferenz auchmehr als einmal pro Jahr stattfinden.Die dadurch entstehenden Kostenwerden durch die Landeskammernund die BPtK getragen. Zum anderenwerden nun zwei statt drei stellver-tretende PiA-Sprecher durch dieBundeskonferenz gewählt. Diese bei-den organisatorischen Verbesserun-

gen waren aufgrund der hohen Ar-beitsbelastung der PiA-Sprecher undzur Verbesserung des Austauschs derbundesweit berufspolitisch aktivenPiA notwendig geworden. Ein dritterAntragspunkt zur Einführung einerregelmäßigen Aufwandsentschädi-gung der PiA-Bundessprecher wurdeaufgrund einer damit verbundenennotwendigen Satzungsänderung be-reits am Vorabend des DPT von PiA-Seite zurückgezogen.Der zweite PiA-Antrag betraf dieMitgliedschaft der PiA in den Psy-chotherapeutenkammern. Hier gibtes aktuell bundesweit sehr unter-schiedliche Regelungen. So habenPiA in Hamburg und Baden-Wüt-temberg einen Mitgliedsstatus mit

Mitgliedschaft von PiA inallen Kammern erwünschtDeutscher Psychotherapeutentag stärkt die PiA-Bundeskonferenz