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UNIMAGAZIN IN DIE HÄNDE GESPUCKT Wie Studierende ihr Leben finanzieren ERWACHSEN GEWORDEN Vom Leben Mitte dreissig AN FLIEGEN GEFORSCHT Aus dem Leben eines Entwicklungsbiologen DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 13. JAHRGANG NUMMER 2 JUNI 2004 DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

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UNIMAGAZIN

IN DIE HÄNDE GESPUCKT Wie Studierende ihr Leben finanzieren

ERWACHSEN GEWORDEN Vom Leben Mitte dreissig

AN FLIEGEN GEFORSCHT Aus dem Leben eines Entwicklungsbiologen

DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 13. JAHRGANG NUMMER 2 JUNI 2004

DIE NEUEUNGERECHTIGKEIT

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In der Schweiz sind275 000 Menschenkaufsüchtig.

Im Laden der Zukunft wird es dank Mikrochipskeine Warte-schlangen geben.

Kein Land der Weltsubventioniert seineBauern so stark wiedie Schweiz.

Der Wert eines vollenSchweizer Einkaufs-wagens genügt, umeinen der Ärmstender Erde 4 Monatezu ernähren.

China importiertso viel Alteisen, dassSchrott in Europaknapp wird.

Die wichtigsten 20Lebensmittel kostenin der Schweizdoppelt so viel wiein der EU.

Ein Laden, der nur6 Konfitüre-Sortenanbietet, verkauftmehr als einer, der24 Sorten führt.

Weltweit werdenim Jahr 1 800 Mrd.Franken über dasInternet umgesetzt.

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SAGEN SIE UNS DIE MEINUNG!Vielseitiger und noch attraktiver sollte es wer-den: Vor gut einem Jahr haben wir dem unima-gazin ein zeitgemässes Gesicht und ein neuesinhaltliches Profil gegeben. Seither gab es vielepositive Reaktionen auf die Neulancierung.Nun wollen wir wissen, was unsere Leserinnenund Leser wirklich denken: Sagen Sie uns IhreMeinung! Dazu füllen Sie bitte den Fragebogenaus, der diesem Heft beiglegt ist. Unter den Ein-sendungen verlosen wir attraktive Preise, dar-unter das Buch «Neotopia» der jungen ZürcherGrafikerin Manuela Pfrunder.

Pfrunders «Atlas zur gerechten Vertei-lung der Welt» bildet auch den visuellen rotenFaden durch das Dossier «Die neue Ungerech-tigkeit» im aktuellen Heft. Umbau des Sozial-staats, mehr Eigenverantwortung, die Deregu-lierung der globalen Wirtschaft und die Her-ausforderungen der multireligiösen Gesell-schaft sind zentrale Themen aktueller Debatten.Steht uns eine Epoche zunehmender Unge-rechtigkeit bevor?, haben wir Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftler der UniversitätZürich gefragt. Oder stecken wir bereits mitten-drin? Antworten finden sich im Dossier.

Weitere Themen: In jüngster Zeit hatdie Wirtschaft verschiedene Vorschläge zur Re-form der Hochschulen gemacht. Im grossenunimagazin-Interview nimmt Rektor HansWeder dazu Stellung. Weder äussert sich zudempointiert zur Positionierung der Universität imnationalen und internationalen Umfeld, zuBologna und zur gezielten Förderung des wis-senschaftlichen Nachwuchses. In der Rubrik«Forschung» erfahren Sie, wie die Generationder heute knapp 40-Jährigen erwachsen gewor-den ist, wie Wale kommunizieren, und dass Eponicht nur als Doping taugt. Forscherinnen undForscher der Universität Zürich werden regel-mässig mit renommierten Preisen ausgezeich-net. Einer ist der Entwicklungsbiologe ErnstHafen – lesen Sie unser Porträt auf Seite 50. Undder Philosoph Georg Kohler setzt sich im Essaymit Europas Sexappeal auseinander. Viel Spassbei der Lektüre. Ihre unimagazin-Redaktion

EDITORIAL DOSSIER – DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

24 DIE UNSICHTBARE HAND Die Vision einer gerechteren Gesellschaft istpassé, oder doch nicht? Von Thomas Gull

28 SCHLANK UND RANK Wird der Sozialstaat in Zeiten des globalenWettbewerbs zum lästigen Fettring? Von David Werner

34 GLEICHE CHANCEN FÜR ALLE? Im Wettlauf um die beste Bildungentscheidet oft die soziale Herkunft. Von Markus Binder

36 ZIVILISIERTE FEINDBILDER In Zeiten globaler Verunsicherung hat diereligiöse Toleranz einen schweren Stand. Von Roger Nickl

40 KEINE FAULEN KOMPROMISSE Die Politik muss der Weltwirtschaft dieRegeln diktieren. Interview mit dem Philosophen Urs Marti. Von Sabine Witt

26 TOTAL GERECHT In ihrer Arbeit «Neotopia» hat die Grafikerin ManuelaPfrunder die Utopie einer absolut gerechten Verteilung der Welt visualisiert.

TITELBILD Manuela Pfrunder

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8 ERWACHSEN GEWORDENDas Leben Mitte dreissig

12 WIE ZELLEN LÄNGER LEBENEpo kann mehr als Sportler dopen

14 RISKANT INVESTIERENWie Venture-Capitalisten ihr Geld einsetzen

16 ATTACKIERTE NERVENDie Multiple Sklerose fordert die Medizin

19 WELT VOLLER TÖNEWie Wale kommunizieren

22 PROFILRichard Wagner und Co. in Zürich

44 REPORTAGEAnpacken: Wie Studierende arbeiten

48 ESSAYGeorg Kohler über Europas Sexappeal

50 PORTRÄTErnst Hafen – der Herr der Fliegen

52 INTERVIEWRektor Weder zur Zukunft der Universität

6 LEUTE

7 STANDPUNKT

56 BÜCHER

58 GLOSSE

HERAUSGEBERINUniversitätsleitung der Universität Zürich durch unicommunication

LEITUNGDr. Heini Ringger, [email protected]

VERANTWORTLICHE REDAKTIONThomas Gull, [email protected] Nickl, [email protected]

AUTORINNEN UND AUTOREN DIESER AUSGABEBarbara Baumann, [email protected] | MarkusBinder, [email protected] | Dr. CaroleEnz, [email protected] | Lukas Egli, [email protected] | Marita Fuchs, [email protected] | Michael T. Ganz, [email protected] | Helga Kessler, [email protected] | LukasKistler, [email protected] | Paula Lanfran-coni, [email protected] | Babajalscha Meili,[email protected] | Isabel Morf, [email protected] | Thomas Poppenwimmer, [email protected] | Simona Ryser, [email protected] | Pierre Thomé (Illustration),[email protected] | Christine Weder, [email protected] | David Werner, [email protected] | Sabine Witt, [email protected]

FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFENUrsulaMeisser, [email protected] | Jos Schmid,[email protected] | Judith Stadler, [email protected] | André Uster, [email protected]

GESTALTUNG/DTPHinderSchlatterFeuz, Zü[email protected]

DRUCK UND LITHOSNZZ Fretz AG, Schlieren

ADRESSEunicommunicationSchönberggasse 15a8001 Zürich Tel. 01 634 44 30Fax 01 634 43 [email protected]

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AUFLAGE23000 Exemplare. Erscheint viermal jährlich

ABONNENTENDas unimagazin kann abonniert werden unter [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikelnmit Genehmigung der Redaktion.

UNIMAGAZIN 2/04

IMPRESSUM FORSCHUNG RUBRIKEN

WEBSITE www.unicom.unizh.ch/unimagazin

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BLICK IN DIE KÖPFE Was geht imGehirn vor, wenn wir vor dem geistigen Augeein Bild von Marilyn Monroe entstehen lassenoder wenn wir ein nie vorher gesehenes BildPicassos der «Blauen Phase» zuordnen können?Von solchen Fragen geht Alumit Ishai aus, dieseit Anfang des Jahres als Assistenzprofessorinfür Kognitive Neurowissenschaften am Institutfür Hirnforschung der Universität Zürich arbei-tet. Ishai hat in Jerusalem Biologie, Philosophieund Biotechnologie studiert und am WeizmannInstitute of Science einen Ph.D-Abschluss mitAuszeichnung erworben. Sie erforscht haupt-sächlich die Verarbeitung visueller Information

im menschlichen Gehirn. Die Ergebnisse, zudenen die vielseitige Forscherin gelangt, habenwiederum bildliche Gestalt: Es sind graphischeSchnitte durch den Schädel, die mit Farbak-zenten versehen werden, um die Aktivität ein-zelner Hirnregionen anzuzeigen. Sie verdankensich der relativ neuen Technik des functionalMagnetic Resonance Imaging (funktionelleKernspintomographie). Von den Möglichkeitendes Blicks in die kognitiven Innereien, «ganzohne Schneiden und Spritzen», ist Alumit Ishaisichtlich fasziniert. Gesprächsabstecher zurfreundlichen Aufnahme in den (fast aus-schliesslich männlichen) Kollegenkreis inZürich, zu einem geplanten Deutschkurs oderzum Opernfieber der Wissenschaftlerin führenschnell zu Forschungsthemen zurück. SprichtIshai vom menschlichen Gehirn, «diesem kom-pliziertesten Organ des Universums», ist auchohne Kernspintomograph offensichtlich: DasLeidenschaftszentrum im Kopf der Hirnfor-scherin würde auf dem Bild knallrot aufleuch-ten. Christine Weder

Alumit Ishai

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KUNST MIT KONZEPT An der Dach-schräge lehnt die Fotografie einer jungen, täto-wierten und gepiercten Frau. Auf dem Holzbo-den sind grossformatige Bilder aufgereiht, undauf einer Staffelei steht ein Gemälde mit Heili-genmotiv in üppigem Goldrahmen. Gemeinsamist diesen Bildern, dass sie von Zürcher Künst-lerinnen und Künstlern gestaltet wurden und aufeinem grossen Dachboden lagern, der gleich-zeitig einer der Arbeitsräume von Kathrin Frau-enfelder ist. Sie ist Konservatorin der staatlichenKunstsammlung des Kantons Zürich und ver-waltet rund 14000 Bilder und Skulpturen. EinTeil dieser Kunstwerke verschönern auch die

Räume der Universität. Schon während ihresKunstgeschichtsstudiums in Zürich entwickel-te Kathrin Frauenfelder einen besonderen Blickfür Raum und Kunst. Sass sie beim Kaffee imHauptgebäude neben dem Rondell, nahm siebewusst die Wandgestaltung von Augusto Gia-cometti wahr – einem Künstler, dessen Werkezur Sammlung gehören. Bei ihrer Arbeit gehe esnicht einfach darum, Bilder an weisse Wände zuhängen: «Damit sie zu den Räumen und Men-schen, die darin arbeiten, passen, braucht jederOrt ein eigenes Konzept.» So wählte Frauenfel-der für das Amt für Jugend- und Berufsbildung66 Porträts des Fotokünstlers Pietro Mattioli aus.Die Aufnahmen von jungen Menschen aus den70er-Jahren begegnen den Besuchern nun aufallen Etagen des Gebäudes und geben ihmbuchstäblich ein junges Gesicht. Die anfängli-che Skepsis verschwand, als der Künstler auf derVernissage seine Bildidee erklärte. «Wer mehrvon der Kunst versteht», sagt die Konservatorin,die früher Führungen im Kunsthaus machte,«wird auch offener». Marita Fuchs

Kathrin Frauenfelder

EINFACH TOP Wenn es heute selbstver-ständlich ist, Vorlesungsmaterialien vom Netzherunterzuladen, statt sie nach nervenrauben-der Anstehzeit am Kopierapparat zu vervielfäl-tigen, so hat das vor allem mit dieser Frau zutun. Eva Seiler-Schiedt leitet das E-LearningCenter der Universität Zürich. Sie gehört trotz-dem nicht zur Spezies der «Computer-Afacio-nados», die schon in den 70er-Jahren die Näch-te in der Gesellschaft seltsamer Flimmerkästendurchwachten. Fast ebenso früh hat sie dafürden praktischen Nutzen von dem erkannt, waswir heute Computer nennen. Eva Seiler hat Eth-nologie studiert und danach in einem Medien-

center Dokumente archiviert. Das war Mitte der80er-Jahre. Und dass sie damals bei ihrerArbeit von einem Computer unterstützt wurde,fand sie «einfach top». Heute, da die Universitätunter Spardruck steht, ist das Potenzial vonComputern eine beschlossene Sache, und E-Learning geniesst hohe Priorität. Damals, alsEva Seiler als Dozentin an der Universitätunterrichtete, galt es, den Braten zu würzen undden Ungläubigen schmackhaft zu machen.Denn viele waren noch nicht bereit zu konver-tieren. In ihren Methodenseminaren hat sie dasIhrige getan, um zu zeigen, wie nützlich so einApparat für die Forschung und Recherchearbeitdoch ist. Eine Pionierin ist sie deshalb durchaus,sie, die sich daran erinnern kann, wie Anfangder 90er-Jahre der erste Browser an der Uni-versität installiert wurde. Ziel des E-LearningCenters ist es, die Entwicklung von E-Learningzu fördern und zu koordinieren. Als Eva Seilerdiese Aufgabe 1999 übernahm, hat sie eigentlichnichts weiter getan, als ihre Bemühungen fort-zusetzen. Babajalscha Meili

Eva Seiler-Schiedt

LEUTE

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DER DRAHTZIEHER Theo von Dänikenmacht gerne Dinge möglich. Beruflich hat erdamit als Redaktionsleiter beim Internetprovi-der Bluewin begonnen und bei der Nachrichten-agentur Reuters fortgesetzt. Seither liess vonDäniken die Frage nicht mehr los, wie man In-formationen strukturieren und mediengerechtportionieren kann. Die Arbeit in Onlineredak-tionen war «zwar spannend, aber nicht nachhal-tig», denn jede seiner Stellen fiel dem Rotstiftzum Opfer. An der Universität Zürich arbeite erwiederum an der Schnittstelle zwischen Infor-mation und Technologie, wenn auch mit ande-ren Medien: den Monitoren und Infosäulen des

Integrierten Besucher- und Informationssys-tems IBIS. Die fünf Monitore im Zentrum warenbereits angeschafft, als er kam. Doch niemandhatte sich überlegt, wie diese am besten zubespielen wären. «Bildschirme sind extremattraktiv», sagt Projektleiter von Däniken, «dieLeute schauen aufmerksam hin und nehmendie Bilder im Kopf mit.» Es müssten aber auchgute Inhalte gezeigt werden. Von DänikensZiel ist darum, eine Redaktion zu etablieren,bei der alle universitären Informationsfädenzusammenlaufen. Mit seinem Projekt will er derUniversität ein elektronisches Gesicht gebenund den Studierenden und Mitarbeitenden zei-gen, dass ihre Alma Mater mehr ist als dieSumme der Institute und Abteilungen. Alsjemand, der gern Foren bereitstellt, bleibt derVater eines siebenjährigen Sohnes lieber imHintergrund, so wie er das als Sekretär der zwei-ten EWR-Initiative 1992 getan hatte oder als Mit-organisator der Solothurner Polittage und kürz-lich beim Zürcher Filmfestival «film21» zumThema Nachhaltigkeit. Sabine Witt

Theo von Däniken

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«Wir, der Mittelbau…» – Das tönt nach ver-schworener Gemeinschaft. Und nach Gemein-samkeiten und Zusammenhalt. Aber eigentlichsind wir ein heterogener Haufen – die Ange-hörigen des Mittelbaus stehen irgendwo zwi-schen abgeschlossenem Studium und vor derHabilitation. Und dennoch hält uns einigeszusammen: Wir haben gemeinsame Sorgen.Wir sorgen uns um unseren Arbeitgeber, die

Univeristät Zürich. Unsere wissenschaftlicheHeimstätte soll auch weiterhin zu den Topor-ganisationen der Wissensgenerierung und -ver-mittlung gehören. Dazu tragen wir mit vielFleiss, Energie und teilweiser Selbstausbeutung– arbeitsscheu sind wir ganz und gar nicht – bei.Hundertprozentig – egal zu wie viel Prozent wirangestellt sind. Und dies im Bewusstsein, dassder Unibetrieb ohne uns gar nicht funktionie-ren könnte.

Unsere anderen gemeinsamen Sorgenlassen sich schwerer auf einen Nenner bringen.Zu denken gibt die unterschiedliche Stellungund Behandlung der Assistierenden in den ein-zelnen Fakultäten, Instituten, Seminaren undauf Lehrstuhlebene. Fragt eine neu eingetre-tene Kollegin oder ein Kollege etwa nach derRegelung für Spesenentschädigungen oderReisekosten, ist eine einheitliche Auskunftnicht möglich. Das wird überall auf andere Artund Weise geregelt. Manchmal gibt es Fix-beträge, die pro Jahr zur Verfügung stehen,manchmal muss man um jeden Frankenkämpfen. Und das bezieht sich vorerst nur auf

die reinen Reisekosten. Beim möglichen Er-satz für den Aufenthalt oder die oft recht hohenTagungs- und Konferenzgebühren wird allesnoch uneinheitlicher, das heisst, ganz indi-viduell gelöst. So manchen dieser Kämpfeverlieren wir.

Dass die Arbeitsbelastung generellnicht gleich ist, versteht sich dafür von selbst.Obwohl mit den Rahmenpflichtenheften in

diese Richtung gearbeitet wurde, erlauben sienoch keinen Vergleich der Leistungen. Dazugehörte meiner Ansicht nach, dass die Lehrtä-tigkeit – und deren Güte – besser miteinbezogenwürde. Hier ist mit den Teaching-Skills-Pro-grammen einiges auf den Weg gebracht wor-den. Das Ziel ist aber noch nicht erreicht.

Wirklich schön wäre es zudem, wennwir geistige Zielvorstellungen über unsereUni-Karriere nicht nur entwickeln, sondernauch in einer entsprechend grossen Zahlumsetzen könnten. Stichwort: HRM – alsoHuman Ressource Management. Es ist fürjeden und jede von uns an sich aufbauend, alsAngehörige des Mittelbaus die Universität mit-prägen zu dürfen. Über mehr Unterstützung beidieser Aufbautätigkeit würden wir uns aberfreuen – und wiederum mit noch mehr Einsatzdarauf antworten. Persönlich glücklichmachen würde mich noch mehr Unterstützungaus den eigenen Reihen.

Karin Pühringer ist Präsidentin der VAUZ, der Verei-nigung der Assistentinnen und Assistenten an derUniversität Zürich.

UNGENÜGEND UNTERSTÜTZT

STANDPUNKT von Karin Pühringer

UNIMAGAZIN 2/04 BILD Frank Brüderli

Die unterschiedliche Behandlung vonAssistierenden in den einzelnenFakultäten, Instituten, Seminarien undauf Lehrstuhlebene gibt zu denken.

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8 UNIMAGAZIN 2/04

ZWISCHEN DEKONSTRUKTIONUND SEGELURLAUB

Wie werden wir erwachsen? Für die Life-Studie wurden in den frühen 80er-JahrenJugendliche erstmals zu ihrem Leben und ihren Zielen befragt. Was ist aus den Teen-agern von damals geworden, wo stehen sie heute, 20 Jahre später? Von Simona Ryser

FORSCHUNG

Vor 20 Jahren habe ich mir zum ersten Mal die Wimpern getuscht und die Augenlidernachgezogen. Während die Jungs auf demSchulhof Fussball gespielt haben, bin ich mitmeinen Freundinnen auf einer Bank gesessenund habe mir das Leben ausgemalt. Wir wolltenFotomodel werden oder Grafikerin, Autorinoder Tierärztin, Dekorateurin oder Buchhänd-lerin. Die Jungs mit dem Ball auf dem Schul-

hausplatz haben wir belächelt, fürs richtigeLeben wollten wir einen cooleren Kerl haben.Einen zum Reden. Und Küssen sollte er können.So waren damals unsere Jugendträume. Heute,20 Jahre später, stehen wir mitten in einemLeben. Ob es dasjenige ist, das wir uns als Teen-ager ausgemalt haben, wissen nur unsereTagebücher, die wir nie mehr aus den Zügel-kisten gepackt haben.

Darüber, wie sich so ein Leben entwickelthaben könnte, gibt eine Langzeitstudie derUniversitäten Zürich und Konstanz Auskunft.Von 1979 bis 1983 wurden in einer ersten Studieunter der Projektleitung von Helmut Fend, Pro-fessor für pädagogische Psychologie an derUniversität Zürich, rund 2000 Jugendlichemehrmals befragt, um den schwierigen Über-gang von der Kindheit ins Jugendalter zu erfor-schen. Untersucht wurden unter anderem dieRisiken dieses Übergangs, die Veränderungenim Eltern-Kind-Verhältnis, die neue Bedeutungder Gleichaltrigen und die Vorstellungen vonder Zukunft. Nach der Auswertung dieserJugendstudie ruhten die Ergebnisse zunächsteinmal. Die Karriere führte Helmut Fend vonKonstanz ans pädagogische Institut in Zürich.Dort ging er zuerst anderen Forschungsprojek-ten nach. Doch die Jugendlichen gingen ihmnicht mehr aus dem Kopf. «Ich habe seit 1976 an

Die Teenager der 80er-Jahre sind erwachsen geworden: Heute stehen sie mitten im Leben mit Berufen zwischen Denken und Kunst, Sozialarbeit und Jour

WEBSITE www.paed.unizh.ch/pp1/follow-up

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diesem Projekt gearbeitet. Es ist gewissermas-sen mein Lebensprojekt, das Schicksal einerGeneration exemplarisch für das Aufwachsen inder Moderne zu erforschen», sagt der Wissen-schaftler, der von den Befragten wie von seineneigenen Kindern spricht. Schliesslich gelang esihm, an der Universität Zürich ein Team für eineFolgestudie zu begeistern.

QUERSCHLÄGER UND WILDE BIOGRAPHIEN

Nach rund 20 Jahren, im Jahre 2002, sollten diedamals Befragten wieder aufgesucht und erneutbefragt werden. Allein für die Adressrecherchebrauchten die Forscher drei Jahre. Mit Hilfe vonalten Klassenlisten, Auskünften von Eltern,Geschwistern und Klassenkameraden konntensie die meisten ehemaligen Jugendlichen wie-der ausfindig machen. Und dank unzähligenpersönlichen Gesprächen, Telefonaten undeinem ansprechenden Fragebogen gelang es

dem Team, das Vertrauen eines grossen Teilsder Probanden zu gewinnen. So nahmen 82,4Prozent ein zweites Mal an der Befragung teil.Die Teenager von damals sind nun erwachsengeworden, sie sind zwischen 34 und 37 Jahre alt,ihre Eltern stehen im Pensionsalter.

Bereits bei der Adresssuche zeichnetensich die unterschiedlichsten Lebensverläufeder ehemaligen Teenager ab. Querschläger,wilde Biographien und Outsider fallen durch dasstatistische Erhebungsnetz: Doch gerade sol-che Lücken führten zu intensiveren Recher-chen. Dank des breiten Kontaktfeldes erhielt dasForscherteam Hinweise zu vermissten Perso-nen. Darunter gab es auch einige dramatischeFälle. «Wir sind auf einige Tote gestossen»erzählt Fend, «fünfzig konnten wir identifi-zieren: drei sind ermordet worden, zwei sind ineinem Krieg umgekommen, und es gibt meh-rere Drogentote und auch Drogenkranke.»

Drei Jahre lang also wurden die verlorenen Kin-der gesucht. Genauso lange wurde an den Fra-gen gearbeitet. Sie sollten die verschiedenstenLebensbereiche abdecken. Wann die Jugend-lichen von zuhause ausgezogen seien, wurdeetwa gefragt, welchen Schulabschluss sie er-reicht haben, wie ihre berufliche Entwicklungverlaufen ist, welchen Beruf sie ausübten und obund wann sie geheiratet haben. Auch wann siedas erste Mal Sex hatten, wollten die Forschervon den Probanden wissen.

Die Life-Studie ist eben erst abge-schlossen worden; das umfangreiche Materialmuss nun ausgewertet werden. Die Forschungverspricht sich Aufschluss darüber, wie prägenddie Erfahrungen in der Jugendzeit für das spä-tere Leben ist. «Wir wollen vor allem wissen,welche Erlebnisse, Erfahrungen und Erzie-hungsbedingungen im Elternhaus und in derSchule sich positiv auf die Kinder auswirken»,

nalismus, Kultur und Bildung.

BILDER Jos Schmid

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sagt Fend. «Wir wollen herausfinden, welchesdie bestmöglichen Bedingungen sind für einemöglichst produktive Lebensbewältigung.»Nicht alle aber stehen mühelos im Leben.Untersucht wurden auch die Bedingungen vonschwierigen Entwicklungsprozessen.

SUPERTRAMP UND NETZ-T-SHIRT

Es war eine schöne Zeit, damals, Anfang der80er-Jahre. Trotz pubertärer Widrigkeiten: Mit Wind im Haar auf dem fahrenden Mofa und Supertramp im Ohr haben wir uns eineschöne Zukunft erträumt. Meine Schulkolle-gin mit dem Netz-T-Shirt wollte etwas mitKindern machen. Ihre Freundin hatte sichimmer Schulterpolster in den Pullover gescho-ben. Sie wollte Psychologin werden. Der Jungemit der zu grossen Brille wusste zwar nicht,

was er werden wollte, aber von seiner zukünf-tigen Frau hatte er eine genaue Vorstellung.Eine mit langen, blonden Haaren und mit sanf-ten Augen sollte es sein.

Wünsche sind in Erfüllung gegangen –teilweise. In der Life-Studie wurde untersucht,ob Mädchen mit Matur auch eine entsprechen-de berufliche Karriere machen. «Gymnasiastin-nen, die bei der ersten Befragung in der neun-ten Schulstufe waren, haben zwar noch dieMatura gemacht, aber nur ein Viertel habenauch ein Hochschulstudium abgeschlossen»,erklärt Fend. Es habe sich gezeigt, dass Mäd-chen für eine Hochschullaufbahn besondersintelligent und leistungsbereit sein müssen unddass sie ein besonders hohes Selbstvertrauenbrauchen. Die Studie zeigt, dass gerade die hochqualifizierten Frauen einen sehr diskontinuier-

lichen Weg in höhere Berufspositionen durch-laufen, während die befragten Männer vielkontinuierlichere Laufbahnen aufweisen. Seitder historischen Wende von 1978/79 – damalsgab es erstmals mehr Gymnasiastinnen alsGymnasiasten – sind Frauen in höheren Bil-dungsniveaus zwar stärker vertreten. Doch vonder Gleichstellung während der Ausbildungszeitspüren die Frauen in ihrer Karriere oft nichtmehr viel. Fend wollte aus seiner Umfrage dieerfolgreichsten Frauen ermitteln, jene also, diees in die höchste Berufskategorie geschaffthaben. «Ich bin gerade auf etwa 50 Frauengestossen. In derselben Gruppe aber habe ichviermal mehr Männer gefunden, obwohl dieFrauen vom Ausbildungsstand her gleich gutqualifiziert waren.» Die feministischen Debattenhaben anscheinend doch vor allem in den

Die Generation der um 1965 Geborenen ist eher unauffällig: «Im Vordergrund steht die individuelle Lebensbewältigung im beruflichen und sozialen Bereich»,

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Köpfen stattgefunden – auf die Arbeitsstruktu-ren haben sie sich nicht nachhaltig ausgewirkt.Zumindest zeigt auch die Life-Studie, dass sichFamilien- und Berufslaufbahnen noch immerschlecht verbinden lassen.

Die Forscher haben auch die sozialenBeziehungen erforscht. Eine überraschendgrosse Gruppe, nämlich 30%, hat den erstenFreund geheiratet. Da bin ich doch froh, dass ichmich mit meiner Freundin so lange gestrittenhabe, bis wir den ersten beide nicht mehr woll-ten. Auch sonst gehöre ich nicht zur grossenMehrheit: etwa die Hälfte der befragten Frauenmit Matura ist verheiratet, 90% sind in einerfesten Partnerschaft. Allerdings sind auch 170oder 10 Prozent das erste Mal, 11 schon das zwei-te Mal geschieden. Nein, Kinder hab ich keine,auch viele meiner Freundinnen haben keine

oder genauer: noch keine. Diese Tendenz lässtsich auch in der Life-Studie ablesen. «Mehr alsdie Hälfte der höher gebildeten Frauen verlegtdie Phase des Kinderkriegens in den Lebensab-schnitt zwischen 35 und 40. Das ist unterdessenkeine Ausnahme mehr, zumindest in dieser so-zialen Gruppe.» Die ehemaligen Jugendlichenhaben inzwischen etwa 1700 Kinder bekommen.45% der Frauen mit Matura, die 35 oder ältersind, haben noch keine Kinder. Von ihnenmöchten 50% aber noch welche haben.

REVOLUTIONÄRE PILLE

Wir wollten nicht das kleinbürgerliche Lebenunserer Eltern leben, eine Partnerschaft schon,aber vielleicht in einer offeneren Form? Kinderja, aber im Konkubinat. Meine Freunde habendann doch noch geheiratet, heimlich, zumindest

unspektakulär. Der Junge mit der zu grossenBrille trägt unterdessen eine kleine rechteckige.Er ist Pressesprecher geworden und hat eineBlondine geheiratet. Die Gesellschaft hat sichdoch verändert – kein Familienzwang, keine Al-tersnormen. Klasse und Stand, Schall undRauch. Die befragten Jahrgänge profitieren vonden sozialen Freiheiten, die die 68er-Generationerwirkt hat. Die grösste Freiheit, so Fend, betrifftaber die Kontrazeption. «Die Pille war die gros-se Revolution für die Veränderung von Wert-orientierung.» Die Tendenz, dass Frauen heutespäter Kinder kriegen, macht dies deutlich.

Im grossen Ganzen erweist sich dieuntersuchte Generation eher als unauffällig. «ImVordergrund steht die individuelle Lebensbe-wältigung im beruflichen und im sozialenBereich», erklärt Fend. Die heutigen Mittdreis-

sagt Helmut Fend, der Leiter der Life-Studie.

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siger nutzen die Errungenschaften dermodernen Gesellschaft vor allem im sozialenBereich, weniger aber im Beruf. Die Life-Studie zeigt eine erstaunliche Standardisie-rung der Lebensläufe. «Es findet kein auf-fallend häufiger Berufswechsel statt. Viel-mehr finden wir klare Muster von Ausbil-dungsverläufen», sagt Fend, «die entspre-chenden Ausbildungen und die Erwartungender Wirtschaft und der anderen Beschäfti-gungsbereiche geben das ja auch immernoch so vor.» Bei der sozialen Entwicklunghaben sich die Möglichkeiten aber tatsächlichvergrössert. Auch wenn viele der Befragtenheute verheiratet sind, hat die Zahl dernicht-ehelichen Lebensgemeinschaften vorallem bei urbanen, gut ausgebildeten Frauenund Männern zugenommen.

So sind wir also erwachsen gewor-den, ohne dass es uns gross aufgefallenwäre. Wir sind nun liiert, verheiratet odergeschieden, mit oder ohne Kind. Mit Berufenzwischen Denken und Kunst, Sozialarbeitund Journalismus, Kultur und Bildung.Beruflich sind wir glücklich, finanziell abererfolglos. Oder umgekehrt. Nach den politi-schen Generationen der 68er und 80er undvor der «Generation Golf» pendeln wir zwi-schen Dekonstruktion und gutem Essen,politischem Engagement und Segelurlaub,zwischen Mozart und Johnny Cash. Undmanchmal fällt uns auf, dass es auch nochJüngere gibt, die schon weit im Leben stehen.Und ab und an revoltiert die Jugend in uns:Dann schreien wir Zeter und Mordio. Dannwollen wir nicht mehr lösungsorientiert undkompromissbereit diskutieren – denn einigessollte noch verändert und umgestürzt wer-den. Und abends dann, in der Lounge, hörenwir den Remix von Supertramp.

KONTAKT Prof. Helmut Fend, Pädagogisches Insti-tut der Universität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Gemeinschaftsprojekt derUniversitäten Zürich und Konstanz unter der Lei-tung von Prof. Helmut Fend und Prof. Werner Georg

FINANZIERUNG Schweizer Nationalfonds, Deut-sche Forschungsgemeinschaft

FORSCHUNG

EPO LÄSST ZELLEN LÄNGER LEBEN

Das Bluthormon Epo, das Nierenpatienten zur Blutbildung und einige Sportler alsDoping verwenden, kann Zellen in Gehirn, Herz oder Auge vor Schäden bewahren.Es könnte aber auch das Wachstum von Tumoren provozieren. Von Helga Kessler

Freude und Enttäuschung liegen in der Wis-senschaft manchmal eng beieinander. Noch imFebruar 2004 waren der VeterinärphysiologeMax Gassmann und die Forschungsgruppe umChristian Grimm von der Augenklinik des Uni-versitätsspitals Zürich für die Entdeckunggeehrt worden, dass das Bluthormon Erythro-poietin Sehzellen vor Schäden bewahrt. Womög-lich eigne sich Epo auch für die Therapie bislangunheilbarer erblicher Netzhauterkrankungenwie der Retinitis pigmentosa oder der Makula-degeneration, hofften die Forscher seinerzeit.Doch bereits einen Monat später zeigte sich,dass Epo zumindest bei den zwei untersuchtenMausmodellen für Retinitis Pigmentosa nichthilft. «Das war enttäuschend», sagt Gassmann,aber gleichzeitig war es Ansporn, weiter nachAnwendungen zu suchen und die Tests auf wei-tere Augenerkrankungen auszudehnen.

Tatsächlich entpuppt sich Epo immermehr als Allzweckhormon. Zellen in der Niereschütten das Hormon aus, wenn die Luft sau-erstoffärmer wird, zum Beispiel in grossenHöhen. Über das Blut gelangt der Stoff insKnochenmark, wo er die Reifung der roten Blut-körperchen anregt. Die Zahl der Erythrozytenim Blut nimmt zu. Damit verbessert sich dieSauerstoffversorgung.

HORMON IM HIRN

Ein Mangel an Sauerstoff schadet allen Zellen.Besonders empfindlich sind die Nervenzellen imGehirn. Es ist daher wenig überraschend, dassEpo auch in Hirnzellen vorkommt. Die Hirn-zellen produzieren das Hormon selbst, und siebesitzen einen Rezeptor, an den Epo andockenkann. «Wir wissen nicht, welche FunktionEpo im gesunden Gehirn hat», sagt Gassmann,«wir wissen aber, dass es die Hirnzellen nach

einem Infarkt vor dem Zelltod schützt.» EinePilotstudie aus dem Jahr 2002 an Hirnschlag-patienten hat gezeigt, dass das beschädigteHirnareal deutlich kleiner ist, wenn innerhalbvon acht Stunden nach dem Infarkt Epo gespritztwird. Inzwischen wurde eine grosse Studiebegonnen. Ebenfalls in Arbeit ist die Suche nachepoähnlichen Medikamenten, die zwar eineneuroprotektive Wirkung haben, die Erythro-zytenreifung aber nicht beeinflussen. Denn zuviele Erythrozyten könnten die Blutgefässe ver-stopfen – ein Hirninfarkt wäre die Folge.

Wenn Epo die Nervenzellen im Augewie im Gehirn schützen kann, trifft dies dannauch für Zellen des Rückenmarks zu? Die Ant-wort lautet ja. Unterbricht man bei Tieren dieBlutzufuhr im Rückenmark für kurze Zeit oderübt Druck auf das Rückenmark aus und simu-liert damit ein Trauma, dann reduziert Epo denZerfall der Zellen und verbessert die neurolo-gischen Symptome. Vorausgesetzt, das Blut-hormon wird unmittelbar nach der Verletzunggespritzt und die Verletzung ist reversibel. Epokönnte also beispielsweise zur Behandlungeines Bandscheibenvorfalls eingesetzt werden.Ist dagegen das Rückenmark durchtrennt, kannauch Epo nicht mehr helfen.

Hoffnungen weckt der Befund, dassauch Herzmuskelzellen Eporezeptoren tragen.In Versuchen an Mäusen, die in Zusammenar-beit mit der Abteilung Kardiologie des Univer-sitätsspitals Zürich durchgeführt wurden, zeig-te sich, dass nach einem Infarkt weniger Herz-muskelzellen abstarben, wenn den Tieren vor-her Epo gespritzt wurde. Daneben finden sichEporezeptoren auch in der Lunge, in derGebärmutter und in den Hoden. Welche Funk-tion das Bluthormon in den jeweiligen Organenhat, ist unklar. Zumindest für die Gehirnzellen

WEBSITE www.vetphys.unizh.chUNIMAGAZIN 2/04

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hat Gassmann eine Theorie: Epo könnte dafürsorgen, dass bei dünner Luft in grosser Höhe dieAtmung schneller angepasst wird. Womöglichsteuert Epo im Gehirn also die Atmung.

NACHTEIL FÜR KREBSTHERAPIE?

Doch Epo hat nicht nur positive Eigenschaften.Die Risiken zeigen sich vor allem dann, wennes in grossen Mengen und über einen langenZeitraum verwendet wird. So traten bei Mäusenmit einem hohen Epogehalt nach acht MonatenSchäden in den Muskeln und in der Niere auf –die Tiere werden nur halb so alt wie «normale»Mäuse. «Ein Athlet, der sich mit Epo dopt, müss-te schon mal über Langzeitschäden nachden-ken», sagt Gassmann.

Schwer wiegen Befürchtungen, dassdas Bluthormon in der Krebstherapie nachteiligwirken könnte: Krebspatienten bekommenhäufig Epo, um eine strahlungsbedingte Blut-armut zu behandeln, beziehungsweise wegendes Schutzeffekts, den Epo auf viele Organe hat.Inzwischen weiss man aber, dass Krebszellen inder Brust, in der Gebärmutter oder im GehirnEporezeptoren tragen. Bindet Epo an dieseRezeptoren, könnte dies das Überleben vonKrebszellen fördern. In diese Richtung lassensich jedenfalls zwei neuere Studien interpre-tieren. «Dagegen spricht, dass bei Nieren-patienten, die lebenslang Epo spritzen, bislangkeine erhöhte Krebsanfälligkeit beobachtetwurde», sagt Gassmann. Zudem wiesen diebeiden Studien methodische Mängel auf. DerPhysiologe bleibt daher optimistisch. Für dieZukunft rechnet er statt mit weiteren Hiobs-botschaften mit der Entdeckung neuer Anwen-dungen des Bluthormons. Womöglich, so Gass-mann, «beeinflusst Epo die kognitiven Fähig-keiten im Gehirn, vielleicht auch das Verhalten».Das Hormon, so scheint es, ist noch lange nichtvollständig erforscht.

KONTAKT Prof. Max Gassmann, Direktor des Institutsfür Veterinärphysiologie der Universität Zürich,[email protected]

ZUSAMMENARBEIT PD Dr. Christian Grimm, Oph-thalmologie und PD Dr. Frank Ruschitzka, Kardiologiedes Universitätsspitals Zürich

FINANZIERUNG Schweiz. Nationalfonds, EU-For-schungsprogramm HEALTH, verschiedene Stiftungen

Bei Mäusen, denen Epo gespritzt wurde, sterben bei einem Infarkt weniger Herzmuskelzellen ab.

BILD Jos Schmid

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WÜRSTCHENBUDE ODERKUNSTGELENKE?

Die einen investieren in Hightech-Unternehmen, andere in Fastfood-Ketten – Betei-ligungsgesellschaften arbeiten mit sehr unterschiedlichen Strategien. Eine wirt-schaftswissenschaftliche Studie zeigt erstmals wie. Von Michael T. Ganz

Apple, Intel, Fedex, Starbucks: Gross gewordensind sie alle dank Venture Capital. Der Begriffstammt aus den USA, denn dort entstanden baldnach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Ven-ture-Capital- oder Beteiligungsgesellschaften.Eine Beteiligungsgesellschaft wirbt Investorenan und vergibt Gelder meist an neu zu grün-dende oder noch junge Firmen mit innovativemUnternehmensziel. Sie unterstützt und kon-trolliert deren Management, sorgt für fort-schreitenden Erfolg und hilft den Jungunter-nehmen schliesslich an die Börse. Im Unter-schied zum herkömmlichen Bankkredit gehörtzum Venture Capital also ein umfassendesGründungsmanagement, von der Idee bis hinzum Börsengang.

Seit Mitte der Neunzigerjahre fas-sen Beteiligungsgesellschaften auch in der Schweiz Fuss. Wie viele es sind, ist schwer zu sagen: Die Swiss Private Equity and Cor-porate Finance Association, Dachorganisationder Beteiligungsgesellschaften, hat zwar nur gut fünfzig Vollmitglieder, tatsächlich dürfte die Zahl der Venture-Capital-Firmen hierzu-lande jedoch wesentlich grösser sein. «Manbekommt in der Schweiz leider keine genaue-ren Daten», sagt Carola Jungwirth vom Lehr-stuhl für Unternehmensführung und -politik ander wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät derUniversität Zürich.

NICHT NUR HIGHTECH

Ein Zufall brachte Carola Jungwirth auf dasThema ihrer Studie. An einer Tagung kam siemit einem Unternehmensberater ins Gespräch,der trotz gerade herrschender Rezession insVenture-Capital-Geschäft eingestiegen war undmit kleinen Summen Firmen finanzierte, die in durchaus traditionellen Bereichen tätig

waren – Zulieferung, Strassenbeschilderung,Softwarelösungen im Logistikbereich. «Das waranders als das, was ich von Venture-Capitalistenbis dahin gehört hatte, nämlich dass sie stets nur mit hohen Summen im Hightechbereichoperieren», sagt Carola Jungwirth. «Dass einerdas abschöpft, wofür sich die Grossen derBranche nicht interessieren, leuchtete mir ein. Aber, fragte ich mich, war das ein Einzelfall,oder hatte das System?»

Damit war die Studie geboren. Ge-meinsam mit Kollegin Petra Moog vom Lehr-stuhl für empirische Methodik entwarf CarolaJungwirth einen Fragebogen, den sie an mehrals zweihundert Beteiligungsgesellschaften inder Schweiz, in Deutschland und in Österreichschickte. Die Rücklaufquote war mit rund 47Prozent überdurchschnittlich gut, «wir haben daauch ein wenig Druck gemacht», gesteht Jung-wirth. Ihr Hauptinteresse galt den Strategien,welche die befragten Venture-Capital-Gesell-schaften beim Zusammenstellen ihrer Portfolioswählten. Dabei hatte Jungwirth den Leitsatz desWirtschaftswissenschafter-Duos Michael Jensenund William Mecklings im Kopf, wonach dieHandlungsoptionen eines Menschen lediglicheine Funktion dessen sind, was er weiss. «DerVenture-Capitalist wird genau diejenigen Pro-jekte suchen, die seinem Wissen und seinerErfahrung entsprechen. Gehe ich also vonseinem Wissen aus, kann ich seine Strategie-wahl prognostizieren. Das war meine These»,sagt Carola Jungwirth.

Bislang hatte die Forschung Beteili-gungsgesellschaften nur unsystematisch kate-gorisiert, hatte Fragen gestellt wie: In welchemStadium wird investiert? Welche Summen wer-den bezahlt? Wie gross sind die Portfolios?Warum nur solche und keine anderen Faktoren

FORSCHUNG

WEBSITE www.unizh.ch/isu/fuehrung

Hightechfirma oder traditionelles Unternehmen? Was

BILD Jos Schmid

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die Strategie einer Beteiligungsgesellschaftbestimmen sollten, hatte die Forschung indesnie geklärt. Carola Jungwirth schuf deshalb eineneue und grundsätzliche Kategorie, die syste-matische Prognosen zur Strategiewahl erlaubt:die «Wissensausstattung des Venture-Capita-listen». Fazit ihrer Studie: Vom spezifischenWissen und der Erfahrung eines Venture-Capitalisten – seinem Humankapital, wie es imJargon heisst – lässt sich tatsächlich auf dieStrategiewahl schliessen. Jungwirth hatte zweiTrends prognostiziert und konnte diese nunempirisch nachweisen.

GENERALISTEN UND SPEZIALISTEN

Erstens stellte sie den Trend zum Generalistenfest: Dieser ist zum Beispiel Jurist oder Betriebs-wirtschaftler, verfügt also über ein gutes Allge-mein-, aber nicht über spezifisches Branchen-wissen. Er investiert vornehmlich kleinereSummen von jeweils 0,5 bis 1,5 Millionen Euroin bewährte, eher traditionelle Unternehmen –eine Bäckerei, die neue Filialen eröffnet, eineSoftwarefirma, die ein Programm für Hoch-zeitsplanung entwickelt, einen privaten Strom-anbieter, der sich mit Windkraft versucht. DieStrategie des Generalisten heisst Diversifikation.Er ist nicht allzu wählerisch, begleitet dasManagement «seiner» Firmen jedoch aus nächs-ter Nähe und greift in die Geschäftsführung ein.Das gibt ihm die nötige Sicherheit. Um Infor-mationslücken zu schliessen, arbeitet derGeneralist zudem aktiv mit anderen Venture-Capitalisten zusammen.

Der zweite Trend ist der zum Spezialis-ten: Dieser hat zum Beispiel Biotechnologiestudiert, eine Managementausbildung gemachtund war länger in der Betriebsführung oder in der Forschung tätig. Er investiert Summenvon jeweils 2 bis 10 Millionen Euro gezielt inHightech-Unternehmen – medizinaltechnischeFirmen etwa, die Implantate und Instrumentefür Knochenbruch-Operationen bauen oderbiotechnische Firmen, die mit Stammzellendas Wachstum von dritten Zähnen auslösen. DerSpezialist hat ein spezifisches Wissen; seine Stra-tegie ist es, sich auf eine oder zwei Branchen zubeschränken, die er jedoch wie seine Hosenta-sche kennt. Er mischt sich nicht gross ins Unter-nehmensgeschehen ein, hat seine Schäfchen

Venture-Capitalisten wissen, entscheidet darüber, wie sie ihr Geld investieren.

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ATTACKIERTE NERVEN

T-Helferzellen sind an der Entstehung der Multiplen Sklerose beteiligt. Doch dieUrsachen der heimtückischen Krankheit sind noch ungeklärt. Im MS-Forschungs-zentrum versuchen Wissenschaftler Licht ins Dunkel zu bringen. Von Carole Enz

Unser Immunsystem besteht aus verschiedenenZelltypen, die sich auf krank machende Virenund Bakterien stürzen oder verschmutzte Wun-den säubern. Doch manchmal irren sich dieseAbwehrzellen. Wenn das Immunsystem körper-eigenes Gewebe angreift, spricht man voneiner Autoimmunerkrankung. Multiple Sklero-se (MS) ist eine solche Krankheit und betrifft dasNervensystem. MS tritt bei den meisten Betrof-fenen in Schüben auf und führt zu Entzün-dungen im Gehirn, an den Sehnerven und imRückenmark. Da die Krankheit praktisch jedenTeil des Zentralnervensystems betreffen kann,ist es nicht überraschend, dass eine MS-Er-krankung auch mit einer Vielzahl unterschied-licher Anzeichen beginnen kann.

Je nach Lage der Entzündungsherde,den so genannten Plaques, treten Symptome wieKribbeln oder Taubheit in Armen und Beinen,Lähmungen, Gleichgewichts-, Seh- oder Bla-senstörungen auf. Nach dem Abheilen einerEntzündung vernarbt das Gewebe; bleibendeBehinderungen sind daher möglich. MS betrifftmeist junge Erwachsene – Frauen etwa doppeltso häufig wie Männer. In der Schweiz sind überzehntausend Menschen davon betroffen. DieUrsache ist bis heute ungeklärt und weltweitGegenstand intensiver Forschung – auch an derUniversität Zürich.

VOM LABOR ZUM PATIENTEN UND ZURÜCK

Professor Martin Schwab vom Zentrum fürNeurowissenschaften Zürich (ZNZ) sowie diebeiden Medizin-Professoren Jürg Kesselringund Adriano Fontana sind die geistigen Väterdes MS-Forschungszentrums der UniversitätZürich, das seit Januar 2003 existiert und mitzwei Assistenzprofessuren bestückt ist. Diesewerden mitsamt dem dazugehörigen Teamdurch das «National Competence Center inResearch» (NCCR) und die Biotech-Firma Sero-

no unterstützt. Letztere finanziert das For-schungszentrum in den nächsten sechs Jahrenmit sechs Millionen Franken. Vertraglich ist fest-gehalten, dass die Forschenden in ihrer Arbeitnicht durch die Biotech-Firma beeinflusst wer-den, sondern reguläre Angestellte der Univer-sität Zürich sind. Die Firma hat lediglich dasVorrecht auf Lizenzen an allfälligen Patentendes Forschungszentrums. Als Assistenzprofes-soren wurden die beiden NeuroimmunologenBurkhard Becher und Norbert Goebels ernannt.Bechers Grundlagenforschung und Goebelsklinisch orientierte Forschung sind dadurch engmiteinander verzahnt. Becher beschreibt estreffend: «Wir arbeiten nach dem Motto: VomLabor zum Patienten und zurück. Wir könnendank dieser Konstellation viel rascher vonein-ander profitieren und unsere Forschung vielschneller vorantreiben als bei der üblichenKooperation zweier Institute.»

Bechers Grundlagenforschung stütztsich auf Tierversuche, um die Interaktionen vonImmunsystem und Gehirn zu erforschen. SeineMäuse leiden an einer Krankheit, die der MSsehr ähnlich ist und experimentelle Autoim-mun-Enzephalomyelitis (EAE) genannt wird –experimentell, weil sie künstlich erzeugt wird.Dank diesem Tiermodell steht Bechers Teamvor wichtigen Publikationen und dem erstenPatent. Die eine von zwei Erkenntnissen betrifftden Auslöser für die Krankheit: die so genann-ten CD4+ T-Helferzellen. Der Name beschreibtein Oberflächenprotein, das charakteristisch istfür diesen Typ von T-Helferzellen. Um aber MSauslösen zu können, braucht eine solche T-Hel-ferzelle ihrerseits eine weitere Helferzelle, dieihr das Ziel der Attacke, das Antigen, präsentiert.Im Fall von MS ist das Antigen vermutlich einkörpereigenes Oberflächenprotein von Ner-venzellen. Erst nach der Antigenpräsentationerfolgt die zerstörerische Immunreaktion. Zel-

FORSCHUNG

UNIMAGAZIN 2/04 WEBSITE www.unizh.ch/neurol

zuvor aber äusserst sorgfältig ausgewählt.«Der Spezialist nimmt nur die Besten derBranche und spart sich damit späteren Be-treuungsaufwand», sagt Carola Jungwirth.

INVESTOREN TRAUEN SICH NICHT

Die in der Studie ausgewerteten Beteili-gungsgesellschaften liessen sich je zur Hälf-te den beiden Trends zuordnen. Doch wemnützen solche Erkenntnisse? Letztlich allen– dem Investor, der Beteiligungsgesellschaftund der geförderten Firma. «Den Venture-Capital-Märkten in Deutschland, Österreichund der Schweiz fehlen Privatanleger, derenKapital fürs Wachstum kleiner, innovati-ver Unternehmen unerlässlich ist. Aber dieInvestoren wissen nicht, wie die Märktefunktionieren, und trauen sich deshalb nichtzu investieren», erklärt Jungwirth.

Genau da soll ihre Arbeit weiter-helfen. Denn ob das Wissen eines Venture-Capitalisten zur Auswahl seiner Zielfirmenpasst oder nicht, gibt mindestens soviel Auf-schluss über seine Qualitäten wie seine Per-formance und sein Portfolio. Erfolgszahlenunterliegen bekanntlich starken Schwan-kungen, und eine wohlklingende Firmenlisteist noch lange keine Gewähr für den richtigenRiecher. «Ein paar winzige Anteile an erfolg-reichen Grossunternehmen, und jedesnoch so problematische Portfolio sieht be-eindruckend aus», sagt Carola Jungwirth.«Deshalb lohnt es sich, aufs Humankapitaldes Venture-Capitalisten zu schauen. StellenSie sich vor, ein Venture-Capitalist ist Biotech-nologe und investiert in eine Würstchenbude.Oder er ist Jurist und investiert in ein hochspezialisiertes biotechnologisches Jungun-ternehmen. Da muss ich mich als Investorindoch fragen: Warum tut er das? Und kommtdas gut raus?»

KONTAKT Dr. Carola Jungwirth, Lehrstuhl fürUnternehmensführung und -politik, Institut fürStrategie und Unternehmensökonomik der Uni-versität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Dr. Petra Moog, Lehrstuhlfür empirische Methodik der Arbeitsbeziehungenund der Arbeitsökonomik, Universität Zürich

FINANZIERUNG Universität Zürich; Richard-Büch-ner-Stiftung

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len, die Antigene präsentieren, gibt es im gan-zen Körper. Doch bisher war unklar, ob es auchwelche im Gehirn gibt und – falls ja – welcherZelltyp dort die Antigenpräsentation vornimmt.Der Verdacht fiel auf so genannte Mikroglia-zellen. «Wir wollten ursprünglich beweisen,dass sie bei der Erkrankung eine zentrale Rollespielen. Wir waren völlig überrascht, dassunsere Vermutung falsch war. Mikrogliazellenkönnen keine Antigene präsentieren», erklärtBecher. Seine Forschung war aber nichtumsonst. Er kam via falsche Fährte zu seinenjüngsten Erkenntnissen: «Wir haben herausge-funden, dass dendritische Zellen an der Blut-Hirn-Schranke das Antigen präsentieren.»

Dass dendritische Zellen Immunreak-tionen im Körper auslösen, ist schon lange be-kannt, denn dort sind sie ein häufig anzutref-fender Zelltyp. Anders im Gehirn: Dort kommenpraktisch keine vor. Vereinzelt sind sie auf derHirnhaut und an der Blut-Hirn-Schranke zu fin-den. Dass ausgerechnet diese Zellen, die imGehirn so selten sind, die Nerven-ErkrankungMS auslösen sollen, hat die Forscher daher über-rascht. Laut Becher spielen die dendritischenZellen sozusagen die Pförtner, die die Blut-Hirn-Schranke für T-Helferzellen öffnen.

GUTE GENE, BÖSE GENE?

Nun ist zwar geklärt, wie T-Helferzellen insGehirn gelangen, doch keinesfalls, warum eineT-Helferzelle von der Heilerin zur Kampfma-schine mutiert. Bechers zweite Erkenntnisliefert Antworten: «Bisher ging man davon aus, dass ein bestimmter Charakterzug einer T-Helferzelle dafür verantwortlich ist, dass die Krankheit ausbricht.» Von T-Helferzellen(TH) gibt es nämlich zwei Typen: TH1 und TH2.Diese Charakterisierung hat man laut Becherbereits im Jahre 1989 vorgeschlagen. TH1 sollder aggressive, TH2 der ruhige Typ sein.Becher hat herausgefunden, dass diese verein-fachende Unterscheidung von Gut und Böse beikomplexen Autoimmunerkrankungen wie MSnutzlos ist. Auch friedliche TH2-Zellen könnenaggressiv reagieren.

«Wir haben bei den Mäusen die bösenGene herausgenommen. Das hat die Krankheitnicht etwa gestoppt – im Gegenteil: alles wurdenoch viel schlimmer. Daraufhin benutzten wir

Bei Multiple-Sklerose-Patienten treten an verschiedenen Stellen im Gehirn, an den Sehnerven undim Rückenmark entzündliche Veränderungen auf.

BILD Jos Schmid

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Mausstämme, die weder über den TH1- nochüber den TH2-Charakter verfügten. Wir habendabei ein Gen entdeckt, das vermutlich für denaggressiven Charakter der T-Helferzelle ver-antwortlich ist, aber nichts mit der Einteilungvon 1989 zu tun hat. Das Gen führt zur Bildungeines Botenstoffs. Einer kranken Maus verab-reicht, verschlimmert dieser Botenstoff dieKrankheit massiv. Jetzt versuchen wir heraus-zufinden, was passiert, wenn wir das Gen ausder Maus rausnehmen », erklärt Becher und fügtzuversichtlich hinzu: «Das Gen kommt auchbeim Menschen vor, und wir werden gemein-sam Studien durchführen, um herauszufinden,ob es bei MS tatsächlich eine Rolle spielt.»

Becher nennt das Gen aber nicht, da dieEntdeckung gerade patentiert wird. Goebelsunterstreicht: «MS ist trotz einer gewissengenetischen Veranlagung keine genetischeKrankheit. Wir alle tragen dieses Gen in uns.Vermutlich ist es für eine normale Immunab-wehr wichtig. Doch wenn jemand eine Auto-immunkrankheit hat und dieses Gen überpro-portional aktiv ist, dann könnte dies auch beimMenschen den Krankheitsverlauf beeinflus-sen.» Diese Erkenntnis lässt die Hoffnung auf-keimen, dass die Ursache für MS eingekreistworden ist, doch Goebels relativiert: «Anders alsim Mäusemodell ist es beim Menschen nochnicht klar, was genau die Krankheit auslöst undwelche Immunzellen hauptsächlich für dieSchäden im Gehirn verantwortlich sind. BeimMenschen spielt wahrscheinlich auch einanderer Typ von T-Zellen eine Rolle, die so ge-nannten CD8+ T-Zellen. Solche Zellen kommenin den Plaques und in der Hirnflüssigkeit vonMS-Betroffenen stark vermehrt vor und lassensich noch nach Jahren nachweisen. Momentanuntersuchen wir, inwieweit diese Zellen an derSchädigung der Nervenzellen und am Fort-schreiten der Krankheit beteiligt sind.»

Diese wichtigen Resultate hat Goebelsin seiner aktuellsten Publikation veröffentlicht.Der Forscher gelangt aber normalerweise nichtan Gehirnproben von lebenden MS-Patienten.Seine Erkenntnisse verdankt er zwei Zufällen:Einer Person wurde ein vermeintlicher Gehirn-tumor herausoperiert, bei einer anderen wegenTumor-Verdachts eine Gehirnprobe entnom-men. Die erkrankten Gewebe stellten sich spä-

ter als MS-Plaques heraus. In diesen Plaqueswurden die erwähnten T-Zellen entdeckt. Siekonnten zudem im Nervenwasser und im Blutderselben Personen über Jahre hinweg nach-gewiesen werden.

Jetzt müssen die Forscher herausfinden,gegen was diese Immunzellen gerichtet sind. Istes tatsächlich ein Oberflächenprotein von Ner-venzellen? Oder könnte es gar ein Virus sein?Oder etwas ganz anderes? Goebels und Bechersuchen derzeit Antworten auf diese Fragen. Dar-über hinaus interessieren sie sich auch dafür,ihre Resultate in die Praxis umzusetzen undneue Therapiemethoden zu entwickeln. Dabeiist hilfreich, dass Goebels neben seiner For-schungstätigkeit zu 30 Prozent als Arzt und alsLeiter der MS-Ambulanz am UniversitätsspitalZürich arbeitet und somit die vielen Facettender heimtückischen Krankheit kennt.

SCHWIERIGE DIAGNOSE

Laut Dr. Andrea Gerfin von der SchweizerischenMS-Gesellschaft beginnt die Krankheit bei rund85 bis 90% aller MS-Betroffenen mit Schüben.Zwischen zwei Schüben normalisiert sich derkörperliche Zustand oft. Es können jedochauch Behinderungen zurückbleiben. Bei etwader Hälfte dieser Patientengruppe geht dieKrankheit später in einen chronischen Verlaufüber. Dann verschlechtert sich der Zustand derBetroffenen fortschreitend und zumeist irre-versibel. Bei rund 10 bis 15% aller MS-Betrof-fenen ist die Krankheit von Beginn an chronisch.Bei weniger als 5% dieser Patientengruppe istder Verlauf bösartig und führt innerhalb weni-ger Jahre zu schweren Behinderungen.

Das Bild des MS-Patienten im Rollstuhltrifft daher nur für die wenigsten zu. Statistischgesehen sind zwei Drittel aller Betroffenen25 Jahre nach Krankheitsbeginn immer nochgehfähig. Die Hälfte der Gehfähigen arbeitetdann sogar noch. In jedem Fall ist eine rascheund sichere Diagnose der Krankheit wichtig, da man heute davon ausgeht, dass sich ein frü-her Behandlungsbeginn günstig auf den weite-ren Krankheitsverlauf auswirkt. Doch in Einzel-fällen ist eine sichere Diagnose schwierig zustellen. Andere Krankheiten können eine MS vortäuschen: etwa kleine Schlaganfälleoder Migräne-Attacken, Bandscheibenvorfäl-

le, Tumore im Rückenmarkskanal, Vitamin-mangel oder andere Autoimmunerkrankun-gen. Ausserdem gibt es heute Hinweise dafür,dass unter dem Begriff Multiple Sklerosenicht eine, sondern verschiedene Krankhei-ten zusammengefasst werden.

HEILUNG NICHT IN SICHT

Alle Formen von MS haben aber eines ge-meinsam, nämlich drei typische Krankheits-phasen: Entstehung, Entzündung, Degene-ration. In allen drei Phasen könnte mantheoretisch eingreifen. Heutige Behand-lungsmethoden können aber die Krankheitnoch nicht heilen, sondern basieren vorwie-gend auf Schub- und Langzeittherapien.Schubtherapien sollen eine akute Entzün-dung möglichst rasch zum Abklingen brin-gen. Langzeittherapien versuchen das Im-munsystem in seine Schranken zu verweisenund können den Krankheitsverlauf oft ver-langsamen. Doch beim chronischen Verlaufder Krankheit sind die Behandlungsmöglich-keiten derzeit noch deutlich eingeschränkterals beim schubförmigen Verlauf.

Vom «Krankheitsmanagement» zurHeilung ist es noch sehr weit. Goebels siehtdaher mehrere Forschungsschwerpunkte:«Neben der Verbesserung der aktuellenImmuntherapien müssen Strategien ent-wickelt werden, einmal entstandene Schädenzu reparieren. Doch in Zukunft müssen wir die Ursache der MS finden und behan-deln, ohne wie bisher das gesamte Immun-system zu beeinflussen.» Burkhard Becherund Norbert Goebels jedenfalls strahlenZuversicht aus.

KONTAKT Prof. Norbert Goebels, [email protected] und Prof. Burkhard Becher, [email protected], Neurologische Klinik des Universitäts-spitals Zürich

ZUSAMMENARBEIT Schweizerische MS-Gesell-schaft und andere MS-Zentren (u.a. UniversitätBasel und Klinik Valens)

FINANZIERUNG National Competence Center inResearch, Firma Serono

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EIN OHR FÜR WALE

Im Sommer im Schlauchboot auf dem St.-Lorenz-Golf in Kanada, im Winter hinterdem Computer am Zoologischen Institut. Die Anforderungen an die WalforscherinLucia Di Iorio könnten unterschiedlicher nicht sein. Von Barbara Baumann

FORSCHUNG

Lucia Di Iorios Büro entspricht nicht den land-läufigen Vorstellungen vom Arbeitsplatz einerMeeresbiologin: Keine Plakate mit buntenFischen, keine exotischen Muscheln und auchkeine Aquarien. Nur ein kleiner, aufblasbarerGummiwal schaut verschmitzt hinter einemBuch hervor. «Das ist Mistamek, das Maskott-chen des Mériscope-Teams», erklärt die For-scherin, «in der Sprache der Innu-Indianer

bedeutet Mistamek grosser Fisch». Unverhohlenschweifen die Gedanken der zierlichen Frau indie Ferne, über den weiten Atlantik zu einer wildzerklüfteten Meeresküste in Kanada.

Dort, am St.-Lorenz-Golf, liegt die Wal-forschungsstation Mériscope, die vor rund vierJahren vom Zürcher Meeresbiologen DanyZbinden ins Leben gerufen wurde. Im Sommer2001 schloss sich Lucia Di Iorio dem Mériscope-

Team an. Seither unterstützt sie Zbinden bei derFeldarbeit, leitet im Sommer Exkursionen aufhoher See und versucht, mit Hilfe von Kursenund Vorträgen die Öffentlichkeit für die Bedürf-nisse der Wale zu sensibilisieren.

WELT VOLLER TÖNE

In letzter Zeit kümmert sich die Meeresbiologinaber vor allem um ihr eigenes Projekt. SeitAnfang dieses Jahres wird Lucia Di Iorio näm-lich mit einem Forschungskredit der UniversitätZürich unterstützt. Nun will sie im Rahmeneiner Doktorarbeit die akustischen Signale vonBlau- und Finnwalen im St.-Lorenz-Golf unter-suchen. Di Iorio: «Wale leben in einer Welt vol-ler Töne. In den dunklen Ozeanen können sichdie Meeressäuger nur wenig auf ihre Augen ver-lassen und benutzen darum Schallwellen, um

Den Walen zuhören: Mit Unterwassermikrofonen werden akustische Signale der riesigen Meeressäuger festgehalten.

UNIMAGAZIN 2/04 WEBSITE www.whales.ch

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Wale können Laute mit tiefen Frequenzen produzieren, die über hunderte von Kilometern zu hören sind.

BILDER Lucia Di Iorio

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sich zu orientieren, aber auch um Nahrung zuorten oder um sich mit Artgenossen zu ver-ständigen. Einige Grosswale geben tieffre-quente Laute von sich, die selbst über hunder-te von Kilometern zu hören sind und den einsamlebenden Riesen die Paarbildung über weite Dis-tanzen ermöglichen.»

Obwohl Aufnahmen von Walgesängenschon seit längerem in rauen Mengen gemachtwerden, kennt man in vielen Fällen die genaueBedeutung dieser akustischen Signale nicht. Der Grund ist naheliegend. Die meisten Auf-nahmen werden mit automatisch betriebenenUnterwassermikrofonen – so genannten Hydro-fonen – in Abwesenheit von Menschen gemacht.Lucia Di Iorio will diesem Trend entgegen-wirken. Während die von ihr positioniertenHydrofone die Laute vorbeischwimmender Waleaufzeichnen, will sie in einem Schlauchbootsitzen und aus nächster Nähe das Fress- undSozialverhalten der Meeresriesen mitverfol-gen. Diese Verhaltensstudien werden der jungenWissenschaftlerin helfen, die aufgenommenenLautäusserungen so gut wie möglich zu ent-schlüsseln.

WAL-DIALEKTE AUFSPÜREN

Für diese Feldstudien hätte die Doktorandinkaum einen besseren Ort als den St.-Lorenz-Golffinden können. Während der Sommermonatetummeln sich in diesen nährstoffreichen Ge-wässern mehrere Arten von Barten- und Zahn-walen und fressen sich dort die Fettreserven fürein ganzes Jahr an. Ist das Wetter zu stürmisch,um in See zu stechen, lassen sich die Meeres-riesen im Notfall sogar vom Festland aus beob-achten. Zudem darf die junge Forscherin auf die tatkräftige Unterstützung des Mériscope-Teams zählen, das im Bereich Bioakustik bereitswertvolle Erfahrungen gesammelt hat.

Für ihre Untersuchungen in den St.-Lorenz-Gewässern will die Meeresbiologin vierzusammengeschaltetete Unterwassermikrofonein Zickzack-Formation am Meeresgrund ver-ankern. Dank einer solchen Anordnung kannsie sowohl Unterwassergeräusche aufnehmen,als auch die Bewegungen der vorbeischwim-menden Tiere verfolgen. Di Iorio: «Die Gerätewerden während vierzig Tagen ununterbrochenlaufen und alle Daten auf einer Festplatte spei-

chern.» Vorausgesetzt, alles läuft wie geplant,erwartet Lucia Di Iorio am Ende der Feld-periode ein gewaltiger Datenberg. Die Wissen-schaftlerin lacht: «Ohne professionelle Hilfewäre ich wohl jahrelang mit der Auswertungbeschäftigt.» Glücklicherweise wird dies aberkaum der Fall sein. Schliesslich stehen der enga-gierten Biologin bei der Verarbeitung und Ana-lyse der Daten gleich zwei Informatik-Gruppenzur Seite: das Institute for Perceptual and Arti-ficial Intelligence (IDIAP) in Martigny und dasBioacoustics Research Program (BRP) der Cor-nell-Universität in Ithaca. Welche Ergebnisseerhofft sich die junge Wissenschaftlerin von die-sem Projekt? «In Zusammenarbeit mit demIDIAP möchte ich ein Computerprogramm ent-wickeln, das mir ermöglicht, individuelle undarttypische Laute in den verschiedenen Auf-nahmen zu erkennen. Daneben werde ich dasLautrepertoire der St.-Lorenz-Wale mit Ton-aufnahmen von anderen Walpopulationen ver-gleichen, um einen allfälligen St.-Lorenz-Dialektausfindig zu machen.»

Das Wissen um einen solchen Dialektkönnte gemäss Di Iorio dazu eingesetzt werden,um die bisher weitgehend unbekannten Wan-derrouten der St.-Lorenz-Blau- und -Finnwale zuermitteln. «Die amerikanische Marine unterhältein Hydrofonnetz, welches den ganzen Nord-atlantik umspannt und ununterbrochen Unter-wassergeräusche registriert. Ein grosser Teildieser Aufnahmen werden in der MacaulayLibrary of Natural Sounds an der Cornell-Uni-versität aufbewahrt und sind Forschendenzugänglich.» Vorausgesetzt, der Doktorandingelingt es, einen spezifischen St.-Lorenz-Dialektzu identifizieren, würde sie diesen mit Hilfe derentsprechenden Computerprogramme in denAufnahmen der US-Marine wiedererkennen.Auf diese Weise könnte die Meeresbiologin die Wanderwege der St.-Lorenz-Wale selektivmitverfolgen.

BEDROHLICHER SCHIFFSLÄRM

Lucia Di Iorio hat aber noch ein anderes Ziel vor Augen: «Der St.-Lorenz-Golf gehört zu denbedeutendsten Schifffahrtsstrassen in Kanada.Die riesigen Frachter, die dort täglich ein- undauslaufen, verursachen einen unglaublichenLärm, der sich ohne Zweifel auch auf das

Verhalten der anwesenden Wale auswirkt.»Obwohl Tierschutzorganisationen schon seitlängerem darauf hinweisen, dass Schiffslärmeine ernsthafte Bedrohung für die vorwiegendakustisch orientierten Meeressäuger darstellt,konnten diese Vermutungen noch nicht wis-senschaftlich erhärtet werden. Dieses Mankowill Lucia Di Iorio mit ihrer Forschungsarbeitwettmachen: «Erst das Vorhandensein harterDaten bietet die sachliche Grundlage, umMassnahmen zum Schutz der Wale durchsetzenzu können.»

VON ERDMÄNNCHEN LERNEN

Die Meeresbiologin weiss auch schon, wie sie esanstellen wird, um die Auswirkung von Schiffs-lärm zu erforschen: «Ich will den Walen ver-schiedene Schiffsgeräusche vom Tonband vor-spielen und beobachten, wie sie darauf rea-gieren.» In der modernen Verhaltensbiologiesind solche Playback-Experimente sehr beliebt.Lucia Di Iorio verweist auf die Forschungs-arbeiten von Professor Marta Manser, die dieDissertation der jungen Walforscherin betreut:«Mansers Erkenntnisse über die Signalrufe derErdmännchen in Südafrika basieren grössten-teils auf Playback-Experimenten.» Lucia DiIorio ist zuversichtlich, dass ihre Wale genausoauf diesen Trick hereinfallen werden wie MartaMansers Erdmännchen – auch wenn die rie-sigen Wassertiere auf den ersten Blick kaumetwas mit den kleinen Wüstenbewohnerngemeinsam haben.

KONTAKT Lucia Di Iorio, Zoologisches Institut derUniversität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Prof. Christopher W. Clark, Cor-nell University, Ithaca, NY, USA; Dr. Samy Bengio, Insti-tute for Perceptual Artificial Intelligence, Martigny, CH

FINANZIERUNG Forschungskredit der UniversitätZürich. Der Forschungskredit unterstützt jährlichwiederkehrend herausragende Projekte von Nach-wuchsforscherinnen und -forschern.Weitere Informa-tionen unter: www.unizh.ch/forschung/dienste/for-schungskredit.html

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PROFIL

WAGNERS MUSENKUSS

Richard Wagner hat in Zürich die Muse geküsst. Und auch Zwingli liess die Klang-kunst nicht kalt. Jetzt dokumentieren Zürcher Forscher das reiche Musikschaffenin der Stadt und beleuchten sein soziales Umfeld. Von Sabine Witt

Wären Zwinglis Musikverbot, Wagners Wesen-donklieder oder die Tonhallegesellschaft ohneZürich denkbar? Wohl kaum. Doch bisher inter-essierte sich die Wissenschaft nur wenig für dieMusikstadt Zürich. Jetzt nehmen sich ausgerech-net zwei Forscher aus Deutschland des Themasan. Als Laurenz Lütteken und Hans-JoachimHinrichsen ihre Professuren in Zürich antraten,fanden sie reiches Archivmaterial zum Musik-leben vor. Doch niemand hatte dieses systema-tisch ausgewertet. Deshalb zogen Lütteken undHinrichsen ein Grossprojekt auf, das die musi-kalischen Tiefenschichten der Stadt Zürichvom Mittelalter bis in die Gegenwart ans Lichtund auch zu Gehör bringen soll.

Die Gründe für die klaffende For-schungslücke liegen nicht zuletzt in der mu-sikwissenschaftlichen Disziplin selber. Dasromantische Paradigma von der absoluten,abstrakten Musik wirkt bis heute im Fachdis-kurs nach. Die Ansicht, Musik entstehe ineinem bestimmten sozialen und gesellschaft-lichen Kontext , ist eher unüblich. Doch Hin-richsen und Lütteken sind von der «Welthal-tigkeit von Musik» überzeugt und erweiternin diesem Sinn das Terrain ihres Faches. Inihrem Projekt «Musik in Zürich – Zürich in derMusikgeschichte» fragen sie, wie musikali-sches Schaffen durch einen Ort und das sozia-le Umfeld – kurz: die Lebenswelt – beeinflusstwird. Zusammen mit ihren beiden Mitarbei-tenden möchten sie herausfinden, welche Rolledie Stadt Zürich in der Arbeit von Künstlernspielte, die hier lebten oder sich vorübergehendhier aufhielten; oder wie das musikalischeAlltagsleben in der Stadt in der Vergangenheitaussah und welche Spuren das städtischeLeben in der Musikgeschichte hinterliess. Einprominenter Gast der Stadt war Richard Wagner.In seinem Zürcher Exil von 1849 bis 1858 hatteder Komponist beispielsweise das Sechseläuten

miterlebt und die Eindrücke vom Zunftaufzugspäter in der Oper «Die Meistersinger vonNürnberg» in der Festwiesenszene verarbeitet.Trotz solcher offensichtlicher lokaler Einflüsseauf Wagners Schaffen sei die Dokumentation zudiesem Thema jedoch bislang unzureichend,sagt Lütteken. Zürich, das nicht durch eineadelige Obrigkeit regiert wurde, sei in man-cher Hinsicht ein Sonderfall. Einer der erstengrossen bürgerlichen Musikvereine überhaupt,die Allgemeine Musikgesellschaft Zürich, wur-de hier gegründet. Die Auswertung des in derZentralbibliothek ruhenden Archivs verheisseeinzigartige Aufschlüsse über die «Vergesell-schaftung von Musik». «Mit einer gewissenmethodischen Beharrlichkeit», so Laurenz Lüt-teken, «ist die systematische Aufarbeitung derMusikgeschichte einer Stadt noch nirgendsgeleistet worden.»

MUSIKHISTORISCHES MOSAIK

Das auf zehn Jahre angelegte Forschungsvor-haben bildet ein Gefäss für verschiedene Teil-projekte. Von einem methodischen Kern aus-gehend, soll im Laufe der Zeit ein musikhisto-risches Mosaik entstehen. Einige Themen sindin Arbeit, andere für spätere Phasen bereitsgesetzt: die Untersuchung des Mozart-Besuchsin Zürich 1766 anlässlich des Mozart-Jahres2006 etwa oder die Gründung der Tonhallege-sellschaft 1868 und der Neubau der Tonhalle1895; die Geschichte der Oper in Zürich mitUraufführungen wie Alban Bergs «Lulu» (1937)oder Paul Hindemiths «Mathis der Maler»(1938) sowie die «Neue Musik» im 20. Jahrhun-dert mit Exponenten wie Arthur Honegger oderOthmar Schoeck, die Beziehungen zu Zürichhatten. Die Zürcher Forscher wollen «anderssuchen und anders fragen». Sie machen, so Hin-richsen, «vor allem Tiefenbohrungen». Eineder ersten Bohrungen gilt der einst prominen-

ten Zeitgenossin Wagners Fanny Hünerwadel.Die nur 28 Jahre alt gewordene Lenzburgerinwurde als Sängerin, Pianistin und Komponistinim Zürcher Musikleben schnell bekannt. Wassie heute so interessant macht, ist ihr unge-wöhnliches musikalisches Album. Es enthältunter anderem sechzehn handschriftliche Ein-tragungen von Komponisten. Richard Wagnerwidmete ihr eine Passage aus dem «Vorspiel»von «Siegfrieds Tod», und Franz Liszt notierteeinige Takte der «Cantique d’amour» aus «Har-monies poétiques et religieuses». «Das Albumvon Fanny Hünerwadel ist in seiner planmässi-gen Anlage und gezielten Ausführung ein ein-zigartiges Dokument», erzählt Forschungsstel-lenleiter Bernhard Hangartner. Es gebe nichtnur Einblicke in das soziale Umfeld einer in Ver-gessenheit geratenen Frau, sondern auch in diekulturelle Landschaft der Stadt Zürich. Ziel die-ser Arbeit ist es, das Album zu edieren und es alsNebenprodukt auf einer CD samt sechs gewid-meten Liedern von Wilhelm Baumgartner zuGehör zu bringen.

WAGNERS EXIL

Wesentlich umfangreicher ist das zweite für denProjektstart ausgewählte Vorhaben «RichardWagner im Zürcher Exil». Die DoktorandinEva Martina Hanke recherchiert die Zeugnisseaus Wagners Zürcher Zeit und erfasst sie ineiner öffentlich zugänglichen Datenbank. «Anallen möglichen und unmöglichen Orten tau-chen Dokumente auf», berichtet sie. NebenBriefen in Privatarchiven und Nachlässen vonFamilien, in denen der Komponist einst ver-kehrte, liegen zahlreiche Materialien in derZentralbibliothek und im Stadtarchiv sowie –wenig überraschend – in Bayreuth. Die Darstel-lungen von Wagners Zürcher Aufenthalt – dieletzte ein zweibändiges Standardwerk aus denJahren 1934 und 1953 – seien zumeist derHeroengeschichtsschreibung verpflichtet. Soging bisher kaum jemand auf die Wechselwir-kungen zwischen Wagner und seinem ZürcherUmfeld ein, besonders auf die Rolle seiner Zür-cher Freunde, von denen viele wie Wagner sel-ber Sympathisanten der 1848er-Bewegungwaren. «Vielleicht», hofft Hanke, «wird meineArbeit der Puzzlestein, der zu Richard Wagnerund Zürich noch fehlt.»

WEBSITE www.musik.unizh.ch

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Weiter in die Vergangenheit zurück reicht dasdritte bereits angelaufene Teilprojekt «Musikin der Reformationszeit». Es ist auf den erstenBlick insofern ein paradoxes Unterfangen, alsman ausgerechnet im 16. Jahrhundert dieMusik für ein Dreiviertel-Jahrhundert aus derKirche verbannt hatte. Indizien deuten indesdarauf hin, dass im Alltagsleben, beispiels-weise in Schulen, weiterhin musiziert wurde.

MUSIKALISCHER ZWINGLI

Unklar ist auch, ob etwa die Tätigkeit des inZürich ansässigen Notendruckers ChristophFroschauer, der in dieser Zeit für Konstanz dieersten reformierten Liederbücher druckte, dasstädtische Musikleben beeinflusste. Kurioser-weise war der vehement fürs Musikverbot in derKirche eintretende Reformator Zwingli selbersehr musikalisch und komponierte und musi-zierte sicher auch zu Hause. Zürich war alsonicht einfach musiklos.

Dem offenen Charakter des Gesamt-projekts entspricht, dass die Forschungsergeb-nisse in verschiedenen Medien veröffentlichtwerden: als Monographien sowie kleinere Bei-träge zu Einzelaspekten, als Datenbank, Kon-zerte, CD-Einspielungen, Editionen von Musi-kalien oder Symposiumsbeiträgen. Irgendwannsoll zwar doch noch eine Musikgeschichteherauskommen, «aber in handlicher Form,mehr wie ein Leitfaden», sagt Hinrichsen. Nach Ablauf der zehn Jahre schwebt denMusikwissenschaftlern eine Institutionalisie-rung in Form einer landesmusikgeschicht-lichen Forschungsstelle vor, die über Zürichhinausstrahlt. Doch das ist vorerst nochZukunftsmusik.

PROJEKTLEITUNG Prof. Laurenz Lütteken und Prof.Hans-Joachim Hinrichsen, MusikwissenschaftlichesInstitut der Universität Zürich

KONTAKT Dr. Bernhard Hangartner, [email protected]

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfonds

Titan der Musikgeschichte zu Gast in Zürich: Richard Wagner in Bronze gegossen im Rieterpark.

BILD Jos Schmid

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«Every individual necessarily labors to renderthe annual revenue of the society as great as hecan. He generally indeed neither intends to pro-mote the public interest, nor knows how muchhe is promoting it. He intends only his own gain,and he is in this, as in many other cases, led byan invisible hand to promote an end which wasno part of his intention.» (Adam Smith, TheWealth of Nations, 1776).

Jeder einzelne trägt, indem er seineeigenen Interessen verfolgt, zum Wohle derGesellschaft bei. Der entfesselte Eigennutz undmit ihm die entfesselten Märkte sorgen, gelenktvon der «unsichtbaren Hand», für Wohlstand undProsperität. So geht die Mär, die seit den Zeitenvon Adam Smith nichts von ihrer Anziehungs-kraft eingebüsst hat. Was Adam Smith, dem Ur-vater der Volkswirtschaftslehre, recht war, ist denAdvokaten des Neoliberalismus billig. Der qua-sireligiöse Glaube an den Markt, der für die bestealler möglichen Welten sorgt, ist ungebrochen.

Im Fahrwasser dieser Ideologie wurdenin den 1990er-Jahren die Märkte weltweit inbisher unbekanntem Ausmass liberalisiert.Doch wurde damit der Wohlstand und dieWohlfahrt aller gemehrt? Mitnichten. Die 90er-Jahre werden vielmehr als ein Zeitalter derGier in die Geschichte eingehen, die einigenwenigen ungeahnten Reichtum beschert,gleichzeitig jedoch ganze Weltgegenden undBevölkerungsgruppen ärmer gemacht hat.Heute gebe es mehr Ungerechtigkeit als nochvor 20 Jahren, konstatiert Jakob Tanner, Pro-fessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte ander Universität Zürich: «Das betrifft die Vertei-lung der Einkommen, die Chancen auf demArbeitsmarkt und die Entschädigung fürbestimmte Formen der Arbeit.» Wer trägtdafür die Verantwortung? Eine der zentralenUrsachen für die wachsende ökonomischeUngleichheit liegt mehr als zwanzig Jahre

DIE UNSICHTBARE HAND

Weltweit ist das grosse Umverteilen in vollem Gange – von unten nach oben. Dochwer trägt dafür die Verantwortung – die Politiker, die Spitzenmanager oder gar AdamSmith’ unsichtbare Hand? Von Thomas Gull

DOSSIER – DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

zurück: 1980 wurde der ehemalige Schauspie-ler Ronald Reagan zum Präsidenten der Ver-einigten Staaten gewählt. Mit Reagan kamen inden USA die Ideologen des Freien Marktes andie Macht, die die Privatwirtschaft idealisiertenund Programme und Regulierungen des Staatesdämonisierten, analysiert der amerikanischeÖkonomie-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz inseinem Buch «The Roaring Nineties». Stiglitz warsechs Jahre lang Wirtschaftsberater von US-Prä-sident Bill Clinton und von 1997 bis 2001 Chef-ökonom bei der Weltbank. Mittlerweile gehörtder Amerikaner zu den prominentesten Kriti-kern der amerikanischen Wirtschaftspolitikund der Globalisierung. Reagan und seineBerater machten der keynesianischen Wirt-

schaftspolitik den Garaus, die auf der Annahmeberuht, dass der Staat die Wirtschaft steuern undsie in rezessiven Phasen mit Interventionen stär-ken muss. Ersetzt wurde der Keynesianismus,dessen theoretische Grundlagen der englischeWirtschaftswissenschaftler John Maynard Key-nes in den 1930er-Jahren entwickelte, durch dieangebotsorientierte Wirtschaftspolitik (Supply-Side-Economics). Diese geht davon aus, dassUnternehmen Investitionen tätigen, wenn siemöglichst hohe Renditen erzielen können. Des-halb müssen attraktive Rahmenbedingungengeschaffen werden wie tiefe Steuern, tiefe Zin-sen und niedrige Sozialabgaben. Die Anhängerdieser Theorie nehmen an, dass sich die Märk-te selbst regulieren und zu einem stabilenGleichgewicht finden. Unter Reagan wurdeeine eigene Spielart dieser Theorie entwickelt,die Reaganomics. Die Reaganomics zeichnensich durch tiefe Steuern, tiefe Sozialleistungen,

hohe Militärausgaben und riesige Haushalts-defizite aus. Die Wirtschaftspolitik der Reagan-Administration basierte auf der Idee, dass vomWirtschaftswachstum schlussendlich alle pro-fitieren. Denn wenn die Reichen noch reicherwerden, fallen irgendwann für die Armen auchnoch ein paar Brosamen ab. Reagans Theorieder «trickle-down-economics» diente dazu, eineradikale Umverteilungspolitik zu legitimieren.So wurde beispielsweise postuliert, Steuerge-schenke an die Reichen stimulierten die Wirt-schaft derart, dass dadurch das Steueraufkom-men mittelfristig gesteigert werden könne.Eine Behauptung, die sich als ebenso falscherwiesen hat wie jene von George W. Bush,wonach Steuergeschenke an die oberen Zehn-tausend die Wirtschaft aus der Rezession führensollten. Reagans gelegentlich als «Voodoo eco-nomics» bezeichnete Wirtschaftspolitik hatteweitreichende Konsequenzen: Die Armen wur-

den ärmer, und der gesellschaftliche Konsens,der die Nachkriegszeit geprägt hatte, ging in dieBrüche. «Mit Reagan verabschiedete sich diePolitik von der Vision einer gerechteren Gesell-schaft», konstatiert Jakob Tanner. In Europa pro-filierte sich die britische PremierministerinMargaret Thatcher mit einer vergleichbarenpolitischen Agenda.

«VOODOO ECONOMICS» SWISS MADE

In der Schweiz wurde noch in den 90er-Jahrenfrei nach Keynes versucht, mit staatlichen Inves-titionsprogrammen die Wirtschaft anzukur-beln. Mittlerweile hat man auch hierzulandeeine Kehrtwende vollzogen. Bund und Kantonesparen trotz serbelnder Wirtschaft. Die «Voodooeconomics» finden auch in der helvetischenRepublik immer zahlreichere Anhänger, wie dasSteuerpaket des Bundes zeigt, das eine Umver-teilung zugunsten der Bessergestellten vorsah.

«Mit Reagan verabschiedete sich die Politik von der Vision einergerechteren Gesellschaft.» Jakob Tanner, Historiker

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Anders als in den USA können sich jedoch beiuns die Eliten nicht weitgehend ungehindert Pri-vilegien zuschanzen – das Steuerpaket wurdevom Volk abgelehnt.

In der Weltwirtschaft brachen in den 90er-Jahren alle Dämme: die Märkte wurdendereguliert und liberalisiert, mit dem Aufstiegder New Economy und der Börsenhausseschien nicht nur das Goldene Zeitalter unge-bremster ökonomischer Prosperität angebro-chen zu sein, sondern auch eines der masslosenGier. «Es herrschte Goldgräberstimmung» dia-gnostiziert Hans Fehr. Fehr ist Professor fürExperimentelle Wirtschaftsforschung an derUniversität Zürich und einer der weltweit füh-renden Verhaltensökonomen. Wie in Goldgrä-berzeiten üblich, hätten auch in den 90er-Jah-ren gesetzliche Rahmenbedingungen gefehlt,ergänzt Fehr. Dies gelte insbesondere für dieAktienmärkte, was beispielsweise dazu führte,dass ein Martin Ebner mit seinen Investment-gesellschaften unverdiente Profite machenkonnte. Den Mangel an «checks and balances»nutzten einige Unternehmen schamlos aus,indem sie mittels «kreativer Buchhaltung» undanderer Tricks ihre Erfolgsrechnungen aufpo-lierten. Damit wurden bei den Anlegern über-höhte Erwartungen geschürt, die nicht eingelöstwerden konnten.

In den 90er-Jahren explodierten auchdie Einkommen der Spitzenmanager. Zuerst inden USA, mittlerweile ist diese Welle auch aufEuropa und die Schweiz übergeschwappt. «Die Einkommenszuwächse in den USA habenzu Vergleichsprozessen geführt. Spitzenma-nager in der Schweiz vergleichen sich mitihren Kollegen in den USA und stellen fest, dasssie weniger verdienen – obwohl sie bereitsziemlich viel verdienen», erklärt Fehr. Diehohen Managerlöhne seien jedoch nicht ge-rechtfertigt: «Der Anstieg geht auf die fehlge-leitete Anwendung moderner Anreiztheorienzurück. Unter dem Deckmantel der Anreizent-löhnung hat eine enorme, in manchen Fällenunkontrollierte Selbstbereicherung des Mana-gements stattgefunden.» Die sprunghafte Ent-wicklung ihrer Einkommen verdankten dieManager vielfach Optionsprogrammen, die Teilihrer Entschädigung sind. Optionen sind Rech-te auf den Kauf von Aktien. Im Falle der Mana-

ger sind es Aktien der Firmen, die sie leiten. Stei-gen die Aktienkurse, steigt der Wert der Optio-nen. Die Idee hinter den Optionsprogrammenist, dass die Manager einen Anreiz haben, dieFirma im Interesse der Eigentümer, das heisstder Aktionäre, zu führen. Wenn das Unterneh-men gut geführt ist, profitieren beide Seiten: dieAktionäre und das Management.

SELBSTBEDIENUNG DER MANAGER

Die Crux des Systems ist, dass die Managerdurch ihre eigenen Aktivitäten den Kurs derAktien zwar durchaus beeinflussen können. Siekönnen sich dazu jedoch auch unlautererMethoden bedienen, etwa indem sie Bilanzenschönen oder fälschen. So können sie den Wertder Aktien manipulieren und für sich fetteGewinne realisieren. Dem Unternehmen undden Aktionären schaden solche Machenschaf-ten. Denn wenn der Schwindel auffliegt, verliertdie Aktie an Wert. Im schlimmsten Fall könnenManager, die sich durch Manipulationen selbstbereichern, eine Firma ruinieren, wie die Skan-dale um Enron, Worldcom oder Vivendi gezeigthaben. Die Selbstbedienung der Unterneh-

mensführung, die in vielen Fällen die Höhe ihrerGehälter selbst festlegt, führt Fehr auf dasFehlen einer effektiven Corporate Governance(Unternehmensführung) zurück. Es sei zuwenig transparent, wer wie viel verdiene. Damüsse Abhilfe geschaffen werden. «Es brauchtGesetze, die die Aktionärsrechte stärken», ver-langt Fehr, «sämtliche Gehälter müssenoffengelegt und begründet werden.» Zudemmüssten die Optionsprogramme als Kosten inden Bilanzen ausgewiesen werden, was bishernicht der Fall ist.

Und die Moral von der Geschichte?Eine Moral, die gibt es nicht. Zumindest imWeltbild der Apologeten des freien Marktes.Stiglitz, Fehr und Tanner sehen das anders.«What makes economic systems work, is trust»,schreibt Stiglitz, «individuals do what they saythey are going to do. In recent years, in failedsocieties, we see the disastrous consequences

for the economy of the breakdown of trust.»Fehrs Forschung zeigt, dass für viele LeuteFairness eine wichtige Rolle spielt: «Wir behaup-ten nicht, alle Menschen seien wie MutterTheresa. Aber viele Menschen sind bereit, inwohldefinierten Situationen zu öffentlichenGütern beizutragen.» Die Verhaltensökonomennennen das Reziprozität – wie du mir, so ich dir. «Es gibt in all unseren Untersuchungenjedoch immer wieder Leute, die das Vertrauenanderer schamlos ausnützen.» Die Guten unddie Schlechten halten sich in etwa die Waage.Doch die Eigennützigen können durch Sank-tionen dazu gebracht werden, zu kooperieren.Eine rare Spezies sind die unbedingten Altru-isten. «Die, so glaube ich, gibt es fast nicht», sagtFehr. Für Tanner gehören intrinsisch motivier-te Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, alsosolche, die nicht nur auf Anreize reagieren unddie Maximierung ihres Eigennutzes in denVordergrund stellen, zum Kapital eines Unter-nehmens. «Wenn jedoch Arbeitnehmer, die aneiner altruistischen Interaktion interessiertsind, systematisch bestraft werden, machen sieirgendwann nichts mehr.» Die Folgen sind für

Tanner klar: Wenn alle nur noch tun, was sieunbedingt müssen, kommt es zu Dysfunktiona-litäten und damit zu Produktivitätsverlusten.

Die Verhältnisse zwischen Himmel undErde sind komplexer, als sich die Ideologen desfreien Marktes erträumen. Die entfesseltenMärkte und die Maximierung des Eigennutzeshaben sich als untauglich erwiesen, um nach-haltig Wohlstand für alle zu generieren. Auf denBoom der Roaring Nineties folgte der Absturz indie Rezession. Adam Smith’ unsichtbare Handalleine genügt offenbar nicht, um sicherzustel-len, dass das eigennützige Tun eigennützigerIndividuen schlussendlich zum Wohlergehender Gemeinschaft beiträgt. Stiglitz vermitteltdiese Einsicht mit einem Schuss Sarkasmus:«One of the reasons that the invisible hand maybe invisible is that it is simply not there.»

KONTAKT Prof. Ernst Fehr, [email protected], Prof.Jakob Tanner, [email protected]

«Unter dem Deckmantel der Anreizentlöhnung hat eine enorme Selbst-bereicherung des Managements stattgefunden.» Hans Fehr, Ökonom

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Es gab einmal eine Zeit, da war die Erde in unterschiedliche Land-gebiete aufgeteilt und von einer riesigen Wassermasse umflossen. Aufdie Erdkugel schien nur eine einzige Sonne. An einigen Stellen wares so kalt, dass keine Pflanzen wachsen konnten. Anderswo war es soheiss, dass nur Staub die Oberfläche bedeckte. Die Menschen lebtenan verschiedenen Orten und mussten sich dort den Gegebenheitender Natur anpassen. Die Nahrung war unterschiedlich verteilt.

Mit der Zeit begannen die Menschen in fremde Gebiete zu reisen. Undweil sie sehr neugierig waren, setzte bald eine riesige Völkerwande-rung ein. Die Menschen legten grosse Distanzen zurück und reisten indie verlassensten Winkel der Erde. Auf ihren Reisen entdeckten sie,dass andere Menschen Dinge benutzten, die sie selbst nicht kannten.Oder dass sie Essen auf eine ihnen unbekannte Weise zubereiteten. Sonahmen sie von ihren Reisen immer etwas nach Hause mit.

NEOTOPIA – VON DER ABSOLUT GERECHTEN VERTEIL

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Es entstand ein gewaltiges Durcheinander, weil alles vermischtwurde, und niemand mehr wusste, was wohin gehörte. Die Unter-schiede wuchsen, und viele Menschen litten Hunger, während anderederart im Überfluss produzierten, dass grosser Abfall entstand. Mansprach nun von Armut und Reichtum.Der Transport erfolgte zuerst mit Tieren, dann mit Lastwagen, Eisen-bahnen und mit Flugzeugen. Man erfand immer neue Verkehrsmittel,

bis es schliesslich für niemand mehr ein Problem war, Dinge voneinem Ort an einen anderen zu verschieben. Die Kluft zwischen denMenschen begann zu verschwinden. Der Übergang zu absolut gerechten Besitzverhältnissen war einunendlich langer Prozess der Auflösung und Neuverteilung allesErwünschten und Unerwünschten, an dessen Ende alle gleich viel vonallem hatten. 26/27

LUNG DER WELT

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Wer früher Reformen forderte, der meintedamit: Einrichtung und Ausbau von Sozialwer-ken, Sicherstellung von Chancengleichheit,Verbesserung des Service public, kurz: mehrUmverteilung, mehr Gerechtigkeit. Heute hatsich die Reform-Semantik ins genaue Gegenteilverkehrt. Die Reformer von heute treten gegendie Reformen von gestern an. Reform heisstheute Privatisierungen, Steuersenkungen, Ren-tenaltererhöhung, kurz: weniger Umvertei-lung, weniger Gerechtigkeit. In Zeiten, wo derglobale Wettbewerb die europäischen Hoch-lohnländer ökonomisch herausfordert, bleibtvom segenverheissenden Nimbus des Sozial-staates nichts als ein lästiger, hässlicher Fettring.Abmagerung wird gefordert, und nicht etwa nurim Interesse bestimmter Gruppen, nicht etwanur im Sinne eines Klassenkampfes von oben –nein: zur Rettung des Standortes. Tatsächlichkann einem ein Blick auf den gegenwärtigenZustand grosser Volkswirtschaften wieDeutschland oder Frankreich zur Überzeu-gung bringen, ein Wohlfahrtsstaat führe nichtzum allgemeinen Wohl, sondern zum allge-meinen Niedergang: Wegen Wirtschaftsflaute,Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und fort-schreitender Überalterung sind in diesen Sozi-alstaaten die Umverteilungskosten nicht mehrgedeckt. Von Gerechtigkeit kann trotz ver-gleichsweise hoher Staatsquote keine Redesein, im Gegenteil, die so genannte neue Armutgrassiert,undsoziale Unterschiedeakzentuierensich eher noch, als dass sie verschwinden.

«Nichts ist unsozialer als der Wohl-fahrtsstaat, der die menschliche Verantwor-tung erschlaffen und die individuelle Leistungabsinken lässt», schrieb 1962 Ludwig Erhard, dieInkarnation des deutschen Nachkriegs-Wirt-schaftswunders. Hätte man auf ihn hören sollen?Stimmt die Kausalität: Je mehr Umverteilung,desto ineffizienter die Volkswirtschaft, desto

kleiner der zu verteilende Kuchen? Wenn ja, ste-hen wir dann nicht vor der Wahl zwischen Teu-fel und Beelzebub? Zwischen einer in Friedenund Gerechtigkeit ärmlich, schlapp und gräm-lich dahindümpelnden Umverteilungsgesell-schaft auf der einen – und einem ökonomischkraftstrotzenden Minimalstaat voll schreiendersozialer Ungerechtigkeiten auf der anderenSeite? Und wie wäre zu entscheiden?

IMMERGLEICHE STREITFRAGEN

Die Frage ging an die Ethikerin Susanne Bos-hammer, an den Soziologen Beat Fux sowie dieWirtschaftswissenschaftler Josef Falkinger undJosef Zweimüller. Die vier Experten sind sich ineinem Punkt auf beruhigende Weise einig: Die

Wahl zwischen Teufel und Beelzebub stehtnicht bevor. «Und wenn es so wäre», sagt Susan-ne Boshammer, «dann würde es höchste Zeit,dass sich alle klugen Köpfe zusammensetzten,um eine dritte Lösung zu finden.» SusanneBoshammer ist Oberassistentin an der Arbeits-und Forschungsstelle für Ethik an der Univer-sität Zürich. «Ich finde es fürchterlich», sagt sie,«dass die politische Auseinandersetzung denimmergleichen Streitfragen entlang verläuft:mehr Staat oder weniger Staat, Steuern rauf oderSteuern runter. Wenn ich mir vorstelle, dassdiese Diskussionen noch in zwanzig Jahren solaufen, dann werde ich jetzt schon müde.»

Unter ähnlich unbeweglichen Front-stellungen wie die Politik leidet in den Augenvon Susanne Boshammer auch die ethisch-philosophische Gerechtigkeitsdebatte: «DieEgalitaristen sind der Meinung, Verteilungsge-rechtigkeit müsse sich vornehmlich am Gleich-

heitsideal orientieren; Antiegalitaristen finden,es reiche aus, wenn die materiellen Grundbe-dürfnisse befriedigt und die Grundrechte ga-rantiert würden», resümiert Boshammer. Dieseszunehmend zu beobachtende «Lagerdenken»erachtet sie weder als sinnvoll noch als hilfreich.Sie ist der Auffassung, dass weder die eine nochdie andere Position in Reinform zu tauglichenLösungsansätzen führt. «Erst die richtigeMischung bringts», sagt sie. Mit den Antiegali-taristen würde sie dafür eintreten, es zumWohle der Freiheit mit der Gleichheit nicht zuübertreiben. Von den Egalitaristen wiederumwürde sie das Gleichheitsideal als Instrumentder Kritik übernehmen, weil es ihr als «schlag-kräftiges Argument zur Identifikation und Be-kämpfung offenkundiger Ungerechtigkeiten»kaum verzichtbar erscheint. «Gerechtigkeit istdas Minimalkriterium für die Beurteilung vongesellschaftlichen Einrichtungen: Nicht alles,

was gerecht ist, ist auch schon politisch durch-setzbar; aber nichts sollte politisch durchgesetztwerden, was nicht mindestens dem Anspruchnach gerecht ist», sagt sie und beruft sich dabeiauf den Philosophen John Rawls.

Boshammer glaubt, dass es in Zukunftschwieriger und vor allem teurer werden wird,dem Gerechtigkeitsanspruch in einem ähn-lichen Mass wie bisher genüge zu tun. Sie fin-det es nicht von vornherein unethisch, ange-sichts wirtschaftlicher und demographischerProbleme über gewisse Einsparungen nachzu-denken. Es müsse allerdings sichergestellt sein,dass alle Bevölkerungsteile nicht nur weiter-existieren, sondern auch weiterhin gesellschaft-lich partizipieren könnten. Auch die schwächs-ten Gesellschaftsglieder müssten einen Vorteilaus Reformen ziehen können, keine Gruppedürfe einfach zum Wohl der übrigen geopfertwerden. Und vor allem sei darauf zu achten,

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DER FETTRING DES SOZIALSTAATS

Manchmal scheint es, als stehe unsere Gesellschaft mitsamt der Wirtschaft am Schei-deweg: Entweder sie verarmt sozial – oder sie prosperiert brutal. Experten der Uni-versität Zürich sehen das jedoch ganz anders. Von David Werner

DOSSIER – DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

«Gerechtigkeit ist das Minimalkriterium für die Beurteilung vongesellschaftlichen Einrichtungen.» Susanne Boshammer, Ethikerin

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dass auch die Reformpromotoren von den un-angenehmen Auswirkungen ihrer Sparmass-nahmen mitbetroffen seien. Was die Durch-setzbarkeit solcher Reformen anbelangt, siehtBoshammer allerdings viele Fragezeichen:«Solange Spitzenvertreter der Wirtschaft Jah-ressaläre in Millionenhöhe kassieren, wirdkaum jemand als glaubwürdig gelten können,der behauptet, dass wir uns eine gerechtereGesellschaft nicht leisten könnten.»

KEINE ÖKONOMISCHEN ROSSKUREN

Dass reformerische Einschnitte ins soziale Netzüberhaupt je die gewünschten wirtschafts-stimulierenden Effekte hervorrufen könnten,daran zweifelt Beat Fux, Privatdozent für So-ziologie in Zürich. «Die Menschen werdennicht fleissiger, wenn die Gesellschaft unge-rechter wird; sie werden bloss unglücklicher»,sagt er. Wenn die bestehenden sozialen Ein-richtungen erhalten blieben, werde das hiesigeWohlstandsniveau als Folge des globalen Wohl-standsausgleiches vielleicht etwas abnehmen;das sei aber gesellschaftlich zu verkraften.Ungleich schlimmer wäre es, wenn mutwilligder Gerechtigkeitsgedanke als politische Ziel-grösse preisgegeben würde, denn damit, so Fux, handle man sich soziale Unruhe, Instabi-lität und die Desintegration ganzer Bevöl-kerungsschichten ein.

Von Rosskuren, wie sie Margaret That-cher und Ronald Reagan ihren Ländern ver-ordnet hatten, hält der Soziologe deshalb garnichts: «Die sozialen Langzeitschäden einersolchen Politik wiegen schwer – auch in finan-zieller Hinsicht: es kommt teuer, zerfallene In-frastrukturen wieder aufzubauen und Men-schen, die aus dem sozialen Netz herausgefal-len sind, wieder einzugliedern.» Auch von derpositiven ökonomischen Entwicklung, die dieWirtschaft in Grossbritannien und den USAnach harten Übergangszeiten genommen hat,lässt sich Fux kaum beeindrucken. Zwar schaf-fe ein solcher Aufschwung Arbeitsplätze undzahlungskräftige Steuerzahler, doch ob amEnde die vielen Opfer einer solchen Schock-therapie auch profitieren würden, bezweifelt er:«Dieses Kalkül ist zu einseitig ökonomischgedacht; das Wirtschaftswachstum allein istkein Indiz für das Wohl einer Gesellschaft.»

Fux ist sicher, dass es nicht gelingen werde, mitdem Argument der verschärften globalen Kon-kurrenz «Sozialabbau» durchzusetzen. Sprichtdaraus die Zuversicht des Soziologen, dem vonHaus aus der Glaube an die Durchschlagskraftdes Gerechtigkeitsgedankens nahe liegt? Fuxwägt ab: Zunächst glaube er einfach an die De-mokratie; die Bevölkerung werde ihre überGenerationen hinweg erkämpften sozialen Ein-richtungen nicht einfach wieder aufgeben.Andererseits bestätigt Fux, dass soziale Gerech-tigkeit der Leitbegriff und der wichtigste Orien-tierungspunkt seines Faches sei. «Wir erfor-schen, wo und warum sich in der GesellschaftUngleichgewichte einschleichen und suchennach Lösungen, wie sie wieder ausgemerztwerden können.» Die Soziologie hat seiner Mei-nung nach die Aufgabe, die Gesellschaft integral,in all ihren Teilaspekten wahrzunehmen – undnicht nur nach dem Kosten-Nutzen-Schema.

GERECHTE VERTEILUNG STÄRKT KOOPERATION

Doch muss ökonomisches Effizienzdenkenimmer zur Losung «mehr Markt, weniger Staat»führen? Nicht unbedingt. Josef Falkinger und

Josef Zweimüller etwa, Professoren für Makro-ökonomie an der Universität Zürich, teilen dieAuffassung nicht, dass staatliche Umverteilungdie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit automa-tisch beeinträchtige: «Es ist nach zehn Jahrenintensiver empirischer Debatte erwiesen, dassdie ungleiche Verteilung von Vermögen und – inetwas geringerem Masse – auch von Einkom-men im weltweiten Vergleich sich eher negativauf das langfristige Wirtschaftswachstum aus-wirkt», sagen Zweimüller und Falkinger über-einstimmend. Zunehmend erkenne man in derÖkonomie, dass soziale Gerechtigkeit nicht nurmit Kosten verbunden sei: «Mikroökonomenmachen darauf aufmerksam, dass gerechteRessourcenverteilung die Kooperationsbereit-schaft von Mitarbeitern stärkt. Makroökonomenwiederum können zeigen, dass soziale Ausge-wogenheit ein positives Klima für Investitionenschafft», sagt Zweimüller. Zudem könne im glo-

balen statistischen Vergleich nicht nachgewie-sen werden, dass die Steuerquote das Wirt-schaftswachstum beeinträchtige. Wachstums-entscheidend sei vielmehr, wofür die Steuernausgegeben würden. «Ein Standort, der in eineerstklassige Infrastruktur und erstklassige Bil-dung investiert, kann für viele Wirtschaftsbe-reiche trotz hoher Staatsquote attraktiv sein»,sagt Falkinger. Wichtig sei, dass die Kombina-tion zwischen Steuersatz, Lohnkosten undInfrastrukturangebot stimme.

Falkinger und Zweimüller sind sichdarin einig, dass der Sozialstaat nicht dieHauptschuld an der langjährigen Wachstums-schwäche der Schweizer Wirtschaft trägt. «Aus-schlaggebend für das Wirtschaftswachstum istdie Innovationskraft eines Landes, und diewiederum hängt davon ab, in welchem Gradsich das Land dem internationalen Wettbe-werb stellt», sagt Falkinger. Der staatlicheSchutz und oder gar die Subventionierung gan-zer Wirtschaftszweige behindere die Anpassungan den Globalisierungsprozess und belaste denStandort Schweiz weit mehr als die sozialenKosten. Gewiss habe ein Sozialstaat immer

auch Effizienzprobleme, die man in Schach hal-ten müsse; trotzdem sei Staatsabbau per se keinRezept für die wirtschaftliche Gesundung. ImBildungsbereich wäre für Falkinger sogar einnoch stärkeres staatliches Engagement als bis-her wünschenswert. «Es grenzt ökonomischgesehen an Verschwendung, wenn vorhandeneTalentressourcen in der Bevölkerung nichtbestmöglich genutzt werden», sagt er. UndZweimüller meint: «In Zeiten, wo sich die hie-sige Produktionsstruktur noch stärker als jezuvor auf hoch qualifizierte Bereiche verlagert,sollte der Staat die Konkurrenzfähigkeit desStandortes Schweiz nicht dadurch sichern, dasser billig ist, sondern dadurch, dass er die besteQualität bietet.»

KONTAKT Dr. Susanne Boshammer [email protected], PD Dr. Beat Fux [email protected], Prof. Josef Falkinger [email protected], Prof. Josef Zweimüller [email protected]

«Ein Standort mit erstklassiger Infrastruktur kann trotz hoher Steuerquote attraktiv sein.» Josef Falkinger, Ökonom

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Die Erde ist nun ein abgeschlossenes Projekt. Sie besteht auskleinsten Einheiten. Die Menschen gehen individuellen Aufgabennach, um den durchschnittlichen Lebensstandard aufrecht-zuerhalten. Die neue Welt ist überschaubar. Sie verfügt über einOrientierungssystem, dank dem jede einzelne Person und damit jedes einzelne Land anhand eines Codes ausfindig gemacht werden kann.

Diese totale Übersicht ermöglicht die lückenlose Vernetzung aller Menschen. Die Kommunikation – noch immer eingrundlegendes Bedürfnis – ist intensiver geworden, weil alleeinander jederzeit von überallher erreichen können. Da dies für alle gleichermassen gegeben ist, gibt es wederBenachteiligte noch Bevorzugte. Und überall ist es gleich hell und warm: Das Orientierungssystem bezieht sich auf die

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sechs Sonnen des neuen Sonnensystems und basiert auf einem Raster. Durch Heranzoomen wird die Erde auf immerdetaillierteren Karten zunehmend deutlicher erkennbar.

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Die 6442450944 Länder der Erde sind alle gleich: Jedes Land hateine Fläche von 291,5 m mal 291,5 m. Davon sind 71% Wasser und29% Land. Der Bildausschnitt zeigt das Trockenland, das sich in der Mitte auf einem Rechteck von 200 m mal 115 m befindet. Einekleine Insel ragt 33 m vom Festland entfernt aus dem Meer. DieEismassen befinden sich an den Grenzen zum oberen und unterenNachbarland. Jede einzelne Person hat von Geburt an das Anrecht

auf ein eigenes Land. Sie ist jedoch nicht Besitzerin dieses Landes,sondern hat nur das Recht, es zu bewohnen. Alle Länder sind mit denexistenziell notwendigen Rohmaterialien ausgestattet, und jedeeinzelne Person hat den Anspruch auf einen sechsmilliardstel Teilder Weltproduktion.

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Ödland (Wüste, Steingebiet, Vulkan, Steppen, Trockenzonen)Vor einigen tausend Jahren waren 14400 m2 auf unserem Land mitWald bedeckt, heute sind es noch 8100 m2.Wald (Laub-/Nadelwald) RegenwaldJährlich wird eine Fläche von 16 m2 Regenwald pro Kopf gerodet. Wir haben noch 187 Jahre lang Regenwald.

Wiese (Weideland, Gras, Hochgebirge, Steppen mit Büschen)Ackerland (landwirtschaftliche Produktion, Reis, Plantagen)bewässertes Landurbanes Land (Wohnfläche, Gewerbe, öffentliche Plätze, Industrie, 7 m Strasse und 20 cm Eisenbahn)In unserem 64 Jahre dauernden Leben verbringen wir 44 Jahre, 9 Monate und 18 Tage auf 1986,16 m2 unseres Landes.

Ausschnitt der Karte im Massstab 1:650

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DIE ILLUSION DER CHANCENGLEICHHEIT

Ob die laufenden Studienreformen die Chancengleichheit in der Hochschulbildungverbessern, wird sich weisen. Eines ist jedoch bereits jetzt klar: Entscheidender istohnehin, was vor und nach dem Studium passiert. Von Markus Binder

Chancengleichheit in der Bildung? Eine Illusion,sagte der französische Soziologe Pierre Bour-dieu. Wer hat, dem werden Chancen gegeben.Und wer keine hat, weiss nicht, dass er welchehätte. Die Welt ist ungerecht. Punkt. Aber wirdsie gerechter? Eine grosse und entscheidendeFrage, denn in der Schweiz sind wir daran,unser Bildungssystem nach dem Bologna-Modell zu reformieren. Und bis Ende 2007erhalten wir ein neues Hochschulrahmengesetz.Die Frage ist aber auch gewichtig, weil demStaat die Mittel fehlen oder weggespart werdenund die Modelle, wie die Hochschulen zukünf-tig zu finanzieren seien, ins Kraut schiessen.

Ob die Reformen das Hochschulsystemgerechter machen, ist schwierig zu beantwor-ten. Einer, der das System und die Reformplänebestens kennt, ist Crispin Hugenschmidt, Leiterder Fachstelle Studienreformen an der Univer-sität Zürich. Hugenschmidt glaubt, dass die Vor-aussetzungen für mehr Chancengleichheitgegeben sind. Erstens, weil durch die Diskus-sionen über die Reformen ein Problembe-wusstsein geschaffen worden sei. In der «Richt-linie über die Umsetzung des Bologna-Prozes-ses an der Universität Zürich» vom 1. März 2004wird in Artikel 26 festgehalten, dass die Stu-diengänge «nach Möglichkeit» so zu gestaltenseien, «dass Teilzeitstudierende nicht benach-teiligt werden.» In Artikel 29 steht zudem, dassdie Chancengleichheit «mit gezielten Mass-nahmen und Rahmenbedingungen zu fördernund mit flexiblen Studienstrukturen» sicherzu-stellen sei. Insbesondere sollen das Beratungs-angebot ausgebaut und Wiedereinstiegspro-gramme unterstützt werden. «Damit wirddeutlich, dass die Teilstudierenden vollwertigeStudierende sind», so Hugenschmidt.

Zweitens glaubt er, dass die stärkereStrukturierung in Modulen es Teilzeitstudie-renden einfacher macht, Arbeit und Studium zu

koordinieren. Staatssekretär Charles Kleibervom Bundesamt für Bildung und Wissenschaftargumentiert ganz ähnlich. Er betont aber nichtso sehr die Planbarkeit und Transparenz, son-dern vielmehr den Bachelor als «berufsbefähi-genden Abschluss», der für Studierende aus bil-dungsfernen Schichten attraktiv sein könne.Ausserdem müsste der Umstand, «dass man einMasterstudium oder das Doktorat auch nacheiner gewissen Auszeit aufnehmen kann, esdoch erleichtern, Studium, Beruf und Familiebesser unter einen Hut zu bringen.» DasMasterdiplom soll künftig auch der Regelab-schluss sein. Dies hat die Rektorenkonferenz derSchweizer Universitäten beschlossen. Deshalbsollen die Stipendien bis zum Master und nicht

nur bis zum Bachelor gewährt werden. EinHauptanliegen auch des Verbandes der Schwei-zer Studierendenschaften (VSS), der sich dage-gen wehrt, dass die Hochschulen auf die wirt-schaftlichen Anforderungen des Arbeitsmarktesausgerichtet werden.

MIT GUTEM GRUND LÄNGER STUDIEREN

Schafft Bologna also bessere Bedingungen?Bekanntlich müssen die Details durch dieHölle. Zum Beispiel: Wie lange sind Kredit-punkte gültig, die man während des Studiumssammelt? Wissen verfällt, das ist das Wesen derWissenschaft, also können Punkte nicht ewiggültig sein. Will man dagegen lebenslanges Ler-nen fördern, dürfen die Punkte nicht verfallen.Die Lösung: Zwar verfallen die Punkte nicht,aber sie sind nur für eine bestimmte Zeit anre-chenbar. In Zürich hat man sich auf eine dop-pelte Richtstudienzeit von 12 Semestern für den

Bachelor geeinigt. Mit dieser Wissenshalb-wertszeit haben 90 Prozent der Studierendenkein Problem. Auf Antrag kann zudem die Fristverlängert werden, etwa wenn Kinder oder dieArbeit das Studium verzögern. «Damit wollenwir Druck machen, aber trotzdem die Mög-lichkeit offen lassen, mit guten Gründen längerstudieren zu können», sagt BolognaexperteHugenschmidt.

Die Studienreformen werden also viel-leicht positive Auswirkungen haben. Vielleichtaber auch nicht. Dann bleibt es dabei, dass dieWahrscheinlichkeit,ein Akademikerkind an derUniversität anzutreffen,13-mal grösser ist als einKind, dessen Eltern keine nachobligatorischeAusbildung gemacht haben. Heute stammt einDrittel der Studierenden aus einer Akademi-kerfamilie, in der Medizin ist es fast die Hälfte,aber nur rund 10 Prozent der Bevölkerung ha-ben einen Universitätsabschluss. Und es bleibt

auch dabei, dass der Frauenanteil auf der höhe-ren universitären Stufe nur langsam wächst:Heute sind 45 Prozent aller Studierenden, 34Prozent der Mittelbauangehörigen und 8 Pro-zent der Professorenschaft in der Schweiz weib-lich. Mit der allgemeinen Bildungsexpansion derletzten 50 Jahre haben sich zwar die Pforten derhöheren Bildungsgänge für Frauen geöffnet,doch «der Weg zur Gleichstellung ist noch sehrweit», wie Staatssekretär Kleiber sagt. Das Zielvon Bundesrat und Parlament, bis 2006 den Pro-fessorinnenanteil auf 14 Prozent zu erhöhen,wird wohl kaum erreicht werden.

REISEBÜRO UND RECHT

Was vor dem Studium passiert, ist für die Chan-cengleichheit viel entscheidender als die Hoch-schulreformen. Entscheidend ist die sozialeHerkunft. Zum Beispiel bei Daniela: Ihr Vater ist Italiener und arbeitete auf dem Bau. Ihre

DOSSIER – DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

«Die Bologna-Reformen haben ein Problembewusstsein für dieChancengleichheit geschaffen.» Crispin Hugenschmidt, Bologna-Experte

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Mutter ist Schweizerin und war Haus- undPutzfrau. Daniela ging nach der sechsten Pri-marklasse in die Sekundarschule und machtespäter eine Lehre auf einem Reisebüro. Heutestudiert sie Jus. An der Kantonalen Maturitäts-schule für Erwachsene (KME) hat sie nach zweiJahren in einer Reiseagentur die Matura nach-geholt. Dass Daniela nicht gleich nach derPrimarschule ins Gymnasium ging, ist keinEinzelfall und auch kein Zufall. Die PISA-Stu-dien haben gezeigt, dass Jugendliche mit nied-riger sozialer Herkunft bei gleichen kognitivenFähigkeiten und Fachleistungen seltener insGymnasium gelangen als Jugendliche mithoher sozialer Herkunft.

VORSPRUNG IM BILDUNGSWETTLAUF

Immer mehr Jugendliche gehen auch in ihrerFreizeit zur Schule; rund ein Drittel allerJugendlichen erhält neben der Schule Nach-hilfe. Die lernorientierte Freizeitindustriewächst. Das ist nicht nur eine Geldfrage: einVorbereitungskurs für das Gymnasium kostetzwischen 1000 und 3000 Franken. Das ist vorallem auch eine Frage, wie die Eltern die schu-lische Entwicklung ihrer Kinder fördern. Kul-turelles Kapital nennt dies Bourdieu. Statistischgesehen fahren jene Kinder besser, die diesesKulturkapital bereits mit der Muttermilch auf-gesogen haben. Im Wettlauf um Bildungstitelstarten sie mit einem Vorsprung. Dieser Vor-sprung hält bis in die Führungsetagen derUnternehmen, wo die Herkunft wichtiger ist als das formale Bildungsniveau, wie BrigitteLiebig in ihrer Dissertation über die «Geschlos-sene Gesellschaft» im Rahmen des NationalenForschungsprogramms des SchweizerischenNationalfonds «Frauen in Recht und Gesell-schaft» gezeigt hat.

Kulturelles Kapital ist also ungleich ver-teilt. Daniela hätte wohl direkt nach der Pri-marschule ins Gymnasium wechseln können.Sie wollte aber nicht, sie wollte eine Lehremachen. Und ihre Eltern wollten das auch. Ins Gymnasium zu gehen war nicht denkbar.Denkbar war, eine möglichst gute Lehrstelle zuerhalten. Insofern hatte der Entscheid einebewusste und eine unbewusste Seite. Erst als dieArbeit auf der Agentur etwas eintönig gewordenwar und eine Berufsschulkollegin, die weniger

gut abgeschlossen hatte als sie, von der KMEerzählte, war für Daniela eine Matura denkbar. Natürlich spielt nicht nur das kulturelle Kapitaleine Rolle. Die Finanzierung ist ebenso ent-scheidend. Daniela hat ihr Erspartes eingesetztund Stipendien erhalten. Wenn also die vonSchweizer Grossunternehmen gesponserteDenkfabrik «Avenir Suisse» teure Eliteuniver-sitäten nach dem Vorbild der USA fordert oderHans-Ulrich Doerig, Verwaltungsrat der CreditSuisse Group und Universitätsrat der UniversitätZürich, Gebühren von 5000 Franken vor-schlägt, um die Lehre zu verbessern, dann ver-stärkt dies die Chancenungleichheit, auchwenn die Stipendien ausgebaut werden. Dieuntersten sozialen Schichten schaffen es mit Sti-pendien zwar immer noch an die Hochschule,der Mittelstand aber leidet. Dieser verdient zuviel, um in den Genuss von Stipendien zu kom-men, verdient aber zu wenig, um sich diehohen Gebühren leisten zu können.

Dass Daniela ein Mädchen war, hat inder Entscheidung gegen das Gymnasium kaumeine Rolle gespielt. Die Frauen haben in denletzten 30 Jahren die Gymnasien und Univer-

sitäten erobert. Gewisse Fächer, wie die Kunst-geschichte oder die Veterinärmedizin, sind aufder Stufe der Studierenden zu weiblichenHochburgen geworden. Andere Fächer da-gegen sind Männerdomänen geblieben, etwadie Wirtschaftswissenschaften. Dass DanielasVater Ausländer war, könnte dagegen eineRolle gespielt haben. Eine Studie des Nationa-len Forschungsprogramms «Bildung und Be-schäftigung», die dieses Jahr publiziert wurde,hat gezeigt, dass die Nationalität beim Übertrittin die Oberstufe eine grosse Rolle spielt. Nur einDrittel der Schüler kann nach dem Ende der Pri-marschule aufgrund der schulischen Leistungeneindeutig einem Sekundarschultyp zugewiesenwerden. Zwei Drittel gehören zum mittlerenLeistungsbereich, zur Grauzone. Das ist viel,insbesondere weil der Übergang von der Pri-marstufe zur Sekundarstufe im Bildungssystemeine Schlüsselstelle ist. Die sprachlichen Fähig-

keiten werden beim Übertritt in die Sekundar-schule besonders stark gewichtet. Bei der Lehr-stellensuche fallen aber oft andere Fächer wieMathematik stärker ins Gewicht. Resultat: dieHälfte der ausländischen Jugendlichen besuchteine Realschule. Und: ihre Fähigkeiten in nicht-sprachlichen Fächern werden weniger geför-dert.

DIE WELT GEHÖRT DEN GUT AUSGEBILDETEN

Entscheidend ist allerdings nicht nur, was in derKindheit und in der Primarschule passiert, son-dern auch nach der Lehre oder einem Univer-sitätsabschluss. Die berufliche Flexibilität hatzugenommen. Das hat das Bundesamt für Sta-tistik 1995 anhand der Daten der eidgenössi-schen Volkszählung von 1990 aufgezeigt. Bei-spielsweise war 1970 der Anteil der Erwerbstä-tigen mit einem Job im Dienstleistungsbereichgleich gross wie derjenige der Erwerbstätigenmit einer dienstleistungsorientierten Berufs-qualifikation. 1990 hat sich dieses Verhältnis ver-schoben, und es gab für den Dienstleistungs-bereich zu wenig Arbeitskräfte mit entspre-chenden Qualifikationen.

Der Dienstleistungssektor ist also nicht nurgewachsen, er hat sich auch gewandelt: Frühermachte man eine Lehre und war dann «etwas»,Hochbauzeichner zum Beispiel. Heute mussman sich dagegen ständig weiterbilden undZusatzzertifikate erlangen. Die Technik und mitihr der Arbeitsmarkt verändern sich immerschneller. Damit nimmt der Einfluss der Erst-ausbildung auf den späteren Beruf ab, und dieWeiterbildung wird immer wichtiger. Dieseaber kostet viel Zeit und Geld. Ein neuerOECD-Bericht zeigt, dass sich besonders die gutAusgebildeten weiterbilden. Wer bereits fit ist,wird in der Regel noch fitter und sieht gut ge-rüstet der Zukunft entgegen.

KONTAKT Dr. Crispin Hugenschmidt, [email protected]

Trotz gleichen Leistungen gelangen Jugendliche mit niedriger sozialerHerkunft seltener ins Gymnasium als solche mit einer hohen.

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36 UNIMAGAZIN 2/04

ZIVILISIERTE FEINDBILDER

Nahostkonflikt und islamistischer Terror: Kommt uns in Zeiten globaler Verunsi-cherung die Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten abhanden? Ein wissen-schaftlicher Blick in die Medien und mehr. Von Roger Nickl

DOSSIER – DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

Die Welt verändert, Grenzen verschieben sich.Mit der Osterweiterung der EU erhält Europaein neues Gesicht. Die alten Feinde sind zuneuen Freunden geworden. Und an die Stellevon alten Feindbildern treten neue. «Der Ost-West-Konflikt ist durch die religiöse Konfronta-tion mit dem Islam ersetzt worden», sagt KurtImhof. Imhof ist Ordinarius für Publizistikwis-senschaft und Soziologie und Leiter des For-schungsbereichs Öffentlichkeit und Gesell-schaft der Universität Zürich. Bereits in den frü-hen 1990er-Jahren, nach dem Zerfall derSowjetunion, wurde das entstandene Orientie-rungsvakuum durch die intellektuelle Ausein-andersetzung mit dem Islam gefüllt. Samuel P. Huntington etwa prägte den Begriff eines«Clash of Civilisations», eines Krieges der Kul-turen, der anstelle von ideologischen und wirtschaftlichen Konflikten künftig die Welt-politik bestimmen würde. So problematischHuntingtons These in ihrer Verkürzung ist – daswuchtige Bild nährte die Phantasie der Öffent-lichkeit. Die Ereignisse des 11. Septembers2001 und das Aufkeimen des islamistischenTerrors gaben dem Phantasma neue Nahrung.

Dass Feindbilder oder zumindest Bilderdes Fremden und Anderen notwendig sind, istfür Kurt Imhof unbestritten. «Soziale Identitätbegründet sich durch das Nicht-Identische», sagtder Soziologe. Wir wissen, wer wir sind, indemwir wissen, wer wir nicht sind, heisst das. Einuraltes Muster, dass zu jedem Zivilisations-prozess von Hochkulturen gehört. «Die Frage istnur, wie zivilisiert mit diesen Fremdbildernumgegangen wird», sagt Imhof, «wie differen-ziert und aufgeklärt sie hinterfragt werden.» Wiedifferenziert die Schweizer Öffentlichkeit –Medien genauso wie Politikerinnen und Exper-ten – damit umgeht, untersucht Imhofs For-schungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaftmit den Mitteln der Wissenschaft. Die Zürcher

Mediensoziologen sind daran, eine Art Kommu-nikationsbarometer zu entwickeln, ein soziolo-gisches Frühwarnsystem, das Gewalt gegenund Ausgrenzungen von Minderheiten undFremdgruppen durch die systematische Analy-se der öffentlichen Kommunikation früh erken-nen soll. Aus dieser Perspektive untersuchtendie Zürcher Mediensoziologen vor kurzem ineiner vergleichenden Analyse, wie jüdischeund muslimische Akteure im Nahostkonflikt vonden Schweizer Medien dargestellt werden. ImBlick hatten die Wissenschaftler verallgemei-nernde Aussagen, «Typisierungen» von Judenund Muslimen. Die Forscher wollten wissen,wie die Schweizer Medien in diesem Zeitraumüber Juden und Muslime berichteten – ob sie in

ihren Beiträgen Empathie, Neutralität oderDistanz vermittelten. Und ob das gezeichneteBild von den Journalistinnen und Journalistenkorrigiert oder eben bestätigt wurde. DerUntersuchungszeitraum umfasste für die jüdi-schen Akteure das Jahr 2003, für die muslimi-schen August bis November des gleichen Jahres.

NEGATIVES IMAGE DES ISLAMS

In ihrer Analyse kamen die Zürcher Medienso-ziologen zum Schluss, dass «hinsichtlich derjüdischen Akteure über weite Strecken einpositives, das heisst Empathie förderndes Bildvorherrscht». Dies, obwohl sich im Zusammen-hang mit dem Nahost-Konflikt neue negativeVerallgemeinerungen etwa im Zusammenhangmit der Problematik von «jüdischen Siedlern»herausbilden. Über Themen und Ereignisse, indenen Juden im Mittelpunkt stehen, die abernicht im Zusammenhang mit dem Nahost-Kon-

flikt stehen, wurde in den Medien überwiegendEmpathie fördernd und neutral berichtet.

Ein weit negativeres Bild zeichnen dieMedien dagegen von den Muslimen – sie wer-den oft als aggressive Täter dargestellt. Auchwenn sich diese negativen Zuschreibungen auf«Islamisten» und «islamische Fundamentalis-ten» beziehen, sei dies für das Kollektiv derMuslime hochproblematisch, folgern die For-scher. Denn die Bezeichnung «Islamist» wirddirekt mit dem Islam als Religion in Verbindunggebracht und ist in der Berichterstattung prak-tisch ausnahmslos negativ besetzt. «Währendpunkto Antisemitismus in der öffentlichenKommunikation eine starke Sensibilisierung bishin zur Tabuisierung vorhanden ist, ist der Dif-ferenzierungsgrad den arabischen Raum undden Islam betreffend erstaunlich tief», sagt KurtImhof, «da steht uns eine tiefer gehende Aus-einandersetzung erst noch bevor.»

Mit dem Image des Islams hat sich der Medien-soziologe bereits in einer früheren Unter-suchung auseinander gesetzt. Zusammen mitseinem Mitarbeiter Mario Schranz ist er derFrage nachgegangen, inwiefern die Terror-anschläge vom 11. September 2001 das Bild der Muslime in der Schweiz verändert hat. Istder Islam im Allgemeinen und sind die Muslimein der Schweiz zu einem öffentlichen Feind-bild geworden?, fragten die beiden Wissen-schaftler im Jahr 2002.

Nach dem New Yorker Anschlag hat dieThematisierung des Islams und der Situationvon Muslimen in der Schweiz in allen Mediendeutlich an Resonanz gewonnen, stellten dieForscher nicht ganz unerwartet fest. In ihrerStudie untersuchten sie Schweizer «Leitme-dien» aus Print, Rundfunk und Fernsehen imZeitraum vom 1. Januar 2001 bis Ende März2002. Sie zeigen auf, wie unterschiedlich die ver-

«Der Ost-West-Konflikt ist durch die religiöse Konfrontation mit dem Islam ersetzt worden.» Kurt Imhof, Mediensoziologe

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schiedenen Medien mit dem Thema umgehen– von anspruchsvollen Debatten über das«Wesen» des Islams und seiner Positionierunggegenüber dem Westen in der Qualitätspresseüber stark personalisierte Diskussionen über«Bin Ladens Freunde in der Schweiz» in der Bou-levard- und Sonntagspresse bis hin zur Annä-herung an den Alltag der Schweizer Muslime inden Forumszeitungen. Das Fazit der Untersu-chung: «Im Zusammenhang mit den Ereignis-sen in New York ist keine Medienberichterstat-tung festzustellen, die die muslimische Bevöl-kerung in der Schweiz ausgrenzt.» Nur verein-zelt fanden die Forscher Belege, die diesemSchluss widersprachen. So etwa im luzernischenEmmen, wo über einen Mordfall berichtetwurde, der in einen antiislamischen Protest derBevölkerung mündete.

STAMMTISCHE UND LESEZIRKEL

Nun sagen solche Studien einiges über dieQualität der Schweizer Medien aus und darüber,wie öffentliche Kommunikation funktioniert.Wenig ersichtlich wird daraus, wie Herr undFrau Schweizer gegenüber religiösen Minder-heiten eingestellt sind, wie an Stammtischenund in Lesezirkeln, an Küchentischen und inSportvereinen über Juden und Muslimegedacht wird. Und natürlich lassen sich aus denrelativ kurzen Untersuchungszeiträumen keineRückschlüsse auf eine allfällige Veränderungvon Einstellungen ziehen. Dazu wäre eineLangzeitstudie nötig – eine solche Untersuchunggibt es bis dato aber nicht.

Ein Hinweis auf die Stimmung im Volkmag jedoch die Abstimmung über eine Ände-rung der Zürcher Religionsgesetzgebung Endeletzten Jahres gewesen sein. Alle drei Punkte derkantonalen Vorlage wurde von den Stimmbe-rechtigten verworfen. Unter anderem hätte dieGesetzesänderung auch die staatliche Aner-kennung von nicht-christlichen Religionsge-meinschaften geregelt. Sie wurde von Gegnernder Vorlage mit dem Slogan «Steuergelder fürKoranschulen – 3 x Nein» bekämpft. Motto undMotivation der Gegner stiess den Leitern derLandeskirchen sauer auf: An einer Medien-konferenz nach der Abstimmung sprachen sievon einer «Diffamierung» der Muslime undsahen den religiösen Frieden in Gefahr.

Mit antiislamischen Tendenzen in der Schweizhat sich auch Jörg Stolz beschäftigt. Stolz ist Pro-fessor für Religionssoziologie und Leiter desObservatoire des Religions en Suisse an derUniversität Lausanne, das seit 1999 die re-ligiöse Lage in der Nation beobachtet. Er hat inZürich promoviert und arbeitete im gross ange-legten Forschungsprojekt «Das Fremde in derSchweiz» des vor kurzem verstorbenen Sozio-logen Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny mit –einer repräsentative Umfrage bei 1300 Schwei-zerinnen und Schweizern zum Thema Frem-denfeindlichkeit im Winter 1994/95.

Schon damals, weit vor den Ereignissendes 11. Septembers 2001 und des Terroran-schlags auf den Madrider Bahnhof Atocha in die-sem Jahr also, hat sich gezeigt, dass die Ein-stellung gegenüber Muslimen im Vergleich zuanderen Minderheiten mitunter am schlech-testen waren, sagt Jörg Stolz heute. Für denReligionssoziologen ist diese Islamophobie kein isoliertes Phänomen, sondern Teil einergrundsätzlich fremdenfeindlichen Einstellung.«Leute, die Muslime ablehnen, lehnen Fremdeganz allgemein ab», erklärt der Forscher.

Haben sich diese negativen Einstellungen aufdem Hintergrund islamistischer Terroran-schläge verstärkt? «Es kann sein, das sie einigeProzentpunkte schlechter geworden sind», ver-mutet Jörg Stolz. Einen wesentlichen Gesin-nungswandel meint er aber nicht feststellen zukönnen. Die Tendenz zu antisemitischen Hal-tungen sieht der Religionssoziologe gar amAbflauen. Der Grund dafür: Je näher Konfliktesind, desto stärker beeinflussen sie die Einstel-lungen der Menschen. «Im Zusammenhangmit der Affäre um die nachrichtenlosen jüdi-schen Konten Ende der 90er-Jahre konnte eineZunahme von antisemitischen Einstellungennachgewiesen werden», erklärt Stolz, «dieLeute sahen die Banken und mit ihnen symbo-lisch die ganze Schweiz unter Beschuss undempfanden dies als Angriff auf die eigene sozi-ale Identität.» Seither hat sich die Situation wie-der entspannt. Trotzdem werden Schweizer

Juden und Muslime oft auf die globalen Kon-fliktfelder und Krisen angesprochen. Stolz: «Siekommen dann oft in einen Erklärungszwangund teilweise auch in Loyalitätskonflikte, die siekeineswegs suchen.»

«KONFLIKTE BRAUCHT ES»

Von einem «Clash of Civilizations» oder voneinem «Kampf der Religionen» kann in derSchweiz aber kaum die Rede sein. Die Zukunftdes religiösen Zusammenlebens schätzt JörgStolz eher positiv ein. «Die Schweiz hat sich inden letzten Jahrzehnten von einem christlichenzu einem multireligiösen Land gewandelt»,stellt er fest, «das wird uns immer mehr be-wusst.» Die Konsequenzen des religiösen Plu-ralismus sind bereits absehbar: Lehrmittel wer-den multireligiös ausgerichtet und Verfassungender realen Situation angepasst. Auch die Kirchensind am Umdenken: sie setzen stark auf den in-terreligiösen Dialog und fördern Theologien, indenen das Christentum nicht im Zentrum steht.Aber auch die nichtchristlichen Religionenwerden sich verändern müssen. «Wahrschein-lich wird sich ein schweizerischer oder euro-

päischer Islam herausbilden», meint Religions-experte Stolz, «das braucht aber Zeit.» Undeinen demokratischen Integrationsprozess:Wenn der soziale Aufstieg der Muslime und einedamit einhergehende soziale Durchmischungzustande kommt, wird sich dieser automatischeinstellen, ist er überzeugt.

Ohne Konflikte wird es dabei nichtgehen, wie das Beispiel Zürich gezeigt hat. Oderder Streit, der im Wallis kürzlich um ein Schul-buch, das auch Fragen des Islams behandelt,entbrannt ist. «Diese Konflikte braucht es», sagtJörg Stolz, «es gibt keine Veränderung ohnegleichzeitige Gegenbewegung.» Ein Schrittzurück und zwei nach vorne, heisst das für denWeg in die multireligiöse und -kulturelleZukunft der Schweiz.

KONTAKT Prof. Kurt Imhof, [email protected]; Prof. Jörg Stolz, [email protected]

«Die Schweiz hat sich von einem christlichen zu einem multireligiösen Land gewandelt.» Jörg Stolz, Religionssoziologe

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– Im Jahr wird eine Flugstrecke von 3,4 km geflogen. Da wir nur alle4 Jahre und 3 Monate als Passagiere an Bord eines Flugzeuges sein können, fliegen wir dafür 14,5 km auf einmal – zum 50. Landwaagrecht oder zum 35. Land diagonal.

– 0,45 g Giftmüll landen jeden Tag in jedem Meeranteil.– Wir kaufen 14 Tetrapaks im Jahr.– Das Kakaoangebot reicht für 9 Tafeln Schokolade pro Jahr.

– Pro Tag rauchen wir zwei Zigaretten, am Wochenende sogar drei.– Jede Person gibt 1,53 US-Dollar im Jahr für Nike-Markenprodukte

aus, erhält also zum Beispiel alle 40 Jahre ein paar Turnschuhe.– Jeden 6. Tag besitzen wir ein Handy.– Die Produktion der Firma Coca-Cola reicht für 0,5 dl Getränke

pro Tag und Person. Am meisten wird aber Tee getrunken.– 60 Tage im Jahr leidet jeder Mensch an Hunger.

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– 5 Monate und 6 Tage sind wir Flüchtlinge in einem anderen Land,die Hälfte davon bereits in den ersten 10 Lebensjahren, das heisst2 Monate und 18 Tage als Kinder.

– 2 Monate und 2 Wochen im Jahr kommen wir in den Genuss freier Presse.

– Die Verteidigung und die Sicherheitsmassnahmen, die wir jedes Jahr für unser Land treffen, kosten uns 125 US-Dollar.

– Unser Land ist mit 333 US-Dollar verschuldet.– 14 Jahre und 8 Monate im arbeitsfähigen Alter ist jede einzelne

Person arbeitslos.– Die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach unserem Tod heilig oder

selig gesprochen werden, steht eins zu einer Million.

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«DIE ABHÄNGIGKEIT DER BESITZLOSEN»

Eine globale Ordnung ist dann gerecht, wenn alle Menschen die gleichen Lebens-chancen haben, sagt der Philosoph Urs Marti. Entscheidend sei aber, wer bestimmt,was Chancengleichheit bedeutet. Interview von Sabine Witt

DOSSIER – DIE NEUE UNGERECHTIGKEIT

Herr Marti, wo sehen Sie heute in der Debatte über globale Gerechtigkeit dasgrösste Problem?URS MARTI: Das grösste Problem besteht heutedarin, dass der Markt zum Massstab aller Dingeerhoben wird. Als gerecht gilt, wenn jeder wirt-schaftliche Akteur den gleichen Marktzuganghat. Ich misstraue dieser Doktrin. Denn trotz derWelthandelsorganisation WTO werden die är-meren Länder nach wie vor diskriminiert. VieleIndustriestaaten verdanken ihre günstige Aus-gangsposition einer protektionistischen Politikin der Vergangenheit, die nun aber ärmerenLändern nicht mehr erlaubt sein soll. Selbstwenn eine totale Handelsliberalisierung aufDauer allen nützen sollte – was bislang nichtbewiesen und auch stark umstritten ist – hätteein westlicher Multi viel bessere Chancen aufeinem solchem Markt als ein Unternehmen aus einem Drittweltland. Märkte, wie sie dieTheorie beschreibt, gab es in Wirklichkeit nie.Jeder reale Markt war immer eine Situation, inder die einzelnen Teilnehmer ungleiche Aus-gangschancen hatten. Insofern kann man auchaus dem Markt kein Prinzip der Gerechtigkeitherleiten.

Wo sehen Sie die Wurzeln der aktuellenKontroversen?MARTI: Die Kontroversen über soziale Gerech-tigkeit, die heute auf globaler Ebene geführtwerden, erinnern an jene, die im 19. Jahrhun-dert national ausgefochten wurden. Im Bereichder Wirtschaftspolitik haben die gegenwärtigentscheidenden Debatten bereits in der Nach-kriegszeit begonnen, als die Wirtschaftsordnungauf den zwei Prinzipien des Freihandels und derFörderung sozialer Gerechtigkeit im Rahmender Einzelstaaten beruhte. Inzwischen hat manlediglich mehr Erfahrungen, was die forcierteDeregulierung und Spekulationsabenteuer be-

trifft, die zum plötzlichen Ruin einer ganzenVolkswirtschaft führen können.

Wie wirkt sich die aktuelle Globalisie-rung auf die soziale Gerechtigkeit in der Welt konkret aus? MARTI: Es liegt in der Logik der kapitalistischenWirtschaftsform, dass sie sich globalisiert unddie Märkte weltweit ausdehnt. Projekte zurFörderung des globalen Freihandels gingen inder Nachkriegszeit stärker als heute davon aus,dass eine Handelsliberalisierung innerhalb vonStaaten und zwischen ihnen Gewinner undVerlierer schafft. Die Nationalstaaten übernah-men damals eine grosse Verantwortung, was diesoziale Gerechtigkeit anbelangt. Die moderneIdee der sozialen Gerechtigkeit beruht auf derÜberzeugung, dass jemand, der unverschuldetin eine wirtschaftliche Notlage gerät, ein Rechtauf staatliche Unterstützung hat; die dafür nöti-gen materiellen Ressourcen werden überBesteuerung generiert. Dieser Gedanke istheute zunehmend in Frage gestellt. Das hatnicht nur, aber auch mit Globalisierung zu tun.Denn jene, die über ausreichende Mittel verfü-gen und etwas abgeben sollten, sind globalmobil geworden sind. Sie können sich einenStaat mit geringer Besteuerung aussuchen. Ausdiesem Grund ist das System des Sozialstaats aufglobaler Ebene etwas ins Wanken geraten.

Welche Rolle haben in diesem Zusammen-hang internationale Organisationen wie dieUNO gespielt?MARTI: 1962 hat die UNO die Konferenz der Ver-einten Nationen für Handel und EntwicklungUNCTAD gegründet. Deren Ziel war es, die Aus-sichten der Entwicklungsländer im Handel zuverbessern und zu helfen, sie in die Weltwirt-schaft zu integrieren. Die Vorschläge der Ent-wicklungsländer konnten sich jedoch nicht

durchsetzen, weil dies unter anderem bedeutethätte, dass die multinationalen Konzerne stär-ker kontrolliert worden wären. Wenn dieUnternehmen investierten, wollten sie mög-lichst wenigen sozialrechtlichen Beschränkun-gen unterworfen sein. Faktisch führte das dazu,dass sie Einfluss auf die Sozialgesetzgebungeines Landes nehmen konnten. Die beschei-denste Forderung von den ärmeren Ländern andie reichen Industriestaaten war die nach mehröffentlicher Entwicklungshilfe. Doch sie hat sichbis heute nicht durchgesetzt; der UNO-Richtsatzvon 0,7 Prozent des BIP wird nur von wenigenLändern erreicht. In diesem Sinne sind dieUNO-Vorstösse gescheitert.

Haben wir es denn heute vor allem mit einemUmverteilungsproblem zu tun? MARTI: Es kommt darauf an, was man unterUmverteilung versteht. Man kann argumen-tieren, der Kapitalismus sei die rationalste,humanste und effizienteste Wirtschaftsform,die denkbar ist. Die Nachteile des Systemskönne man durch den Sozialstaat ausgleichen.Aus einer radikaleren Perspektive würde mansagen: Der Sozialstaat ist ein fauler Kompromiss.Solange die wirtschaftliche Macht ungleichverteilt ist, geraten viele Menschen immerwieder unverschuldet in Notlagen, und derSozialstaat wird daher grosse Ressourcen ver-schlingen, ohne dass sich prinzipiell etwasändert, nämlich die Abhängigkeit der Besitz-losen von den Besitzenden. So die marxistischeAuffassung. Das Ganze lässt sich auf die in-ternationale Ebene übertragen. Wenn die Ent-wicklungsländer keine besseren Entwicklungs-chancen bekommen, werden sie ewig abhängigund damit hilfsbedürftig bleiben. Ein globalerSozialstaat wäre mit einer riesigen Bürokratieverbunden und letztlich wohl nicht sehreffizient.

In den wichtigsten Organisationen, dieEinfluss auf die Weltwirtschaft haben, geben die mächtigsten Industrieländer den Tarif

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durch. Können bei solchen Machtverhältnis-sen Institutionen wie Welthandelsorga-nisation, Weltbank und Währungsfonds dennüberhaupt zu einer grösseren Gerechtigkeitbeitragen?MARTI: In der WTO haben die Staaten zumindestformell ein gleiches Stimmrecht. Im Interna-tionalen Währungsfonds und in der Weltbankliegt die Entscheidungsgewalt bei den finanz-kräftigen Mitgliedern. Kritiker wie JosephStiglitz haben darauf hingewiesen, dass der IWF mit seinen Entscheiden die Situationganzer Volkswirtschaften und damit von Milli-onen Menschen verändern kann. Die betroffe-nen Menschen ihrerseits haben kaum dieMöglichkeit, Einfluss auf die Politik zu nehmen.Die verantwortlichen Entscheidungsträger bei Weltbank und Währungsfonds unterliegenihnen gegenüber keiner Rechenschaftspflicht.Das entspricht unserem modernen Rechts-verständnis nicht.

Welcher Organisation trauen Sie am ehesten zu, auf eine gerechtere Welt hinwir-ken zu können?MARTI: Prinzipiell hätten die Organisationen, dieaus der UNO hervorgegangen sind, zum Beispielder Wirtschafts- und Sozialrat ECOSOC, einegrössere Legitimität, weil sie in höherem Masserepräsentativ sind für die unterschiedlichenBedürfnisse der Weltbevölkerung. Die WTO hataber im Hinblick auf die Gestaltung einerWelthandelsordnung ungleich mehr Gewichtund verfügt über eine veritable Sanktions-macht. Realistischerweise wäre also hier an-zusetzen, beispielsweise im Sinne einer Stär-kung der Verhandlungs- und Sanktionsmachtder ärmeren Länder. Allerdings haben sich bis heute in der WTO primär die Interessen derIndustriestaaten und hier wiederum die dermultinationalen Unternehmen durchgesetzt,die ein grosses Interesse an der Handelslibe-ralisierung haben.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um einegerechtere Weltordnung zu etablieren?MARTI: Eine globale Ordnung ist dann gerecht,wenn alle Menschen die gleichen Lebenschan-cen haben. Möglicherweise kann die Umver-teilung von Ressourcen diesem Zweck dienen.

Entscheidend ist aber, wer bestimmt, wasChancengleichheit bedeutet und wie diese zuerreichen sei. Die Benachteiligten dieser Weltsollten in dieser Hinsicht ein viel grösseres Mit-sprache- und Mitbestimmungsrecht bekom-men. Der Weg hin zu einer gerechteren Welt-ordnung müsste also über den Aufbau globalerdemokratischer Organisationen führen.

Denken Sie an ein globales Parlament odereine Weltregierung?MARTI: Weltregierung klingt für viele abschre-ckend. Doch wirtschaftspolitische Entschei-dungen, die die Weltbevölkerung betreffen,können nur legitim sein, wenn ihnen eineGesetzgebung zugrunde liegt, an der die ganzeWeltbevölkerung in irgendeiner Weise partizi-pieren kann. Als sich in der Frühen Neuzeit inEuropa eine kapitalistische Wirtschaftsform

entwickelt hatte, übernahmen Staaten dieFunktion, den Markttätigkeiten feste Regeln zugeben. Wenn wir heute davon ausgehen, dassHandel und Produktion sich globalisieren, dannmuss das auch auf der politischen Ebene seineEntsprechung finden.

Das heisst, die Politik hinkt der Wirtschaftimmer hinterher, und der Markt diktiert dieGesetze?MARTI: Auf den ersten Blick ist das so. Historischkonnte der Kapitalismus sich jedoch nur ent-wickeln, weil der Staat die Regeln garantierte.Im Laufe des 19. Jahrhundert ist der Kapita-lismus durch die Einführung der Sozialstaatengezähmt und eine angesichts grosser Armutdrohende gesellschaftliche Instabilität abge-wendet worden. Heute befinden wir uns mögli-cherweise in der frühen Phase einer neuen

BILD Ursula Meisser

«Der IWF ist immer noch dem Dogma verpflichtet, der Markt könneProbleme besser lösen als politische Institutionen.» Urs Marti

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Entwicklung. Wenn der Weltmarkt sich selbstüberlassen wird, die mächtigsten Akteure ihreInteressen durchsetzen und die Regeln bestim-men, wird das in den armen und in den reichenRegionen des Planeten viele Verlierer, Armutund Instabilität schaffen. Dann wird sich dieNachfrage nach politischer Regulierung wiedererhöhen.

Dann werden also vorderhand multina-tionale Konzerne bestimmen, wie Staatenhandeln?MARTI: Im Moment gibt es eine starke Tendenzzur Privatisierung von Ressourcen, zum Beispieldes Wassers oder auch von Dienstleistungen.Die Privatisierung von Ressourcen vergrössertdie Macht privater Akteure, auf Staaten Druckauszuüben. Viele Experten haben diese Gefahrerkannt. Eine stärkere Regulierung der Welt-wirtschaft könnte private Akteure disziplinieren.Das Problem ist, dass vor allem der IWF nochimmer dem wirtschaftspolitischen Dogma ver-pflichtet ist, das davon ausgeht, der Marktkönne prinzipiell Probleme besser lösen als einepolitische Institution. In dieser Hinsicht hoffe ichdarauf, dass Menschen lernfähig sind.

Ungerechtigkeit betrifft ja nicht nurWirtschaft und Soziales. Welche Bedeutunghaben Krieg und Frieden für die globaleGerechtigkeit? MARTI: Frieden ist die Bedingung einer Rechts-ordnung. Und Gerechtigkeit im modernenSinne heisst, dass eine Rechtsordnung besteht,die von allen Betroffenen anerkannt wird. DasVölkerrecht definiert die Kriterien einesgerechten Verhaltens zwischen Staaten. Esbestimmt auch, unter welchen BedingungenKriegshandlungen legitim sind. Im Fall desletzten Irak-Kriegs wurde als ungerecht inerster Linie beurteilt, dass einige Staaten die völ-kerrechtlichen Regeln nicht respektiert haben.

Hat sich punkto Recht und Frieden inglobaler Hinsicht etwas geändert?MARTI: Wir haben seit 1989 eine neue Situation.Vorher gab es die Systemkonkurrenz zwischenOst und West. Sie verhinderte, dass die UNO unddamit eine der wesentlichen Institutionen des Völkerrechts ihren Auftrag wahrnehmen

konnte, da die Grossmächte durch ihr Veto-recht die Möglichkeit hatten, jede Initiative zublockieren. Nach 1989 nahm man an, die Weltwürde nun friedlicher werden. Das hat sichunterdessen als Wunschdenken erwiesen.Auch die UNO konnte sich nicht auf neue Ent-scheidungsmechanismen einigen. Nach wievor ist der Sicherheitsrat das entscheidendeGremium, und der nötige Konsens ist in vielenFällen nicht vorhanden.

Haben sich durch das Auftreten der USA, die die Genfer Konvention missachten oderden Internationalen Strafgerichtshof nichtanerkennen, die Chancen für eine friedlichereund gerechtere Welt verschlechtert?MARTI: Sicher. Die im 20. Jahrhundert began-genen Kriegsverbrechen haben den Ruf nacheiner globalen judikativen Gewalt immer lauterwerden lassen. Die ablehnende Haltung der USAgegenüber dem Internationalen StrafgerichtshofICC folgt einer gewissen Logik. Ein mächtigerAkteur kann sich sagen, er brauche keine glo-bale Judikative, weil er stark genug ist, für seinRecht selber zu sorgen. Die USA wollen sichnicht durch eine supranationale Gewalt dieHände binden lassen. Mit der Nichtanerken-nung verhindern sie letztlich eine grössereGerechtigkeit.

Die Schweizer Aussenministerin MichelineCalmy-Rey hat kürzlich die Genfer Initiativefür einen israelisch-palästinensischen Friedenin Schwung gebracht. Welche Rolle könnenkleine Staaten wie die Schweiz im Projekteiner gerechteren Welt spielen?MARTI: Die Genfer Initiative stellt in einer fürPalästina und Israel äusserst schwierigen Situ-ation einen Hoffnungsschimmer dar. Es ist ver-dienstvoll, wenn auch kleine Staaten sichdarum bemühen, solchen Friedensinitiativeneine grössere internationale Resonanz zu ver-schaffen. Jedes einzelstaatliche Handeln in sol-cher Hinsicht ist positiv. Allgemein sollten der-artige Initiativen idealerweise im Rahmen derUNO stattfinden. Denn die Möglichkeiten derKoordination der globalen Öffentlichkeit sinddort grösser wie auch die Chancen, dass dieInitiative nicht versandet. Denkbar ist, dass einestärkere aussenpolitische Aktivität kleiner Staa-

ten langfristig die Handlungsmöglichkeiten derUNO vergrössert.

Welchen Beitrag kann die Politische Philoso-phie in der Gerechtigkeitsdebatte leisten?MARTI: Der Ruf nach Gerechtigkeit ist vonErfahrungen der Ungerechtigkeit motiviert.Bekanntlich fühlen sich auch Menschen, denenes vergleichsweise gut geht, rasch einmalungerecht behandelt. Das gilt für Kinder in derFamilie oder in der Schule, für Erwachsene imBerufsleben, für soziale Gruppen und für Staa-ten. Neben vielen kleinen Ungerechtigkeiten gibtes die global ungleiche Verteilung der Chancen,anständig zu leben, selbstbestimmt zu handelnund sich zu entwickeln. Erfahrungen von Un-gerechtigkeit sind verwirrend vielfältig, undnicht selten ist der Ruf nach Gerechtigkeit Aus-druck subjektiver Empfindungen oder partiku-larer Interessen. Deshalb gibt es das Bedürfnisnach einer Wissenschaft der Gerechtigkeit. DiePolitische Philosophie beansprucht, dies zusein, indem sie vernünftige, für möglichst vieleMenschen nachvollziehbare, unparteiische Kri-terien von Gerechtigkeit definiert. In diesemSinne kann die Politische Philosophie unsereVorstellungen von Gerechtigkeit differenzierenhelfen.

ZUR PERSON

Dr. Urs Marti ist Privatdozent für PolitischePhilosophie an der Universität Zürich. SeineForschungsschwerpunkte liegen neben derPolitischen Philosophie bei der Rechtsphilo-sophie; seit ein paar Jahren widmet er sichbesonders den Themen globale Gerechtigkeitund Globalisierung von Recht und Politik.Zuletzt hat er mit Georg Kohler das Buch«Konturen der neuen Welt(un)ordnung. Bei-träge zu einer Theorie der normativen Prin-zipien internationaler Politik» (2003) her-ausgegeben. Urs Marti forscht im Rahmendes EU-Projekts «Global Justice», an dem dasPhilosophische Seminar der UniversitätZürich beteiligt ist.

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Auf der Erde ist es ruhig geworden. Alle leben auf ihrem eigenenLand, das sich in nichts von dem der andern unterscheidet. Sie leben in der vollkommenen Gewissheit, dass es nirgends etwas gibt,was sie nicht selbst besitzen. Denn es ist alles verteilt, was zu verteilen war.

Manuela Pfrunder: Neotopia, Atlas zur gerechten Verteilung der Welt, LimmatVerlag Zürich. Registrieren Sie sich ihr persönliches Land: www.neotopia.ch 43

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Als auf der Rennstrecke die Töffs an ihm vor-beidonnerten, wusste Daniele Carrozza: Aus mirwird nie ein Rennfahrer. «Viel zu gefährlich»,sagt Carrozza, «und im Übrigen auch viel zuteuer.» Dabei hatte er immer geglaubt, er habefürs Motorradfahren Talent. Talent hat er. Undnutzt es auch. Daniele Carrozza ist Publizistik-student im elften Semester und Motorradtester.Seit vier Jahren testet er die neusten Motorrä-der für die Fachzeitschrift Moto Sport Schweiz.Carrozza hat die Passion zum Beruf gemachtund kann das theoretische Wissen des Studiumsin der Praxis erproben. Glück gehabt. «Eigent-lich habe ich den idealen Job», sagt der 27-Jäh-rige. Eigentlich. Denn unter der Wunschpro-fession hat seine Passion doch auch gelitten.

DER TOLLSTE TÖFF

«Meine Duc», sagt Carrozza liebevoll, wenn ervon seinem eigenen Motorrad spricht. SeineDucati 900 Supersport war für ihn immer dasGrösste. «Irgendwie hässlich, aber exklusiv.»Eine Haltung, die er rasch ablegen musste; auf der Redaktion wurde seine Ducati-Lieb-haberei nicht goutiert. Journalismus verlangtObjektivität, soviel war ihm klar. Dass ihn diese aber um seine geliebte Maschine bringenwürde, das ahnte er nicht. «Ich kann heute nichtmehr sagen, welches der tollste Töff ist», sagtCarrozza. Das tönt wie eine kleine Klage.

Doch wie kommt man zu einem solchenJob? Eine gesunde Portion Unverfrorenheitkann nicht schaden. Während eines Prakti-kums bei der Credit Suisse entdeckte Carrozzadie Website von Moto Sport Schweiz. Er fand siescheusslich. Selbstsicher brachte er sich beimVerlag ins Gespräch und bot an, den Internet-auftritt neu zu gestalten. Carrozza war derrichtige Mann zur richtigen Zeit am richtigenOrt. Der Verlag hatte sich soeben für einenRelaunch des Internetauftritts entschieden.

Schritt für Schritt hat sich Carrozza vom ein-fachen Online-Redaktor zum Motorrad-Journa-list hochgedient, der gelegentlich für zweiein-halb Tage nach Miami zum Testfahren fliegt.Erfahrungen, die ihn auch für seine Lizen-ziatsarbeit inspirierten. «Der Motorradjournalist– ein Nutzen maximierender Homo Oeconomi-cus?» lautet der provisorische Arbeitstitel derAbschlussarbeit. Carrozza will untersuchen,wie unabhängig im Motorrad-Journalismusberichtet wird.

Studium und Arbeit – für die meistenStudierenden ist das eine eher konfliktreicheBeziehung. Rund vier Fünftel aller SchweizerStudentinnen und Studenten gehen neben deruniversitären Ausbildung einer Erwerbstätigkeitnach. Die Zahl der Werkstudierenden wächststetig, was grundsätzlich positiv ist. Denn ohnejegliche Praxiserfahrung sind Stellen heuteschwer zu finden. Für immer mehr Studieren-de steht die Erwerbstätigkeit während des Stu-diums an erster Stelle. Es ist nicht mehr dieArbeit, die sich in die vorlesungsfreie Zeit ein-fügen muss, sondern umgekehrt: Man geht zurVorlesung, wenn es die Arbeit erlaubt. DanieleCarrozza leistet bei Moto Sport Schweiz ein 60-Prozent-Pensum. Hinzu kommen pro Arbeitstagdrei Stunden Arbeitsweg. Motorradfahren, dasriecht nach Freiheit und Abenteuer – die Orga-nisation seines Studien- und Arbeitsalltagsindes verlangen Carrozza einiges an Disziplinab. Doch seine Arbeitszeiten sind einigermassenflexibel: «Ich habe einen tollen Chef. Ich kannauch gut einmal zwei Wochen fehlen, wenn einePrüfung ansteht, so dass ich kaum je zwischenStudium und Job entscheiden muss», sagt er.

VON DER ARBEIT SCHLEICHEN

«Manchmal schleiche ich mich für eine halbeStunde von der Arbeit, um kurz eine Bespre-chung mit einem Professor zu halten», sagt

Caroline Büchel. Manchmal bleibt ihr nebendem Job einfach keine Zeit. Büchel studiert im neunten Semester Publizistik, Wirtschafts-und Sozialgeschichte sowie Staatsrecht. Siemöchte ihr Studium im kommenden Herbstabschliessen. Ob die Zeit dazu reichen wird, istunklar. Seit drei Jahren arbeitet sie Teilzeit alsCasterin bei einer Werbefilm-Produktion. Beilaufenden Projekten ist sie vollzeitengagiert. Da sind Terminkollisionen mit dem Studiumvorprogrammiert.

«Eigentlich wollte ich ja Lehrerin wer-den», sagt die 25-Jährige. «Ich habe das niegesucht. Ich bin da irgendwie reingerutscht.»Das Eine habe das Andere ergeben. Immerwieder habe jemand angefragt. Was anderewährend Jahren erfolglos versuchen, passiertihr nebenbei: Caroline Büchel macht Karrierebeim Film. Heute hat sie eine Festanstellungund ein Stellenangebot für nach Studien-abschluss. Ihre Aufgabe ist, Schauspieler fürWerbefilme zu suchen. Werden Profis verlangt,durchwühlt sie Karteien. Nach Laien wie zumBeispiel für die aktuellen Migros-Spots späht sie auf der Strasse. Auf dem Set ist sie zudem für die Betreuung der Akteure zuständig. «Man muss ganz behutsam sein, damit sie sichentspannen und keine Angst mehr vor derKamera haben», sagt sie. «Und damit sie wiedereinmal mitmachen.»

«GEMÄCHLICHE WELT DER WISSENSCHAFT»

Nicht nur die zeitliche Belastung macht Caro-line Büchel das Nebeneinander von Studiumund Arbeit schwer. Es ist auch das Pendeln zwi-schen zwei sehr unterschiedlichen Welten. Aufder einen Seite die spannende und herausfor-dernde Welt der Werbung, auf der anderen Seitedie eher gemächliche Welt der Wissenschaft.«Da ist Sitzleder gefragt. Es fällt mir bisweilenschwer, mich für das Studium zu motivieren»,sagt sie. Selbst beim Sprachgebrauch gibt es Kol-lisionen: In der Werbung werde alles schön-geredet, in der Wissenschaft indes gehe eseher ums Ausschliessen. Da kann es schon ein-mal passieren, dass sie in Formulierung undArgumentation daneben greift. «Manchmalfrage ich mich, wofür ich überhaupt noch fertigstudiere», sagt Büchel. Doch ihr Stolz würde esnie zulassen, ernsthaft den Abbruch des Studi-

BILLIG UND WILLIG

Sie testen Töffs, hüten das Grossmünster, casten Schauspieler für die Werbung oderverkaufen Tickets im Sexkino. Achtzig Prozent der Studierenden arbeiten neben demStudium. Vier Beispiele von der Werkfront. Von Lukas Egli

REPORTAGE

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ums in Erwägung zu ziehen. Wer weiss, viel-leicht wird der Studienabschluss plötzlich wie-der wichtiger. «Das Filmbusiness ist zwar sehrspannend, aber irgendwie fehlt mir da auchetwas», sagt sie. Sie wisse nicht, wie lange sienoch als Casterin arbeiten wolle. «Mich zieht eseher in die Politik», erklärt die Liechtensteine-rin. «Zum Beispiel als Beraterin für eine huma-nitäre Organisation.»

Billig und willig – Studenten sind dieidealen Arbeitnehmer unserer Zeit. Wenns umAnstellungs-, Kündigungs- und Arbeitsbedin-gungen geht, sind sie äusserst flexibel. Obwohlin den meisten Branchen die Löhne gestiegensind, beträgt der Durchschnittslohn für einenklassischen Studentenjob wie Bürohilfe, Nacht-wache, Kellnern immer noch 20 bis 25 Franken– genauso viel wie schon vor 20 Jahren. FürCaroline Büchel ist es sogar noch weniger. Sieverdient für ihr 40-Prozent-Pensum rund 2000Franken im Monat. Genug zum Durchkommen.«Ginge es nur ums Geld, würde ich wohl bessereine Routinearbeit ohne Verantwortung anneh-men», meint sie.

DAS GROSSMÜNSTER HÜTEN

Letzthin war da eine ältere deutsche Touristin.Sie wandelte hin und her, auf und ab, hat imFlüsterton gebetet, stundenlang. «Ich dachte:Natürlich, sie betet, dafür ist die Kirche doch da.» Doch plötzlich stürzte sich die Frau aufBrigitte Landolt und sagte eindringlich: «Dumusst hier weg! Das Böse steht hinter dir.» Dannwandte sich die Frau wieder ab und machteweiter mit ihrem Gebet. Später kam sie zurückund erzählte, sie habe soeben Jesus, Maria undJohannes den Täufer getroffen. Es sei sehrschön gewesen. Aber sie, Brigitte, sei im Mo-ment auf der Seite des Teufels. Es komme derTag, an dem sie sich entscheiden müsse.

«Eigentlich passiert jedes Mal etwasLustiges», sagt Landolt. «Doch das Erlebnis mitdieser Frau war schon etwas gfürchig. Schliess-lich war ich mit ihr allein und für die Kircheverantwortlich», sagt sie. «Die Kirche zieht zumTeil komische Menschen an.» Brigitte Landolt ist20 Jahre alt, studiert im zweiten SemesterMedizin und hütet ein bis zwei Mal im Monateinen Sonntag lang das Zürcher Grossmünster.Sie verkauft Billette für den Münsterturm und ist

Die Passion zum Beruf gemacht: Töfftester und Publizistikstudent Daniele Carrozza.

BILDER Judith Stadler&André Uster

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Ansprechperson für die Besucher. «Ich arbeitefürs Sackgeld», sagt Landolt. Sie lebt noch zuHause bei ihren Eltern, die für ihr Studium auf-kommen. «Ich bin nicht religiös, aber ich magmeine Aufgabe im Grossmünster. Ich mag denOrt und ich mag die Stille, die abends einkehrt,wenn ich die Kirche schliesse.» Brigitte Landoltwill einmal Kinderärztin werden. Mehr als ein,zwei Tage im Monat arbeiten will sie nicht. DasMedizinstudium sei straff organisiert und habeviele Pflichtstunden. Sie will es möglichst raschhinter sich bringen. Im Minimum sechs Jahredauert es bis zum Abschluss.

Noch vor einem Jahr war es gar nicht so einfach, überhaupt einen Studentenjob zufinden. «2003 gab es Wochen ohne ein einzigesInserat», sagt Raphael Bürgi von der Arbeits-vermittlung der Zentralstelle der Studenten-schaft der Universität Zürich. Seit Beginn derSemesterferien im Februar habe sich die Situ-ation merklich gebessert. «Wir bekommentäglich fünfzehn bis zwanzig neue Inserate.» Da ist fast alles dabei: Büroarbeiten, Sekretariat,Empfang,Telefonumfragen und Telefonmarke-ting, aber auch Aussergewöhnliches. «Neulichwurde ein Nierenstein-Zertrümmerungsappa-rat-Vorführer gesucht», erzählt Bürgi. Auch dieAngebote aus dem Sexmilieu sind zahlreich.Doch diese werden bei der Arbeitsvermittlungder Studentenschaft nicht veröffentlicht. «Ichkann mir nicht recht vorstellen, dass sichStudentinnen auf solche Angebote melden»,sagt Raphael Bürgi.

ARBEITEN IM SEXKINO

Das Studium und seinen Lebensunterhaltfinanziert Dusan Djordjevic seit jeher selbst. Erhat immer einen Job gefunden. Seit Dezember2002 verkauft er nun Eintrittsbillette im Sexki-no in Oerlikon. Er muss lächeln, wenn er davonerzählt. Aber er erzählt es auch mit einer PriseStolz. Denn wer macht schon einen so ver-ruchten Job? Doch schlimm ist es nicht. «Ich war am Anfang ziemlich überrascht. Es war garnicht so schmuddelig, wie ich es erwartethabe», erzählt er. Das Kino sei früher ein Tanz-lokal gewesen und deshalb relativ hell.

«Ich bin der ewige Student», gibt Djord-jevic freimütig zu. Er studiert Geschichte undGermanistik im neunzehnten Semester. Oder ist

In heiligen Hallen: Die angehende Kinderärztin Brigitte Landolt hütet das Grossmünster.

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es schon das zwanzigste? Er weiss es selbernicht so genau. «Im Sommer könnte ich mit derLizarbeit beginnen», sagt er. Er will die Ver-hältnisse in Jugoslawien während des Erstenoder des Zweiten Weltkriegs untersuchen.Seine Mutter stammt aus Kroatien, sein Vateraus Montenegro, Djordjevic hat die Kriege aufdem Balkan in den Neunzigerjahren hautnahmiterlebt. Und mitgelitten – er hatte Verwand-te auf allen Seiten der Fronten. «Ich will zu denhistorischen Wurzeln, die zu diesen Ereignissenführten», sagt Djordjevic. Es sei nämlich mit-nichten so, wie es heute mehrheitlich dargestelltwerde, dass nur die Serben die Bösen seien. «Beider Geschichtsschreibung Jugoslawiens gibtes viel aufzuarbeiten.»

LUST GEHÖRT ZUM LEBEN

Seine Tätigkeit im Sexkino bezeichnet Dusan alsideal fürs Studium. Er werde sozusagen bezahltfürs Lesen, denn er verkaufe ja nur rund fünfEintritte pro Stunde. Da bleibe ihm viel Zeit füranderes. Fürs Lesen und Lernen zum Beispiel.«Aber wenn ich ehrlich bin, lese ich vor allemComics und mache Computerspiele», sagt er.Und natürlich, am Anfang habe er auch die Sex-filme geschaut auf dem Monitor bei der Kasse.Aber das sei ihm ziemlich rasch verleidet. «Manstumpft schnell ab. Denn egal ob Siebzigerjah-re, Achtzigerjahre oder zeitgenössisch – die Dia-loge und Einstellungen der Pornofilme sindimmer dieselben», sagt er.

Bei ihm verkehrten nicht unbedingtdie typischen Sexkino-Gänger, seine Kund-schaft sei sehr gepflegt, sagt Dusan Djordjevic.Überhaupt sei sein Kino nicht sonderlichbekannt. Ganz im Gegensatz zum Beispiel zumSexkino Walche, das weltberühmt sei. ZweiZivilpolizisten der Sittenpolizei hätten ihm beieiner Kontrolle einmal erzählt, dass die Walchesogar in Bangkok als Treffpunkt für Homose-xuelle bekannt sei. Sein Kino hingegen fandensie sehr gepflegt. Und auch darauf ist DusanDjordjevic ein bisschen stolz. Von seinen Pro-fessoren hat er in seinem Kino trotzdem nochkeinen angetroffen. «Die gehen wohl anders-wohin, falls sie überhaupt ins Sexkino gehen»,meint er. Dabei sei an einem Sexfilm doch nichtsmoralisch Verwerfliches. «Lust gehört zumLeben», findet er.

Im Tempel der Lust: Der Geschichtsstudent Dusan Djordjevic sitzt im Sexkino an der Kasse.

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ESSAY ZUR EU-OSTERWEITERUNG von Georg Kohler

DAS NOTWENDIGE ABENTEUER SOWIE EIN TOD IM DAMPFBAD

Man weiss, dass «Europa», der Name diesesKontinents, der im Grunde bloss die etwaslange Nase der riesigen asiatischen Festland-masse ist, von jenem schönen Phöniziermäd-chen kommt, das, betört von Zeus, der sich alssanfter, weisser Stier getarnt hat, übers Meerentführt und auf Kreta geliebt wurde. Was nachneun Monaten zur Geburt des grossen Minosführte, des legendären Herrschers und See-herrn, der von seiner Insel aus viele GebieteGriechenlands eroberte und schliesslich in Sizi-lien während einer schwierigen diplomatisch-machtpolitischen Mission in der tödlichen Falleeines umgebauten Dampfbades verbrüht wor-den ist. Was ihm freilich nur zu einer neuen Kar-riere verhalf: Zusammen mit seinem BruderRhadamanthys ist er nun der oberste Richter desHades. – Warum ich das erzähle?

*Aus drei Gründen. Erstens, weil mir auch nacheifriger Konsultation diverser Mythologie-lexikone immer noch nicht klar ist, warumeigentlich diese zutrauliche, ein bisschen glau-bensselige – der weisse Stier muss ihr ja ein paar zarte Lügen ins Ohr geflüstert haben, umsie dafür zu gewinnen, auf seinen mächtigenRücken zu klettern – warum ausgerechnetdiese sexy Blondine (so wird sie heute meistdargestellt) und mit kriegerischen Genen ge-segnete Phönizierbraut zur Namenspatroninvon Europa wurde. Soll es anzeigen, dass Euro-päer-Sein bedeutet, sich einem Erbe von Neu-gier, Naivität, Lüsternheit, schlauer Vitalitätund letzter, wenngleich grau gewordener Ge-rechtigkeit zu verdanken? – Ich weiss es nicht.Zu viele verschiedene, sich überkreuzendeIdeen und Denkbilder finden sich in der Euro-pasage, als dass mir sogleich die verbindlicheinleuchtende Erklärung einfallen würde.Doch genau diese Mehrdeutigkeit liefert denzweiten Grund für meine Erinnerung an dieMythologie: So viele Zusammenhänge und kul-turgeschichtlich aufschlussreiche Indizien in

der Europa-Erzählung zu entdecken sind, soviele Gründe und Wechselwirkungen stehenhinter der Geschichte des europäischen Konti-nents, die sich seit der zweiten Hälfte des ver-gangenen Jahrhunderts als eine fast schonwörtlich wunder-volle und polykausal beför-derte Geschichte friedlicher Einigung und Aus-dehnung darbietet. Die «Europäische Union» der25 Mitgliedstaaten, die seit dem 1. Mai 2004 Tat-sache geworden ist, lässt sich jedenfalls nicht aufein oder zwei Ursachen zurückführen. In ihrspiegeln sich ebenso die Funktionserfordernisseder technisch-wissenschaftlichen Moderne wie– für einmal glückliche – historische Zufällig-keiten; die Imperative liberaler Marktökonomie,wie das zum kollektiven Lernen entschlosseneGedenken kriegsversehrter Generationen; deraktive und der passive Wille handelnder Elitenund folgebereiter Bevölkerungen, eine gemein-same kulturelle, wiewohl ausserordentlichvielgestaltige Tradition und – jedenfalls bisheute – die Verheissung einer Zukunft in Frie-den und Wohlstand; das Charisma einer histo-rischen Gewinnerfigur.

Und eben dies liefert die dritte Be-gründung für meinen Verweis auf unsereNamenspatronin und ihre Familienbande.Europa ist die Mutter Minos’; des zwar langeZeit äusserst erfolgreichen, am Ende an seinerSelbstüberschätzung scheiternden Helden, der erst in der Unterwelt, jenseits irdischerUnübersichtlichkeit und Machtlust – zum un-erschütterlichen Garanten abgewogener Ent-scheide wird. Soll heissen: Das neue «Europader Fünfundzwanzig» bildet eine Zäsur in der bisherigen Entwicklung, die auch imHorizont der skeptisch warnenden antikenMythologie zu betrachten ist.

*Der 1. Mai 2004 ist einerseits die notwendigeKonsequenz des epochalen Bruchs von 1989, derdie lange Zeit gültigen Bedingungen der west-europäischen Unionsbildung, die zum «Europa

der Zwölf» führten, ausser Kraft setzte, und erkönnte anderseits jenen Höhepunkt markieren,von dem aus der Abstieg anfängt und die Nieder-lage beginnt. Natürlich wäre das schlimm; füralle, die Schweiz und die Schweizer nicht aus-genommen. Deshalb ist jede verfügbare Ener-gie gegen diesen Verlauf zu mobilisieren.

Der Erfolg der europäischen Einheits-bemühungen war nie selbstverständlich. Zu-gleich ist heute seine Sicherung schwierigerdenn je. Zum einen sind enorme ökonomischeund soziale Inhomogenitäten zu überbrü-cken. Die EU wird durch die Osterweiterungschwächer und ärmer; das durchschnittliche BIP(Bruttoinlandprodukt) sinkt dramatisch. Zumandern ist die «entzweiende Kraft trennendernationaler Geschichten und historischer Erfah-rungen, die den europäischen Boden wie geolo-gische Spalten durchziehen, noch nicht er-lahmt» (Jürgen Habermas). Bei nüchternerAnalyse der Lage muss man zugeben, dasspessimistische Prognosen, die starke anti-europäische Bewegungen in den bisherigen wie in den neuen Mitgliedsländern erwarten,nicht schlecht begründet sind. Es wird ohne Ver-lierer, die sich wehren, nicht weitergehen.Dennoch steht hinter dem neuen Entwick-lungsschritt dieselbe Logik, die schon denfrüheren Ausbau bewerkstelligt hat. Einmal inGang gesetzt, entfesselt sie einen integrativenSog, der alle, die in seinen Umkreis geraten, zur Kooperation zwingt und allen, die integriertsind, verbietet, Beitrittsgrenzen zu ziehen, wogewisse rechtsstaatlich-demokratische undminimal definierte historisch-kulturelle Vor-aussetzungen gegeben sind. Es sind ihre zen-tralen Prinzipien (rule of law, grundrechtsge-schützte, liberale Demokratie und Marktfrei-heit) und ihre eigenen identitätsbildendenErfahrungen (von der Aussöhnung zwischenFrankreich und Deutschland, der EingliederungEnglands, dem ökonomischen Aufblühen dervon ihren Diktatoren befreiten iberischen Län-

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der bis zum Sturz der DDR), es sind also ihreinnersten Motive und deren Dynamik, die dieUnion «nach 89» daran gehindert haben, eineneue Mauer zu errichten, nachdem der rostiggewordene «Eiserne Vorhang» endlich beseitigtworden war. Diese immanenten Triebkräfteeiner mächtigen Bewegung zu transnationalenGrossrauminstitutionen liefern nicht nur dieErklärung für den riskanten Osterweite-rungsentschluss, sie berechtigen zugleich zurHoffnung, dass die unweigerlich auftretendenzentrifugalen Tendenzen nicht das ganzeProjekt in Stücke reissen werden.

*Ein Projekt? – Die EU ist zweifellos ein vonbewussten Absichten geleiteter Entwurf, abersie ist ein Projekt, das wesentlich Prozess ist,

ein Entwurf also, der sich im Laufe seinerVerwirklichung gerade in den Selbstdefinitio-nen ständig selber reformuliert. Dazu vier Be-merkungen. Erstens: Die EU ist kein Superstaatund wird es auch in den nächsten zwanzig Jah-ren nicht werden. Die EU ist eine Grossraum-institution, die vor allem deswegen entstandenist, weil sie Probleme lösen kann, die die Ein-zelstaaten allein nicht zu lösen fähig sind,obwohl deren Bewältigung für ihr Überlebennötig ist. Der primäre Sinn der EU ist daher nichtdie Überwindung oder gar Zerstörung derNationalstaaten, sondern deren Gedeihen undBestand. Zweitens: Die grundlegende Recht-

fertigung der EU ist die Effizienz ihrer Pro-blemlösungsaktivitäten. Durch deren für alleMitglieder gewinnbringendes Operieren wirdsie legitimiert – oder eben nicht. Wären à la lon-gue ihre Nachteile aber tatsächlich grösser alsihre Vorteile gewesen, dann würde die EUnicht noch immer existieren. Da die basaleRechtfertigung der EU ihre Nützlichkeit für dieMitgliedstaaten ist, sollte man sie nicht vonvornherein an falschen Legitimitätskriterienmessen. Technisch gesagt: Ihre Legitimität istwesentlich Output-Legitimität im Gegensatzzur Input-Legitimität all dessen, was den Tätig-keiten der Organe der Volkssouveränität ent-springt. Darum ist es unangemessen, sogleichvom «Demokratiedefizit» der EU zu reden.Zweifellos: Demokratische Legitimität ist die

letzte Begründung, die alles politische Handelnbraucht. Doch diese Rechtfertigung kann der EUindirekt zuwachsen; über das Handeln der in ihrzusammengeschlossenen, je demokratischgewählten Regierungen. Die auf die Idee derVokssouveränität bezogene Legitimität der EUist letzten Endes auch heute noch auf die jedemokratisch gewonnene, einzelstaatlicheLegitimität gestützt. Das wird noch lange sobleiben. Denn wie auf unserem Kontinentzuverlässige demokratische Legitimität andersals aus nationalstaatlichen Wurzeln gewonnenwerden soll, ist bislang nicht erkennbar. Drit-tens: Das Verhältnis zwischen der Rechtferti-

gung durch Nützlichkeit (EU) und der Recht-fertigung durch demokratische Willensbildung(Nationalstaaten) ist spannungsvoll. Darum istdie EU ihrem Charakter nach kein Zustand,sondern ein Prozess, in dem unablässig ein Aus-gleich zwischen den unterschiedlichen Legiti-mationsinstanzen gesucht werden muss. UmEffizienz zu erzielen oder zu erhalten, mussunter Umständen die Zuständigkeit der Input-Legitimität zugunsten der Instanzen der Output-Legitimität eingeschränkt werden. Im Ergebnissolcher Justierungen hat sich der national-staatliche Souveränitätsbegriff entschiedenverändert, und die Anerkennung dieser Verän-derungen konnte produktiv eingehen in dieFortbildung supranationaler Regierungs- undHandlungsformen; in ein supranationales Ver-fassungsverständnis, das Potenziale für die Aus-dehnung bürgergesellschaftlicher Solidaritä-ten freisetzt. Die europäische «Identität» ist einsich allmählich deutlicher herausartikulieren-des Produkt der Union, welches so zugleich zumProduzenten einer fortschreitenden politischenEinheit wird; dabei gilt, dass diese Identität – alseuropäische Identität – die nationalen Identitä-ten nicht zerstört, sondern im Gegenteil ein Fak-tor ihrer Erhaltung ist.

*Am Schluss ein Blick auf uns selbst, die«Willensnation» im kerneuropäischen Westen –verharren wir wohl auf immer in «Neutralien»?– Dieses mindestens lässt sich sagen: WennNützlichkeiten der Massstab sind, an dem dieEU aufgrund ihrer eigenen Logik gemessenwerden soll, dann darf die Schweiz natürlichauch fragen, ob es für sie nützlicher ist, der EUnicht anzugehören. Allerdings ist dabei dieRechnung genau zu machen. Und vor allemsollte man bei der Kalkulation nicht von einemverzerrten Bild über «die in Brüssel» ausgehen.Wer die Realität seiner Umgebung konstantfalsch sieht, darf sich nicht wundern, wenn erirgendwann schmerzhaft darüber belehrt wird,dass dort, wo er einen Pfad wähnte, Dickicht undGestrüpp wachsen.

Georg Kohler ist Ordinarius für Philosophie, insbe-sondere politische Philosophie an der UniversitätZürich.

KONTAKT [email protected]

ILLUSTRATION Orlando Eisenmann

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50 UNIMAGAZIN 2/04

EINE FORMEL FÜRS LEBEN

Ernst Hafen wurde belächelt: Mit Fliegen forschen? Doch die Taufliege Drosophi-la verhalf dem Biologen zu bahnbrechenden Erkenntnissen über Zelldefekte, diebeim Menschen zu Krebs oder Diabetes führen können. Von Paula Lanfranconi

Überall diese winzigen Fliegen. In Hundertenvon Plastikröhrchen wuseln sie umher. Einbisschen widerlich. Doch dann betäubt ErnstHafen ein paar dieser schwarzen Punkte mit CO2

und legt sie unters Mikroskop. Schlagartigeröffnet sich eine Wunderwelt: durchsichtige,elegante Körper, filigrane Flügel werden sicht-bar. Die Betrachterin ist fasziniert. Ernst Hafenschmunzelt. Er kennt diese Reaktion. In HafensBüro hats keine Fliegen. Dafür hängen an denWänden interessante Farbaufnahmen. Einesieht aus wie die Milchstrasse. Befasst sich derProfessor für molekulare Entwicklungsbiologieauch mit Astronomie? Weit gefehlt – das Fotozeigt ein Fliegenei. In Wirklichkeit ist es einenhalben Millimeter lang, und der vermeintlicheSternennebel ist ein Haufen von 6000 Zellen.

VON FLIEGEN UND MENSCHEN

Da sind wir schon mitten in Ernst Hafens For-schungsgebiet: «Mich interessiert, wie auseiner einzigen Eizelle ein ganzer Organismusentsteht.» Bei einem einfachen Tier wie der Tau-fliege geht das schnell: Sie braucht für ihre Ent-wicklung bloss zehn Tage und hat Hunderte vonNachkommen. Seit vier Jahren befasst sichErnst Hafen mit dem Grössenwachstum. Wes-halb erreicht die Drosophila genau diese Grös-se und wird nicht so gross sie ein Hund? «Inzwi-schen wissen wir, dass etwa 50 der 15000 Flie-gen-Gene für das Wachstum verantwortlichsind. Jetzt wollen wir herausfinden, wie diese 50das Wachstum steuern.» Die Parallelen zwi-schen Fliege und Mensch sind unerwartetgross. 70 Prozent aller Gene, die im Menschenmit Krankheiten assoziiert sind, gibt es auch inder Fliege. Hafen und sein Team stossen deshalbimmer wieder auf Gene, die beim Menschenetwas mit Diabetes, Krebs und Wachstum zu tunhaben. «Dabei wollten wir gar nie Alters- oderDiabetesforschung betreiben.»

Doch Biologe wollte der 47-Jährige schon alsGymeler werden. Germanistik, sagt er lachend,hätte er nicht studieren können, weil er sonstmit seinem Vater, einem Kantilehrer, hätte kon-kurrieren müssen. Den letzten Anstoss gabdann ein Lehrbuch mit biochemischen Formeln:«Es waren so genannte Biosynthesewege. Die-ses Bild faszinierte mich, weil es eine Formelwar, die irgendwie mit dem Leben zu tun hat.»

AB NACH AMERIKA

Das Studium absolvierte Ernst Hafen zügig. AmBasler Biozentrum kam er früh in Kontakt mitWissenschaftlern aus aller Welt. Ihm wurde klar:Er wollte nach Berkeley. In den Staaten wäreErnst Hafen wohl geblieben, wäre 1986 nebenall den Offerten von renommierten amerikani-schen Universitäten nicht ein konkurrenzfähi-ges Angebot als Assistenzprofessor am Zoolo-gischen Institut der Universität Zürich einge-troffen. Hafen ist hier geblieben und gehört

heute zu den Aushängeschildern der Univer-sität. Kürzlich wurde er für seine bahnbre-chende Arbeit mit dem Otto-Naegeli-Preis,einem der renommiertesten Forschungspreiseder Schweiz, ausgezeichnet.

Die ersten Zürcher Jahre warenschwierig für den jungen Assistenzprofessor undseine Frau mit zwei kleinen Buben. In den USAgabs überall Spielgruppen. «Hier hingegen», er-innert sich Hafen, «hatte jede Frau das Gefühl,sie müsse einem zeigen, wie man seinem Kinddie Nase putzt.» Und dann diese unmöglicheSchulorganisation, wo das eine Kind um achtgeht und das andere um zehn Uhr zurück-kommt. Hafen war der erste Assistenzprofessor

PORTRÄT

BILD Jos Schmid

an der Universität Zürich, der sein Kind am Mitt-wochnachmittag ins Labor mitnahm. «Dasmachte grossen Eindruck auf die Kollegen»,schmunzelt er, dessen Arbeitswoche rund 80Stunden dauert. Seine Karriere, räumt er ein,wäre nicht möglich gewesen, wenn seine Frau,eine Primarlehrerin, sich nicht voll den drei Söh-nen gewidmet hätte.

FORSCHER UND UNTERNEHMER

Ernst Hafen ist aber nicht bloss Wissenschaftlerund Familienvater, sondern auch Unternehmer.1998 gründete er zusammen mit drei KollegenThe Genetics Company. Was steckt hinter derGeschäftsidee? «Unsere Forschung mit denFliegen zeigte, dass die Parallelen zum Men-schen so gross sind, dass man dieses brandneueKnow-how unbedingt anwenden sollte, umrascher zu Medikamentenvorstufen zu kom-men.» Inzwischen hat die Firma ein eigenesManagement und 30 Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter: «Es ist ein gutes Gefühl, wenn manjungen PhDs, die aus den USA zurückkommen,eine Stelle anbieten kann», freut sich Hafen.

Ernst Hafen entspricht ganz und garnicht dem Klischee des unnahbaren Professors.Er trägt Jeans, hinter der Bürotür hängt ein Velo-helm. Als er nach Zürich kam, begann er miteinem Kollegen zu joggen. Irgendwann wurdedas Laufen zur Routine. Dann, vor acht Jahren,

sah er einen Aushang für den Berlin-Marathon.Sein Ehrgeiz war angestachelt. Er begannernsthaft zu trainieren und schaffte seinenersten Marathon unter drei Stunden. Um dieseZeit zu egalisieren, müsste er gegen 100 Kilo-meter in der Woche trainieren. Doch dazu hater zu viel zu tun.

Wenn Ernst Hafen von seiner Arbeiterzählt, kommt ein Leuchten in seine Augen,echte Begeisterung. Oft wollen die Leute wissen,wozu denn diese mit Steuergeldern finanzierteFliegenforscherei überhaupt gut sei. Dann ant-wortet Hafen: Wir wissen noch so wenig, dasswir zuerst die Grundlagen verstehen müssen.Mit seiner Forschung will Hafen hinaus aus dem

«Die Natur ist das grösste Labor – Aversionen gegen die Genforschungbasieren auf der Angst vor dem Unbekannten.» Ernst Hafen

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Elfenbeinturm. Im Moment investiert er vielZeit in eine geplante Ausstellung im Lan-desmuseum. Landesmuseum? «Dort, woman sonst die Schlacht von Murten an-schaut, wollen wir den Leuten zeigen, waswir tun.» Denn die ganzen Aversionen gegendie Genforschung, und jetzt kommt Leiden-schaft in seine Stimme, basierten auf derAngst vor dem Unbekannten. Dabei sei dieNatur das grösste Labor überhaupt. «DieEinflussmöglichkeiten der Forscher werdenvon den Leuten überschätzt», sagt der Ent-wicklungsbiologe Hafen.

Mit seiner Forschung berührt ErnstHafen Schlüsselthemen – Wachstum, Le-bensverlängerung, die sich öffnende Scherezwischen technisch Machbarem, ethischVerantwortbarem und ökonomisch Zahlba-rem. Das, räumt der Wissenschaftler ein, seieine gesellschaftliche Diskussion, die manführen müsse. Aber die Forschung generie-re auch immer mehr massgeschneiderteMedikamente, mit denen die Patienten effi-zienter behandelt werden. Dadurch könnensie auch rascher wieder an ihren Arbeitsplatzzurückkehren.

KREATIVITÄT UND FREIHEIT

Etwas ist Ernst Hafen besonders wichtig:«Forschung ist immer Teamarbeit.» SeineTeammitglieder seien nicht Leute, die amMorgen in eine Reihe stehen und Befehle ent-gegennehmen. Und gleich verrät der For-schungscrack noch eines seiner Erfolgsge-heimnisse: Man müsse versuchen, ein Klimazu schaffen, das Kreativität und Freiheitzulässt. Dass die Leute miteinander spre-chen, ist zentral. Und sie müssen lernen, sel-ber Entscheidungen zu treffen. «Viele unse-rer Erfolge», sagt Hafen, «basieren auf Ini-tiativen einzelner Mitarbeiter.» Zugleich seidas Labor ein Ort, wo man lebt und auch malspontan zusammen ein Bier trinkt.

Übrigens: Ernst Hafen kann einerFliege, die ihm hartnäckig um den Kopfschwirrt, durchaus etwas zuleide tun. Erhabe, sagt er, Respekt vor diesem Leben. Aberer kennt auch den Preis dieser Fliegenleben,die er in seinem Labor selber tausendfachhervorbringt.

INTERVIEW

«IN DER FORSCHUNG WOLLENWIR ERSTKLASSIG SEIN»

Die Hochschullandschaft ist im Umbruch. Wie will sich die Universität künftig posi-tionieren? Zürichs Potenziale stecken in der erstklassigen Forschung und der brei-ten Diversität, sagt Rektor Hans Weder. Interview von Thomas Gull und Roger Nickl

Herr Rektor Weder, in letzter Zeit haben wirt-schaftsnahe Organisationen Vorschläge zutief greifenden Reformen der SchweizerHochschulen gemacht. Schätzen Sie diesesneue Interesse?HANS WEDER: Teilweise ist es sehr willkommen.Die economiesuisse beispielsweise vertritt na-türlich oft nicht die gleichen Positionen wie dieUniversität. Es gibt jedoch Bereiche, in denenwir ähnliche Vorstellungen haben, etwa wenn esdarum geht, den Universitäten grösstmöglicheAutonomie zu geben.

Vorschläge zur weiteren Entwicklung desHochschulstandortes Schweiz sind auch vom neoliberalen Think Tank Avenir Suissegemacht worden.WEDER: Die Studie von Avenir Suisse ist ziemlichschmalbrüstig. Es war wenig sinnvoll, die Stu-

die von einer Wiener Professorin durchführenzu lassen, die weder das Schweizer Hochschul-system noch die aktuellen Diskussionen wirk-lich einschätzen kann. Avenir Suisse fehlt dieKompetenz, um zu diesen Fragen etwas Ver-nünftiges zu sagen.

Kein relevanter Diskussionbeitrag also?WEDER: Nein, wir haben daraus gar nichts ler-nen können.

Wir möchten trotzdem einen der Vorschlägeerörtern. Avenir Suisse schlägt eine Hierarchi-sierung der Schweizer Universitäten vor:Demnach soll es in der Schweiz künftig Hoch-schulen von lokalem, nationalem und inter-nationalem Rang geben.WEDER: Das ist Unsinn. In jeder Universität gibtes Einheiten, die eine starke internationale

«Der Avenir-Suisse-Studie fehlt die Kompetenz, um zu hochschulpolitischen Fragenetwas Vernünftiges zu sagen.» Hans Weder

UNIMAGAZIN 2/04 BILDER Ursula Meisser

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Ausstrahlung haben, bei uns beispielsweisedas Deutsche Seminar, das Zentrum für Neuro-wissenschaften, das Institut für Mikrobiologieoder die Ökonomische Fakultät. Hinzu kommt,dass jede Universität, die sich in der Lehre enga-giert, auch in der Forschung vorne dabei seinmuss. Die Vorstellung, eine reine TeachingSchool zu sein, wie dies Avenir Suisse vonLuzern behauptet, empfinde ich als beleidigend.

Das Avenir-Suisse-Modell würde letztlich auf die Trennung von Forschung und Lehrehinauslaufen?WEDER: Ja, genau. Und das Konkurrenzprinzipwürde unterlaufen. Heute wird die Forschung inder Schweiz weitgehend nach dem Kompeti-tionsprinzip finanziert. Beim Nationalfondshaben alle die gleichen Chancen. Wer gute Pro-jekte einreicht, bekommt Geld, um sie durch-zuführen. Das ist natürlich etwas verkürzt dar-gestellt. Aber dieses Modell ist sinnvoll, weil esdas Potenzial der Hochschulen ausschöpft. DieMesslatte für den Erfolg ist die Qualität.

Avenir Suisse fordert zudem eine starke Rolledes Bundes bei der weiteren Gestaltung derSchweizer Hochschullandschaft.WEDER: Da bin ich und mit mir die SchweizerRektorenkonferenz vehement dagegen. Wirgehen davon aus, dass die Rektorenkonferenz

die Hochschullandschaft nach bestimmten Re-geln, die sie sich selbst gibt, gestalten wird. DieEntwicklung geht in Richtung Profilierung undSchwerpunktbildung, aber diese werden nachKapazitäten und Kompetenzen der Universitä-ten festgesetzt und nicht vom Bund diktiert.

Diese Auseinandersetzung zwischen Bundund Universitäten dauert schon länger.Während der Staatssekretär für Wissenschaftund Forschung, Charles Kleiber, versucht,eine nationale Hochschulpolitik zu etablieren,wehren sich die Universitäten dagegen.WEDER: Eine nationale Hochschulpolitik istnicht besonders relevant, weil die Hochschulenauf internationale Konkurrenz ausgerichtetsein sollten. Uns verbindet mehr mit der Uni-versität München als mit mancher SchweizerUniversität. Der nationale Ansatz hat jedoch ingewissen Bereichen Sinn: So muss etwa einFinanzierungssystem geschaffen werden, daszwischen den Universitäten Chancengleich-heit herstellt. Der Bund sollte beispielsweiseBestimmungen für Zulassungen und Studien-gebühren erlassen.

Sie haben die Profilierung und Schwerpunkt-bildung erwähnt: Was ist in dieser Hinsicht inZürich zu erwarten?WEDER: Die Universität Zürich hat strategisch

ganz klare Vorstellungen: sie will eine For-schungsuniversität erster Klasse sein. Zürich istdas bereits heute, wir wollen aber noch besserwerden. Unsere Universität hat zudem einebreite Diversität, die sie sich dank ihrer Grösseleisten kann. Würde man beispielsweise dieBologna-Reform so ausgestalten, dass die Viel-falt in den Geisteswissenschaften einge-schränkt wird, wäre das ein Verstoss gegen dieeigenen Talente. Aber auch eine diversifizierteUniversität sollte ihre Stärken weiter ausbauen,wie wir das mit der Bestimmung von For-schungsschwerpunkten kürzlich getan haben.Das heisst natürlich nicht, dass wir den Rest ver-nachlässigen. In diesem Sinne wird es also Pro-filbildungen geben. Wir müssen uns strate-gisch vor allem auf den Standort Zürich, auf dasNebeneinander und die Zusammenarbeit vonUniversität und ETH, einstellen.

Dennoch ist immer wieder von Profilierungim Sinne einer «Hochschule Schweiz» dieRede. Von einer nationalen Zusammenlegungvon Fachbereichen mit der Konsequenz, dass beispielsweise Germanistik nur noch inZürich, andere Fachbereiche nur noch inBern, Basel oder Genf angeboten würden.WEDER: Davon halte ich aus wissenschaftsorga-nisatorischen Gründen wenig. In der Schweizgibt es zwei Universitätsmodelle: Die Business

«Eine nationale Hochschulpolitik ist nicht besonders relevant, weil die Hoch-schulen auf internationale Konkurrenz ausgerichtet sein sollten.» Hans Weder

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School und die integrierte Universität. Letzteresist seit 900 Jahren erfolgreich. Die Interdiszipli-narität bei der Bearbeitung von wissenschaft-lichen Problemen wird massiv zunehmen. Da istjede Hochschule, die im Sinne einer BusinessSchool spezialisiert ist, im Nachteil.

Sie sehen die Grösse und die Diversität derUniversität Zürich als Vorteil. In Zürich kannman sich den Alleingang leisten, für andereSchweizer Universitäten ist die Ausgangslagenicht gleich komfortabel.WEDER: Die anderen Universitäten werden ihre eigenen Wege finden. Ich kann nur fürZürich sprechen. Es ist aber durchaus vor-stellbar, dass wir in Studiengängen, bei denenwir auch zusammen mit der ETH keine befrie-digende Grösse zustande bringen, mit weiterenUniversitäten wie beispielsweise Konstanz oderBasel Bachelor- oder Masterstudiengängeanbieten. Welche Fächer an einer Universitätvertreten sind, ist eine andere Frage. Wirwerden uns hüten, osteuropäische Geschichteohne Slawistik anzubieten. Wir werden auch nie das Mittellatein aufheben, denn die Hi-storiker und die Sprachwissenschaftler sinddarauf angewiesen. Es käme uns aber auchnicht in den Sinn, einen Bachelor in Mittel-latein anzubieten. Die Grösse einer Universitätist nun mal ein Argument für die Diversität des

Studienangebots. Studierendenzahlen, wie wir sie haben, erlauben diese Breite desAngebots. Die Diversitätsforschung zeigt imÜbrigen auch, dass stark diversifizierte Systemebesser auf unvorhersehbare Entwicklungenreagieren können.

Zu einem anderen Thema: Bologna. DieBologna-Reform setzt auf die Internationali-sierung der Hochschulbildung. Sie wird auchan der Universität Zürich umgesetzt,allerdings nicht an allen Fakultäten gleich-zeitig. Die Naturwissenschaftler und dieÖkonomen werden ab dem nächsten Semestergemäss dem Bologna-Modell studieren. Ander Philosophischen Fakultät wird es noch ein paar Jahre dauern. Wie erklären Sie die unterschiedlichen Tempi?WEDER: Ich begrüsse diese unterschiedlichenGeschwindigkeiten ausdrücklich. Geschwin-digkeit an sich ist noch keine Qualität und wirwünschen, dass die Qualität stimmt. Die Philo-sophische Fakultät hat eine ungleich grössereKomplexität in der Gestaltung der Studiengän-ge als beispielsweise die Wirtschaftswissen-schaftliche Fakultät. Für uns war ein atmosphä-risches Element sehr wichtig: Wir wissen, dassdie Leute, die die Arbeit machen, auf unsererSeite sein müssen. Sie müssen motiviert mit-ziehen. Solange sie dies nicht tun, ist eine

Reform nicht auf optimalem Weg. Wir haben be-wusst Zeit gegeben und Programme bereitge-stellt, die diesen Prozess unterstützen. DieLeute sollen wissen, dass sie im Reformprozessnicht allein gelassen werden. Bisher haben wirdie Reformen ohne grosse Konflikte umsetzenkönnen – das ist für mich ganz wichtig.

Haben Sie den Eindruck, die Stimmungbezüglich Bologna-Reform habe sich in letzterZeit verbessert?WEDER: Bei den Professoren hat sie sich ganzeindeutig verbessert. Am Anfang hatte man dasGefühl, die Reform sei vor allem eine Übung fürden Staatssekretär. Jetzt hat man das Potenzialeiner Studienreform erkannt. Das finde ichpositiv. Die Stimmung bei den Studierendenkann ich nicht 100-prozentig beurteilen, dortgibt es verschiedene Signale. In der Projekt-gruppe Studienreform haben die Studierendeneine sehr positive Rolle gespielt. Sie haben ihreBedürfnisse eingebracht, stellten sich abernicht – wie auf nationaler Ebene der VSS (Ver-band der Schweizer Studierendenschaften) –grundsätzlich gegen Reformen.

Wie Umfragen zeigen, würde sich ein Gross-teil der Studierenden mit einem Bachelor-Abschluss nach drei Jahren Studiumzufrieden geben. In der Schweiz gilt jedochder Master als Normabschluss. Was hat das für Konsequenzen?WEDER: Diese Umfrage wurde meines Wissensin St. Gallen gemacht. Dort kann ich mir das gutvorstellen. Bei uns wurde bisher noch keine em-pirische Untersuchung durchgeführt. Ein Teilder Studierenden, die bisher die Universitätohne Abschluss verlassen haben, werden künf-tig einen Bachelor-Abschluss machen können.Dadurch wird die Quote der Studienabbrechersinken. Für mich steht jedoch eine andereÜberlegung im Vordergrund: wer eine Wissen-schaft wirklich verstehen will, macht einenMaster-Abschluss. Wichtig ist, dass dies auch beider Vergabe von Stipendien berücksichtigtwird. Deshalb ist es entscheidend, dass der Mas-ter als der übliche Studienabschluss gilt. Wennwir attraktive Master-Studiengänge anbieten,bin ich sicher, dass viele Studierende diese bele-gen werden. Künftig könnte auch ein anderes

«Würde mit der Bologna-Reform die Vielfalt in den Geisteswissenschaften einge-schränkt, wäre das ein Verstoss gegen die eigenen Talente.» Hans Weder

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Modell Schule machen: nach dem Erwerb desBachelors gehen die Studierenden in die Privat-wirtschaft und kommen dann für den Erwerbdes Masters zurück an die Universität.

Was wird ein Bachelor wert sein?WEDER: Es gibt Tätigkeiten in der Privatwirt-schaft, für die ein Bachelor reichen könnte, etwawenn man eine Grundausbildung in Ökonomieoder in Jurisprudenz gemacht hat. Aber es wirdin Privatfirmen nach wie vor wissenschaftlichqualifizierte Leute mit einem Master-Abschlussbrauchen. Die Forderung nach kurzen Stu-diengängen wird vielfach damit begründet, imAusland seien die Studienabgänger jünger. Wirkönnten das Problem aber einfach lösen, indemdie Kinder früher eingeschult würden. Daswäre entwicklungspsychologisch ohnehin bes-ser. Ich bin dagegen, dass man dieses Problemauf dem Buckel der Universitäten löst und ver-langt, das Studium müsse auf sechs Semesterbeschränkt werden.

Eines der Zauberworte der Bologna-Reform ist «Mobilität». Wie mobil werden die Studierenden dank Bologna sein?WEDER: Da bin ich ausserordentlich skeptisch.Ich glaube, dass Bologna die Mobilität eher ein-schränken wird, weil die Studiengänge vielstärker strukturiert sein werden. Nach demBachelor wird man sehr gut umsteigen können,aber ich bin nicht sicher, ob das innerhalb einesStudiengangs möglich sein wird.

Die Vision eines Hochschulraumes Europamit weitgehend unbegrenzter Mobilität derStudierenden wäre demnach eine Illusion?WEDER: Ich glaube, dass das Konzept einesHochschulraums Europa aufgesetzt ist. Es wirdzu einer grösseren Unterscheidung der Uni-versitäten kommen. Es werden sich Gruppenbilden. Wir sind auch dabei, uns zu orientieren,mit welchen Universitäten wir Verträge ab-schliessen sollen.

Das bedeutet, es entsteht auf europäischemNiveau eine universitäre «Klassengesellschaft».Künftig wird unterschieden zwischen Hoch-schulen, die in der eigenen Liga mitspielen, und solchen, die dies nicht tun. Entsprechend

würden dann Studienleistungen anerkanntoder eben nicht?WEDER: Diese Unterscheidungen wird es wahr-scheinlich nicht nur auf der Ebene von Uni-versitäten, sondern auch von einzelnen Institu-ten geben. Diese Klassengesellschaft existiertbereits heute.

Im Rahmen von Bologna werden die Stu-diengänge gestrafft und verschult. Sieplädieren für Lernfreiheit und Selbständig-keit. Wie bringen Sie das zusammen?WEDER: Ich glaube, dass die Studierenden selb-ständiger werden können, wenn die Informa-tionen, die ihnen über die Wahlmöglichkeitenzur Verfügung stehen, präziser werden. DankBologna sollten die Studiengänge transparenterwerden. Wenn das Studium vollkommen ver-schult würde und es nur noch obligatorischeVeranstaltungen gäbe, wäre es natürlich um dieSelbständigkeit geschehen. Aber das wird nir-gends der Fall sein. Alle Modelle haben einegrosse Zahl von Modulen, die mehr oder weni-ger frei gewählt werden können. Es ist aller-dings wahr, dass das ganz freie Studieren nichtmehr möglich sein wird. Diese Form hattejedoch für viele Studierende, die dafür nichtgeeignet waren, auch Nachteile.

Sie haben offenbar zwei Seelen in ihrer Brust:einerseits befürworten Sie Reformen, ande-rerseits ist Ihnen klar, dass damit ein Teil derakademischen Freiheit verloren geht.WEDER: Das gebe ich gerne zu. Als ich Dokto-rand war, verständigte man sich über ein The-ma und machte sich an die Arbeit. Nach zweiJahren kam man mit der fertigen Arbeit zurück.Das geht heute nicht mehr, auch weil sich dieStudierenden verändert haben. Ich hatte eineReihe von Doktoranden. Diese haben Wert dar-auf gelegt, dass man ihr Dissertations-Projektgemanagt und begleitet hat. Das hat zwei Seiten:einerseits werden die Leute dadurch besserbetreut, andererseits gibt man die freie For-schungsexistenz auf. Ich halte die vorgeseheneStrukturierung für vertretbar.

Sie postulieren, die Universität müsse nochmehr tun, um die 15 Prozent der Besten zufördern. Wie wollen Sie das bewerkstelligen?

WEDER: Wir brauchen gute Selektionskriterienfür Doktoranden und müssen diese mit gutenAngeboten unterstützen. Auch bei den Master-studiengängen sollten einige angeboten werden,die besondere Anforderungen stellen. Grund-sätzlich versuchen wir, alle Studierenden mit-zuziehen; das ist gut so. Aber wir tun etwas zuwenig für die besonders Begabten. Ein Instru-ment dazu ist der Forschungskredit.

Die Differenzierung des universitären Studi-ums könnte zu einer Zweiklassengesellschaftführen. Auf der einen Seite Studierende, diesich nur eine akademische Grundausbildungerwerben, und auf der anderen Seite einelitäres Angebot auf der Master- und Dokto-randenstufe. Kann das funktionieren?WEDER: Es braucht die Breite, um die speziellInteressierten und Begabten herausfinden zukönnen. Was die Qualität der Ausbildungsgän-ge betrifft, haben wir vorgebeugt, indem wir ver-langen, dass auch auf der Bachelor-Stufe erfah-rene Professorinnen und Professoren einenansehnlichen Teil des Unterrichts bestreiten.

Es gibt künftig keine akademischeKlassengesellschaft?WEDER: Nicht mehr, als sie heute schon existiert.

Herr Weder, wir danken Ihnen für dasGespräch.

ZUR PERSON

Hans Weder (57) ist Rektor der UniversitätZürich (seit 2000) und Ordinarius für neu-testamentliche Wissenschaft an der Theolo-gischen Fakultät (seit 1980). Schwerpunktseiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Her-meneutik – die Frage nach dem Verstehendes Neuen Testaments unter den Bedingun-gen der Neuzeit. Er wirkte bei der Neuüber-setzung der Zürcher-Bibel mit und ist Her-ausgeber mehrerer theologischer Fachzeit-schriften. Er hat eine Reihe teilweise interdis-ziplinärer Nationalfondsprojekte geleitet.

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DIE GLOBALISIERUNG – DÉJÀ VU

BÜCHER

Es sind vorab die kleinen Länder, die der Globalisierung Vorschub leisteten, und zwarschon vor Jahrhunderten. «Globalisierung – Chancen und Risiken» zeigt diese Ent-wicklung am Beispiel der Schweiz eindrücklich auf. Von Michael T. Ganz

Neu ist nur das Wort, die Sache selbst ist es nicht.Globalisierung gab es schon im Spätmittelalter,als Kaufleute im Zuge von Ein- und Auswande-rungsschüben ihr Beziehungsnetz auf neue Re-gionen auszuweiten begannen. Erstmals spezia-lisierten sich damals Händler und Hersteller aufregionale Produkte und Fähigkeiten und be-gründeten so die moderne Arbeitsteilung. Esentstanden neue Handelswege, neue Waren-ströme. Auch die Internationalisierung derFinanzmärkte ist schon älter: Erste Anzeicheneines Globalisierungsprozesses sehen Wirt-schaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistori-ker in der Etablierung Londons als weltweitesFinanzzentrum Ende des 17. Jahrhunderts.

SPEKULATIONSBLASE MODELL 1720

Es ist das erklärte Ziel der SchweizerischenGesellschaft für Wirtschafts- und Sozialge-schichte, ökonomische Themen historischanzugehen. Den 19. Band ihrer Buchreihe wid-met die Gesellschaft deshalb einer perioden-übergreifenden Betrachtung des PhänomensGlobalisierung. In «Globalisierung – Chancenund Risiken» steht zudem die Schweiz klar imVordergrund. Warum? «Kleine Länder hattenund haben punkto Globalisierung stets einenVorsprung, da sie sich nicht auf ihren Binnen-markt beschränken können», sagt Margrit Mül-ler, Lehrbeauftragte am Institut für EmpirischeWirtschaftsforschung an der Universität Zürichund Mitherausgeberin des Buches. «Unter denkleinen Ländern hat die Schweiz wiederum eineSonderstellung; der Anteil an international täti-gen Firmen ist hier vergleichsweise gross.»

Neunzehn Forschungsbeiträge, sechsdavon in französischer, einer in englischerSprache, untersuchen in chronologischer Folgeprominente Fälle oder übergeordnete Prozessevon Globalisierung und Deglobalisierung. Sol-che Fälle gab es wie gesagt schon früh. Die Ber-

ner Kantonsregierung beispielsweise trat bereitsum 1700 auf dem Londoner Kapitalmarkt alsInvestorin auf – höchst ungewöhnlich für einpolitisches Gemeinwesen jener Zeit. Die ge-schickte Anlagestrategie Berns, die selbst dasPlatzen der Londoner Spekulationsblase von1720 überlebte, ist genauso Inhalt eines Beitragswie der Bankrott des Berner Bankhauses Mala-crida, das an eben dieser «South Sea Bubble»scheiterte.

GLOBALISIERTE PIRATEN

Von 1750 bis ins frühe 19. Jahrhundert bestimm-ten der Kolonialismus und die mit ihm verbun-denen Kriege die weltwirtschaftlichen Bezie-hungen. In diese Zeit fällt das Beispiel des BaslerHandelsunternehmens Burckhardt & Co., dasden Sprung von der «kolonialen Globalisie-rung» in die Anfänge der weltweiten Industria-lisierung nicht schaffte – eines der Buchkapitelgeht den Gründen nach. Ein anderer Beitraguntersucht Presseberichte über transatlanti-sche Handelsbeziehungen jener Epoche undeine damit einhergehende seltsame Abart vonGlobalisierung: die Freibeuterei.

Unter dem Aspekt der Globalisierungbetrachtet einer der Autoren des Buches erstmalsauch die wachsenden Schweizer Getreideim-porte ab 1870: Sie erzwangen eine Umverteilungder Kräfte zwischen Landwirtschaft und Indus-trie und lösten letztlich Produktivitätssteige-rungen aus. Der Erste Weltkrieg entzog demgrenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrdann allerdings die Grundlage; eine Periode derDeglobalisierung begann, die auch in derZwischenkriegszeit anhielt. Aufschlussreich istder Beitrag zur Strategie des Schweizer Lebens-mittelkonzerns Nestlé: Wie andere SchweizerFirmen auch, verhielt sich Nestlé durchausantizyklisch, baute seine internationale Tätigkeitin und zwischen den Kriegen weiter aus und

stand 1945 mit einem weitgehend intakteninternationalen Firmennetz da.

ANSCHLUSS VERPASST

Unglückliche nationale Alleingänge in denBereichen Rüstung, Nuklearenergie und Kom-munikationstechnologie sind Thema weitererBuchkapitel. Viele auf den Binnenmarkt aus-gerichtete Schweizer Unternehmen waren dem wachsenden internationalen Konkurrenz-druck nach 1960 nicht mehr gewachsen; esfolgten zahlreiche Geschäftsübernahmendurch ausländische Multis. Den Anschluss andie Gegenwart leisten hochaktuelle Beiträge zu den Anpassungs- und Deregulierungspro-blemen im Bereich der schweizerischen Tele-fonie: Alle Versuche, in der Mobiltelefonielandeseigene Standards zu etablieren, schei-terten kläglich, und die Privatisierung desTelefonmarkts schafften Telecom-PTT nur mitNot. Hier hat die Globalisierung die einst soglobalisierungserprobte Schweiz ganz offen-sichtlich überholt.

Globalisierung ist eine anspruchsvolleKoordinationsleistung der gesamten mensch-lichen Gesellschaft – so das Fazit der von Mar-grit Müller verfassten Einführung ins Buch, des-sen Autorinnen und Autoren übrigens aus ver-schiedenen Hochschulen und Instituten derSchweiz stammen und auch mehrere akademi-sche Disziplinen vertreten. «Wir glauben», sagtMargrit Müller, «dass man aus der Geschichteder Globalisierung viel lernen kann. UnserBuch soll dazu beitragen, dass auch historischeErfahrung in die aktuelle Globalisierungsdis-kussion einfliesst. Wenn dies geschieht, hat dasBuch seinen Zweck erfüllt.»

Hans-Jörg Gilomen, Margrit Müller, Béatrice Vey-rassat (Hg.): Globalisierung – Chancen und Risiken. Die Schweiz in der Weltwirtschaft 18.–20. Jahrhun-dert, Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 19, Chronos-Verlag 2003, 400 Seiten, 58 Franken

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PATRIOTISCHE DENKEREs gebe eine «gemeine» Vaterlandsliebe, die im«dunklen Gefühl der Seele» verankert sei undmeist ausschliessend funktioniere: «Sie findetnur ihr Land, nur ihre Mitbürger ihrer Liebewürdig.» Das schrieb der schweizerische Auf-klärer Isak Iselin. Dieser stellte er den «wahren»Patriotismus gegenüber, der ein «Ausfluss derreinesten Menschen-Liebe» sei. Damit brachteIselin eine schweizerische Kontroverse im Kon-text der Aufklärung auf den Punkt: Aufklä-rungsskeptiker wie Johann Jakob Bodmer undBeat Ludwig von Muralt waren Verfechter einerrückwärts gerichteten Vaterlandsliebe, die aufdem Konstrukt eines schweizerischen Natio-nalcharakters basierte, dessen Säulen «Freiheit,Alpen und die Tugenden der Väter» waren. Ise-lin hingegen begründete seinen «philanthro-phischen» oder «kosmopolitischen» Patrio-tismus mit der Vernunft. Er setzte auf den öko-nomischen Wandel, auf Bildung, auf die Weiter-entwicklung von Wissenschaft und Kunst.

Dies ist einer der Diskurse, die SimoneZurbuchen, Philosophieprofessorin in Freiburgund Privatdozentin an der Universität Zürich, inihrer Sammlung von Aufsätzen zur Aufklärungin der Schweiz beleuchtet. Die Schweiz hatte teilan der europäischen Aufklärung, aber ein ei-gentliches intellektuelles Zentrum fehlte. Des-halb emigrierten viele Gelehrte. Zurbuchenstellt Denker vor wie Jean Barbeyrac, der dieNaturrechtslehre in die französische Aufklärungeinbrachte, oder Jacques Henri Meister, derwegen einer religionskritischen Schrift ausZürich vertrieben wurde. In der Schweiz selberhatte die Helvetische Gesellschaft eine Schlüs-selstellung inne. Im Laufe des 18. Jahrhundertswurde die Vorstellung eines ursprünglichen,tugendhaften schweizerischen Nationalcha-rakters in Europa zum Allgemeingut. Damitwurde die Schweiz, so konstatiert Zurbuchen,«zum Kristallisationspunkt einer aufklärungs-kritischen Gesellschaftstheorie.» Isabel Morf

Simone Zurbuchen: Patriotismus und Kosmopolitis-mus. Die Schweizer Aufklärung zwischen Tradition undModerne, Chronos-Verlag 2003, 199 Seiten, 38 Franken

HIMMLISCHE KLÄNGEBerühmte Komponisten kommen in den Him-mel oder zumindest an die Decke europäi-scher Konzerthäuser. Einige Werke dieserschwebenden Olympier bilden unseren musika-lischen Kanon. Weshalb diese Kompositionenentgegen allen Moden und über Jahrhundertehinweg Bestand haben, fragen Musikkenner ineinem Aufsatzband mit vierzehn Werkporträts– vom Gregorianischen Choral über JohannSebastian Bachs «Matthäuspassion» bis hin zuRichard Strauss’ «Elektra».

Aus jedem der musikalischen Meister-werke schälen die Autoren das Besondere her-aus: Joseph Haydns «Schöpfung», schreibt etwader Zürcher Musikwissenschaftler und Her-ausgeber Laurenz Lütteken, wurde trotz undgerade wegen einer Reihe musikalischerRegelverstösse und der eigentümlich verspäte-ten Textgrundlage zum Gründungsdokumentbürgerlicher Selbstfeier. Sein Zürcher Kollegeund Mitherausgeber Hans-Joachim Hinrich-sen wiederum hört Bruckners achte Symphonieneu; sie laufe dramaturgisch auf ein äusserstabstrahiertes und komplexitätsreduziertesFinale zu, wohingegen Rezeptionsgeschichteund Aufführungspraxis paradoxerweise dazugeführt haben, dass die mitunter sogar mini-malistische Musik oft zur schwelgerischenProjektionsfläche für Sehnsüchte und Übersinn-liches gerät.

Peter Gülke schreibt über Ludwig vanBeethovens «IX. Sinfonie», dass sie beim Publi-kum seinerzeit Schrecken und Verstörung aus-gelöst habe – durch die Radikalisierung dermusikalischen Elemente, die heute gerade dem«Kanon Ehre machen». Keiner der vierzehn sich«an den Interessierten im weitesten Sinne rich-tenden» Texte des Buches kann – und möchte –das jeweilige musikalische Werk erschöpfendwürdigen. Gleichwohl finden alle Indizien, diedie anhaltende Wirkung der himmlischenKlänge erklären. Sabine Witt

Hans-Joachim Hinrichsen/Laurenz Lütteken (Hg.):Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der Musik,Bärenreiter 2004, 334 Seiten, 12.95 Euro

GLAUBWÜRDIGE UNTERNEHMENDass Unternehmen gesellschaftliche Verant-wortung tragen, ist keine neue Erkenntnis.Nach einer Reihe von Skandalen in den letztenJahren ist der Ruf nach mehr Ethik jedoch deut-licher geworden, und zwar nicht nur von Pres-sure Groups wie Gewerkschaften oder Nicht-regierungsorganisationen, sondern auch aus derWirtschaft selbst. Wie Unternehmen sich sol-chen Ansprüchen stellen und eine Unterneh-mensethik implementieren können, zeigt dasBuch des Betriebsökonomen Jean-Paul Thom-men. Dabei gibt der Autor, der als Privatdozentan der Universität Zürich lehrt, der Strategie denVorzug, Konflikten im Dialog mit verschiedenen«Anspruchsgruppen» wie Mitarbeitenden,Medien oder Verbänden vorzubeugen. Der«Corporate Governance» eines Unternehmensfällt es dabei zu, den Umgang mit solchen «Sta-keholders» festzulegen und dessen Glaubwür-digkeit nachhaltig zu sichern. Unternehmenmüssen bereit sein, dafür organisatorische undpersonelle Ressourcen bereitstellen.

Die erhellende Schrift richtet sich anÖkonomen und Managerinnen; aufgrund dergut verständlichen Prosa lesen sie aber auchNichtfachleute mit Gewinn. Und dennoch: Derdifferenzierten Darstellung Thommens sindBeispiele von Ethik-Richtlinien verschiedenerKonzerne eingefügt – dabei vermisst man so-wohl den Kommentar des Verfassers als auchdie entsprechenden Verlautbarungen von An-spruchsgruppen. Zum Beispiel hätte statt der aufSeite 51 wiedergegebenen Grundsätze zur ge-sellschaftlichen Verantwortung von Novartisein Exkurs über die Forderung von Médecinssans Frontières, Medikamente für vernachläs-sigte Krankheiten wie die Schlafkrankheit zuentwickeln, und die Reaktion des Pharmakon-zerns darauf für mehr wirtschaftspolitischenRealismus gesorgt. Mehr Gehalt in diesemSinne hätte das Buch noch lesenswerter ge-macht. Lukas Kistler

Jean-Paul Thommen: Glaubwürdigkeit und CorporateGovernance, Versus-Verlag. 2003 (2. Aufl.), 139 Seiten,39 Franken

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POPPENWIMMERS WELT

tGh*3+y

«Wir gratulieren Ihnen zur erfolgreichenAnmeldung bei unserem Online-Angebot. IhrBenutzername ist «poppenwth» und Ihr Pass-wort lautet «tGh*3+y». Bitte ändern Sie ihrPasswort sofort. Ihr Passwort muss länger als 5und kürzer als 10 Zeichen sein und mindestensein Sonderzeichen und eine Zahl enthalten. AusSicherheitsgründen empfehlen wir Ihnen, IhrPasswort alle 3 Monate zu ändern.»

Eines meiner Lebensziele ist es, bei dertechnischen Entwicklung nicht völlig denAnschluss zu verlieren. Dabei unterstützenmich die so genannten «guten Freunde». Einer von ihnen überredete mich kürzlich zueinem «Chat». Aber ohne vorherige Anmel-dung beim «Chat-Anbieter» läuft da natürlichgar nichts. Mit der obenstehenden Meldungwurde meine neue, virtuelle Identität schliess-lich bestätigt.

Und ich kann eine weitere kryptischeZeichenfolge meiner inzwischen recht impo-santen Liste von Passwörtern hinzufügen.Zwar versuche ich die Passwortwucherungeinzudämmen, indem ich immer die gleicheBuchstabenkombination verwende – bevor-zugt natürlich meinen Spitznamen. Dochimmer häufiger reicht dieser nicht mehr aus.Denn die Online-Sicherheitsfachleute be-kämpfen sich ja unerbittlich. Gewinner ist, werdie kompliziertesten Anforderungen an einPasswort definiert.

Und so muss ich mir immer häufigerneue Varianten einfallen lassen. Meist werdenmathematische Höchstleistungen verlangt, umalle Bedingungen eines «sicheren» Passworteszu erfüllen. Und blöderweise gilt alles, was ich mir leicht merken könnte als «sehr un-sicher». Zum Glück haben wenigstens einigeder digitalen Türsteher Mitleid mit vergess-lichen Gehirnen. Sie erlauben eine alter-

native Identifikation – wahlweise Geburtsort,Lieblingsgetränk oder Mädchenname derMutter. Bei mir muss dann immer letztererherhalten.

Schöne neue Welt: Ali Baba öffnetenoch mit dem simplen Spruch «Sesam, öffneDich» noch einen Felsen und gelangte so aneinen reichen Goldschatz. Zauberer befördernmittels «Abrakadabra» oder «Simsalabim»,lebende Hasen aus leeren Hüten. Und Aladinreichte sogar das einfache Reiben an seinerWunderlampe, um den dienstbaren Geist zuwecken. Von mir aber verlangt mein Vermö-gensverwalter, der nebenbei auch noch dieBriefe in diesem Land befördert, neben Namenund Passwort noch eine, jedes Mal neue,sechsstellige Zahl – abzulesen von einer kre-ditkartengrossen Liste. Erst dann darf ichmeine Rechnungen zahlen.

Die Identität per Nummer hat aberauch ihre Vorteile. So schätze ich es ausseror-dentlich, nach meinen Streifzügen durch dieWarenwelt bargeldlos zahlen zu können: Karte einschieben, Nummer eingeben, schö-nen Tag wünschen und das Weite suchen.Neulich aber wollte mir meine Kartennummereinfach nicht mehr einfallen. Und die Kassie-rerin sah mich sehr verwundert an, als ich siedaraufhin hilfesuchend mit dem Mädchenna-men meiner Mutter ansprach.

Thomas Poppenwimmer ist Redaktor des Online-Magazins unipublic der Universität Zürich(www.unipublic.unizh.ch).

UNIMAGAZIN 2/04 ILLUSTRATION Pierre Thomé

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