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Die letzte Rolle Nr. 275 | 18. bis 31. Mai 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass. Mama auf der Pirsch – Erlebnisse einer Alleinstehenden Wie die Digitalisierung den Film bedroht Arm trotz Arbeit – der Preis der Billigjobs

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Die letzte Rolle

Nr. 275 | 18. bis 31. Mai 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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Wie die Digitalisierung den Film bedroht

Arm trotz Arbeit – der Preis der Billigjobs

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Ihre Meinung!Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, [email protected]. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3

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EditorialSchockeffekte

Es heisst, als die Gebrüder Lumière 1895 in Lyon ihren Kurzfilm «Die Ankunft einesZuges auf dem Bahnhof in La Ciotat» zeigten, seien die Zuschauer aus Schreck vordem herannahenden Zug aus dem Kino gerannt. Die Zeiten haben sich geändert.Heute wird den Filmpionieren zu Ehren die Fussballmannschaft von Olympique Lyonnais als erste mit einem 3D-Design auf den Trikots ausgestattet. Damit derenGegner in Zukunft tatsächlich mehr auf sich zukommen sehen als nur einen Fuss-baller, müssten diese allerdings eine 3D-Brille tragen.

Dazu werden die Spieler von Olympique Marseille oder Paris Saint-Germain wohlkaum zu bewegen sein. Ganz im Gegensatz zu immer mehr Filmbegeisterten. Statthinaus strömen diese heute in Massen ins Kino hinein, um dort mit lustigen Brillenauf der Nase Schiffe sinken und Pfeile und allerlei andere gefährliche Dinge in 3Dauf sich zukommen zu sehen. Das Kino ist im Umbruch und die Zukunft ist digital.Die gute alte Filmrolle, von der schon unsere Cover-Diva Liz Taylor den Zuschauern entgegenschmachtete,wird schon bald Geschichte sein. Ist das schlimm? Es wird, so heisst es in der Filmbranche, Gewinner und Ver-lierer geben. Zu den Verlierern werden diejenigen gehören, die sich mehr für aussergewöhnliche Geschichtenaus aller Welt als für ihnen aus Hollywood entgegenfliegende Pfeile interessieren. Warum das so ist und wieKinobetreiber und Filmverleiher zu dieser Entwicklung stehen, erzählt Ihnen Redaktionskollegin Diana Frei inder Titelgeschichte dieser Ausgabe.

In der vorletzten Ausgabe stellten wir Ihnen die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens vor, das, soll-te es tatsächlich eines Tages eingeführt werden, einen starken Druck auf Anbieter von Niedriglohnjobs erzeu-gen würde. Bundeshausjournalist Christof Moser legt in der vorliegenden Nummer das Gegenmodell offen,welches aktuell in Wirtschaftskreisen diskutiert wird. Es sieht vor, dass die soziale Absicherung auf das purephysische Überleben reduziert wird und Mindestlöhne abgeschafft werden. So soll der Wirtschaft ein Heer vonBilligstarbeitern zugeführt werden. Eine Horrorvision aus Hollywood? Wir wagten einen Blick über die nörd-liche Grenze und fanden dort Putzfrauen, die für zwei Euro die Stunde Böden schrubben, um die Arbeitslo-sigkeit tief und die Wirtschaft in Schwung zu halten. Immer mehr europäische Regierungen liebäugeln mit die-sem System. Und machen damit eine ernsthafte Beantwortung der alten Frage immer dringlicher: Soll derMensch der Wirtschaft dienen oder umgekehrt? Und, müsste man nachschieben: Wer, respektive wie viele pro-fitieren von einer solchen Wirtschaft?

Wir wünschen eine inspirierende Lektüre,

Florian Blumer

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FLORIAN BLUMER

REDAKTOR

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Inhalt03 Editorial

Schockeffekte05 Basteln für eine bessere Welt

Self-Made-Kino06 Aufgelesen

King Eric06 Zugerichtet

Vielsagende Gesetze07 Mit scharf

Zügig in den Abgrund07 Starverkäufer

Fussballnati-Fan Kumar 08 Porträt

Dr. Krimi 20 Partnersuche

Mutter im Netz 22 Wörter von Pörtner

Luxus per pedes23 Off-Spaces

Raum für Experimente24 Kulturtipps

Japanischer Horror26 Ausgehtipps

Musik mit Seele28 Verkäuferporträt

Edwards WM-Traum29 Projekt Surplus

Eine Chance für alle!30 In eigener Sache

ImpressumINSP

Die Digitalisierung der Kinosäle ist in vollem Gang.Die technische Umrüstung ist für viele Landkinos einSegen, bedroht aber Nischenstreifen: Das Filmange-bot wird einseitiger, der Mainstream verdrängt die In-dependent-Filme. Kleine Verleiher und unabhängigeKinos könnten an der Digitalisierung leicht zugrundegehen. Wir haben nachgefragt, was kommt, wenn dieletzte Rolle gespielt sein wird.

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Deutschland hat rekordtiefe Arbeitslosenzahlen. DerPreis dafür sind Millionen von Arbeitnehmern, die mitihrem Lohn nicht über die Runden kommen. Das hatFolgen: Wer kein Geld im Sack hat, kann auch nichtsausgeben. Doch während in Deutschland über neueMindestlöhne diskutiert wird, fordern Schweizer Ar-beitgeber Minilöhne, die durch die Sozialhilfe aufge-bessert werden. Im Namen des kurzfristigen Profitssollen massenhaft Angestellte in die dauerhafte Armutgestossen werden.

14 SyrienDas Geschäft mit dem Aufstand

Die Bevölkerung in Syrien leidet. Der seit einem Jahrandauernde Aufstand brachte nebst neuen Hoffnun-gen nicht nur mehr Gewalt und Repression, sondernstiess auch die Wirtschaft in eine tiefe Krise. Für dieeinzelnen Menschen bedeutet dies: Weniger Arbeit,höhere Lebenskosten und Kredite zu Wucherzinsen.Doch während die grosse Masse Schlange steht fürBrot und Benzin, wittern einzelne Unternehmer dasgrosse Geschäft.

10 Film Umbruch in der Kinolandschaft

16 ArbeitsmarktVollbeschäftigt und unterbezahlt

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2. Schneiden Sie zwei Streifen aus festem Zeichnungspapier aus, 7 cm hoch und insgesamt 49 cm lang. Kleben Sie diese – 1 cm überlappend – mit durchsichtigemKlebeband aneinander, sodass ein Streifen von 48 cm Länge und 7 cm Höhe entsteht.

Basteln für eine bessere WeltKino für Kino wird digitalisiert, die gute alte Filmrolle wird entsorgt. Na, dann machen wir unser Filmrollenkino halt selber! Das Prinzipder Wundertrommel (schon im 19. Jahrhundert ein beliebtes und weit verbreitetes Spielzeug) ist genau dasselbe wie bei der Filmrol-le: Es werden einzelne Bilder abgespielt, die eine Bewegung nachbilden, unser Auge macht dank seiner Trägheit daraus einen Film –Kopfkino im wahrsten Sinn des Wortes.

1. Nehmen Sie ein Stück dicken Karton und schneiden Sie einen mit dem Zirkel ge-zogenen Kreis mit 7,5 cm Radius aus.

3. Schneiden sie 12 je circa 7 mm breite und 3.5 cm hohe Sichtschlitze ein. BeginnenSie nach 2 cm und schneiden dann alle 3.9 cm ein.

4. Kleben Sie den Streifen zu einem Kreis zusammen, wieder 1 cm überlappend, undkleben Sie diesen dann mit Klebstreifen auf die Scheibe.

5. Befestigen Sie das Wunderrad mit einem Reissnagel auf einem Korken.

6. Schneiden und kleben Sie noch einen Streifen aus Zeichnungspapier, wie oben,aber nur 3.5 cm hoch. Teilen Sie ihn mit einem Bleistift in 12 Teile (je 3.9 cm breit).Zeichnen Sie eine Bewegungsabfolge in 12 Bildern für den Film Ihrer Wahl.Oder laden Sie sich unseren Skateboarder beim Ollie auf www.vereinsurprise.ch/ma-gazin/aktuelles-heft herunter. Legen Sie Ihren Streifen in die Wundertrommel ein.

7. Film ab: Laden Sie einen Freund oder eine Freundin ein und machen Sie sich eineSchüssel Popcorn. Drehen Sie an der Trommel und entfachen Sie die alte Magie derbewegten Bilder!

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AufgelesenNews aus den 90 Strassenmagazinen,die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Sex statt Liebe

Stuttgart. Auch trott-war beschäftigt sichmit der Liebe aus dem Internet (siehe unse-ren Selbsterfahrungsbericht zum Thema aufS. 20). Klingt natürlich nicht gerade roman-tisch, das Anbandeln über Onlineplattfor-men. Scheint aber doch zu funktionieren: Be-reits fünf Millionen Deutsche soll es laut einerStudie geben, die ihren Partner übers Internetgefunden haben. Wobei die Untersuchungauch herausfand: Von den zehn Millionen Be-suchern von Datingseiten suchen drei Millio-nen – wen wunderts – Sex statt Liebe.

Schicksal Leiharbeiter

München. Schöne neue Arbeitswelt in Bay-ern: Ercan ist einer von 163000 Leiharbei-tern im «Freistaat», Tendenz steigend. Wennder Chef anruft, muss Ercan 20 Minuten spä-ter in der Werkshalle stehen. Das Geld reichtnirgends hin, denn gibts keine Arbeit, erhältErcan auch keinen Anruf. Fingering, Ohrrin-ge und Porzellan hat er schon zum Pfandlei-her gebracht, um die Miete bezahlen undKleider für die Kinder kaufen zu können.Nun ist nichts mehr übrig, das er verpfändenkönnte. Was bleibt, ist die Hoffnung auf ei-nen neuen Arbeitgeber.

Eric président

London. Nicolas Sarkozy, nicht gerade einFreund sozial Schwacher, ist erstmal wegvom Fenster, immerhin. Was aber, wenn garder «berühmteste philosophierende Fussbal-ler der Welt», Eric Cantona, président gewor-den wäre? Kandidiert hat er jedenfalls. DasGanze entpuppte sich allerdings bald als PR-Aktion zugunsten einer Stiftung für Obdach-lose – ein Anliegen, das dem schauspielern-den Ex-Fussballgott besonders am Herzenliegt. Immerhin: Die Spenden für die Stiftungschossen mit Kandidat Cantona in die Höhe.

ZugerichtetKönigliches RechtSchade, liest man nicht gewohnheitsmässigGesetzes- und Rechtstexte. Gut, benutzer-freundlich sind sie wirklich nicht, und auchdie Unterhaltung bleibt durchaus auf derStrecke … ausser man liest sie als gesell-schaftspolitische Psycho-Orakel! Dadurch,dass die Justiz Gesetz gewordene gesell-schaftliche Entwicklungen akribisch mit-schreibt, hält sie, ohne es zu wollen, in allerTrockenheit fest, wie eine Gesellschaft gera-de so drauf ist. In der Schweiz scheint man die Lösung un-abhängig davon, ob ein Problem gesund-heitstechnischer, ökologischer oder integra-tionspolitischer Natur ist, in Bauvorschriftenzu sehen. («Der Bau von Minaretten ist ver-boten.») Ein Raucherlokal ist erlaubt, wennes «eine dem Publikum zugängliche Gesamt-fläche von höchstens 80 m2 hat». Hier äus-sert sich der verwaltungstechnisch aufwen-dige Detailreichtum einer direkten Demokra-tie. Ein solches Gesetz hätte in einer Gesell-schaft, die mehrheitlich rauchen will,schlechte Chancen. (Eine Initiative zur er-neuten Lockerung scheiterte schon bei derUnterschriftensammlung – offenbar unter-zeichneten nicht mal die Raucher.)Erhellend ist auch der Blick in fremde Polit-systeme und deren Rechtsbücher, ein islami-sches etwa. In der Mudwana hat sich Ma-rokko mit der Gleichstellung befasst, und ihrFamilienrecht modernisiert. Der «Kodex fürdas Personalstatusrecht» von 2004 gilt in Ostund West, Süd und Nord als grosser Wurf,ein Modell gar, wie der Islam und ein aufge-schlossenes Frauenbild zu vereinbaren sind.In der Zeit der schrill geführten Gesell-schaftsdebatten wirkt die Mudwana wie ein

eben mal so lässig hingeschletztes «Voilà».Nicht, dass das Gesetz ohne islamistische Wut-anfälle und feministische Empörung vonstat-ten gegangen wäre. Doch hier offenbaren sichPolitsystem und Autorenschaft. König Moham-med VI. ist dies in Personalunion. Nicht um-sonst nennt man ihn auch «M6» oder «King ofCool». Kühlen Kopfes trägt M6 die Krone der absolu-ten Macht. Schon mit 36 wurde er 1999 zumpolitischen und geistlichen StaatsoberhauptMarokkos. Zudem brachte er als promovierterJurist grundsätzliches Interesse am und Sach-kenntnisse über das Verfassen von Gesetzenmit. Inmitten des Geschreis der Interessenver-treterInnen, so will es die Legende, habe ersich gesagt: «Wozu bin ich eigentlich König?»Und er diktierte: «1. Frauen sind der MännerSchwestern vor dem Recht.» Die Mudwana besticht durch Pragmatismus.Am besten lässt er sich an der neuen Regelungder Polygamie illustrieren. Erstens kann sicheine Frau diese ehevertraglich von vornhereinverbitten. Oder, wenn sie gegen eine Zweitfraunichts einzuwenden hat, analog zu den Rau-chern in der Schweiz, eine bestimmte AnzahlQuadratmeter pro Frau fordern. Erreicht manin diesen Fragen Einigkeit, muss die Zweitehegerichtlich legitimiert werden. In einem Ver-fahren muss der Mann nicht nur aufzeigen,dass er sich die von der Nummer 1 gestelltenBedingungen leisten kann, sondern muss derNummer 2 denselben Standard zusichern.Und siehe da: Das Geschrei ist verstummt.Manchmal ist es gar nicht so schlecht, wennein König sein Volk zum Glück zwingt. Nurklug muss er sein.

YVONNE KUNZ ([email protected])

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

([email protected])

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VON FLORIAN BLUMER

Neulich im Zug, kurz vor Abfahrt im Bahnhof Bern. In treuer, täg-licher Begleitung das gute Gefühl, auf der richtigen, weil grünen Seitezu sitzen. Und dann das: Auf dem Nebengleis glänzt eine Lokomotive,nicht im gewohnten Rot, nein, im Werbekleid eines italienischen Klein-wagens! Die Bahn wirbt für das Autofahren? Ähnlich verblüffend undernüchternd die Reaktion im SBB-Reisbüro auf die Anfrage nach einerZugverbindung von Bern nach Istanbul. Die Stimme der Kundenberate-rin klang beinahe schon entsetzt. «Nach Istanbul? Mit dem Zug? Dasmacht keinen Sinn. Da müssen Sie fliegen!»

Was will uns die Bahn damit sagen? Es kann nur folgende Botschaftsein: «Lieber Zugfahrer, es ist Zeit, dass du dich von der schönen Illu-sion verabschiedest, dass du mit Deinem Gereise etwas für die Umwelttust. Wir fahren nämlich, wie du wohl weisst, auch nur mit Strom (zueinem Viertel aus Atomkraftwerken), unsere Gleise zerschneiden Land-schaften und Wälder und unsere ratternden und quietschenden Zügeterrorisieren Menschen, die in Gleisnähe wohnen. Dazu tragen wir ent-scheidend zur Zersiedelung bei, indem wir es attraktiv machen, in derStadt zu arbeiten und in der Agglomeration zu wohnen. Klingt das fürdich etwa nach Umweltschutz?» Tatsächlich tut SBB-Chef AndreasMeyer alles, um der guten alten Bahn den Anstrich eines modernenUnternehmens zu geben. Was bedeutet: Kohle muss rein, egal wie. Um-weltüberlegungen sind Sache der Politik, wir sind da, um die Mobilitäts-nachfrage zu befriedigen – dies die Message des Bahn-Chefs, pardon,Mobilitätsunternehmens-CEOs, in einem Interview mit der Wochenzei-tung «Die Zeit».

Wohin es führt, wenn der mobile Mensch König ist, zeigt die neusteMobilitätsstudie des Bundesamts für Statistik. Die klingt beim erstenHinhören eigentlich ganz positiv: Die Jungen fahren immer weniger

Mit scharfLasst die Züge doch von Autos ziehen!

Auto und alle fahren mehr Zug. Viel mehr sogar. Das Auto ist und bleibtjedoch das mit Abstand beliebteste Verkehrsmittel, es gab noch nie soviele Neuzulassungen von Motorfahrzeugen wie im Jahr 2011. Das Autoverbraucht ein Mehrfaches an Energie und stösst massiv mehr CO2 ausals die Bahn. Doch die Tatsache, dass 2010 ein Viertel (!) mehr Bahnki-lometer zurückgelegt wurden als noch fünf Jahre zuvor, vermag denUmweltfreund nur zu freuen, solange er an die zu allzu simple Glei-chung Zug = grün glaubt.

Schon Paracelsus hatte es gepredigt: All Ding sind Gift, allein die Do-sis macht, dass ein Ding kein Gift ist. Und die Umwelt leidet an einermassiven Überdosis Verkehr, aller Art. Die Antworten der Politiker? Lin-ke und Grüne fordern, dass der öffentliche Verkehr ausgebaut wird. Bür-gerliche finden, jetzt sei mal wieder der Autoverkehr dran. Was bis jetztzuverlässig zum gutschweizerischen «Kompromiss» führte, dass maneinfach beides förderte. Mit der Folge, dass heute jeder Einwohner die-ses Landes mit Velo, Bus, Bahn und Flugzeug jährlich 20 000 Kilometerzurücklegt, also einmal um die halbe Erdkugel reist.

Übrigens: Beim Bundesamt für Umwelt rieb man sich kürzlich dieAugen, als eine eigene Studie ergab, dass ein mit Benzin fahrendesKleinauto unter dem Strich umweltfreundlicher ist als ein Elektroautomit seiner hochgiftigen Batterie. Es ist Zeit, mit lieb gewonnenen My-then aufzuräumen. So brutal das für den modern-mobil-grünen Men-schen von heute klingt: In der Beziehung Verkehr-Umweltschutz gilt:Nur weniger ist mehr. ■

Unsere Mobilität sprengt alle Grenzen. Derweil streift die SBB ihr grünes Kleidchen ab und zwingt uns zumUmdenken. Polemik eines desillusionierten Zugfans.

Starverkäufer Rathakrishnan SanthirakumarPatrick Maggio aus Genf nominiert Ratha-krishnan «Kumar» Santhirakumar als Star-verkäufer: «Ich möchte den Verkäufer imBahnhof Bern nominieren, der mir mit seinerlustigen und fröhlichen Art meinen Feier-abend etwas schöner macht! Er steht stetsins Vollmontur (Schal der Fussball-Nati, Cap,etc.) da und hat immer ein Lächeln auf denLippen. Das ist mein Starverkäufer!»

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GNominieren Sie IhrenStarverkäufer!Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Siean dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, [email protected]

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VON MILENA CADERAS (TEXT) UND HANSUELI SCHÄRER (FOTO)

Die Gemeindebibliothek in Zollikofen ist bis auf den letzten Platz ge-füllt. 2009 war Paul Wittwer im Rahmen von «Zollikofen liest ein Buch»schon einmal hier. Viele der Anwesenden sassen schon damals im Pu-blikum. Wittwer liest nicht einfach ein paar Passagen vor. Er holt aus.Erzählt, wie er – fast schon zufällig – zum Schreiben gekommen ist. Ge-duldig beantwortet er alle Fragen.

Hier sitzt einer vor dem Publikum, der sich den Umgang mit denunterschiedlichsten Menschen gewohnt ist. Als Arzt hat Wittwer ge-lernt, seinen Patienten zuzuhören und auf sie einzugehen. Seit 20 Jah-ren betreibt er in der kleinen Gemeinde Oberburg bei Burgdorf eine Pra-xis für Allgemeinmedizin. Nach der Lesung nimmt sich Wittwer Zeit füreinen Apéro, entdeckt ein paar bekannte Gesichter. Man kennt sich.Rund 10 000 Exemplare der neusten Geschichte sind bereits verkauftworden. Für Schweizer Verhältnisse ein beachtenswerter Erfolg. SolcheLesungen eine Belohnung für die Arbeit am Schreibtisch, sagt Wittwer:«Es ist ein gutes Gefühl, wenn die Leute nachfragen, wann die nächsteGeschichte erscheint.»

Den Weg zur Schriftstellerei ging er im Zickzack. In jungen Jahrenhat sich Paul Wittwer als Musiker versucht – Klavier und Gitarre. Of-fenbar mit wenig Erfolg. Zum 30. Geburtstag schenkte ihm seine Fraueine Staffelei. «Wahrscheinlich eine Botschaft», lacht Wittwer heute. Mitviel Freude, aber auch nicht ganz so viel Talent, habe er gemalt. Die Staf-felei endete in derselben Ecke wie die Gitarre.

Mitte der 90er-Jahre ist Wittwer zumSchreiben gekommen. Am Anfang hat er sichvorgenommen, jeden Tag eine Seite zu schrei-ben. Angefangen hat er mit einfachen Kinder-geschichten. Seine drei Kinder verloren mit derZeit das Interesse an den Geschichten, ihmverging deshalb aber die Freude am Schreiben noch lange nicht. Auchwenn sich das Hobby als anspruchsvoller als erwartet entpuppte. VierJahre hat er am ersten Buch «Eiger, Mord und Jungfrau» gearbeitet. DieSuche nach einem Verlag gestaltete sich weit schwieriger als vermutet.«Ich habe mich ziemlich naiv auf die Suche gemacht», sagt er heuterückblickend. Bis er endlich das fertige Buch in der Hand halten konn-te, vergingen sechs Jahre. Doch dann landete Wittwer damit gleich ei-nen Grosserfolg. Der Landarzt sorgte mit «Eiger, Mord und Jungfrau»nicht nur in der Literaturszene für Furore, sondern reihte sich auch indie Reihe schreibender Schweizer Ärzte wie Esther Pauchard und Tho-mas Röthlisberger ein. Ein absolut zufälliges Phänomen, wie Wittwerbetont. «Am meisten überrascht war ich, dass so ein Buch immer auchdas Ergebnis einer Teamarbeit ist», zieht Wittwer Fazit. Beim NydeggVerlag sei alles sehr gut eingespielt. In der Zwischenzeit hat er das Pro-duktionstempo etwas erhöht. «Weil ich vermutlich effizienter gewordenbin», sagt er mit einem Grinsen.

PorträtDer KrimidoktorMit «Eiger, Mord und Jungfrau» und «Giftnapf» gelang dem Emmentaler Arzt Paul Wittwer der Durchbruch alsSchriftsteller. Sein medizinisches Fachwissen kommt ihm auch als Krimiautor zugute.

Im neuen Kriminalroman «Widerwasser» steht das organisierte Ver-brechen im Zentrum. Und es geht um die Frage, ob es möglich ist, einneues Leben anzufangen. Erzählt wird die Geschichte von drei Män-nern. Schwierigkeiten begleiten Mauro Matter seit seiner Kindheit. Ersteckt in einer Sackgasse. Limacher dagegen lässt sich in wichtigen Fra-gen von seiner Nase leiten. Trotz beruflicher Neuorientierung droht demFahnder der Kantonspolizei die Midlife-Crisis. Gut hingegen läuft es fürVincenzo Lo Russo. Als Camorra-Boss, genannt «die Katze», scheint erauf der Erfolgsschiene. Die Leben dieser drei Männer kommen unver-hofft zusammen. Jeder der drei gerät in ein unheilvolles Spiel mit demTod: Matter, der ihn gesucht hat, findet ihn nicht, Limacher kommt ihmgefährlich nahe, und Lo Russo lässt ihn für sich arbeiten. Wer eine blu-trünstige Gruselgeschichte über Psychopathen erwartet, ist bei Wittwerfalsch. Für Wittwer geht es mehr um Persönlichkeitsentwicklung. DieGeschichte ist die anspruchsvollste der drei bisher erschienen Kriminal-romane. Und wie in den anderen Büchern spielt auch hier medizini-sches Fachwissen eine entscheidende Rolle bei der Lösung des Falls.

Die Schriftstellerei soll ein Hobby bleiben, betont Wittwer. Ein seriö-ser Schaffer bleibt er dabei aber allemal – auch im Nebenamt. Erschreibt nicht einfach drauflos. Für seine Bücher brauche er einen Fa-den. Schliesslich müsse er ja wissen, wo ihn die Geschichte hinführt.Auf dem Weg dorthin lässt er sich gerne inspirieren, aber nicht vom Wegabbringen. Für «Widerwasser» führten ihn die Recherchen nach Neapel.Rund um den Vesuv hat er Stimmung und Atmosphäre aufgenommen.

«Zu viel Raum will ich dem Bösen in meinen Geschichten nicht ge-ben», sagt er. Paul Wittwer ist froh, wenn am Ende der Geschichte dasGute siegt. Er lacht fein. Ob es darum geht, Gerechtigkeit zu schaffen,will er offen lassen.

Parallelen zwischen der Schreibstube und der Praxis? Doch, die gebees. Ob Arzt oder Schriftsteller: In beiden Fällen müsse man sich in an-dere hineinversetzen. Auch als Mediziner auf dem Land versuche er im-mer die Gesamtsituation seiner Patienten zu verstehen. Und die fragenimmer wieder nach dem nächsten Buch. Vage Ideen für eine nächste Ge-schichte gibt es auch schon. Aber unter Druck setzen lässt er sich nicht.Nur so viel will er verraten: Eine Villa im Wallis hat ihn inspiriert. Aufjeden Fall war er gerade ein paar Tage auf der Riederalp. Obwohl. EinenTraum hegt Paul Wittwer. Eine Praxisauszeit. Ein paar Monate einfachmal den Sprung ins kalte Schreibwasser wagen. Bis jetzt hat sich abernoch kein Interessent gemeldet, der die Praxisvertretung für diese Zeitübernehmen könnte. ■

Zu viel Raum will er dem Bösen in seinen Geschichtennicht geben. Paul Wittwer ist froh, wenn am Ende dasGute siegt.

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Film Das Ende einer ÄraBis Ende Jahr werden die meisten Kinos auf die digitale Projektion umgestellt haben. Dietechnische Umrüstung wird sich auch auf das Filmangebot auswirken.

VON DIANA FREI

«Digitalisierung beschert den Kinos steigende Besucherzahlen», warEnde letzten Jahres in den Zeitungen zu lesen. Das war eine interes-sante Nachricht, da man seit Jahren von Publikumsschwund und dro-hendem Kinosterben spricht. Die Digitalisierung der Kinosäle ist zurzeitin vollem Gang und die 35-mm-Kopie, die Filmrolle, Symbol für das Me-dium Film an sich, wird in den nächsten Monaten fast ganz vom Marktverschwinden. Filme werden nicht mehr physisch vorhanden, sondernauf Festplatte gespeichert sein. Und die Vorteile, so scheint es, sind fürKinobetreiber enorm: Man muss nicht mehr auf Filmkopien warten, dienoch in anderen Kinos gebraucht werden, man kann flexibler program-mieren, die Transportkosten für die etwa 20 Kilo schweren Filmkartonsfallen weg und der Operateur muss die einzel-nen Akte nicht mehr zusammenkleben (derBeruf wird vielmehr aussterben).

Die schlechte Nachricht ist: Die Digitalisie-rung wird dazu beitragen, dass mehr Main-stream gezeigt wird, dass die Vielfalt leidet,dass Verleiher mit anspruchsvollem Programm nur schwer überlebenwerden. Womöglich werden einige kleine Kinos schliessen müssen, weilsie sich die Umrüstung auf das digitale Format nicht leis ten können.Die Digitalisierung ist nicht einfach eine technische Umstellung, son-dern sie hat Auswirkungen auf die Programmation, auf das Filmange-bot, auf die Kinolandschaft insgesamt. «Es wird den Studiofilm betref-fen», meint Romy Gysin, Geschäftsführerin vom kult.kino, dem BaslerStudiokino, «denn umgerüstete Kinos auf dem Land können jetzt einenFilm im Stil eines Harry Potter zur gleichen Zeit haben wie Zürich, Bernund Basel.» Das war vorher nicht möglich, weil nur eine beschränkteAnzahl Kopien vorhanden war. Landkinos mussten also warten, bis dieStadt den Film ausgewertet hatte, und zeigten in dieser Nische oft Stu-diofilme. Jetzt ist eine gleichzeitige Programmation möglich, die Nischewird verschwinden.

Weil damit die Zahl der gespielten Filmtitel generell abnimmt, wer-den über längere Sicht vor allem Verleiher eingehen, die weniger kom-merzielle Filme anbieten. Und Kinos, die den anspruchsvollen Studio-film weiterhin programmieren würden, sind zu einem kommerziellerausgerichteten Programm gezwungen.

Die Artenvielfalt geht verlorenDie Basler kult.kinos sind seit Sommer 2011 digital eingerichtet. Ro-

my Gysin weiss die Vorteile der digitalen Projektion zu schätzen, aberdie Firma bekommt zu spüren, dass jetzt Filme auch in der Stadt inmehreren Kinos gleichzeitig gezeigt werden können: «Studiofilme wie‹The Artist›, der letzte Woody Allen oder der ‹Verdingbub› werden nicht

mehr nur bei uns gezeigt, sondern auch im Mainstreamkino. Sobald einStudiofilm erfolgsversprechend ist, haben wir ihn nicht mehr exklusivbei uns.»

«Die Artenvielfalt geht rasant verloren», sagt auch Bea Cuttat, Präsi-dentin des Schweizerischen Studiofilmverbands SSV. Sie gehört zu je-nen Menschen, die einmal gerade in einer Sitzung sind, wenn man an-ruft, dann erst nächste Woche wieder Zeit haben für ein paar Fragen,und irgendwann meint ihre Mitarbeiterin: «Sie ist eigentlich immer imStress.» Schliesslich aber erklärt sie in hohem Tempo, wieso das Kino-angebot immer mehr vom Mainstream geprägt wird: Die Digitalisierungsei nur einer von mehreren Gründen, einer, der die allgemeine Ent-wicklung «ein bisschen beschleunigt». Die anderen Gründe sind Zeit-geist, Sehgewohnheiten und finanzieller Druck. «Das Problem ist, dass

wir das Publikum ein bisschen verloren haben. Früher hatten die Zu-schauer eine gewisse Grundneugier und schauten sich auch schwieri-gere, künstlerisch anspruchsvollere Filme an.» Die Schweiz wurde frü-her in Europa als das Land mit der grössten Vielfalt im Kinoangebotwahrgenommen. Heute kommt keiner mehr ins Kino, wenn ein Film an-strengend zu sein droht. «Da ist es nur logisch, dass ein Kino, das vonder ersten Woche an ‹Black Swan› mit Natalie Portmann spielen kann,stattdessen nicht einen rumänischen Film mit Untertiteln zeigt.»

3D auf dem LandeDie Spirale geht so: Wenn die Artenvielfalt abnimmt, gewöhnt sich

das Publikum an den Mainstream und lässt sich auf keine Experimentemehr ein, was die Kinobetreiber wiederum zwingt, Leichtverdaulicheszu zeigen. Bea Cuttats Erkenntnis aus einer Umfrage, die sie durchfüh-ren liess: «Anscheinend mögen auch Studenten nicht mehr Untertitel le-sen. Junge Leute sind sich einfach gewöhnt, dass alles synchronisiertist. Das finde ich tragisch.»

Und die Spirale dreht sich weiter: Cuttat, die mit «Look now!» aucheinen eigenen Art house-Verleih führt, wird ihren besagten rumänischenFilm nicht synchronisieren lassen, weil es sich finanziell nicht lohnt.Solche Filme können gar nicht mehr herausgebracht werden. «Damit ister wie wegradiert von der Landkarte», hält Cuttat fest, und was den ei-genen Verleih betrifft, sagt sie: «Für uns ist es schwieriger geworden, insKino zu kommen.»

Was wie Schwarzmalerei klingt, zeigt Cuttats Unverständnis dafür,dass sich immer weniger Menschen für fremde Welten und künstleri-

Immer weniger Menschen interessieren sich fürfremde Welten und künstlerische Experimente.

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sche Experimente interessieren. Und entsetzte Ratlosigkeit, ohne je-mandem die Schuld zuschieben zu wollen: «Die Kinos zeigen halt, wasdas Publikum sehen will. Sie müssen schliesslich auch überleben.»

Sehr auffällig sei, dass sich im Jahr 2011 der Anteil an Landkinos, die3D zeigen, verdoppelt hat, sagt René Gerber, Geschäftsführer von Pro-Cinema, dem Schweizerischen Verband für Kino und Filmverleih: «DieLandkinos brauchen das, um zu überleben.» Aber man könne nicht pau-schal sagen, dass die Digitalisierung die Landkinos rette: «Es kommt aufdie Konkurrenzsituation an. Darauf, welchen technischen Standard dieanderen bieten und ob es Multiplexkinos in der Nähe gibt.»

Die Fischottergemeinde mit der FilmrolleErstaunlich findet Gerber, wie viele Kinos in der Schweiz die Investi-

tionen für die Digitalisierung selber gestemmt haben. Es gibt Kinos inGemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern,über 200 von den 530 Kinos in der Schweiz ha-ben nur einen einzigen Saal. Diese Kinos sindgezwungen, alles zu spielen, wenn sie überle-ben wollen. Zwar unterstützt das Bundesamtfür Kultur (BAK) diejenigen Kinos, die eine gewisse kulturelle Vielfaltbieten, aber der Rest setzt sich aus privater Finanzierung zusammen,aus Darlehen, Subventionen der Gemeinden und Geldern von Gönner-vereinen.

«Wenn es Kinos gibt, die sich bis zum Ende ihrer Tage gegen die di-gitale Projektion wehren, dann werden sie bald nur noch ‹Bäckerei Zür-rer› zeigen können – also nur noch alte Filme», sagt Bea Cuttat. Sie sel-ber versucht mit ihrem Verleih zurzeit noch, auch 35-mm-Kopien her -zustellen, aber es wird immer teurer. Bis zu 10 000 Franken kostet es sie,eine 35mm-Kopie zu kaufen, zu übersetzen und zu untertiteln. Mit den

zwei oder drei Sälen, die sie zeigen würden, holt sie nicht einmal einenZehntel davon herein.

Momentan ist noch fast jeder Film in beiden Formaten erhältlich. EinKinosterben, weil sich kleinere Betriebe die technische Umrüstung nichtleisten können, sei momentan also noch nicht auszumachen, sagt Pro-Cinema-Geschäftsführer Gerber. Aber nächstes Jahr wird es vermutlichnur noch digitale Filme geben: «Dann wird man sehen, was passiert.»

Gerade auf dem Land gibt es ab und zu eine Handvoll cinephiler Zeit-genossen, die einen Filmclub gründen, um ein kulturell spannendesProgramm zu bieten. Das Kino Wildenmann in Männedorf ist aus einemsolchen Filmclub entstanden. In der Zürichsee-Gemeinde kann man ander Schiffsstation in der Sonne sitzen und sich wie in den Ferien fühlen;hier steht auch ein Schild der «schönsten Fischottergemeinde am Zü-richsee», wie es heisst, und darauf abgebildet ist neben den Signeten für

Schiff, Hallenbad und Apotheke auch eine Filmrolle. Das Kino gehörtzur Identität von Männedorf.

Das Wildenmann ist das einzige Kino am rechten Zürichseeufer, undes ist vom Bundesamt für Kultur (BAK) schon mehrmals für seine «kul-turell orientierte Kinoprogrammation» ausgezeichnet worden. Gespieltwird nicht im Vollprogramm und der Betrieb wird mit insgesamt ein-einhalb Stellenprozenten aufrechterhalten, Geschenkgutscheine gibt esauch in der Papeterie. Heute wird das Kino als Genossenschaft betrie-ben, nicht gewinnorientiert. Letzten Dezember wurde auf digitale Pro-jektion umgerüstet.

«Kinos, die sich gegen die digitale Projektion wehren,können bald nur noch ‹Bäckerei Zürrer› spielen.»

Szenen wie im Film «Cinema Paradiso» sind Vergangenheit: Das Publikum verliert seine Grundneugier …

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Es ist ein Montagnachmittag, an dem das Kino zu ist, GeschäftsführerChristian Pfluger empfängt an der Kaffeebar zum Gespräch und ist zu-frieden: «Es kann Zufall sein, aber momentan haben wir sehr gute Zah-len. In den letzten vier Monaten hatten wir über 40 Prozent mehr Zu-schauer, es ist unglaublich. Wenn wir Ende Jahr tatsächlich immer nochso deutlich über dem Schnitt sind, ist es sicher auf die Digitalisierung zu-rückzuführen.»

Digitalisieren oder schliessen – darauf wärees auf längere Sicht wohl hinausgelaufen: «Füruns war es anfangs dramatisch, die Finanzie-rung war ein Problem.» Jahrelang hatte man inKinokreisen gemunkelt, «irgendwann wird umgestellt», aber niemandwollte sich recht auf Prognosen festlegen. Dann, eines Tages, kam dieserBrief vom Bundesamt für Kultur: Das BAK unterstütze die Umstellung,man könne sich innerhalb einer bestimmten Frist um Subventionen be-werben. Pfluger und sein Team gaben ihren Antrag ein und begannen ineinem dreivierteljährigen Prozess mit «einem harzigen Start und meh-reren Rückschlägen» nach dem restlichen Geld zu suchen: «Die erstendrei oder vier Monate war es keineswegs klar, dass wir es schaffen würden»,

Eine neue Generation zieht einSchliesslich sprach die Gemeinde Männedorf eine hohe Subvention,

das BAK sagte zu, es kamen sehr grosszügige private Spenden und derGönnerverein machte Benefizveranstaltungen. Gekostet hat die Umrüs -tung etwa 100 000 Franken.«Etwas weniger als eigentlich erwartet», sagtPfluger. Die Digitalisierung, so scheint es, kann Jungbrunnen und To-desstoss zugleich sein: Das Publikum kommt, die Vielfalt geht, die ei-nen Kinos blühen auf, die anderen gehen ein. Nicht allzu weit von Män-

… und die Filmrolle verschwindet genauso wie die Artenvielfalt.

nedorf entfernt, in Uster, hat das Central zugemacht. Hans Brönnimann,der ehemalige Betreiber, stammt aus einer lokalen Kinodynastie. Nunhörte er aus Altersgründen auf, und weil sich die Gelegenheit zum Ver-kauf bot. «Wenn die Digitalisierung jetzt nicht gekommen wäre, hätteich noch ein paar Jahre weitergemacht», sagt er, «und wenn ich 20 Jah-re jünger wäre – logisch! –, hätte ich den ganzen Zauber mitgemacht.

Die Digitalisierung hat meinen Entscheid, das Kino aufzugeben, be-schleunigt.» Der technische Umbruch hat den Generationenbruch ge-bracht und den Schlusspunkt hinter eine Ära gesetzt. Nun ist im ehema-ligen Central der örtliche Filmclub qtopia eingezogen und führt momen-tan noch Filmkunst ab 35-mm-Kopien vor. Auch hier wird bald die letzteFilmrolle gespielt sein: Das Projekt Digitalisierung ist aufgegleist. ■

Digitalisierung im EiltempoVon schweizweit 530 Sälen sind zurzeit 361 auf die digitale Projek-

tion umgerüstet, also 67 Prozent. 281 (40 Prozent) davon können auch3D zeigen.

Dieses Jahr wurden bis Ende April 145 neue Filme gestartet. Davonwurden 61 Filme ausschliesslich digital vorgeführt (42 Prozent). VierFilme wurden nur analog vorgeführt (drei Prozent) und entsprechendwaren 80 Filme sowohl digital wie auch analog verfügbar (55 Prozent).Zum Vergleich: 2011 wurden sieben Prozent der Filme ausschliesslichdigital vorgeführt, 39 Prozent wurden nur analog vorgeführt und ent-sprechend waren 54 Prozent sowohl digital wie auch analog verfügbar.

Die Digitalisierung ist für die Kinos Jungbrunnen undTodesstoss zugleich.

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Syrien Geschäften im AusnahmezustandDie Bevölkerung Syriens leidet unter den Unruhen, die nun seit einem Jahr andauern. Das Geld verliert anWert, die Preise für Grundnahrungsmittel schnellen in die Höhe. Doch einige Geschäftemacher wittern ihregrosse Chance. Geschichten aus dem Alltag im Ausnahmezustand.

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VON OLIVER HOLMES (TEXT) UND KHALED AL-HARIRI (BILD)

Bauunternehmer Ahmed, der aus Angst vor einer Verhaftung nur mitseinem Vornamen genannt werden will, ist ein Beispiel unter vielen:Während die Behörden damit beschäftigt sind, eine Revolte zu be-kämpfen, hat er ein kleines Business mit illegalem Hausbau aufgezogen.«Ja, ja, ich beute die Revolution aus», sagt der 48-Jährige in seinemHeim in Aleppo, Syriens weitläufiger 2.5-Millionen-Wirtschaftsmetro-pole. «Ich habe vorher schon illegal gebaut, allerdings im Verdeckten.Heute brauche ich es nicht mehr gross zu verstecken.» OpportunistischeBauherren, Kredithaie und Schwarzmarktimporteure machen derzeitein gutes Geschäft mit der Revolte. Und Sicherheitsfirmen, die Überwa-chungskameras und dicke Stahltüren an verängstigte Syrer verkaufen,erleben ebenfalls einen Absatzboom.

Jihad Yazigi, ein Ökonom aus der Hauptstadt Damaskus und Her-ausgeber des «Syria Report», der führenden Wirtschafts-News-Websitedes Landes, sagt, dass die Syrer bereits früh erkannt hatten, dass eineInflation drohte. Tatsächlich hat das syrische Pfund seit Beginn der Re-volte gegenüber dem US-Dollar die Hälfte seines Werts verloren. Alsoversuchten viele Syrer, Land zu kaufen oder auf bereits erworbenemLand zu bauen. Diese Strategie scheint aufzugehen: In Gegenden, dienicht direkt von Kämpfen betroffenen sind, blieb der Wert von Immobi-lien bis heute stabil.

50 Prozent Zinsen auf Kredite«In den ersten Monaten der Revolution wurde viel illegal gebaut,

nicht nur, weil sich die Leute vor der Inflation fürchteten, sondern auch,weil viele Leute bauen wollten, aber bisher keine Genehmigung be-kommen hatten», sagt Yazigi. In Damaskus hätten die Behörden unter-dessen zwar durchgegriffen und die Preise für Stahl und Zement seienstark anstiegen, was das Bauen verteuert. Doch ausserhalb der Haupt-stadt hält der Bauboom an. Für syrische Männer ist der Besitz von ei-genem Wohnraum oft eine Bedingung, um heiraten zu können. Diesführt zu einer grossen Nachfrage, welche die Preise für den Hausbau indie Höhe getrieben hat. Für syrische Väter ist es oft günstiger, das Hausder Familie um eine oder zwei Etagen aufzustocken, als den Söhnen ei-gene Wohnungen zu kaufen.

Andere Unternehmer profitieren vom Chaos im Bankensektor, deraufgrund von Wirtschaftssanktionen und fallenden Devisenreserven inTurbulenzen geraten ist. Nebst weiteren Sanktionen haben westlicheund arabische Länder die Importe von syri-schem Öl gestoppt und finanzielle Verbindun-gen mit syrischen Banken gekappt. Die syri-schen Geldreserven sind fast auf einen Drittelgesunken seit Beginn des Aufstands. Währenddas syrische Pfund an Wert verliert, steigt die Nachfrage nach ausländi-schen Währungen. Doch nur noch wenige Banken sind heute bereit,von ihren knappen Devisenbeständen etwas zu verkaufen. Geldwechs-ler, die auf den Bazars in Damaskus Dollars verkaufen, profitieren vonPanikkäufen.

Bankkredite zu erhalten, ist fast unmöglich geworden. Dies schafftwiederum Geschäftsmöglichkeiten für Kredithaie ohne Lizenz. Ali, 34,arbeitet für seinen Vater, einen Bauern, der darum kämpft, seinen Fa-milienbetrieb zu erhalten, aber weder von staatlichen noch von priva-ten Banken Kredite erhält. «Am Ende hat mein Vater Geld von einemKredithai geliehen», sagt Ali. Er musste das Darlehen für drei Monateabschliessen, zu einem Zins von 50 Prozent bei 25 Prozent Zuschlag fürverspätete Rückzahlung. «Ich war überrascht, wie organisiert das Ge-schäft ablief. Er bekam sogar offizielle Dokumente! Jeder muss heutediese Darlehen aufnehmen und die Geldleiher arbeiten ganz offen, denndie Polizei ist anderweitig beschäftigt.»

Um Devisen im Land zu halten, erhöhte die Regierung die Zolltarifeauf gewissen Importprodukten. Syrerinnen und Syrern mangelt es des-

halb an im Ausland produzierten Gütern wie etwa Medikamenten – undsie sind gezwungen, diese auf dem Schwarzmarkt zu suchen. Lama, ein25-jähriger Apotheker in der Hauptstadt, sagt: «In der Apotheke sind wirgezwungen, mit Schmugglern zusammenzuarbeiten. Medizin ist nichtetwas, das aufgeschoben werden kann. Wenn wir unsere Bestände nichtmit illegalen Methoden auffüllen, dann werden Kunden, insbesonderesolche mit chronischen Erkrankungen, selbst versuchen, sich ihre Me-dikamente auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen.»

Dasselbe spielt sich beim Benzin ab: Während die Schlangen vor denTankstellen lang und länger werden, kaufen immer mehr Stadtbewohnerauf dem blühenden Schwarzmarkt ein. Issa, ein damaskischer StudentMitte 20, erzählt, dass er in der Tankstelle, in der er arbeitet, einen Wech-sel der Geschäftspraxis festgestellt hat: «Als die Ölpreise stiegen, stelltemein Chef Leute an, welche die Schlangestehenden im Auge behalten.Wenn jemand aufgibt und wegfahren will, wird er von ihnen gestopptund sie bieten ihm Benzin zu einem höheren Preis an. Die Schlangensind so lang, dass die Leute bereit sind, exorbitante Preise zu bezahlen.»

Schrumpfende Wirtschaft, steigende PreiseEinige syrische Produktionsfirmen schaffen es, die diplomatischen

Querelen und Assads verbitterte Haltung gegenüber ehemaligen Ver-bündeten, die sich aufgrund der gewalttätigen Reaktion auf die Demo-kratiebewegung gegen ihn wandten, auszunützen. Die Türkei war einerder engsten Verbündeten Syriens, doch gegen Ende des letzten Jahresverhängte Ankara Sanktionen gegenüber dem Handelspartner. Assadrächte sich, indem er das Freihandelsabkommen mit der Türkei einsei-tig kündigte, was die Preise einiger Importprodukte in die Höhe schnel-len liess. Dies entpuppte sich als Segen für lokale Produzenten, wie einwestlicher Diplomat in Beirut sagt. Auch wenn es vielleicht nicht alleNachteile aufhebe, welche die Krise mit sich brachte, so müssten syri-sche Produzenten zumindest nicht länger mit billigeren und oft auchhochwertigeren türkischen Importen konkurrieren, so der Diplomat.

Der syrische Ökonom Yazigi pflichtet bei: «Als das Freihandelsab-kommen aufgehoben wurde, gab es einen Boom im lokalen Handwerk.Syrische Stoffe, Möbel und Lebensmittel verkaufen sich gut», sagt er:«Das billige syrische Pfund erlaubt es einigen Firmen gar, Produkte inden Irak zu exportieren.»

Die aktuelle Wirtschaftskrise trifft die syrische Bevölkerung schwer.Und viele Syrer glauben, dass auch die Geschäftemacher nur knappüber die Runden kommen. Im Januar betrug die offizielle Inflationsrate

15 Prozent, die Preise für einige Grundnahrungsmittel wie Zucker, But-ter, Pflanzenöl und Eier stiegen gar um 100 Prozent. Es gibt zwar keineoffiziellen Zahlen, in welchem Mass der Aufstand das Bruttoinlandpro-dukt (BIP) beeinflusst hat, aber Yazigi schätzt, dass die Wirtschaft letz-tes Jahr um rund 15 Prozent geschrumpft ist und dieses Jahr um weite-re 15 Prozent eingehen könnte. Während der Wert des syrischen Pfundseinbrach, schossen die Lebensunterhaltskosten in den Himmel. VieleSyrer können sich nur noch das leisten, was sie zum blanken Überlebenbrauchen. Die Regierung warnte die Bürger vor der Möglichkeit einerumfassenden Energierationierung.

«Es mag stimmen, dass syrische Geschäfte weniger ausländischeKonkurrenz haben. Aber wenn Syrer keine Produkte mehr kaufen undalles das Doppelte kostet, was macht das noch für einen Unterschied?»,fragt ein Bewohner von Damaskus. Und fügt an: «Man tut, was mankann. Aber alle leiden weiterhin.» ■

www.street-papers.org/Reuters

Übersetzung aus dem Englischen: Florian Blumer

«In der Apotheke sind wir gezwungen, mit Schmugglernzusammenzuarbeiten.»

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VON SARAH MARSH UND HOLGER HANSEN

Anja hat während der letzten sechs Jahre für zwei Euro in der Stun-de Böden gewischt und Geschirr gespült. Wenn sie die Schlagzeilen inden Zeitungen liest, die Deutschlands «Jobwunder» loben, empfindet sienur Befremden. «Meine Firma hat mich ausgebeutet», sagt die 50-Jähri-ge. Sie sitzt in der Küche ihrer kleinen Wohnung in der ostdeutschenStadt Stralsund. «Wenn ich etwas anderes finden könnte, wäre ich schonlange weg.» Stralsund ist eine schöne Stadt am Meer, aber Anja, die ausAngst, gefeuert zu werden, ihren vollen Namen nicht nennen will, kannsich die hübschen Cafés nicht leisten.

Aufgrund der Billigjobs liegt Deutschlands Arbeitslosenquote auf demtiefsten Stand seit der Wiedervereinigung. Das deutsche Modell gilt fürandere europäische Länder im Standortwettbewerb und im Kampf gegendie Arbeitslosigkeit als Vorbild. Kritiker sagen, dass die Reformen zwargeholfen hätten, Jobs zu schaffen, gleichzeitig aber auch den Niedrig-lohnsektor und Zeitarbeit ausweiteten und die ungleiche Einkommens-verteilung verstärkten. Arbeitsmarktzahlen zeigen, dass der Niedriglohn-sektor in den fünf Jahren bis 2010 drei Mal schneller gewachsen ist als derrestliche Arbeitsmarkt. Das Salär kann inDeutschland, wo es keinen nationalen Mindest-lohn gibt, ohne Weiteres unter einen Euro proStunde sinken, vor allem in den ostdeutschenBundesländern. Das erklärt auch, warum dieDeutschen trotz «Jobwunder» nicht mehr Geldausgeben als zu Zeiten höherer Arbeitslosig-keit. 7,2 Prozent der Arbeitnehmer haben 2010 so wenig verdient, dass sieunter der Armutsgrenze leben, verglichen mit 4,8 Prozent im 2005. Dasist immer noch weniger als der europäische Durchschnitt von 8,2 Pro-zent. Doch die Zahl der Working Poor ist in Deutschland schneller ge-wachsen als in der gesamten Eurozone zusammengenommen.

«Bester Niedriglohnsektor in Europa»Die Globalisierung hat Deutschlands exportabhängige Wirtschaft un-

ter enormen Wettbewerbsdruck gesetzt. 2003 hat die Regierung diegröss ten Reformen im Sozialsystem seit Ende des Zweiten Weltkriegesin Gang gesetzt. Während die französischen Sozialisten die 35-Stun-den-Woche und Mindestlöhne einführten, haben die deutsche Sozial-demokraten (SPD) den Arbeitsmarkt dereguliert und den Druck auf dieArbeitslosen erhöht. Gewerkschaften und Arbeitnehmer haben einemVerzicht auf Lohnerhöhungen zugestimmt, als Gegenleistung für Ar-beitssicherheit und Wachstum. Flexible Arbeitsplatzmodelle und vonder Regierung subventionierte Kurzarbeit haben Arbeitgebern geholfen,sich dem wirtschaftlichen Umfeld anzupassen, ohne Mitarbeiter einstel-len oder entlassen zu müssen. Frankreichs abgewählter Präsident Nico-las Sarkozy hat Gerhard Schröders «Agenda 2010» wiederholt als Beispielfür sein Land bezeichnet. Spanien und Portugal haben bei ihren Arbeits-marktreformen ebenfalls vieles von Deutschland übernommen.

Der deutsche Arbeitsmarkt wächst insbesondere im Bereich der Ge-ringverdiener und Zeitarbeiter, und zwar aufgrund von Deregulierungund der Förderung von flexiblen, vom Staat geförderten Mini-Jobs. DieZahl der Vollzeitbeschäftigten mit geringem Einkommen – weniger alszwei Drittel des Durchschnittseinkommens – stieg von 2005 bis 2010 um13,5 Prozent auf 4,3 Millionen. Gemäss der Bundesagentur für Arbeit istder Zuwachs drei Mal so hoch wie jener auf dem regulären Arbeits-markt. 2011 gab es mit 910 000 Beschäftigten drei Mal so viele Zeitarbei-ter wie 2002, als Berlin begann, die Bestimmungen für Zeitarbeit zu lo -ckern. Wirtschaftswissenschaftler sagen, dass es Schröders Absicht war,diese Bereiche schnell wachsen zu lassen, um Geringqualifizierte undLangzeitarbeitslose wieder in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen.Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung (OECD) zeigen, dass Geringverdiener heute 20 Prozent derVollzeitbeschäftigten in Deutschland ausmachen, verglichen mit achtProzent in Italien und 13,5 Prozent in Griechenland.

In seinem letztem Jahr als Kanzler hatte sich Schröder auf dem Welt-wirtschaftsforum in Davos gebrüstet: «Wir haben den besten Niedrig-lohnsektor in Europa geschaffen.» Sieben Jahre später loben Arbeitge-

ber die Reformen, die für das Wachstum von Mini-Jobs und Zeitarbeitverantwortlich sind. «Die Gewerkschaften argumentieren, dass Mini-Jobs zu bedenklichen Arbeitsbedingungen in Deutschland führen wür-den, aber das ist nicht korrekt», sagt Mario Ohoven, Präsident desBundesverbands mittelständische Wirtschaft. Ohoven sagt, Mini-Jobswürden speziell von Frauen und Studenten ausgeübt. Jürgen Wuttkevon der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände führt aus,dass die Reformen den Unternehmen mehr Flexibilität gäben und mehrMöglichkeiten eröffneten, um Mitarbeiter für einfachere Tätigkeiten mitgeringer Produktivität einzustellen.

Mini-Jobber als LückenbüsserFritz Engelhardt, Inhaber eines kleinen Dreisternehotels in Pfullin-

gen, sagt, er würde zwei Mini-Jobber beschäftigen, die am Wochenen-de aushelfen und kleine Besorgungen erledigen. «Viele Unternehmer imDienstleistungsgewerbe versuchen Spitzenzeiten in der Arbeit am Wo-chenende oder bei speziellen Veranstaltungen aufzufangen, indem sieMini-Jobber einstellen,» sagt Engelhardt. «Innerhalb grosser Ketten kön-nen Hotels Mitarbeiter von Schwesterunternehmen nutzen, aber fürkleine und mittelständische Unternehmen sind Mini-Jobs unentbehrlichzur Existenzsicherung.» Doch auch deutsche Unternehmensriesen sindvon dieser neuen Form der Beschäftigung abhängig, um flexibel zu blei-

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ArbeitsmarktDas Billigjob-WunderDeutschland bekämpfte die Arbeitslosigkeit jahrelang mit Niedrigstlöhnen. Von den Billigarbeitskräften pro-fitieren vor allem die Firmen. Das Beispiel macht in Europa und bei Schweizer Politikern Schule, dabei über-legt die deutsche Regierung aufgrund sinkenden Konsums die Rückkehr zu Mindestlöhnen.

Das Salär kann ohne Weiteres unter einen Euro proStunde sinken – darum geben die Deutschen trotz«Jobwunder» kein Geld aus.

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VON CHRISTOF MOSER

«Nicht jeder Lohn kann für eine Familie existenzsichernd sein. Woausnahmsweise das Haushaltseinkommen nicht ausreicht, gewährleis -ten Sozialversicherungen und Sozialhilfe die Existenzsicherung» – mitdieser Aussage sorgte Valentin Vogt, der Präsident des SchweizerischenArbeitgeberverbands, Anfang April dieses Jahres für Empörung. Dabeihatte Verbandsfunktionär Vogt nur ausgesprochen, was sich gewähltePolitiker nicht zu sagen wagen: Dass die Schweiz wie Deutschland kal-kulierte Armut braucht, um in der globalen Wirtschaft wettbewerbsfä-hig zu bleiben.

Gerichtet war die Aussage des Arbeitgeberpräsidenten gegen die«Mindestlohn-Initiative», die der Schweizerische Gewerkschaftsbund(SGB) im Januar lanciert hat. Die Initiative verlangt, dass niemand, der

100 Prozent arbeitet, weniger als 4000 Franken verdienen soll. Heutewerden 400 000 Menschen in der Schweiz für weniger als 22 Frankenpro Stunde und damit für unter 4000 Franken pro Monat beschäftigt.Zwei Drittel davon sind Frauen.

Billigjobs statt Mindestlöhne«Wenn wir in der Schweiz die Erwerbsbeteiligung hoch halten wol-

len, dürfen wir die Stellen im Niedriglohnbereich nicht mit Mindestlöh-nen ausradieren, die sich an der Existenzsicherung ausrichten», sagt Ar-beitgeberpräsident Vogt. Mit anderen Worten: Die Wirtschaft brauchtdie Billigarbeiter, und deren Existenzsicherung ist Sache des Staats. Wo-bei das leider nur die halbe Wahrheit ist.

Die Schweiz, eines jener Länder, das zu den grossen Gewinnern derGlobalisierung gehört, wird in den letzten Jahren auch immer stärker

ArbeitsmarktKalkulierte ArmutNoch sind Billigjobs in der Schweiz wenig verbreitet. Geht es nach den Arbeitgebern, wird sich das aber än-dern. Die Löhne sollen runter, die Existenzsicherung der Sozialhilfe überlassen werden.

ben. Adidas, weltweit zweitgrösster Hersteller von Sportbekleidung,und die Supermarktkette Kaufland, zur gleichen Unternehmensgruppegehörend wie die Discountkette Lidl, nutzen Mini-Jobs, um Beschäfti-gungslücken in Spitzenzeiten aufzufangen.

Wenn Konservative Mindestlöhne fordernKritiker sagen, Deutschland würde einen hohen Preis für seine Re-

formen zahlen, denn diese würden zu einem zweigeteilten Arbeitsmarktführen. Arbeitgeber zeigen wenig Initiative, reguläre Vollzeitstellen zuschaffen, wenn sie wissen, dass sie Arbeitnehmer mit flexiblen Verträ-gen einstellen können. Eine von fünf Stellen ist heute ein Mini-Job, beidem Arbeitnehmer maximal 400 Euro im Monat verdienen, steuerfrei.Für fast fünf Millionen Menschen ist dieses ihre Hauptarbeit, weshalbsie zusätzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. «ReguläreVollzeitstellen werden in Mini-Jobs aufgeteilt», sagt Holger Bonin vomZentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Die Ver-einfachung der Zeitarbeitsregelung bietet den Arbeitgebern wenig An-reiz, Mitarbeiter mit festen Verträgen, Arbeitsplatzsicherheit und ange-messenem Gehalt einzustellen. Zeitarbeiter in Deutschland verdienenmeist weniger als fest angestellte Arbeitnehmer. Niedrige Löhne für Mini-Jobber und wachsender Druck auf die Arbeitslosen, einen Job zufinden, haben einen deflationären Effekt auf die Löhne in allen Bran-chen, sagen Wirtschaftswissenschaftler.

Während die Lohnschere in Deutschland früher mit jener in skan-dinavischen Ländern vergleichbar war, ist sie im letzten Jahrzehntdeutlich aufgegangen. «Der Abstand der Armen zur Mittelklasse hatsich vergrössert, in Deutschland mehr als in anderen Ländern», sagtOECD-Wirtschaftswissenschaftlerin Isabell Koske. Gesunkene Löhne

und Arbeitsplatzunsicherheit haben auch zu einer verringerten Binnen-nachfrage geführt, die Achillesferse des exportabhängigen Deutsch-lands, sehr zur Verzweiflung seiner Nachbarn. «Die Importnachfrage istgering, und das, obwohl Deutschland einer der Leistungsträger in derEurozone ist», sagt Ekkehard Ernst von der Internationalen Arbeitsorga-nisation (ILO).

Die Wahlen vom kommenden Jahr und die Beschwerden der euro-päischen Nachbarn über das Handelsungleichgewicht haben das ThemaNiedriglöhne zurück auf die Agenda der deutschen Regierung gebracht.Kanzlerin Angela Merkel plant die Einführung von Mindestlöhnen inBereichen, wo es noch keine gibt, und Arbeitsministerin Ursula von derLeyen wirbt dafür, dass Zeitarbeiter das gleiche verdienen wie reguläreArbeitnehmer. «Die Tatsache, dass unsere konservative Regierung dieEinführung von Mindestlöhnen diskutiert, sagt einiges aus», sagt EnzoWeber vom deutschen Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB). «Wel-che Regierung auch in Zukunft kommen mag, Massnahmen, um die Ar-beit flexibler zu gestalten, werden nicht mehr derart vorangetriebenwerden. Wir haben einen kritischen Zustand erreicht und ich denke,dass es nicht viel weiter gehen wird.»

Ernst vom ILO sagt, dass Deutschland nur hoffen kann, dass die an-deren europäischen Länder ihre deflationäre Politik nicht zu sehr anDeutschland anlehnen, denn dann würde die Nachfrage aussterben.«Wenn jeder das gleiche macht, ist nichts mehr da, wohin man expor-tieren kann.» ■

www.street-papers.org/Reuters

Übersetzung aus dem Englischen: Jessica Michaels

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mit den Schattenseiten des Erfolgs konfrontiert: Der Konkurrenzkampfwird härter, die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt steigen – und diesoziale Sicherheit im heutigen Rahmen kostet die Schweiz zu viel, umim globalen Wettbewerb mithalten zu können. Deshalb müsse dieSchweiz ähnlich wie Deutschland nach der Einführung von Hartz IV dieEntstehung einer dauerhaften Unterschicht akzeptieren, sagen Politikerhinter vorgehaltener Hand. Das ist die ganze Wahrheit.

Die Weichen dafür hat die Politik 2010 gestellt, als bei der Arbeitslo-senversicherung radikale Einschnitte getätigt wurden. Bei bis 30-Jähri-gen ohne Kinder sind die Taggelder auf zwölfMonate gekürzt worden, bei Jugendlichen un-ter 25 auf ein halbes Jahr. Der Versicherungs-abbau für Arbeitslose soll gewährleisten, dassfür die Billigarbeit auch genügen Billigarbeiterverfügbar sind. Die Kosten für ein existenzsi-cherndes Leben sollen in die Sozialhilfe abgeschoben werden. Die Sta-tistik zeigt, dass Working Poors, jene Menschen, die arbeiten und den-noch Sozialhilfe brauchen, in Branchen wie dem Gast- und Reinigungs-gewerbe oder beim Detailhandel übervertreten sind. In der Mehrzahlsind es Alleinerziehende oder Familien mit mehreren Kindern.

«Die Sozialpolitik der Zukunft ist die Verwaltung der Armut», schriebSurprise Ende 2010. «Sie wollen Sozialpolitik mit der Axt betreiben. Siewollen zurück in eine soziale Eiszeit», sagte FDP-Bundesrat Pascal Couchepin, als er im Herbst 2010 nach sieben Jahren als Sozialministerin Rente ging, an die Adresse der bürgerlichen Parlamentsmehrheit. Eswerde, so Couchepin, eine Herausforderung sein, mit sozial Schwachen

solidarisch zu sein, ohne im globalen Wettbewerb zu verlieren. DieSchweizer Wirtschaft ist nicht gewillt, diese Herausforderung anzu-nehmen.

«Die Sozialabgaben in der Schweiz sind noch viel zu hoch, wenn wirinternational mithalten wollen», wiederholt NZZ-Publizist und ÖkonomBeat Kappeler unablässig – und deutet damit an, wohin die Reise gehensoll. Das Gegenmodell zum bedingungslosen Grundeinkommen – dieseswill jeder Person in der Schweiz rund 2500 Franken zusprechen undwurde diesen Frühling als Initiative lanciert – wird in Wirtschaftskrei-

sen bereits diskutiert. Die Sozialpolitik der Zukunft soll auf einer Grund-rente basieren, die in zwei Säulen gegliedert ist. Die erste Säule soll diephysische, nicht aber wie bisher auch die soziale und kulturelle Exi-stenzsicherung abdecken. Die soziale und kulturelle Lebenshaltung, sodie Vision der Wirtschaft, müsste durch Arbeitsleistung in Billigstjobsgewährleistet werden. Mindestlöhne gäbe es keine mehr.

Im Vergleich zu heute würde dadurch das Existenzminimum auf dieHälfte reduziert. Eine vierköpfige Familie erhielte jährlich statt wie heu-te 60 000 Franken via Sozialhilfe nur noch 30 000 Franken Grundrente.Pro Kopf hiesse das: 625 Franken pro Monat.

Das ist die Politik der Armut um jeden Preis. ■

Die Schweiz müsse die Entstehung einer dauerhaftenUnterschicht akzeptieren, sagen Politiker hinter vorge-haltener Hand.

Der Unmut wächst: Angestellte des öffentlichen Sektors bei einer Demonstration in Frankfurt Anfang März.

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Partnersuche Mama, der?!Warum für alleinerziehende Mütter auf Partnersuche die eigenen Kinder dem Internet alsOrakel weit überlegen sind. Und womit paarungswillige Männer rechnen müssen, die sichmit Müttern verabreden.

VON BIRGIT LUDWIG (TEXT) UND MILENA SCHÄRER (ILLUSTRATION)

Als ich mit Blind Dates anfing, war ich schon eine ganze Weile allein,und ich hatte von meinen Freundinnen die tollsten Sachen über Part-nerbörsen gehört. Das Internet schien mir daher effizient für die Ziel-gruppenauswahl, besonders als alleinerziehende Mutter – um keine un-nötigen Abende in Bars für die Grobauswahl von Männern mehr zu ver-schwenden. Dann lieber nur die treffen, die wirklich wissen, was siewollen! Doch das sollte sich als Trugschluss herausstellen.

Mein Erster war ein Inder. Als der Mann mir nach einer Viertelstun-de im Chat ein Treffen vorschlug, willigte ich schnell ein. Warum sichlange aufhalten, wenn man über Stimme, Bewegung und Aussehen vielmehr Informationen gleichzeitig erhalten kann? Doch das Gesprächwurde schnell zähflüssig. Ich wusste nicht so recht, wie weiter. Kochteer gerne? Kinder? Als Neuling im Dating-Business hatte ich leider ver-gessen, mir ein Türchen offenzulassen oder eine Freundin um einen Ali-bi-Anruf zu bitten. Nach einer anstrengenden Stunde Unterhaltung ver-abschiedeten wir uns erleichtert.

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Die Kinder fingen schon an, sich darüber zu wundern, was ich dau-ernd abends so lange noch am Schreibtisch und am PC machte. Gott seiDank war meine ältere Tochter noch nicht in dem kritischen Alter, indem sie jetzt ist – sie hätte mich bestimmt gehänselt, welchen «Spacko»ich denn jetzt gerade wieder treffe.

Deshalb verschwieg ich ihr auch das Date mit dem Heilpraktiker, dermir sofort die Koordinaten seiner Praxis-Website gab. Ich fragte mich, ober wohl eher Kunden suchte statt einer Frau. An einem regnerischen De-zembersamstag fuhr ich nach Spiez, er hatte mich zu einem Advents-höck eingeladen. Ich wusste nicht genau, was er damit meinte. Als ichdas Café endlich gefunden hatte, erwartete mich der Mann am Kopfen-de eines langen Tisches – und mit ihm unge-fähr 20 Senioren. Mein Date war der Vizeprä-sident des hiesigen Kneipp-Vereins. Die Senio-ren zwinkerten uns aufmunternd zu, ein älte-rer Herr kniff mir in den Oberschenkel undfragte mich, ob ich die künftige Ehefrau wäre?Nach einer halben Stunde musste mein Date gehen – sein Hausmeisterkäme gleich. Auch keine schlechte Ausrede. Seitdem vermeide ich Ein-ladungen zu Adventshöcks.

Das sechste Date klang dagegen vielversprechend. Nur wenig jünger,Juniorchef einer kleinen Modellbaufirma. Ein Mann mit Verantwortung.Und das Beste: keine Kinder, keine Altlasten, dafür aber einen Hund. Alsalleinerziehende Mutter selektiert man die Männer nicht unbedingt da-nach, ob sie Kinder haben – im Gegenteil. Jedes weitere Kind macht diegemeinsame Konstellation noch komplexer. Hunde sind da wesentlichpflegeleichter und meckern auch nicht so viel übers Essen. Wir verab-redeten uns zum Wandern im Jura. Er würde die Route festlegen und ei-ne Karte mitbringen.

Schweigsamer Hund, schönes AutoAls wir nach fünf Stunden bergauf im knietiefen Schnee, seinen Rott-

weiler dabei, endlich den Chasseral erreichten, war ich bereits ziemlicherschöpft und ein wenig ungehalten. Erst oben erzählte er mir, dass sei-ne Wanderkarte schon 20 Jahre alt sei. Als wir dann im Dunkeln denWald hinuntergestürmt waren, fuhr kein Bus mehr, und niemand woll-te uns im Auto mitnehmen – wegen des grossen Hundes. Ehrlich gesagt,mochte ich den Hund. Ich war froh, dass er dabei war. Er erzählte, imGegensatz zu seinem Herrchen, auch nicht so viel Negatives über seineEx-Freundin.

Die Kinder hatte ich bisher weitgehend aussen vor gelassen. Ich trafmich nur allein, das war schon kompliziert genug. Doch beim nächstenDate musste ich aus Termingründen meine ältere Tochter mitnehmen.Auf dem Parkplatz stieg Bernhard aus seinem silbernen Sportwagen undbegrüsste uns schüchtern. Als wir später nach Hause fuhren, meintemeine Tochter zu mir: «Mama, der?! Der passt doch gar nicht zu dir.Aber schönes Auto.»

Es zählen schliesslich die inneren Werte, dachte ich. Doch der ach-te Mann, den ich traf, war – ich kann es nicht anders sagen – ein Halo-dri. Er chattete mich an, und es dauerte keine drei Zeilen, da ging esschon um das Eine. Und das konsequent. Obwohl ich eigentlich sofortwusste, in welche Kategorie er passte, ging von ihm etwas unverschämtVerführerisches aus. ER wollte unbedingt, dass wir uns treffen. Wennich konkret nachfragte, hielt er mich hin. Er war beim Militär, und sowar auch seine Strategie: In Deckung bleiben und auf den richtigen Mo-ment für den Angriff warten. Meine Schwäche wusste er sofort auszu-nutzen: Er sah gut aus und machte mich neugierig. Er hätte nur mittagsZeit – da wäre er in der Stadt und könne schnell bei mir auf einen Kaf-fee vorbeikommen. Vorsichtshalber sagte ich meiner Freundin im HausBescheid.

Der Mann liess sich an meinem Küchentisch nieder und beobachte-te mich. Meinen Versuch, ein Gespräch zu führen, liess er unbeein-druckt an sich abprallen. Nach 20 Minuten schob er die Kaffeetasse weg,

kam um den Tisch herum und machte sich an mich ran. Als er eine Drei-viertelstunde später wieder in seine Klamotten stieg, konnte ich es fastnicht glauben. Danach hörte ich noch sporadisch von ihm, immer sehrunbestimmt und vage. Ich wunderte mich über mich selbst, dass ich aufso eine Taktik hereingefallen war, wo ich doch immer aufmerksam zu-gehört hatte, und brach den Kontakt ab.

Zuhören konnte ich wirklich gut. Das kam nicht immer gut an. Alsich Ulrich, den Geschäftsführer, fragte, was denn seine letzte Freundindazu gesagt hätte, dass er Jahre nach seiner Scheidung immer noch beiseiner Familie wohne, verstummten die Gespräche zwischen uns. Sowie auch mit dem Mann, der mir erst auf ausdrückliches Nachfragen

beim dritten Treffen erzählte, dass er verheiratet sei – hatte er das etwavorher nicht erwähnt? Nein, hatte er nicht. Dieses Detail hätte ich mirsicher gemerkt. Ich kann es nicht leiden, angelogen zu werden.

Ralph hingegen wirkte aufrichtig. Wir verabredeten uns in einer Ju-gendherberge, ich hatte diesmal die Kinder dabei. Ralph fuhr mit denKindern Ski und ertrug es mit Humor, dass ihm meine jüngere Tochterbeim Essen auf den Schoss kotzte. Die Kinder fanden ihn sympathischoder meckerten zumindest nicht. Ich hingegen zögerte. Ralph gab aufund berichtete einige Monate später, er habe nun eine neue Freundin.

Ich hingegen verstand mich selber nicht mehr. Die Abende am PCvermittelten mir zunehmend das Gefühl, nach den falschen KriterienAusschau zu halten. Diese Selbstdarstellung, die Halbwahrheiten, dasTaxieren, die Ungeduld. Diese Ambivalenz bei vielen Männern, die vor-gaben, nach etwas zu suchen, aber eigentlich doch gar nichts findenwollten.

Vor allem aber merkte ich, dass es bei mir ähnlich war. Dass ich michgar nicht wirklich auf jemand neuen einlassen wollte, sondern unbe-wusst meine eigenen Anstrengungen sabotierte. Und das war unfair,auch den Männern gegenüber. Diesem Problem war mit einem Blind Da-te nicht beizukommen. Da gab ich auf.

Härtetest Kind Wenn heute ein Mann, den ich im Umfeld kennengelernt habe, mei-

ne Küche betritt, dann beobachten ihn ohnehin die Kinder. Besondersdie, die mir gefallen, müssen sich manchmal bohrende Fragen undschnippisches Verhalten gefallen lassen. Die hingegen, an denen ichkein Interesse habe, bei denen sind sie instinktiv tolerant und freund-lich. Ich kann nicht sagen, dass ich diese Art der Selektion wirklichempfehlen kann. Aber allen meinen alleinerziehenden Freundinnengeht es genauso. Und vielleicht ist die Reaktion eines Kindes als Spiegeldes eigenen Verhaltens nicht der schlechteste Filter? Wer das als Manndurchsteht, muss zwar immer noch nicht passen. Aber ist schon ziem-lich weit gekommen.

Seitdem verdient meine Tochter ihr Taschengeld damit, bei Männer-besuch nachher einfach nur den Daumen rauf oder runter zu halten.Daumen nach oben bedeutet: Kann wiederkommen. So wie das Orakelvon Delphi. Das heisst zwar nicht, dass sie sich nicht auch einmal irrt,und dass ich immer auf sie höre. Aber bekanntlich haben die Griechenja auch nicht immer gehört und nun viel Lehrgeld bezahlt. Und trotz-dem ein paar gute Jahre gehabt. ■

Als ich das Café gefunden hatte, erwartete mich der Mannam Kopfende eines langen Tisches – und mit ihm ungefähr20 Senioren.

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ter frönen werde. In einer reichen, geschäfti-gen Stadt wie Zürich können sich viele LeuteTaxis leisten, aber nur wenige, für eine simpleWegstrecke eine Stunde aufzuwenden, wennsie sich in einem Bruchteil der Zeit bewältigenlässt. Luxus ist auch, in einer Stadt zu woh-nen, in der man von einem Stadtrand zum an-deren zu Fuss gelangen kann.

Am Sonntag war ich ausgeschlafen undhörte entfernt die Lautsprecherdurchsagen desMarathons, der an diesem Tag stattfand. Ichfragte mich, wie viele der Läufer wohl ihre täg-lichen Wegstrecken zu Fuss zurücklegten. InStrassenkleidung mit Strassenschuhen. Wahr-scheinlich wenige, denn im Gegensatz zumLaufen, dass von Dynamik, Leistungs- undWillenskraft zeugt, hängt dem Gehen der Ruchdes Müssigen, des Schlendrians und Unpro-duktiven an. Dafür haben Marathonläufer kei-ne Zeit. Luxus können sich eben nur wenigeleisten.

STEPHAN PÖRTNER

([email protected])

ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER

([email protected])

Vor Kurzem besuchte ich eine Veranstal-tung, die etwas länger dauerte. Es war an ei-nem Freitagabend. Bis ich mich auf den Heim-weg machte, war schon ziemlich Samstagmor-gen. Ich wollte ein Taxi nehmen, hatte abernur eine frisch vom Automaten gezogeneZweihunderternote im Sack. Am Freitagabendsind die Taxis gut ausgelastet und so dauerte eseine Weile, bis eines anhielt. Ich fragte denFahrer, ob er meine grosse Note wechselnkonnte. Die Fahrt hätte circa 30 Franken gekos -tet. Er konnte nicht. Vielleicht hatte seineSchicht eben erst begonnen, vielleicht hattenschon zu viele mit grossen Noten bezahlt. Ichfragte nicht weiter, sondern machte mich, mitBlumenstrauss und Portweinflasche, die miran dem Anlas überreicht worden waren, zuFuss auf den Weg. Ich ärgerte mich nicht dar-über, abgewiesen worden zu sein, sondern sin-

Wörter von PörtnerLuxusprobleme

nierte, wie jedes Lebensalter seine Tückenbirgt. Als ich jung war, konnte ich mir kein Ta-xi leisten oder hatte um diese Zeit stets dieganze Barschaft vertrunken. Nun hatte ichGeld, bares gar, und musste trotzdem zu Fussgehen. Doch schon nach einer kurzen Streckekonnte von Müssen keine Rede mehr sein. DerFussmarsch wirkte erfrischend, die Nacht warkühl und ich beschloss, gar nicht mehr nachTaxis Ausschau zu halten, sondern den ganzenWeg zu gehen. Dieser führte quer durch dieStadt, dem Fluss entlang zum See und ichstaunte, wie hübsch die Stadt doch bei Nachtist. Am See scheuchte ich ein paar Enten auf,die quakend über die Wiese watschelten. Einleichter Regen setzte ein, der mich nicht stör-te. In ein paar Monaten wäre hier an einemFreitagabend wahrscheinlich Rambazamba,die Wiese belegt und die Enten geflüchtet.

Vereinzelte Nachtschwärmer standen nochimmer vor angesagten Clubs, ich nahm sievon Weitem wahr. Sie würden wahrscheinlichmit dem Taxi heimfahren. Am Rand meinesQuartiers studierte ich im Schaufenster einesHaushaltwarengeschäfts einen herabgesetztenWerk zeugkoffer.

Nach einer Stunde erreichte ich mein Zu-hause. Ich war gut ausgelüftet und hatte diegrosszügig genossenen Getränke gut verdaut.Mir wurde bewusst, dass eigentlich nicht dasTaxifahren ein Luxus war, sondern das Zu-Fuss-Gehen. Ein Luxus, dem ich in Zukunft öf-

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OffspacesAn der Basis

VON DIANA FREI

Es gibt diese leer stehenden Ladenlokale, wo spätabends manchmalzehn, zwanzig Leute auf dem Fensterbrett des Schaufensters herumsit-zen; irgendjemand performt, und wer im Vorbeigehen hineinblickt, istsich nicht ganz sicher, ob der Kunstevent da drin öffentlich ist oder pri-vat. Es handelt sich dabei vermutlich um einen Offspace. New Jerseyyist ein solcher, nahe der französischen Grenze in Basel, verborgen hin-ter einem Baugerüst. «Eine Szene spricht eine Sprache, die nicht allenzugänglich ist. Das kann man kritisieren», sagt Daniel Baumann, der zu-sammen mit drei Künstlern und einem Grafiker den Kunstraum betreibt,«wenn man alles vermitteln und erklären wollte, würde es die Dynamikwieder bremsen. Das ist eine Frage der Ressourcen, aber wir fordern vonden Leuten auch, dass sie selber denken.» Die Mittel sind knapp, dasTempo schnell. Pro Monat werden zwei Ausstellungen gezeigt, und dasBudget beträgt 3000 bis 4000 Franken pro Ausstellung für Material, An-reise, Unterkunft des Künstlers und Bier zur Eröffnung. Löhne gibtsnicht.

Überreste der letzten Ausstellung sind auf einem Teppich ausgebrei-tet. Ein Teddybär, Sitzhocker, Topfpflanzen, ein Osterhase. Der Raum istvielleicht 35 Quadratmeter gross, kahl, ohne Eleganz, ohne Vorgaben,und er scheint zu warten, was mit ihm passiert. Ein unabhängiger Kun-straum ist nicht kommerziell. Er kann Sprungbrett für Künstler und Ku-ratoren sein, aber auch für namhafte Künstler sind die unabhängigenKunst räume interessante Experimentierfelder. Rob Pruitt, der für JimmyChoo schon Schuhe designt hat, machte hier einen Pandabärflohmarkt,John Armleder und Walter Pfeiffer waren auch schon da. «Galerien ha-ben ihr Programm mit einem Künstler, den sie vertreten und in den sieinvestieren. Wir vertreten keine Künstler, sondern eine Haltung», sagtBaumann, «uns interessieren Leute, die Sachen anders denken, die sieschnell denken, elegant und überraschend.» Daniel Baumann selbst istKurator und Kunsthistoriker und war Leiter des Kunstprojekts «Kunst-tangente», mit der der Kanton Basel-Stadt den Bau einer Stadtautobahnbegleiten liess.

Vor drei bis vier Jahren war Basel ein ödes Pflaster, was unabhängi-ge Kunsträume betraf, ein «riesiger Wasserkopf mit grossen Institutio-nen», so Baumann, aber ein Biotop für neue Ideen existierte kaum. MitNew Jerseyy, Oslo 10, deuxpiece oder S.A.L.T.S. begannen auch in Ba-sel die unabhängigen Kunsträume zu boomen.

In Bern existiert seit 2004 Marks Blond. Daniel Suter, der ihn betreibt,trägt die Kunst in den Alltag: «Wir bauten einen Kiosk um und machtendie Ausstellungen wöchentlich. Mit einer enormen Geschwindigkeit.Dem Prozess kam mehr Bedeutung zu als der Ausstellung.» Beim unab-hängigen Kunstraum – «Basisraum» nennt ihn Suter am liebsten – sei eswesentlich, dass er zwischen den Institutionen, den Kunsthallen, Mu-

seen und kommerziellen Galerien stehe. Schon im 19. Jahrhundertschufen die Künstler, die nicht in die Salons eingeladen wurden, alter-native Strukturen. «Die Kunsthallen, die heute sehr etabliert sind, hat-ten gewissermassen auch einen Offstatus», sagt er.

Suter ist Präsident von OffOff, einem Netzwerk von gegen 60 Kunst -räumen schweizweit, das sich kulturpolitisch engagiert. Das Kultur-fördergesetz wird derzeit umgebaut. Aufgaben werden, vielleicht nichtnur zum Besten, vom Bundesamt für Kultur zur Pro Helvetia verlagert,bereits wurden Subventionen gestrichen. Sutter versteht OffOff als eineArt Gewerkschaft, und dabei geht es ihm nicht nur um Fördergelder,sondern um eine Haltung: «In den 60ern war die Kunst politisch, ge-sellschaftskritisch. In den letzten 20 bis 25 Jahren hat der Markt enorman Einfluss gewonnen. All die Kunstmessen, die Sammler und die Kunstals Wertanlage sind bestimmend geworden, und wer von der Kunst le-ben will, fokussiert sich darauf.» Daniel Suter will, dass die Künstlerwieder politischer werden, autonomer.

Im Juni zieht die ART Basel wieder die internationale Kunstwelt unddas grosse Geld an. Und doch, sagt Daniel Baumann vom New Jerseyy,schwärmen gerade dann die Kunstinteressierten auch zu den Offspacesaus. Und erholen sich dort, wo das Geld für Kataloge fehlt und man sel-ber denken muss, von den Cüpli-Anlässen. ■

www.newjerseyy.ch

www.marksblond.com

www.offoff.ch

Private Einladung? Nein! Kunsthappening bei Marks Blond.

An den internationalen Kunstmessen werden Werke für mehrere Tausend Dollar verkauft. Die neuen Ideen entstehen aber dort, wo es Platz für Experimente hat: zum Beispiel in unab-hängigen Kunsträumen.

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Kulturtipps

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BuchIn Geschichten wohnen

In zwölf poetischen Erzählungen nehmen uns Jürg Schubiger undJutta Bauer mit auf eine leichtfüssig-philosophische Reise durchWelt und Leben.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Das kleine Mädchen macht sich auf in die «runde Welt», um nach «Über-all» zu kommen. Doch dafür braucht sie Hilfe, denn Überall ist zwarleicht zu finden, aber auch leicht zu verpassen. Sie trifft auf den wildenWolf, den starken Stier und die grosse Frau. Dann gibt es da noch einenPapagei, der kommt und geht und aus dem niemand schlau wird, unddie Puppe Bianca Bernasconi, die im Rucksack des kleinen Mädchenswohnt und dort ihr stummes Puppengeheimnis hütet.Alle diese Figuren sind frei. Sie können sich auch mal eine Auszeit neh-men. Wichtig ist nur, dass sie da sind, wenn sie gebraucht werden. Undalle diese Figuren wissen, dass sie Teil einer Geschichte sind. Sie wer-den nicht nur erzählt, sondern nehmen aktiv am Erzählen teil, machensich zurecht wie zu einer Reise, denn «eine Geschichte betritt man wiedurch eine Tür, man wohnt eine Weile darin, man liebt, man leidet, manlacht und so fort, und dann verlässt man die Geschichte wieder».Gemeinsam fahren die Protagonisten nach Paris, wo dem Wolf auf demMona-Lisa-Bild vor allem die Landschaft gefällt – nur die Frau davorstört. Sie gehen baden und auf einen Kostümball, steigen auf einen Bergund beobachten die Wolkengestalten, oder spielen zur Weihnacht dasKrippenspiel mit verteilten Rollen. Und dabei denken sie über ihre Na-men nach, erzählen einander Geschichten aus ihrem Leben, reden vomSterben oder streiten sich darüber, ob Robinson Crusoes Gefährte Frei-tag, Samstag, Sonntag oder Januar hiess. «Eine ziemlich philosophische Geschichte» lautet der Untertitel diesesschmalen Büchleins von Jürg Schubiger (Text) und Jutta Bauer (Bilder),denn es geht unter- und nicht vordergründig oder gar aufdringlich auchum Philosophie. Aber um eine, so leicht, bunt und windverspielt wie einLuftballon. Eine grosse Kunst ist das, die die beiden vielfach Ausge-zeichneten (u.a. mit der Hans-Christian-Andersen-Medaille, dem No-belpreis der Kinder- und Jugendliteratur) auf bewundernswerte Weisebeherrschen. Eine Kunst, bei der sich die Frage nach dem Alter der Le-senden nicht stellt, weil sie ein Leben lang berührt.Jürg Schubiger, Jutta Bauer: «Überall ist leicht zu verpassen. Eine ziemlich philoso-

phische Geschichte.» Jacoby & Stuart 2012. Fr. 24.90

DVDDenn sie wissen, was sie tun

Als ihre vierjährige Tochter im Pool der Schule tot aufgefundenwird, ist Lehrerin Moriguchi überzeugt, dass einige ihrer SchülerSchuld tragen. Die japanische Buchverfilmung «Geständnisse» istein kompromissloser psychologischer Thriller.

VON NILS KELLER

An ihrem letzten Arbeitstag schreitet die Lehrerin Yuko Moriguchischeinbar geistesabwesend durch das Klassenzimmer, in dem die 13-Jährigen die verordnete Milch trinken, SMS schreiben und sich lang-weilen. Das Desinteresse legt sich, als sie auf den Tod ihrer Tochter zusprechen kommt: Sie ist überzeugt, dass es kein Unfall war, sondern be-schuldigt zwei ihrer Schüler des Mordes. Da das japanische Gesetz je-doch Minderjährige schützt, geht es ihr dabei nicht um juristische Ge-rechtigkeit.Gegen Ende ihres Monologs holt die Lehrerin zum Paukenschlag aus:Sie erklärt, sie habe die Milchportionen der zwei Beschuldigten mit et-was Blut ihres HIV-infizierten Partners angereichert, und die zwei hät-ten nun drei Monate Zeit, die Flüchtigkeit des Lebens schätzen zu ler-nen. Tumult, Gekreische, zwei zusammenbrechende Schüler – undselbst für die Zuschauer stellt sich Überforderung ein. Doch dies ist erstder Anfang des Dramas.Nun folgen weitere Geständnisse verschiedenster Beteiligter, die uns ausverschiedenen Blickwinkeln an den darauf folgenden Monaten teilha-ben lassen: Die Mutter des einen Täters muss mit ansehen, wie ihr ge-liebter Sohn langsam den Verstand verliert. Der Ersatzlehrer – von allenim Unwissen gelassen – versucht in naivem Eifer gute Stimmung zu ver-breiten und feuert dadurch die unterschwellige Panik weiter an. «Geständnisse» von Regisseur Tetsuya Nakashima kam bei der Oscar-Verleihung 2011 auf die Shortlist für den besten fremdsprachigen Filmund verpasste die Nomination nur knapp. Er enthält wohl Klischees ja-panischer Filme: ein Soundtrack aus Popsongs, Teenager in Schuluni-formen und stilisierte Blutspritzer. Doch steht diese Bilderflut imKontrast zur Verzweiflung, die Täter wie Opfer gefangen hält. So ent-steht eine visuell berauschende und psychologisch ergreifende Geister-bahnfahrt – an deren Ende das ferne Licht der Erlösung leuchtet. Einetrügerische Hoffnung in einer Welt, in der von allen – ob schuldig odernicht – gesagt werden kann, dass sie wohl wissen, was sie tun.Tetsuya Nakashima: «Geständnisse»/«Kokuhaku» (Japan 2010), 106 Min.,

mit Takako Matsu u. a., Japanisch, Deutsch, deutsche Untertitel, Extras: Making-of.

Immer schön nach Lehrbuch: Rache auf Japanisch.

Endlich ein Mädchen, das keine Pferde

stiehlt, sondern mit einem starken Stier

philosophiert.

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Die 25 positiven FirmenDiese Rubrik ruft Firmen und Institutionenauf, soziale Verantwortung zu übernehmen.Einige haben dies schon getan, in dem siedem Strassenmagazin Surprise mindestens500 Franken gespendet haben. Damit helfensie, Menschen in pre kären Lebensumstän-den eine Arbeitsmöglichkeit zu geben undsie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zube g leiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? DieSpielregeln sind einfach: 25 Firmen werdenjeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jenerBetrieb heraus, der am längsten dabei ist.

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Inova Management AG, Wollerau

Grenzenlos GmbH, Binningen

projectway GmbH, Köniz

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Velo-Oase Bestgen, Baar

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Otterbach

fast4meter, storytelling, Bern

Scherrer & Partner GmbH, Basel

Brockenstube des Reformierten Frauenvereins

Aesch-Pfeffingen

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

Migros Zürich, Kulturprozent

Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

Weingut Rütihof, Uerikon

AnyWeb AG, Zürich

Niederer, Kraft & Frey, Zürich

Musikschule archemusia, Basel

Paulus-Akademie Zürich

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Thommen ASIC-Design, Zürich

BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

homegate AG, Adliswil

ratatat – freies Kreativteam

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FührungMit dem Teller auf dem Kopf

Sivan führt Besucher durch jüdische Quartiere in Zürich. Die jun-ge Kinderbetreuerin scheut keine Diskussion und hat genug Ge-sprächsstoff für ein ganzes jüdisches Jahr.

VON FABIENNE SCHMUKI

«Trägt dein Vater auch einen Teller auf dem Kopf? Und hat er auch die-se Löckchen?» Fragen wie diese hat Sivan schon zuhauf beantwortet –schliesslich weiss sie, dass einige jüdische Traditionen auf Nichtjudenseltsam wirken mögen. Im Mai und Juni wird die 18-jährige Sivan drei-mal die sogenannte Pickeltour der Stadt Zürich leiten. Pickeltouren sindStadtführungen, auf denen junge Erwachsene ihr ganz persönliches Zü-rich zeigen. Und wenn es um das Thema Gemeinschaft geht, ist SivanExpertin: Ob in der Familie, in der jüdischen Jugendbewegung Hasho-mer Hatzair (kurz Shomer, vergleichbar mit den Pfadfindern) oder in ih-rer Ausbildung zur Kinderbetreuerin – Sivan kennt und liebt den Dialog,den Austausch in der Gruppe und den Halt, den ihr verschiedene Ge-meinschaften geben. Sivan führt durch das jüdische Zürich. Sie ist eine von fast 9000 Juden,die in der Stadt wohnen und auf eine lange Geschichte zurückblickenkönnen. Sivan führt vorbei an der Jüdischen Schule Noam und an wei-teren Stationen, die für ihr Leben von Bedeutung sind. Dabei erzählt sieGeschichten aus ihrer Jugend und Kindheit – es sind viel zu viele fürdiesen kurzen Text, doch nur eine schon macht «gluschtig» auf diesePickeltour: Sivan, die erst mit fünf Jahren in die Schweiz kam, weigertesich anfänglich, Schweizerdeutsch zu sprechen. Also freundete sie sichim Kindergarten mit einem türkischen Mädchen an, obwohl sie Hebrä-isch sprach und ihre Freundin Türkisch.Sivans Eltern liessen ihren drei Kindern schon immer die Freiheit, sel-ber darüber zu entscheiden, wie stark der jüdische Glauben auf ihr Le-ben Einfluss nehmen sollte. «Ich darf am Samstag Auto fahren und dasLicht an- und ausschalten», scherzt sie, «nur das Familienessen am Frei-tagabend hat bei uns wirklich Tradition.» Sivans Geschichten scheinen die Zürcher und Zürcherinnen neugierigzu machen: Der Rundgang vom 24. Mai ist bereits ausgebucht, zweiweitere finden im Juni statt.«Shomer und die Kinderkrippe – Gemeinschaft gross geschrieben!»

Do., 24. Mai (ausgebucht) und Do., 21. und 28. Juni 2012, jeweils 18 Uhr.

Frühzeitige Anmeldung erforderlich unter www.stadt-zuerich.ch/pickeltouren

Fern von Zürich: Sivan auf Besuch in der Heimat.

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Ausgehtipps

«Tango» gewann 1983 einen Kurzfilm-Oscar.

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Konkurrenzlos: Sharon Jones & The Dap-Kings.

Auf TourSoul, Mama

Langsam reichts mit all dem auf alt getrimmtenSoul-Gedöns. Schön, durften auch Nachgebo-rene diese Sorte Schmerz und Euphorie erfah-ren, aber grad jede Saison noch einen neuenNeo-Souler brauchts wirklich nicht. Schliess-lich gibts Sharon Jones & The Dap-Kings, diediese Retrowelle vor zehn Jahren losgetretenhaben. Und die Truppe aus New York ist in Sa-chen Groove und Feeling schlicht konkurrenz-los. Mittlerweile dürfte es sich ja herumgespro-chen haben, dass es die Dap-Kings waren, dieauf «Back To Black» von Amy Winehouse fürdie Musik sorgten. Was aber an sich neben-sächlich ist, denn am besten klingt das Oktettmit Sharon Jones am Mikrofon. Bevor Ihnen al-so funky Bläser und butterweiche Basslinienendgültig zu den Ohren raushängen: Ziehen Siesich die Mama des Neo-Soul rein. (ash) Mo, 21. Mai, 20 Uhr, Kaserne, Basel;

Di, 22. Mai, 20 Uhr, Kaufleuten, Zürich;

Mi, 23. Mai, 20.30 Uhr, Usine, Genf.

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Disco Queen und der Digitaltechniker: Fiji.

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Auf TourLässige Extravaganz

Nicht schlecht für eine Schweizer Band – wernoch immer derart über einheimisches Musik-schaffen parliert, offenbart sich als Ignorant.Längst operiert eine ganze Reihe hiesiger Musi-ker auf internationalem Niveau. Was allerdingslange fehlte: eine CH-Band, die echten Gla-mour unter die Discokugel bringt. Seit 2006 Fi-ji die Tanzfläche betraten, ist das anders. DerSynthiepop des Berner Duos klingt kühl unddoch verführerisch, tanzbar und auch ver-träumt. Simon Schüttel sorgt für die Musik, die80er-Pop mit den Möglichkeiten der zeitgenös-sischen Digitaltechnik verbindet. Sinn und Sexverleiht Fiji aber Sängerin Simone de Lorenzi.Sie kann gurren wie Alison Goldfrapp undknurren wie Grace Jones – nachzuhören aufdem neuen Album «Spell On Me». Und live ver-wandelt sich die Bundesangestellte zur DiscoQueen, die mit lässiger Extravaganz die Party-people regiert. (ash)Sa, 19. Mai, 22 Uhr, Kiff, Aarau;

Do, 24. Mai, 21 Uhr, Albani, Winterthur;

Fr, 25. Mai, 23 Uhr, Hive, Zurich;

Fr, 22. Juni, 22 Uhr, Frauenraum Reitschule, Bern.Anzeigen:

ZürichSehnervenkitzel

Wenn es in Kuratorendeutsch heisst «losgelöstaus dem gewohnten narrativen Rahmen entfal-ten die Bilder ihre Bedeutungsgeflechte», dannwill uns der Pressetext eigentlich sagen: Ach-tung, jetzt wirds wirr. Doch auch wirres Zeughat seine Berechtigung. Hier haben wir Bilder,die uns an den Kopf geschmissen werden, stattdass sie Geschichten mit Anfang, Mitte und (zuallem Überdruss oft Happy) Ende erzählen, dieuns lauter überflüssige Erklärungen aufs Augedrücken. Vielleicht kitzelt das den Sehnerv,vielleicht auch nicht. Aber es ist auf jeden Falleine erholsame Erfahrung, wenn sich ein Filmbeim Bier danach nicht in drei Sätzen zu-sammenfassen lässt. (dif)14. VIDEOEX — Internationales Experimentalfilm &

Video Festival, 26. Mai bis 3. Juni, Kunstraum

Walcheturm, Kanonengasse 20, Zürich

www.videoex.ch

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LRadio Beromünster ist zu neuem Leben erwacht.

BeromünsterKunst im Radiosender

Radio Beromünster ist legendär: Der «Landessender» wurde einst weitüber die Grenzen der Schweiz für seine unabhängigen Informationen ge-schätzt – insbesondere im Zweiten Weltkrieg, als Beromünster als Gegen-stimme zur Nazipropaganda in Deutschland, Österreich und im War-schauer Ghetto gehört wurde. Vor gut drei Jahren wurde der Sender ge-schlossen, die Zeit der Mittelwelle ist vorüber. Stattdessen schlug in Be-romünster die Stunde der Kunst: Der international erfolgreiche KünstlerWetz initiierte den Umbau des Gebäudes zu einem Kunst- und Kultur-zentrum mit verschiedenen Ausstellungsräumen. Dort sind nebst regio-nalen Künstlern auch internationale Grössen wie Roman Signer zu se-hen. Jeweils sonntags kann man sich – ohne Anmeldung – einer Führunganschliessen, bei welcher einem sowohl die bewegte Geschichte desHauses wie auch die aktuellen Ausstellungen gezeigt werden. (fer)Öffentliche Führungen durch KKLB (Kunst und Kultur im Landessender

Beromünster), mit spezieller Kinderführung, jeden Sonntag von 14 bis circa 15.30 Uhr,

Anmeldung nicht erforderlich, Landessender 1-3, Beromünster, www.kklb.ch

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Wotsch Mais? Popcorn im Stacheldraht.

PfäffikonKugelfisch, Kalaschnikow

Man spricht von Globalisierung und Öffnung der Welt und vergisst dar-über, dass wir uns gleichzeitig immer stärker abgrenzen. Abschotten ge-gen alles, was da von draussen auf einen einstürmt. Da muss man sichverteidigen. Vorsorglich mal ein bisschen drohen, man kann aber aucheinfach flüchten, sich anpassen, kooperieren oder die andern täuschen:Das sind die Strategien, die man sich zur Abwehr bereitlegen kann, fin-den die Macher der aktuellen Ausstellung im Vögele Kultur Zentrum. Sieversuchen, den Abwehrstrategien in Wirtschaft, Ökologie, Politik, Mili-tär, Sport und Psychologie auf die Spur zu kommen: Auf Themeninselnbegegnet man vom Kugelfisch bis zur Kalaschnikow so manchem Wehr-haften, um danach in den Zukunftsraum entlassen zu werden, wo dieBedrohungen der Zukunft auf einen warten und eine Art Denkfabrik ein-gerichtet ist. Ob es sinnvoll ist, in kugelsicherer Weste anzureisen, lässtder Pressetext offen. (dif)«ABWEHR. Überlebensstrategien in Natur, Wirtschaft, Politik und Alltag»,

noch bis zum 26. August, Vögele Kultur Zentrum, Gwattstrasse 14, Pfäffikon/SZ ,

Mi. bis So. 11 bis 17 Uhr, Do. bis 20 Uhr, Feiertage geöffnet: Auffahrt, Fronleichnam,

Bundesfeiertag, Mariä Himmelfahrt

www.voegelekultur.ch

Anzeige:

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 —

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

«Ursprünglich komme ich aus Cali, der drittgrössten Stadt von Ko-lumbien. Da ich in armen Verhältnissen aufgewachsen bin, konnte ichkeine Ausbildung machen und hing deshalb als Jugendlicher oft auf derStrasse herum. In der Langeweile fängt man da leicht an, Drogen zukonsumieren. Bei meinem ersten Versuch, weg von der Strasse und denDrogen zu kommen, haben mir Nonnen aus Deutschland geholfen. Spä-ter kam ich in ein Projekt mit Sozialarbeitern, wo zuerst mir geholfenwurde und ich nachher selbst die neu ankommenden Jugendlichenunterstützte. Weil ich aber mehrmals rückfällig wurde, beschloss ich mit23, mein Leben zu ändern und an einem andern Ort neu anzufangen.Ich reiste Richtung Süden und landete im 400 Kilometer entfernten Qui-to, der Hauptstadt von Ecuador.

In Quito ging es mir gut. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich alsVerkäufer. Nicht mit Strassenmagazinen wie hier, sondern einfach sons -tigen Zeitschriften. In Ecuador kann man als Strassenhändler verschie-dene Hefte kaufen und mit Gewinn wiederverkaufen. Dann habe ichauch eine Zeit lang in Bussen Süssigkeiten verkauft. Wenn ich finanziellknapp dran war, gaben mir vor allem religiöse Leute ein wenig Geld. Icherzählte ihnen, wie mir Gott im Leben immer wieder geholfen hat. DerGlaube verbindet. Und dass man andern Leuten nach Möglichkeit hel-fen soll, sagen ja eigentlich alle Religionen.

2008 lernte ich in Ecuador eine Schweizerin kennen. Als sie zurück inder Schweiz war, schrieben wir uns viele E-Mails. Schliesslich lud siemich in die Schweiz ein. Wegen der Aufenthaltsbewilligung war eigent-lich ein Besuch von maximal drei Monaten geplant. Doch dann be-schlossen wir, bald zu heiraten, und ich blieb in der Schweiz. Ich be-suchte sofort einen Deutschkurs und fing kurze Zeit später an, bei einemGemüsebauern zu arbeiten.

Als meine Frau und ich im Winter 2011 für längere Zeit nach Kolum-bien reisten, verliess ich die Stelle. Ich wollte nach unserer Rückkehr ei-ne neue Arbeit suchen. Am Anfang sah es gut aus, ich hatte einen Jobbei einem Hauswart in Aussicht, ging aber sicherheitshalber auch bei ei-nem Landschaftsgärtner schnuppern. An beiden Orten wollten sie mich.Weil ich zuerst beim Hauswart war, entschied ich mich für ihn. Nachzwei Monaten fand der Chef, es gebe zu viele Missverständnisse zwi-schen uns, weil mein Deutsch noch nicht so gut war, und löste den Ver-trag auf. Die Stelle beim Landschaftsgärtner war natürlich schon be-setzt, und ich musste wieder anfangen zu suchen. Aber ich hatte Glückund fand relativ schnell Arbeit bei einem Sanitär-Heizungsinstallateur.Doch auch dort war nach einem Monat Schluss, weil ich mir beim Tra-gen eines schweren Radiators einen Rückenschaden holte.

Durch die Rückenschmerzen war es nicht mehr so einfach, eine Stel-le zu finden. Nach vielen frustrierenden Monaten der Arbeitslosigkeiterhielt ich dann den Tipp mit Surprise. Das ist eine Arbeit, die ich pro-

Edward Moisés Casarán (34) ist ein erfahrener Verkäufer. Bereits früher hat er in seiner Heimat als Strassen-verkäufer und Prospekteverteiler gearbeitet. Hier verkauft der fröhliche Kolumbianer Surprise in Spiez undInterlaken.

BIL

D:

IMO

VerkäuferporträtAuf dem Weg zur WM

blemlos machen kann – und sie liegt mir. Wie gesagt, habe ich ja schonin Südamerika als Magazinverkäufer auf der Strasse gearbeitet. Für im-mer möchte ich Surprise aber nicht verkaufen. Am liebsten würde ichnoch eine Ausbildung machen, zum Beispiel eine Verkäuferlehre. Dannkönnte ich meinen Lebensunterhalt besser verdienen. Ich bin nochjung, ich kann noch etwas lernen. Deshalb, und weil man für verschie-dene Stellen den Führerschein braucht, bin ich jetzt auch an der Auto-prüfung.

Vor einiger Zeit haben meine Frau und ich entschieden, uns zu tren-nen, weil wir einfach zu verschieden sind. Nun suche ich also nicht nurArbeit, sondern auch ein Zimmer. Es ist gerade eine harte Zeit. Aber ichvertraue darauf, dass mir Gott beisteht und hilft. Und schliesslich darfich auch schöne Dinge erleben, wie zum Beispiel kürzlich das Turniervon Surprise Strassensport in Basel. Das hat mir sehr gefallen, denn:Kolumbianer lachen gerne, tanzen gerne und spielen leidenschaftlichgerne Fussball! Nun habe ich eine Einladung fürs Kader der National-mannschaft erhalten und hoffe fest, dass ich an der diesjährigen Stras-senfussball-WM in Mexiko City teilnehmen darf.» ■

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29SURPRISE 275/12

Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hat-ten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben undihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf desStrassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. IhrAlltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neueSelbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Ver-dienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkau-fende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Pro-gramm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Ver-antwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für dieWelt und den Arbeitsmarkt zu werden.

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Datum, Unterschrift

1 Jahr: 6000 Franken 1/2 Jahr: 3000 Franken 1/4 Jahr: 1500 Franken 1 Monat: 500 Franken

Ja, ich werde Götti/Gotte von:

Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, [email protected], PC-Konto 12-551455-3

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Eine Chance für alle!Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte

Ausserdem im Programm SurPlus:

René SennZürich

Josiane GranerBasel

Marlis DietikerOlten

Marika Jonuzi, BaselFatima Keranovic, BasellandBob Ekoevi Koulekpato, Basel

Jovanka Rogger, ZürichJela Veraguth, ZürichWolfgang Kreibich, BaselKurt Brügger, Basel

Anja Uehlinger, BadenAndreas Ammann, BernTatjana Georgievska, BaselPeter Gamma, Basel

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30 SURPRISE 275/12

Impressum

HerausgeberVerein Surprise, Postfach, 4003 Baselwww.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9–12 Uhr, Mo–DoT +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 [email protected]äftsführungPaola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) AnzeigenverkaufT +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 [email protected] T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99Reto Aschwanden, Florian Blumer(Nummernverant wort -licher), Diana Frei, Mena Kost [email protected]ändige Mitarbeittexakt.ch (Korrektorat), Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher ZimmerMitarbeitende dieser AusgabeKhaled Al-Hariri, Milena Caderas, Holger Hansen, Oliver Holmes, Nils Keller, Birgit Ludwig, Sarah Marsh,Christof Moser, Isabel Mosimann, Hansueli Schärer, Fabienne Schmuki Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, BaselDruck AVD GoldachAuflage15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./JahrMarketing, Fundraising T +41 61 564 90 61

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27Claudia Pleuss, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, [email protected]üro ZürichT +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, [email protected]üro BernT +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, [email protected] T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99Paloma Selma, [email protected] T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller [email protected], www.strassensport.chVereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugs weiseoder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird vonder Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt.

Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Post-sendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeich-nete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag vonCHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehendeBeträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oderdem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

Surprise ist:

Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialenSchwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit.Surprise hilft bei der Integration in den Ar-beitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsitua-tion, bei den ersten Schritten raus aus derSchuldenfalle und entlastet so die SchweizerSozialwerke.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Be-nachteiligung betroffenen Menschen eineStimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellungfür soziale Gerechtigkeit.

Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinen-de Strassenmagazin Surprise heraus. Dieseswird von einer professionellen Redaktion pro-duziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illu-stratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft.Rund dreihundert Menschen in der deutschenSchweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlos-sen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur,verdienen eigenes Geld und gewinnen neuesSelbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport.In der Surprise Strassenfussball-Liga trainierenund spielen Teams aus der ganzen deutschenSchweiz regelmässig Fussball und kämpfenum den Schweizermeister-Titel sowie um dieTeilnahme an den Weltmeisterschaften für so-zial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hatSurprise einen eigenen Chor. GemeinsamesSingen und öffentliche Auftritte ermöglichenKontakte, Glücksmomente und Erfolgserleb-nisse für Menschen, denen der gesellschaft-liche Anschluss sonst erschwert ist.

Finanzierung, Organisation und internatio-nale VernetzungSurprise ist unabhängig und erhält keine staat-lichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mitdem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inse-raten finanziert. Für alle anderen Angebotewie die Betreuung der Verkaufenden, die Sport-und Kulturprogramme ist Surprise auf Spen-den, auf Sponsoren und Zuwendungen vonStiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte sozi-ale Institution. Die Geschäfte werden vomVerein Surprise geführt, die vom gemeinnützi-gen Verein Strassenmagazin Surprise kontrol-liert wird. Surprise ist führendes Mitglied desInternationalen Netzwerkes der Strassenzei-tungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schott-land. Derzeit gehören dem Verband über 100Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an:Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, [email protected]

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– )(Verpackung und Versand bietenStrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Gönner-Abo für CHF 260.–

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SURPRISE 275/12 31

*gemäss MACH Basic 2008-2.

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Ist gut. Kaufen!Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache.Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50

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Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.–

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Surprise Rucksäcke(32 x 40 cm); CHF 89.–

schwarz rot

*gemäss MACH Basic 2008-2.

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Schön und gut.Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und vonA bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschieden-farbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

275/12

HerrenCHF 25.–

S(schmal geschnitten)

Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baum -wolle, für Gross und Klein.

KinderCHF 20.–

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Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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Macht stark.

www.vereinsurprise.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99