Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch (1988)

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Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch (1988)

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  • THOMAS NIPPERDEY

    Religion im Umbruch

    Deutschland 1870-1918

    VERLAG C. H. BECK MNCHEN

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    In diesem Buch steht das Problem der Religion im deutschen Kaiserreich im Mittelpunkt. Es geht um die beiden groen Kirchen, aber es geht auch um die Entchristlichung, die Position der Antikirchlichen und die der Unkirchlichen, und um die groen und kleinen Skular-religionen der Jahrhundertwende. Neben den inneren Entwicklungen wird das Verhltnis aller Richtungen zu Politik, Gesellschaft und Kul-tur analysiert; die Frage nach dem Verhltnis zur Moderne und zu den Modernittskrisen ist dabei die Schlsselfrage. Die katholische Kirche, durch das I. Vatikanische Konzil auf einen antimodernistischen Kurs festgelegt, schafft mit ihrem Vereinswesen hochmoderne und relativ demokratische Strukturen, die sie auf die Dauer verwandeln und ihre Lebensfhigkeit strken. Die evangelischen Kirchen polarisieren sich in einen theologisch modernen und eher sozialliberalen Flgel und einen theologisch wie politisch konservativen; beiden gemeinsam ist der lautstarke und emotionale Nationalismus. Die Kirchlichkeit freilich lt, bei den Protestanten am strksten, nach, aber die Konfession bleibt in Gesellschaft und Politik unverndert mchtig.

    Thomas Nipperdey, geb. 1927, ist Professor fr Neuere Geschichte

    an der Universitt Mnchen. Im Verlag C. H. Beck erschien: ,Deutsche Geschichte 1800-1866 (4. Auflage 1987); ,Nachdenken ber die deut-sche Geschichte (2. Auflage 1986).

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    CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

    Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch : Deutschland 1870-1918 / Thomas Nipperdey. Orig.-Ausg. Mnchen : Beck, 1988 (Becksche Reihe; 363) ISBN 3 406 33119 X NE:GT

    Originalausgabe ISBN 3 406 33119 X

    Umschlagentwurf von Uwe Gbel, Mnchen Umschlagbild: ,Der Gang nach Emmaus, Holzschnitt von Karl Schmidt-Rottluff ( 1988 Copyright by COSMOPRESS, Genf) C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), Mnchen 1988 Gesamtherstellung: C. H. Becksche Buchdruckerei, Nrdlingen Printed in Germany

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    Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    II. Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Sieg des Ultramontanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Kirche und Frmmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Kirchentreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Das katholische Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5. Reformkatholizismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 6. Konfession und Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 7. Kirche und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

    Die Katholiken und der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Die Katholiken und die Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Die Katholiken und die Soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

    8. Die Krise vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

    III. Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Kirche und Frmmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Kirchenverfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4. Kirche und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

    Die Protestanten und die Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Die Protestanten und die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die Protestanten und die Soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . 106

    5. Kirchentreue und Auswanderung aus der Kirche . . . . . . . . . 118

    IV. Die Unkirchlichen und die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Atheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Skularer Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Auerkirchliche Religiositt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

    V. Schlu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 VI. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

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    [Leerseite]

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    I. Einleitung Dieses Buch ist entstanden im Rahmen meiner Arbeiten an einer

    Deutschen Geschichte von 1866 bis 1918. Das setzt den Rahmen. Wenn man sich mit archaischen Kulturen, mit dem Mittelalter oder

    auch mit dem 16.Jahrhundert befat, ist es klar, da Religion ein Zent-ralstck der Wirklichkeit ist, und auch die postreligisen Historiker unserer Zeit werden das zur Geltung bringen mssen. Fr das spte 19. und das frhe 20. Jahrhundert scheinen die Dinge anders zu liegen. Da ist Religion doch, so meinen wir, zu einer Provinz des Lebens gewor-den neben dem, was nun im Zentrum steht: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und nachreligiser, nichtreligiser Kultur; und was es an Religion gibt, ist doch eher ein berhang von Tradition. Diese Provinz ist dann die Sache von Spezialisten, und das sind die wiederum kon-fessionell getrennten oder vielleicht heute kumenisch verbundenen Kirchenhistoriker.

    Meine Absicht ist nicht, einfach eine solche Spezialgeschichte oder mehrere von ihnen zu geben, so wichtig diese auch immer sind. Meine Absicht ist vielmehr, indem ich ber die Phnomene der Religion berichte und sie analysiere, eine Perspektive auf die allgemeine Geschichte zu bieten Religion als ein Stck Deutungskultur, die die ganze Wirklichkeit der Lebenswelt konstituiert, das Verhalten der Men-schen und ihren Lebenshorizont, ihre Lebensinterpretationen prgt, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, ja auch die Politik. Um das zu erkennen, mu man freilich, wie ich es hier versuche, Religion in einem weiteren Sinne verstehen: als Orientierungsmacht der etablier-ten Kirchen gewi, dann aber auch als Prgung gesellschaftlicher und politischer Strukturen, und endlich als Gegenstand der wilden Nega-tion oder des sanften Abbaus oder der

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    skularen Zivilreligion. Das sind zumindest die Dimensionen, von denen her ich das Interesse des Lesers an unserem Gegenstand ermun-tern mchte.

    Freilich, ich will und kann nicht alle Probleme der Deutschen Geschichte dieser Zeit unter religisen Bezgen errtern: Wirtschaft bleibt Wirtschaft und Politik bleibt Politik. Darum wird der Leser auch vergeblich eine analytische Erzhlung der Geschehnisse des Kulturkampfes oder der Politik der Zentrumspartei suchen, oder auch etwas ber den Beitrag der konfessionellen und der anti-religisen Kul-turen zur Entstehung des Antisemitismus oder ber religise Zge der Mentalitt von Bauern. Davon werde ich ein andermal handeln.

    Ich beginne mit der institutionalisierten Religion, den beiden Kon-fessionen, den Kirchen. Sie sind wohletabliert, gehren zum Bestand der Tradition und zur Autoritt, stehen in der sozialen Pyramide wie der Hierarchie der Herrschaft oben, sind normsetzende Mchte des individuellen wie des sozialen Lebens. Auf dem Dorf und in der klei-nen Stadt zumindest prgen die Kirchen die Volksschulen, die Geist-lichen sind auch Instanzen der sozialen Kontrolle. Zu den Kirchen zu gehren, ist selbstverstndlich, sich von ihnen zu distanzieren, bedarf der Rechtfertigung, stellt den Menschen auerhalb der Norma-litt.

    Wie haben die Kirchen sich entwickelt, vor den Herausforderungen von Wandel und Modernitt ihre Tradition bewahrt oder verndert?

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    II. Katholizismus

    1. Sieg des Ultramontanismus Die Geschichte des Katholizismus in unserem Zeitraum beginnt mit

    einem Paukenschlag und einer groen Krise. Das Erste Vatikanische Konzil hat 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitte, wenn sie in der Tradition ppstlicher Lehrentscheidun-gen steht und ex cathedra verkndet wird, zum Dogma erhoben. Diese Entscheidung war bis zuletzt auerordentlich und bitter umstritten, und die Deutschen waren tief in diesen Streit verwickelt. Diese Entscheidung war ein Sieg des intransigenten Ultramontanismus, der Richtung also, die die Kirche zentralistisch und absolutistisch auf Rom und den Papst, auf Scholastik und Gegenreformation ausrichten, klerikalisieren und aggressiv von aller Moderne abgrenzen wollte. Diese Bewegung hatte sich, wie berall in Europa, im zweiten Jahrhundertdrittel auch in Deutschland durchgesetzt, alle Tendenzen zur ffnung gegenber der Moderne oder gar zur Vermittlung zurckgedrngt. Fr die extrem ultramontane Partei den Vatikan, die Jesuiten, den sdeuropischen Episkopat und Klerus vor allem war die Erklrung der Unfehlbarkeit nach der Dogmatisierung der unbefleckten Empfngnis Mariens von 1854 und der geballten Verdammung aller modernen Grundstze und Institutionen im ,Syllabus errorum von 1864 Schlustein und Kr-nung der Erneuerung: Gegenmodell gegen die moderne Welt, gegen Rationalismus und Materialismus, Befestigung der Autoritt gegen die Demokratie, der Unabhngigkeit der Kirche gegen die Machtansprche der Regierungen und der Vlker, ihrer Geschlossenheit gegen alle Auf-lsung, ihres Weltanschauungsmonopols gegenber allen katholischen Laien. Und die Bedrohung des Kirchenstaates und der politischen

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    Unabhngigkeit des Papstes durch die italienische Nationalbewe-gung machte in den Augen der Ultramontanen die Sache noch dring-licher. Kurz, es ging nicht einfach um ein einzelnes Dogma, sondern um ein Symbol und Herzstck des ganzen Systems. Seitdem der Papst im Juli 1868 das Konzil zum 18. Dezember 1869 nach Rom einberufen hatte, lief die ultramontane Kampagne auf Hochtouren. Der Papst wurde gar als Vizegott der Menschheit bezeichnet.

    In Deutschland waren solche entschieden Ultramontane zunchst eine Minderheit. Unter den Theologieprofessoren, im Klerus und selbst im Episkopat vom katholischen Brgertum nicht zu reden gab es noch einen vor- oder nicht-ultramontanen Katholizismus, der modernen Bildung und dem modernen Staat weniger feindlich. Und, wichtiger: auch innerhalb der streng katholischen Richtung hatten sich nach der Jahrhundertmitte die Moderaten von den Extremen geschieden. Die katholischen Fakultten von Mnchen und Tbin-gen, Bonn, Freiburg und Breslau waren nicht ultramontan. Den Syllabus hatten Kirche wie katholische Laien sehr restriktiv und abmildernd gemeint sei jeweils nur der ,falsche Liberalismus ausgelegt. Der Fhrer dieser Opposition wurde der Mnchener Kir-chenhistoriker Ignaz Dllinger, jahrzehntelang der groe Reprsen-tant des entschiedenen Katholizismus. Auf einer von ihm schon 1863 einberufenen Versammlung katholischer Gelehrter in Mn-chen, vornehmlich Theologen, hatte er gegen die Ultramontanen fr die Verbindung der Theologie mit der freien, der historisch-kriti-schen Wissenschaft, fr den Dialog mit der Zeit, fr Offenheit und Selbstreform, fr die Verteidigung des Glaubens mit zeitgemen Waffen und selbstndiger Forschung, fr einen gewissen Pluralis-mus auch, pldiert und fr solche Theologie im Grunde eine dem Lehramt und der Kirche gleichberechtigte Stellung gefordert. Seine Gegner konnten spotten, er meine, da eigentlich deutsche Professo-ren zur geistlichen Leitung der Kirche berufen seien. Er wandte sich gegen das Zerrbild, das ,Jesuitismus und ,Ro-manismus aus der katholischen Kirche gemacht htten. Und er nannte die Theologie, fr die er eintrat, deutsch, und die,

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    die er bekmpfte, rmisch. Fr diese Position trat die Mehrheit jener Versammlung ein.

    Als 1868 die Agitation fr das neue Dogma die katholische Welt erfllte, rief das nicht nur die Besorgnis mancher Regierungen wach, nicht nur die flammende Emprung der Skularisten und der Pro-testanten, sondern auch den leidenschaftlichen Widerstand der Mehr-heit der wortfhigen Katholiken in Deutschland; und der sehr erfolg-reiche Versuch der Infallibili-sten, ber Klerus und Presse einen plebiszitren Massendruck zu inszenieren, das Ansinnen der rmi-schen Jesuitenzeitung, das neue Dogma per Akklamation und also ohne Diskussion anzunehmen, die sich anbahnende extensive Aus-legung der Unfehlbarkeit, die Vorbereitung des Konzils fast aus-schlielich durch Kurial-Ultramontane, die Tendenz der Intransigen-ten, ihre Gegner auf jede Weise zu entrechten und zu demtigen, die zunehmende ,Vergtzung des Papsttums, das alles verschrfte den Widerstand. Auch die Mehrheit der deutschen Bischfe, 19 von 20, unter ihnen ihr geistiger Wortfhrer Wilhelm Emmanuel von Ketteler, waren gegen die neue Dogmatisierung, teils aus Grundsatz, teils aus Opportunitt, aus Sorge vor Konflikt, Abfall und Schisma. Ketteler und Karl Joseph Hefele schrieben auch entsprechende Broschren; die neue Lehre mute ja auch die Stellung der Bischfe und alle nationale oder regionale Autonomie beeintrchtigen. Auch mage-bende katholische Politiker wie Ludwig Windthorst und August Rei-chensperger oder der prononciert katholische Historiker Johannes Janssen hielten die Dogmatisierung jedenfalls fr inopportun, und viele Katholiken der Bildungsschicht, etwa im Rheinland, appellier-ten an Bischfe und Konzil gegen solche Fixierung fr eine ,liberale Reform. Freilich, Professoren und zumal Theologen gaben dem Widerstand Argument und Wort, Dllinger wurde zum geistig-publi-zistischen Fhrer der Opposition. Er wies nach, und das war fr das historisch-wissenschaftlich gestimmte Jahrhundert wichtig genug, da die Lehre von der Unfehlbarkeit niemals, wie behauptet, einhelli-ger Glaube der katholischen Kirche gewesen sei und da ihre Ver-fechter mit eklatanten historischen Flschungen arbeiteten; er sah ein

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    aufgezwungenes theokratisches Glaubenssystem, das die wahre christliche Religion verflsche und schwche, und er wandte sich auch national gegen die malosen Zumutungen des italienischen Priestertums. 1869 schrieb er, unter dem Pseudonym Janus, ,Der Papst und das Konzil, zuerst in der fhrenden (Augsburger) ,Allgemeinen Zeitung publiziert; whrend des Konzils dann berichtete und kommentierte er, durch seinen Schler Lord Acton, den eigentlichen Organisator der Opposition im Konzil, durch den bayerischen Gesandten und durch dissentierende Kuriale gut infor-miert, als Quirinus in seinen ,Rmischen Briefen, wiederum in der ,Allgemeinen Zeitung.

    Aber, wie man wei, die Infallibilisten setzten sich auch, wenn auch keineswegs nur, mit mancherlei Manipulationen und massivem Druck durch. Bei der endgltigen Abstimmung stimmten noch 11 deutsche Bischfe gegen das neue Dogma. Danach unterwarfen sie sich dem Beschlu, zum Teil wiederum unter massivem Druck, zu-letzt im April 1871 der Rottenburger Bischof und groe Kirchen-historiker Hefele. Die Rcksicht auf die kirchliche Einheit und die Autoritt, auf das katholische Volk, auf die Erhaltung des Glaubens, der Kampf gegen die Anarchie all das spielte eine Rolle. Die innere Distanz gaben manche von ihnen, wie viele Theologen, etwa in der resignierenden Tbinger Fakultt, und Kleriker, nicht auf; der Bischof von Ermland, Philipp Krementz, spter Erzbischof von Kln, meinte, kaum ein Dutzend seiner Pfarrer glaubten an das neue Dogma.

    Aber der entschiedene Ultramontanismus hatte gesiegt, und innere Vorbehalte der Unterlegenen konnten dagegen nicht aufkom-men. Nicht das Volk Gottes, sondern Amtskirche und Hierarchie waren entscheidend. Der nicht-ultramontane Katholizismus lag in Trmmern. Zwar haben die Ppste entgegen den zeitgenssischen Befrchtungen von der neuen Mglichkeit direkt wenig Gebrauch gemacht. Aber indirekt war die Entscheidung von 1870 Grundlage ihrer neuen hochgesteigerten Autoritt, auch die Enzykliken und andere Willensuerungen standen unter der Aura wenigstens der Irrtumslosigkeit. Weil der Konflikt auch ein Symbolkonflikt gewe-sen war, hatte

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    sein Ausgang generell eine ultramontan-integrale Orientierung der katholischen Kirche zur Folge.

    In Deutschland hat die Konzilsentscheidung unter Theologen und in der Bildungsschicht eine Aufsehen erregende Opposition hervor-gerufen, die dann in die Sezession der Altkatholiken mndete. Dllin-ger und sein Kollege Johann Friedrich verweigerten die Unterwer-fung. Im September 1870 kam es zur Protesterklrung von Knigs-winter, die fast 1400 Unterschriften fand. In Mnchen erklrten sich 1800 Unfehlbarkeitsgegner, darunter fast alle Magistratsmitglieder, gegen das neue Dogma und wandten sich gar an den Knig, und hn-lich war es in anderen Stdten oder in den katholischen Studenten-verbindungen; auch nationale Tne gegen welschen bermut und welsche Unwissenheit flossen mit ein. Die Amtskirche exkommuni-zierte die beteiligten Theologen und Professoren, die Bewegung orga-nisierte sich in eigenen Gemeinden und 1873 einer altkatho-lischen Kirche mit eigenem Bischof. Freilich, von den vielen man-che meinen Hunderttausenden Laien, die anfangs mitprotestierten, haben sich nur wenige dann wirklich von der Gesamtkirche losgesagt. Die Altkatholiken blieben eine Gelehrtenhresie, eine kleine Protest-kirche brgerlicher Bildung, die Opposition verebbte. Es war nicht primr der Kulturkampf, der die auch von den Bischfen befrchtete grere Sezession verhinderte auch in sterreich, in der Schweiz, in Frankreich verliefen die Dinge hnlich. Der Traditionalismus des Kirchenvolkes und die ultramontane Vorprgung waren strker, das neue Dogma war nicht von so elementarer und vitaler Bewegkraft, um eine Spaltung zu begrnden. Erst vor diesem Hintergrund war es dann auch das feindliche Klima des beginnenden Kulturkampfes, das Priester und gebildete Glubige ins Schweigen und in die Verbindung zu Rom zurckzwang. Dllinger selbst blieb der Kirche seiner Sch-ler fern, exkommuniziert, kritisch gegen Rom, aber zur Rckkehr bereit, fr eine neue kumene, als Akademieprsident und groer Redner in Mnchen auch weiter einflureich.

    Die katholische Kirche hatte eine schwere Krise berstanden und war aus ihr nun einheitlicher, rmischer, ultramontaner hervorgegan-gen. Wie sah sie aus?

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    2. Kirche und Frmmigkeit Die katholische Theologie wurde nun endgltig von der Neu-

    scholastik, genauer: vom Neuthomismus beherrscht. Die letzten Theologen, die im Schatten des deutschen Idealismus, des roman-tisch-historischen groen Tbinger Theologen Johann Adam Mhler oder im Sinne eines christlichen Personalismus arbeiteten wie der Tbinger Johannes Khn , waren kaltgestellt. Der scharfsinnige deutsche Mitbegrnder der Neuscholastik Joseph Kleutgen, philoso-phisch eigentlich ein Wolffianer, hatte gemeint, da die scholastische Philosophie ein zeitloses System aprioristischer Philosophie sei, die auch die modernen Fragen enthalte und beantworte; auch die Dog-matik dieser Jahrzehnte von Matthias Scheeben, 1875-1887 erschie-nen, hielt daran fest, freilich schon etwas eng und sehr rmisch orien-tiert; aber die Theologie wurde trotz ihres Anspruchs, die Zeit im berzeitlichen aufzuheben doch zu einem einigermaen konventio-nellen Begriffssystem jenseits der Denkprobleme der Zeit; Polemik gegen Vernunft und jegliche Vermittlungsversuche, gegen die Philo-sophie der Gegenwart und der Moderne und gegen die Orientierung an der Geschichte wucherte; ja die Apologetik mehr massiv denn subtil und oft krude und beschrnkt, gegen Materialismus, Empiris-mus, Agnostizismus, gegen historische Kritik und Bibelkritik, gegen die Evolutionstheorie z.B. wurde zum Hauptzweck der Theologie; danach folgte die Sozialethik. Der Kernbestand des Glaubens brauchte nicht immer neu reflektiert zu werden.

    Die Priesterbildung war unter diesen Umstnden nicht wissen-schaftlich orientiert, es kam nicht auf gelehrte, sondern auf fromme und gehorsame Priester an; die Polemik gegen die Universittsausbil-dung spielte bei den Intransigenten noch einmal eine groe Rolle, nur mit Mhe haben die Moderaten deren Versuch einer Priesteraus-bildung unter der Glasglocke abgewehrt, aber die Atmosphre der bischflichen Konvikte (oder, fr die Elite, die der Institutionen in Rom), in denen die Studenten lebten, war prgender als die Wissen-schaft. Der katholi-

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    sche Klerus, gemeinhin buerlich-kleinbrgerlicher Herkunft, war, anders als die protestantische Pfarrerschaft, nicht akademisch-intel-lektuell, nicht bildungsbrgerlich, insofern freilich dem einfachen Volk auch nher.

    Die Kirche war zunehmend zentralistisch und hierarchisch orga-nisiert. Innerkirchlich wurden die kirchlich liberalen und politisch staatsfreundlich-konservativen Geistlichen schon vor 1870 kaltge-stellt, Vaticanum und Kulturkampf haben das endgltig verfestigt. Immer mehr Entscheidungen wurden in Rom getroffen, die Berichts- und Besuchspflichten der Bischfe straff gehandhabt, Ausbildung in Rom und Romtreue waren Hauptkriterien der mterbesetzung. Die Bischofswahlen der formell selbstndigen Domkapitel waren kirchlich doch letzten Endes von rmischem Einflu bestimmt, der Nuntius (in Mnchen) erhielt immer mehr formelle und informelle Befugnisse zum Eingreifen.

    Im wechselseitigen Zusammenhang mit der Zentralisierung und Hierarchisierung stand auch die noch zunehmende Verrechtlichung der katholischen Kirche, in der kanonische Stze und juristische Regelungen zunehmend ber Leben und Geist gesetzt wurden. Inner-halb der Dizesen war die Stellung der Bischfe stark herausgeho-ben, ja autoritr; eine regelmige Konferenz der deutschen Bischfe in Fulda war fr die gemeinsamen Belange zustndig.

    Eine gewisse Rolle spielte natrlich noch der staatliche Einflu bei der Besetzung kirchlicher Positionen. Aber der stie an seine Grenzen. In den preuischen Domkapiteln, die immerhin die Bischfe whlten, konnte der Knig die in ungeraden Monaten ent-stehenden Vakanzen besetzen und ebenso das Amt des Domprobstes wenn der Bischof den Vorgeschlagenen nicht das Zeugnis der Eig-nung verweigerte. Bei den Bischofswahlen hatte der Staat in Preuen ein Vetorecht, in Bayern gar ein Nominationsrecht. De facto hie das, Kirche und Staat konnten sich gegenseitig blockieren; also gab es Vorverhandlungen, zwischen Kapitel, Kurie und Staat, es gab Kandi-datenlisten, von denen die jeweils andere Seite Namen strich. Die Kirche, die den Kulturkampf als Versuch einer staatlich verordneten ,Pro-

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    testantisierung des Katholizismus interpretierte, war von daher natr-lich entschieden gegen alle staatliche Einflunahme. Und de facto saen in diesem Ringen Kirche und Papst am lngeren Hebelarm. Als Preuen den Kulturkampf abbaute, versuchte der Staat, wissenschaftliche, ,gebildete, ,wrdige, kirchlich angesehene und politisch loyale oder jedenfalls friedliche Priester in Bischofsmter zu bringen. Damit ist er im allgemeinen gescheitert, in der Kurie wie in den Domkapiteln. Nor-malerweise kam es allerdings zu einem Arrangement zwischen Berlin und Rom. Nur in einem Fall errang der Staat einen Erfolg, das war die Wahl des Hildesheimer Generalvikars Georg Kopp zum Bischof von Fulda und spter zum Erzbischof von Breslau. Er wurde der Protago-nist des zur Verstndigung mit dem Staat bereiten Flgels des Episko-pats. In Trier dagegen kam es zur Wahl des auch vom Staat untersttz-ten Bischofs Felix Korum, der dann zum Wortfhrer des ultramontanen oppositionellen Katholizismus und Streitgenossen des Zentrumsfhrers Ludwig Windthorst wurde, hnlich wie die Bischfe von Wrzburg, Eichsttt oder der von Mainz. Anderswo, z.B. in Paderborn und Osna-brck, wurden romtreue Ultramontane gewhlt, aber solche, die nicht radikal regierungsfeindlich waren, sondern ruhiger und kooperations-bereiter. Natrlich war die Haltung eines Kandidaten nie mit Sicherheit zu prognostizieren, daraus erklren sich so manche staatlichen Zustim-mungen und Enttuschungen. Wichtig war, da es auch in Rom einen Gegensatz zwischen Konfrontations- und Kooperationsanhngern gab und da sich etwa 1885 unter Leo XIII. der Kooperationskurs durch-setzte; seitdem bestimmte in Deutschland Kopp strker den Verhand-lungskurs, in den Grenzen, die der Ultramontanismus setzte. Das bedeu-tete im ganzen: kirchlich korrekte, aber nicht wild-militante Bischfe, so etwa in Kln oder Posen. Der Staat verzichtete auf direkte Ein-mischung in Kirchendinge, die Kirche ordnete sich loyal in den Natio-nalstaat ein, sie kooperierte im Wege der Verwaltungsvereinbarungen und des modus vivendi, unter Aussparung von Grundsatzfragen mit der Regierung. Eine strittige Frage z.B. wie die nach Seminar- und Univer-sittsbildung der Priester wurde so gelst, da beide Typen

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    nebeneinander bestehen konnten. Man kann auch so zusammenfassen: Die Hierarchie war streng kirchlich nach innen, nach auen aber in den Nationalstaat eingefgt. Auch der Versuch des preuischen Staates, die Domkapitel zu einer Art geistlichen Regierung der Dizese zu machen, war gescheitert; nur ber Militr-, Gymnasial- und Schulverwaltungs-stellen und die wenigen vom Staat besetzbaren Kapitelstellen konnte der Staat den Resten des nicht-ultramontanen, staatsfreundlichen Katholizismus gewisse Rckzugspositionen sichern.

    Dagegen gab es mit der Zeit doch auch in dieser hierarchischen Organisation der Kirche eine wesentliche Spannung die Spannung zwischen dem politisch und sozial konservativeren Episkopat und den populistischen oder sozial engagierten Kaplnen, die gegen das staat-lich-grobrgerliche Establishment waren, aus Opposition bei Stich-wahlen zur Not auch die Sozialdemokraten untersttzten z.B. bei der Einfhrung des allgemeinen Wahlrechts in Bayern oder zur Verhinde-rung einer brgerlich-protestantischen Mehrheit. Diese oft so genann-ten roten Kaplne waren der ,Basis nahe, den hheren diplomati-schen und allgemeinen Rcksichten fern. Die katholische Mobilisie-rung von Massen, auch fr Wahlen, hatte ihren Preis, man konnte die oppositionellen Emotionen nicht nach Belieben abkappen. Die Kirchen-fhrer suchten dergleichen nach dem Kulturkampf zu zhmen oder abzubiegen, aber ganz gelang das nie. Das war kein Bruch in der hierar-chischen Kirche, aber politisch blieb zwischen Kaplanokratie und Episkopat doch eine latente Spannung. Vor 1914 hat Pius X. bei der Besetzung der Bischofssthle darum einen betont konservativen Kurs verfolgt, kirchlich wie politisch. Freilich, was die Kirchlichkeit anbe-traf, so ergaben sich aus der politisch radikaleren Einstellung der Kap-lne keine Probleme.

    Zur etablierten Kirche gehrten die Orden, auch sie streng rmisch ausgerichtet und mit einem leichten Vorrang der spezifisch rmischen jesuitennahen Orden. Die fortdauernde, ja wachsende Vitalitt der Kirche erweist sich gerade darin, da die Orden sich noch ausdehnen, die weiblichen Orden wachsen geradezu sprunghaft. ber die pdagogi-schen, pflegerischen,

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    caritativ-sozialen Aktivitten wirken sie, fr jedermann sichtbar, ins Breite; in parittischen und Diasporagemeinden werden katholische Krankenhuser deshalb besonders gern gegrndet, um Orden zur Krankenpflege zu gewinnen; die groen Anstalten fr Behinderte (z.B. in Dillingen, seit 1854, oder in Ursberg/Wrttemberg, 1884) werden von Orden getragen.

    Wie sah die Frmmigkeit des Volkes aus, die die so organisierte Kirche prgte? Zuerst: Kult und Ritus rangieren vor der Rede; Lebensorientierung und Lebenshalt, die die Kirche gewhrt, sind vor allem symbolisch, in den Formen und Beschwrungen des Ritus prsent. Das berlieferte dauert, ja intensiviert sich: die tglichen Messen, die Andachten, das Rosenkranz-Beten, die Prozessionen, die Feste. Die neuen Verkehrsmglichkeiten machen den Bischof durch Reisen zu Firmung und Fest prsent wie nie zuvor; auch die Wall-fahrten erreichen Rekorde das bayerische Alttting z.B. sieht vor 1914 etwa 300 000 Pilger pro Jahr; Prozessionen nehmen zu und die religisen Brauchtumsfeste wie der Leonhardiritt im bayerischen Oberland; dem entspricht die Zunahme der Auflagen der Andachts-bcher. Natrlich, das Leben und Sagen der Kirche kreist um Snde, Tod, Gericht und Erlsung, alles Handeln wird sehr unmittelbar auf Gott und den Dienst an Gott bezogen, alle menschlichen und gesellschaftlichen Probleme werden auf religis-moralische Defizite zurckgefhrt. Integraler Teil der kirchlichen Lebensweisung ist ein strenger und auch man darf es heute in permissiver Zeit doch sagen enger rigoroser Moralismus, der alles ber den Leisten der kirch-lich patentierten Moral mit einer gewissen Vorliebe fr die Sexual-moral schlgt. Die neuen und zeitcharakteristischen Frmmigkeits-formen sind stark rmisch-romanisch geprgt und setzen die Tenden-zen der Jahrhundertmitte fort: Wir finden eine weitere Intensivie-rung des Marienkultes, der viele der lteren Heiligenkulte nur Antonius und Joseph eigentlich bleiben volkstmlich zurck-drngt, und in diesem Kult auch ein gut Teil Sentimentalisierung, da mag eine kompensatorische Sehnsucht nach mtterlicher Geborgen-heit eine Rolle spielen. Daneben entfaltet sich dann der Herz-Jesu-Kult, mit dem demonstrativ herr-

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    schaftlichen Akzent auf Christus als Knig der Welt beim ober-deutschen Bauern stehen hufig genug das Herz Jesu und das Mariens neben dem Kruzifix. Dann gehrt dazu die eucharistische Frmmigkeit: die Anbetung des Sakraments wiederum im Sinne des Knigtums Christi , die aus Frankreich stammenden Massen-demonstrationen der eucharistischen Kongresse, nach 1900 auch in Deutschland, auf denen auch fr die Snden der Regierungen ffentlich Bue getan werden soll; dazu gehrt auch gegen die alten jansenistischen Bedenken wegen des fehlenden Buernstes die Propagierung des hufigen, ja tglichen Sakramentsempfangs. Schlie-lich gehren Kirche und Papst zu den Zentralstcken von Kult und Predigt. Gerade nach dem Untergang des Kirchenstaates wird der Papstkult mchtig: hufige Jubilumsfeiern, ein freiwilliger Peters-pfennig, Pilgerfahrten nach Rom, die Verbreitung von Papstbildern (besonders das Leos XIII.). Der Papst ist stndig prsent und wird ,Mrtyrer und ,Gefangener ein integratives Symbol. Die Kirche selbst wird zum Gegenstand der Frmmigkeit; und da der Laie eigentlich als selbstndige Figur nicht vorkommt, ist Kirche nicht das Gottesvolk, sondern die Institution und ihre Hierarchie. Und es ist die ecclesia militans, die ecclesia triumphans, von der hier die Rede ist. Die Kirche predigt sich selbst; Gehorsam gegenber der Kirche z.B. wider das eigene Meinen und Wollen wird zu einer immer wieder eingeschrften Tugend. Im Kult wird die Rolle des Priesters betont, etwa beim Meopfer gegen den Kommunismus einer aufklrerischen Gemeindetheologie. Freilich, das extreme Ver-bot, Metexte zu bersetzen, wird schon 1879 stillschweigend nicht erneuert und auch nicht befolgt: Anselm Schotts ,Mebuch der Heili-gen Kirche von 1884 lag 1906 schon in 100 000 Exemplaren vor (der Schott). Die Anfnge der nach 1918 so berhmten moder-nen liturgischen Bewegung freilich, im neugegrndeten Beuron und in Maria Laach, bleiben zuerst auf eine fast esoterische Reinigung und Wiederherstellung der alten Liturgie beschrnkt. hnlich ist es mit der Kirchenmusik: Der Ccilienverein (1868) zur Pflege und Erneuerung der katholischen Kirchenmusik wendet sich archaisierend gegen den Zeitgeschmack,

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    gegen das 19. Jahrhundert, die unliturgische Musik der Romantik wie der Klassik, Palestrina und der Gregorianik zu dem grten Frommen unter den Musikern der eigenen Zeit, Anton Bruckner, blieb man ganz fremd.

    Zur Verkndigung der Kirche gehrt schlielich die scharfe Ab-grenzung gegen die Welt, die moderne, die feindliche Welt. Predigt wie Literatur verraten gemeinhin eine furchtsame Unkenntnis der eigenen Gegenwart, ja den Mangel an Kategorien, sie zu erfassen. Modernitt, das war Gefahr des Liberalismus, des Rationalismus, des Sozialismus etc., war Gefahr vor allem der Entkirchlichung und Entsittlichung. Die Kirche grenzt sich dagegen rigoros ab, zieht Schranken, isoliert sich.

    Im ganzen spielen objektive, sichtbare uere Formen der Frm-migkeitsbung eine groe Rolle die Ultramontanen hatten einen massi-ven Verdacht gegen zuviel Innerlichkeit: Pilger- und Wallfahrten, ritu-elle Andacht, hufiges Rosenkranzgebet, Feldumgang, die berlieferten und neubelebten Formen sollten bleiben und dauern. Die ,magischen Vorstellungen der Bauern, ja des Landvolks da die Beachtung der kirchlichen Riten direkten und materiellen Nutzen bringen , ja die Relikte des Aberglaubens in der ,Volksreligion, wurden gerade in der neuen ultramontanen Kirchlichkeit und ihrer Abweisung aller ,nur symbolischen Interpretation erhalten, ja revitalisiert das waren die ,heidnischen Reste unterhalb des Kirchenglaubens.

    Dazu trat zwar ein starker Appell an das Gefhl und damit die Sub-jektivitt, aber die individuelle Frmmigkeit war doch ganz und gar in die Gruppenfrmmigkeit eingebunden. Solche Objektivitt regulierter Formen hatte durchaus eine sozial integrative Wirkung, tglich prsent waren sie Sttzen des Selbstseins in einer feindlichen Welt. Von heute her lt sich viel Konvention, viel Aber- und Mirakelglaube, viel ,uerlichkeit. entdecken. Aber niemand kann ermessen, welche innerliche, personale Bedeutung solche uns fremden Kultweisen fr den Einzelnen hatten. Das gilt auch fr die heute noch sichtbaren Reste jener Frmmigkeit, den Kitsch in Bild und Devotionalien: Der von den Bildungsschichten bernommene Anspruch auf Teilhabe an der Kunst wurde im Zeitalter der Reproduk-

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    tion und der zunehmenden Esoterik wahrer Kunst mit den Banalitten einer nur vorgespielten Erhebung bers Alltgliche abgespeist; aber der Schwund echten Kunstsinnes sagt nichts ber die Echtheit des an ihn sich bindenden religisen Gefhls. Wir sollten demgegenber bescheiden sein.

    Die Kirche ist aktiv. Die Volksmissionen kommen um 1900 auf ihren Hhepunkt. Die Gemeinden werden im Zug der Bevlkerungsver-schiebung ausgebaut, neue Kirchen werden gebaut, nur in typischen Arbeitervororten der Grostdte hinkt das betrchtlich nach. Die Kir-chenglieder sind von einem Netz von Bruderschaften, Kongregationen, kirchlichen Vereinen (Kindheit-Jesu-Vereinen, Vereinen der Heiligen Familie, Mnner-, Jnglings- und Jungfrauenvereinen, Missions-, Kir-chenbau-, Ccilien-, Vinzenz(Caritas)vereinen und endlos vielen mehr) umfangen und organisiert; darin lebt eine starke Binnenaktivitt, darin bleiben auch die Pfarreien noch durchaus fr die ihnen Zugehri-gen Lebenszentren.

    Natrlich, auch in Deutschland ist die Kirche ber 50 Jahre hin nicht einfach die gleiche geblieben, und ihre Geschichte ist auch nicht einfach der Triumph des Ultramontanismus. In einer zentralistischen Organisation haben auch die drei Pontifikate dieses Zeitraums prgend gewirkt. Das Pontifikat Pius IX. war im Zeichen des Kulturkampfes zumal der Hhepunkt des ultramontanen ppstlichen Absolutismus. Leo XIII., mehr auf Verstndigung mit Staat und Gesellschaft gestellt, zeigte zumal in seinen ersten Jahren Anstze zu mancher ffnung, wh-rend Pius X. wieder stark kirchenzugewandt, autoritr, konservativ, integralistisch regierte; gegen Modernismus und Pluralismus hat er den Klerikalismus der Kirche noch einmal verschrft. Das mochte die Reflek-tierer und auf Neuerungen Bedachten, mochte Kirchenfhrer und Politi-ker angehen und die Beziehungen der Kirche zu den groen sozialen, politischen, geistigen Mchten der Zeit Glauben und Frmmigkeit des Volkes aber waren davon ber 50 Jahre hin im Grunde wenig berhrt.

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    3. Kirchentreue Wie katholisch, wie kirchlich waren die deutschen Katholiken und

    welche Vernderungen traten da ein? Unser statistisches Material ist ganz fragmentarisch, die Kirche legte auf umfassende und genaue, gar verffentlichte Statistik keinen Wert. Auf dem Dorf und in den kleinen Stdten bleibt man mit den erwhnten Einsprengseln lteren magischen Volksglaubens kirchlich und fromm, die Kommunionshufigkeit wird in Bayern mit zwei- bis dreimal im Jahr angegeben, fr eine Minderheit mit vier- bis fnfmal im Jahr. Der Besuch der Sonntagsmesse ist noch die Regel, wenn auch ein Teil der Mnner nur (aus dem Wirtshaus) zur Wandlung kommt, andere Messen verlieren, so die Berichte, Besucher. Auch wo es, wie in Bayern, buerlichen Antiklerikalismus gibt, wie er sich im ,Bayerischen Bauernbund organisiert, bleibt man katholisch. In Randgemeinden der Grostadt lt die sieht- und mebare Frmmigkeit bei den nicht-buerlichen Schichten und den Dienstboten nach; hier gibt es Mnner, die nicht mehr zur Osterkommunion gehen. Anders ist es in den groen Stdten. Mittleres und kleines Brgertum (und die entsprechenden Wohnviertel) weisen eine intensive Kirchlichkeit auf, in den Arbeitervierteln und -Vorstdten nimmt sie ab. In Mnchen liegt die Kommunionshufigkeit schon 1887/88 bei durchschnittlich 2,3, die Teilnahme an der Osterkommunion bei 40%, es gibt also schon nicht geringe Gruppen von Nicht-Kommunikanten. Diese Tendenz verstrkt sich: 1912 heit es in einem, gewi subjektiven, Rckblick, vor 25 Jahren sei Kln das Rom Deutschlands gewesen, jetzt feierten nur noch 25% der Arbeiter die Osterkommunion. Die groe Stadt lst die bergenden Sitten der Geburtswelt auf und lockert die religissoziale Kontrolle, pluralisiert die Lebenswelt und setzt auch den Katholiken der stndigen Konfrontation mit skularen und antikatholischen Verhaltens-weisen und berzeugungen aus, anderen, nicht mehr kirchlich symboli-schen, scheinbar rationaleren Orientierungsangeboten. Die Machbarkeit der Welt, die Verbesserung des Lebens, das innerweltliche Wohlbeha-gen rcken,

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    wenn schon nicht nher, so doch in den Blick. Wie das gebildete Brger-tum mit der Kirche lebte, wissen wir nicht genau genug. Es gab keine nennenswerte Auswanderung aus der Kirche, im Gegenteil, der Kultur-kampf hat die Kirchenloyalitt auch der Halbliberalen wieder intensi-viert. Man wird mit einem resignierenden Zurckstellen der intellektuel-len Fragen und manchem schweigenden Vorbehalt rechnen drfen die emphatische Aufnahme der Reformschriften um 1900 spricht dafr , aber die verbindlichen Stze, Riten, Gebote nahm man hin; die dem normalen Volk verborgenen menschlichen Schwchen der Kirche, bei Bischofswahlen oder rmischen Entscheidungen, kannte man, aber sie strten nicht. Die Laienorganisationen waren vielfach der Ort katho-lisch legitimierter Aktivitt. Die Brger also waren kirchentreu und gut katholisch, aber nicht so klerikal wie die Kirche selbst.

    Die Zahl der Zentrumswhler ist ein relativ guter Anhaltspunkt fr die Kirchenbindung der Mnner, man mu freilich die elsssischen und die polnischen Katholiken und die Bauernbndler, mu auch die gerin-gere Wahlbeteiligung der Katholiken zudem mit in Rechnung stellen. Mitte der 70er Jahre stimmten etwa 83% der katholischen Whler (bei 6-7% geringerer Wahlbeteiligung) fr die Zentrumspartei, 1912 nur noch 54,6% (bei 2% geringerer Beteiligung); ich schtze darum den Anteil der kirchentreuen Mnner zuerst auf knapp 90% und zuletzt auf 60%. Der dramatische Abfall wie die hohe Konstanz sind erstaunlich. Die Kirche verliert Menschen, aber sie behauptet sich auf hohem Niveau. In der Kulturkampfzeit spielt gewi fr die Massen der ,kleinen Leute der Gegensatz zum beamteten liberalen Establishment eine Rolle und strkt auch die Kirchenzugehrigkeit. Seit 1890 brckelt der Katholizismus am Rand. Katholische Arbeiter gehen auch zur Sozi-aldemokratie ber (und in der tglichen Praxis, etwa der Sexualmoral gibt es mehr und andere Skularisierung). Da die Frauen durchaus kir-chentreuer sind, ist der Anteil der Kirchentreuen unter den Erwachse-nen aber wiederum hher. Da dabei Sitte und Konvention eine groe Rolle spielten, kann nur Existentialisten wundern.

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    4. Das katholische Milieu Der deutsche Katholizismus nun ist weit mehr als die organisierte

    katholische Kirche. Das, was fr die Zeit des Kaiserreichs nach der ultra-montanen Ausrichtung der Kirche wichtig ist, ist die Bildung des katholischen Milieus, einer katholischen Subkultur von unerhrter Dichte und Intensitt. Trger dieses Milieus waren, neben einer eigenen Presse, die katholischen Vereine: Der deutsche Katholizismus wurde zum Vereins- und Verbandskatholizismus. Wir haben die pastoralen Vereine fr einzelne Gruppen und fr bestimmte religis-kultische Zwecke erwhnt. Dazu aber kamen bergreifende Vereine fr kirchliche Zwecke, z.B. der lange schon bestehende Borromusverein fr katho-lische Volksbchereien, der Bonifatiusverein fr die katholische Dia-spora, die caritativen Vinzenzvereine, die Michaelsbruderschaften fr Papst und Kirchenstaat, die Missionsvereine, die Casinos fr allge-meine Geselligkeit und lokale (und politische) Aktivitt. Dann natrlich die Berufs- und Standesvereine: der Gesellen, der Bauern, der Kaufleute, der Handwerker, der Lehrer und Lehrerinnen, der Akademiker und mehrfach geteilt der Studenten, endlich der Arbeiter und Arbeiterin-nen; oder der Augustinusverein fr die katholische Presse, die Grres-Gesellschaft zur Frderung der Wissenschaften, der brgerlich-sozial-reformerische Verein ,Arbeiterwohl. Seit 1848 waren diese Vereine auf den jhrlichen Katholikentagen, den ,Generalversammlungen der katholischen Vereine (1856) oder ,der Katholiken Deutschlands (seit 1876) vertreten und miteinander verbunden, sie konstituierten, seit dem Kulturkampf eng mit der Zentrumspartei verflochten, auf diesen Tagungen die politisch-ffentliche Vertretung des katholischen Volks-teils im Umkreis der Kirche.

    1872/76 hatte es einen bergreifenden nationalen ,Verein deutscher Katholiken gegeben, aber er war in den Unbilden des Kulturkampfes untergegangen. 1890 kam es dann zur Grndung eines neuen Grover-eins: des ,Volksvereins fr das katholische Deutschland. Das Ende des Sozialistengesetzes und die

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    sich abzeichnende Umorientierung der deutschen Politik waren der kon-krete Anla. Betont klerikale Kreise hatten einen kirchlich geprgten apologetischen Verein zur Belehrung ber die zeitgenssischen Irr-tmer, zu ihrer Bekmpfung, zur Verteidigung der christlichen Ordnung der Gesellschaft grnden wollen, eine Anti-Organisation gegen ,Evangelischen Bund und Sozialdemokratie. Die politischen Fhrer des Katholizismus, Ludwig Windthorst vor allem, haben sich solchen Plnen vehement widersetzt und mit dem ,Volksverein fr das katho-lische Deutschland einen Volks-, einen Laienverein mit stark sozialer (und demokratischer) Orientierung gegrndet, pragmatisch, realistisch, aber nicht traditionalistisch, sondern auf Vernderung orientiert und mit der Tendenz zum Ausgleich von Klassengegenstzen; davon sprechen wir noch im Zusammenhang mit der katholisch-sozialen Bewegung. Dieser Verein wurde eine der erfolgreichsten deutschen Massenorgani-sationen auerhalb der Sozialdemokratie. 1891 hatte er 105 000, 1901 151 000, aber 1914 dann etwa 800 000 Mitglieder, darunter 14% aller mnnlichen katholischen Preuen ber 21, vor allem freilich in West-deutschland konzentriert. Der Verein hatte Vertrauensmnner, gab Zeitschriften, Korrespondenzen, Broschren und Flugbltter heraus, hatte eine Zentralstelle in Mnchen-Gladbach, 173 hauptamtliche Mitar-beiter (1913), ein ausgebreitetes System von Schulungskursen fr alle ffentlichen, sozialen und politischen Aktivitten. Im westdeutsch stdtischen Bereich mindestens ersetzte der Verein der Zentrumspartei eine Organisation.

    Freilich, ein Gesamt- und berverein ist der Volksverein nicht geworden, er war besonders gro, politisch und sozial besonders wich-tig, aber die anderen Vereine blieben neben ihm bestehen, und nach 1890 entstanden noch immer neue Vereine, wie sie eine sich differenzierende und komplizierende Gesellschaft erforderte. Neugrndungen, Auswei-tung, Mitgliederexpansion, neue Aufgaben: Volks- und Erwachsenen-bildung z.B. haben nach 1890 gerade das katholische Milieu noch ein-mal verdichtet. Zahlen knnen bei unterschiedlichen Organisationsfor-men, Zhlverfahren und angesichts von Doppelmit-

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    gliedschaften nur Anhaltspunkte geben. Um 1900 gibt es in Mn-chen ohne die pastoralen und ohne die studentischen etwa 70 Vereine, das war typisch. 1914 gibt es 1 270 Gesellenvereine mit etwa 86 000 Mitgliedern, die Arbeitervereine in 6 Dachverbnden haben 513 000, die Arbeiterinnenvereine 60 000, der katholische Frauenbund 60 000, schon 1908 hatten 1 200 Jungmnnerbnde 140 000 Mitglieder, im Jahrzehnt vor 1914 waren es die Jugend-organisationen, die auch angesichts der sozialdemokratischen ,Gefahr am schnellsten wuchsen.

    All diese Vereine sind spontan entstanden; zunchst waren sie ganz eindeutig in den Bereich der Kirche eingefgt, sie standen unter geistlicher Leitung oder mageblich geistlichem Einflu. Aber sie waren, anders als vergleichbare evangelische Vereine, nicht eng und puritanisch, und sie waren nicht dem obrigkeitlichen oder sozialen Establishment nah. Das erklrt gerade ihre Erfolge, zumal in der Arbeiterschaft und bei den kleinen Leuten. Die Kolpingschen Gesel-lenvereine z.B. hatten, sehr typisch fr Berufsvereine dieser Art, zu-erst eine religis-moralische Bestimmung: ber gemeinsame Kult-bung, Exerzitien und Belehrung, dann ber Geselligkeit, sollten sie Religion und Moral der Tradition sichern gegen alle Gefahren sku-larer Desorientierung, und sie wollten katholische Geborgenheit und Heimat in einer feindlichen Welt bieten, pflegen, entfalten. Darum auch wurde der Begriff des christlichen Standes bei den Bauernvereinen so gern verwandt. So kirchlich geprgt diese Vereine waren, zugleich waren sie Organe, in denen sich die Aktivitt von Laien entfalten konnte. Die Kirche war mit diesen Vereinen in allen Lebensbereichen prsent, ihre Glieder berall aktiv; ja man kann etwa im vergleichenden Blick auf den Protestantismus sagen: Weil die katholische Kirche politisch entmachtet war, wurde der Katholizismus in der modernen Form der Vereine zu einer Macht. Das sicherte und integrierte die soziale Basis des Katholizismus zustzlich. Und es grenzte ab. Das Leben in einer konfessions-plu-ralistischen Gesellschaft wurde konfessionell eingehegt, das war neu, darum sprechen wir von einer Subkultur.

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    Diese Vereine und ihre Entwicklung ndern und modernisieren auf Dauer das Gefge des Katholizismus. Zuerst: Sie schlieen sich in steigendem Mae zusammen und professionalisieren sich; sie werden Groorganisationen, das ndert ihre Struktur. 1897 z.B. bildet sich der Deutsche Caritasverband, die Liebe zum Nchsten wird in einer Groorganisation mit Fachleuten und Brokratie durchaus effizient organisiert, anders war dergleichen gar nicht mehr zu machen; paternalistische Caritas wird dabei planmige Sozialar-beit mit sozialreformerischen Akzenten. 1895/96 schlieen sich die Jnglingskongregationen zusammen von den Arbeitervereinen werden wir noch hren -, 1913 bildet sich der Verband der Vereine katholischer Akademiker; und solche nationalen oder regional-dizesanen Zusammenschlsse gibt es berall. Sodann: Die neuen Groorganisationen gleichen sich der Welt der freien Verbnde an. Die Verbandszentralen gewinnen an Gewicht; die Geistlichen, die dort als Generalsekretre, Prsides etc. die Fhrung oder fhrenden Einflu haben, werden von ihrer Funktion im Verband geprgt, sie identifizieren sich mit dem Eigengewicht der Verbnde und vertre-ten es und das wird dann wichtig gegebenenfalls auch gegenber ihren Bischfen. Weiter: Im allgemeinen gewinnen auch die Laien an Bedeutung, sie lsen sich, meist ganz friedlich und langsam, von der lteren klerikal-paternalistischen Bevormundung, sie werden selbstndiger, sie fangen an sich zu emanzipieren. Damit gewinnen schlielich die jeweiligen beruflichen, praktischen, sozialen Ziele Eigengewicht gegenber den rein kirchlich-geistlichen, oder viel-mehr neben ihnen.

    Die Vereine, die zuerst die geistlich-weltlichen Aktivitten kirch-lich anregten und einhegten, fhrten ber die traditionelle, autorita-tive, kirchliche Kultur hinaus in die sich modernisierende Welt, deren Elemente wurden in die katholische Welt hineingenommen. Sie waren das hat man lange verkannt ein Stck Teilemanzipation und Modernisierung des Katholizismus. Diese sozusagen ungeplante Modernitt hat natrlich auch zu Spannungen und Zielkonflikten zwischen Laien, Verbands-geistlichen und der Amtskirche und den Integralisten gefhrt,

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    gerade im Jahrzehnt vor 1914; aber auch das hat den Modernisie-rungsvorgang nicht aufgehalten.

    Verselbstndigung und Eintritt in die moderne Gesellschaft, das ist berall sehr unterschiedlich vor sich gegangen. Wir knnen das im einzelnen nicht verfolgen. Die christlichen Bauernverbnde werden am frhesten Interessenverbnde mit religisem Hintergrund, die Jugendorganisationen bleiben vor dem Eindringen der Jugend-bewegung nach 1918 am lngsten kirchlich geprgt; vom Sozialka-tholizismus und den Arbeiterorganisationen und ihren Konflikten erzhlen wir spter.

    Zwei Hinweise sind hier ntzlich. 1876 wird auf Initiative Georg von Hertlings die Grres-Gesellschaft zur Frderung der Wissen-schaften gegrndet angesichts der Benachteiligung katholischer Gelehrter, die keine Professuren erhalten. Das war betont eine katho-lische Laienorganisation, und der grodeutsch-ultramontane Histori-ker Ludwig Pastor hielt sie deshalb fr liberal und staatsfreund-lich. Sie hat, mit Auslandsinstituten (Rom) und groen Editionen Forschung organisiert, die Wissenschaftlichkeit katholischer Gelehrter unter Beweis gestellt; ein anderes ihrer Grounternehmen, das ,Staatslexikon, fr das katholische Politik- und Gesellschaftsver-stndnis reprsentativ und prgend, ist freilich als konsistentes, wissen-schaftlich diskutables Werk nach klerikalisierenden und sehr hete-rogenen Anfngen erst mit der 3. Auflage von 1908 geglckt.

    Wichtig und interessant ist endlich die Entstehung einer katho-lischen Frauenbewegung. Am Anfang stehen Frauenvereine Mt-ter, Jungfrauen, die caritativen Elisabethvereine ganz in der tradi-tionellen Normalitt, der paternalistischen Familienanschauung; dann Vereine, die sich der Dienstmdchen und Arbeiterinnen annehmen, vornehmlich religis, priesterlich gefhrt; dann die ersten Berufsver-eine kaufmnnischer Gehilfinnen und der Lehrerinnen (1880 schon); nach der Jahrhundertwende Frsorge- und Schutzvereine fr gefal-lene oder gefhrdete Mdchen, von Frauen, also Laien gegrndet und geleitet. Die Ziele gehen ber den pastoralen Rahmen hinaus; auch Arbeiterinnenvereine muten jenseits der christlichen Einprgung der Hausfrauen- und Mutterrolle gegenber kapitalisti-

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    schen und sozialistischen Mchten an Eigenstndigkeit gewinnen. Frauen in der Leitung bernehmen eigene Verantwortung, treten in ffentliche Aktivitten ein. Das ist die Situation, in der 1903 aus den katholischen Frauenvereinen heraus der Katholische Deutsche Frau-enbund gegrndet wird. Die Konvertitin Elisabeth Gnauck-Khne, Emmy Gordon, Agnes Neuhaus, Hedwig Dransfeld gehren zu den magebenden Grnderinnen. Diese Organisation, durchaus auf reli-giser Basis und durchaus in der caritativ-sozialen Tradition, steht nicht mehr unter der Kuratel der Kirche, sie ist und will sein der katholische Teil der brgerlichen Frauenbewegung. Der Eintritt der Frauen in das ffentliche Leben jenseits des ,Hauses das wird als Aufgabe der Gegenwart aufgenommen. Der Begriff der Gleichberechtigung ist stark von der Eigenwertigkeit der Frauen bestimmt; die Rolle der Mutter bleibt zentral, sie gilt es aufzuwerten, das prgt auch das Engagement fr die arbeitende, die berufsttige unverheiratete Frau. Aber man nimmt das Ideal einer ganzheitlichen Frauenbildung auf, in Ehe- und Familienberatung, in sozialer Fach-ausbildung und Praxis, in Volksbildung (1911), in der Ausarbeitung eigener Vorstellungen zur Frauenfrage. Anfangs war das alles eine Oberklassenangelegenheit, aber das dehnte sich relativ schnell aus. Kurz, aus der rein religisen Orientierung wchst soziale und sku-lare Aktivitt, entsteht ein Stck emanzipatorischer Modernitt. Das machte Schwierigkeiten 1908 stimmte der Katholikentag gegen die Aufnahme von Frauen in sein stndiges Komitee , aber von 1918/19 her gesehen liegen hier die Anfnge fr den Eintritt katholischer Whlerinnen in die Politik. Die Fhrerinnen des Frauenbundes sind die ersten weiblichen Zentrumsabgeordneten.

    Zum katholischen Milieu gehrt die katholische Presse. Vor al-lem im Zusammenhang mit dem Kulturkampf und der Bildung der Zentrumspartei entstand nach mancherlei Vorlufern eine ausge-breitete katholische Tagespresse. Die anfngliche kulturkritisch-elitre Gegnerschaft katholischer Intellektueller gegen die Presse wie die klerikalen Tendenzen, die Presse an die Bischfe zu binden, wie auch der gegenber den wortgewaltigen Liberalen auffallende Man-gel an katholischen Schreibern

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    und Lesern all das schwindet vor den praktischen Herausforderungen. Teils Verleger, teils Press-Vereine bernehmen die Initiative. 1865 gab es, so schtzt man, 60 000 Abonnenten, 1890 l Million; 1870 126, 1881 221, 1912 446 katholische Zeitungen (im Rheinland 1879: 22, 1900: 119, in Westfalen 11 und 62, in Schlesien 3 und 17, in Bayern 22 und 93). Nationalen Rang gewinnen schon zu Beginn der 70er Jahre die ,Klnische Volkszeitung und die 1871 in Berlin gegrndete ,Germania. Die katholische Presse ist nicht homogen, nicht Partei-presse, aber ber Korrespondenzbros und den Journalisten und Verle-ger zusammenschlieenden Augustinusverein doch eng miteinander verbunden. Die Zeitungen erreichen nicht die Auflagen der groen liberalen Zeitungen und nicht die der Generalanzeiger, aber insgesamt stellen sie eine erhebliche, das katholische Milieu festigende Macht dar. Dazu gab es ein dichtes Netz von Wochen- und Monatszeitschriften, Kirchen- und Vereinsblttern, fr Familien, Frauen, Jugendliche, Bau-ern, Handwerker, Arbeiter, fr die vielen unterschiedlichen Lebensbe-reiche und -zwecke. Die Zeitschriften mit groem Anspruch sind die alten ,Historisch-Politischen Bltter, die jesuitischen ,Stimmen aus Maria Laach, spter: ,Stimmen der Zeit, nach der Jahrhundertwende das ,Hochland, und im Bereich der Wissenschaft das ,Historische und das ,Philosophische Jahrbuch der Grres-Gesellschaft. Schlie-lich gehren hierher die betont integralistisch-kirchliche (und ein-fache) Kalender-, Traktat- und Lebenshilfeliteratur einerseits, die katho-lischen Verlagsunternehmen und Buchhandlungen andererseits, typisch etwa Herder in Freiburg mit dem eigenen katholischen Konversations-lexikon, dann dem Staatslexikon der Grres-Gesellschaft und dem Kirchenlexikon, oder Ksel, Aschendorff, Schningh, Pustet und andere mehr.

    Nehmen wir das Ganze noch einmal in den Blick. Der deutsche Katholizismus war, anders als in Frankreich und Italien, Minderheits-katholizismus in einer mehrheitlich protestantischen Nation, er war anders als im Angelschsischen eine starke und konzentrierte Min-derheit. Darum konnte er sich, zumal unter dem Trauma des Kultur-kampfes und seiner mgli-

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    chen Wiederaufnahme, in eigenen Verbnden organisieren, eine Subkultur ausbilden. Das war Defensive und Selbstbehauptung zugleich. Das ist in unseren Jahrzehnten gerade von Katholiken viel kritisiert worden. Es gab in diesem Vereinskatholizismus viel Organisationsfetischismus, viel Konkurrenz und viel bloe Betriebsamkeit jenseits des eigentlichen Kernbereichs des katholischen Glaubens , schon um 1900 wird eine ungesunde Vereinsmeierei kritisiert; 1933 brach das alles wie ein Kartenhaus zusammen. Mit den Vereinen hatte sich der Katholizismus auch huslich eingerichtet und die Formen wilhelminischer Gesellschaft internalisiert. Sodann: Der Vereinskatholizismus war ein Abgrenzungs-katholizismus, er hat das katholische Ghetto befestigt, hat ffnungen verhindert. Und im Blick auf die allgemeine deutsche Geschichte: Der Vereinskatholizismus hat die Fragmentierung und Segmentierung der deutschen Gesellschaft intensiviert und verhrtet, ihre Inhomogenitt gefrdert. Das hat das Schicksal der Demokratie in Deutschland schon vor 1914 erheblich belastet. Aber es wre arrogant und besserwisserisch, gerade wenn man sich die Katholikenfeindlichkeit der Kulturkampf-zeit und der Jahrzehnte danach klarmacht, ber diese Vereine den Stab zu brechen. Die Intensitt der katholischen Subkultur, ja auch das be-festigte Ghetto, haben gewi die Selbstbehauptung der katholischen Kirche als Volkskirche, ihre Krisenresistenz nach 1918 und auch nach 1933, gegen linke und rechte Totalitarismen, und langfristig ihre Erneuerungspotentiale mit ermglicht, ja getragen. Und mehr noch, der Modernisierungsschub im Vereinswesen hat den Eintritt des Katho-lizismus ins 20. Jahrhundert, dem doch die Kirche abgeneigt gegenber-stand, entschieden befrdert, und damit die Anstze zur positiven Einf-gung in die Republik, in eine demokratische, im Prinzip egalitre und zuletzt auch pluralistische Gesellschaft. Was die ultramontane Welt zementieren sollte, wurde auf Dauer Aufbruchs- und Neuerungskraft, es begrndete ein Modernisierungspotential. Oder zugespitzt: Nicht nur spirituell-kulturelle Reformtendenzen, sondern gerade der Katholizis-mus der Vereine (und ihrer Zentralen) drngten unbeabsichtigt das Klerikale und Ultramontane zurck.

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    5. Reformkatholizismus Wir mssen noch einmal auf die innerkirchliche Entwicklung

    zurckkommen. Das Milieu hatte seine Modernisierungskraft, das haben wir gesehen; rein kirchlich gesehen befestigte es die herrschende Tendenz. In Frage gestellt und auf die Dauer ein wenig verndert wurde diese herrschende Tendenz dagegen durch eine geistige Be-wegung, die wir als Reformkatholizismus charakterisieren. Mit der Entscheidung des Konzils von 1870 lag, wir sagten es, der anti-ultra-montane Katholizismus in Trmmern; er verschwand nicht gnzlich, aber er fhrte immer unter dem Verdacht des Altkatholizismus in hoffnungsloser Defensive eine Winkelexistenz im Schatten der Sieger. Und er rckte erstaunlich genug in die Nhe des Staates, denn der allein mochte Wissenschaft, Bildung und innerkirchliche Pluralitt, die Kernwerte der Nichtultramontanen gegenber einer ultramontanen Kirchenfhrung, mit Hilfe der wenigen staatlichen Restpositionen schtzen, so wenig er sonst von der Selbstndigkeit der Kirche hielt. Klassisch dafr steht der Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus, die graue Eminenz der liberalen Katholiken, 1872 zwar Professor, aber an der Philosophischen Fakultt der neuen Universitt Straburg, seit 1878 dann doch Theologieprofessor in Freiburg, aussichtsloser Kandidat fr Bischofssthle in der Endphase des Kulturkampfs, mit immer noch guten Verbindungen in Rom, kirchenpolitischer Berater des badischen Groherzogs und dann des Reichskanzlers Ludwig Frst zu Hohenlohe, kirchenpolitischer Kommentator der ,Allgemeinen Zeitung (Spectator, 1896/1900), in lebhaftem Kontakt mit englischen Reformkatholiken. Einer Indizierung seiner Kirchengeschichte (1885) ist er nur mhsam, durch Zurckziehen einer zweiten Auflage und durch nderungen, entgangen. Er wollte Offenheit der Kirche und der Theologie gegen-ber moderner Kultur, Bildung und Wissenschaft, zumal der Geschichte, wider die ultramontane und zelotische Abgrenzungssucht, den Ha auf die Neuzeit; er wollte gegen die Autoritts- und Rechtskirche und ihre irdisch-politi-

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    schen Ziele eine Kirche des Geistes und der Liebe, des Gewissens, den religisen und innerlichen Katholizismus gegen den veruerlich-ten politischen. Und weil die Ultramontanen sich auf die Demokratie, das Volk beriefen und in deren Namen die Freiheit ,beseitigen, wurde er politisch ein konservativ-liberaler Parteignger der etablierten Mchte; ein Gegner auch des Vereins- und Milieukatholizismus mit seinem ultramontan-integralistischen Kollektivismus.

    Vor der Jahrhundertwende nun kommt es im europischen intellek-tuellen Katholizismus zu einer Bewegung, die man, so haben es die Intransigenten am Vatikan konstruiert, gemeinhin als ,Modernismus bezeichnet. In Deutschland war das relativ moderat, es ging nicht wie in Frankreich um eine Revision fundamentaler katholischer Leh-ren. Aber die verdrngten Probleme der vor-ultramontanen Theologie kamen wieder zur Geltung, im Lichte des Zweiten Vaticanums war es ein Versuch zur ,ffnung der Kirche, ein Versuch, Katholizismus und mo-derne Kultur, moderne Bildung, moderne Wissenschaft zu vershnen, ohne doch irgend den Kernbestand des Katholizismus preiszugeben. Nach 1890 trat zu dem Kulturkampfbewutsein der Katholiken, unter-drckte Minoritt zu sein, das Bewutsein einer gewissen ,Inferioritt, einer Zurckgebliebenheit, und von daher der Wille zum Aufholen, zum Eintritt in die moderne Gesellschaft, in die Hhe der Zeit. Die Forderung nach ,Paritt der Katholiken gegenber den Protestanten gewann einen modernisierenden Charakter. Ein katho-lischer Priester, Josef Mller, hat 1895 zuerst den Begriff Reformkatho-lizismus in seiner Schrift ,Die Religion der Zukunft fr die Gebilde-ten aller Bekenntnisse geprgt. Aber entscheidend ist die Schrift des Wrzburger Theologieprofessors Herman Schell, ,Der Katholicismus als Princip des Fortschritts, 1897, die 1899 bereits, ungewhnlich damals, in der siebten Auflage vorlag. Das war ein Pldoyer fr einen offenen und modernen Katholizismus, fr den Fortschritt als etwas wesenhaft Katholisches, von katholischem wie modernem Selbstbe-wutsein erfllt: Die Katholiken sollen nicht geistige Eunuchen sein, sie sollen die Welt und die Wissenschaft ,taufen. Das war Kritik

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    am zeitgenssischen Katholizismus: am Skandal des Bildungsdefizits und an der gerade kochaktuellen Anflligkeit fr Teufels- und ande-ren Aberglauben, gegen die ngstlich aggressive Konzentration auf Pole-mik und Apologie, gegen einen ungebildeten Klerus, der sich hinter der Amtswrde des Mepriesters verschanze, gegen die bermacht des romanischen Stils, der Marien- und Heiligenkulte und der rmischen Kommissare, gegen die klerikale Kirche und gegen die krankhafte Ver-himmelung alles Kirchlichen, gegen die ngstliche und unfreie Abgren-zung von der Welt ein Pldoyer fr Innerlichkeit, Personalitt und Geist, einen franziskanischen Katholizismus, ein Pldoyer auch fr das Eigenrecht nationaler Kultur, das Wetteifern mit dem romanischen Geist. Eine Antikritik ,Die neue Zeit und der alte Glaube, 1898, ergnzt dieses Programm. 1899 kommt die Schrift (und auch seine Dogmatik) auf den Index; Schell unterwirft sich, schreibt aber weiter (,Christus 1903) und entfaltet eine gewaltige Vortragsttigkeit. Er wird bis zu seinem frhen Tode 1906 der Anwalt einer dem Bewutsein der Zeitge-nossen angemessenen Theologie, zum Kng der Jahrhundertwende. hnlich wirkt dann der Kirchenhistoriker Albert Ehrhard (,Der Katho-lizismus und das 20. Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, 1901). Er unterscheidet die jeweiligen historischen Bedin-gungen vom Katholizismus selbst und vermag so die Verabsolutierung des Mittelalters und der Philosophie des Thomas zu relativieren und fr die Mglichkeiten der eigenen Zeit, fr moderne Kultur und Fortschritt zu pldieren das soll die Entfremdung auch der katholischen Bildung und der modernen religisen Bedrfnisse von der Kirche berwinden, den Katholizismus wieder zur Kulturmacht machen. Margarinekatho-lizismus Salonchristentum, Reformsimpel, so polemisierte der Bischof von Rottenburg, der ihm immerhin das Imprimatur erteilt hatte. Ehr-hard kam am Index vorbei; in 10 Tagen war seine Schrift vergriffen, nach einem Jahr hatte sie 14 Auflagen (und hnlich ging es mit seiner Schrift von 1907 ,Katholisches Christentum und moderne Kultur). Es gab noch andere Theologen hnlicher Tendenz: Sebastian Merkle z.B., der die katholische Aufklrung rehabilitierte

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    und sogar ber Luther Positives zu sagen wute, oder den Mnchener Dogmenhistoriker Josef Schnitzer, der freilich 1908 schon suspendiert wurde. Es gab Reformgesellschaften und -Zeitschriften, z.B. ,Das 20.Jahrhundert (1907/09), dann: ,Das neue Jahrhundert, das aus einem extrem modernistischen Auenseiterorgan unter Philipp Funk zu einem wichtigen Reformorgan wurde. Die Philosophiehistoriker stellten die Historizitt und Pluralitt der Scholastik ans Licht, die Dog-menhistoriker die Geschichtlichkeit der Dogmen; der Historiker Mar-tin Spahn schrieb ein ,zeitgeschichtliches Buch ber Leo XIII., das auf subtile Weise den Ghettokatholizismus kritisierte. 1906 bildete sich so war der Stil der Zeit ein Komitee zur Errichtung eines Denkmals fr Schell, dem ber 50 Zentrumspolitiker und Professoren angehrten, darunter Julius Bachem, Hermann Cardauns und Martin Spahn. Unbe-deutend war diese Bewegung nicht.

    Die deutschen Reformkatholiken gerieten in die von Pius X. gefhrte Kampagne gegen den Modernismus. Auf den Willen zu einer Erneuerung antwortete der Vorwurf, katholische Substanz preiszugeben. Zwischen 1903 und 1914 sind 150 Bcher auf den Index gesetzt wor-den, 1907 erlie der Papst eine Enzyklika gegen die ,,Modernisten, und weil darin auch von Spuren und Anzeichen die Rede war, war den Gralshtern der Rechtglubigkeit, den Zeloten und Integralisten, wie die extremen Ultramontanen jetzt hieen, fr Verdacht und Denunzia-tion Tr und Tor geffnet. Ehrhard wehrte sich wie alle Reformer gegen den pauschalen Modernismusvorwurf, und die ,Germania druckte seinen Artikel zum Zorn der Kurialen ab. 1910 forderte der Papst von allen Theologen einen Antimodernisteneid; wegen der Emp-rung der protestantischen ffentlichkeit wurden die deutschen Universi-ttstheologen davon zwar ausgenommen, aber so war das Klima.

    Die ffnung, so meinten die Integralisten, mute Bildung und Volk auf Dauer dekatholisieren, whrend die Reformer umgekehrt meinten, nur so knne der Katholizismus vital und dynamisch bleiben. Und weil der Katholizismus der Zeit noch im Grunde monolithisch war, Konflikt und Plualitt im Grun-

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    de illegitim, darum war der Konflikt so bitter. Zwei Vorwrfe sind unter dem vielen Ketzerriecherischen beachtenswert: Die Reformer wurden als Vertreter einer Privilegien- und Elitekultur angegriffen, und die Konservativen prsentierten sich als Verteidiger der Volkskultur. Das war nicht falsch; fr den ganzen Verbandskatholizismus hatten die Reformer gewi wenig brig. Dann wurden die Reformer als Nationa-listen (wegen ihres Engagements fr die Nationalkultur) angegriffen, und tatschlich, die liberale ffnung ging ja mit der nationalen Hand in Hand. Beides gehrte zum Kern der Sache.

    Man darf die Bewegung nicht berschtzen. Es war eine akademisch-intellektuelle Bewegung, fast die ganze katholische Presse stand dage-gen, unter dem Verdacht der Amtskirche wurde sie niemals volkstmlich. Aber das Echo zeigt doch die enorme latente Frustration und Reformbe-reitschaft einer breiteren Bildungsschicht an; ohne sie sind die Auf-brche im deutschen Katholizismus nach 1918 gar nicht zu erklren. Zunchst freilich hat dieser Reformkatholizismus den Integralismus und seine Wendung gegen den Zeitgeist eher gestrkt.

    Whrend die theologischen Reformkatholiken sich dem modernen Denken vor allem ffnen wollen, gibt es eine parallele Richtung der ffnung zur modernen, zumal sthetischen Kultur. Die ultramontane Prgung hatte die Katholiken zum Rckzug aus der Zeit und National-kultur, aus der religis indifferenten Bildung gefhrt. Das galt fr die Wissenschaften, jedenfalls da, wo ihre Fortentwicklung gefhrlich wer-den konnte, ja berhaupt fr die groen geistigen Auseinandersetzun-gen der Zeit: um Nietzsche, um die Lebensphilosophie, um den Histo-rismus, um das Schicksal der Freiheit und der Kultur in der modernen technisch-brokratischen Zivilisation, um das, was Max Weber oder Ernst Troeltsch bewegte. Die Katholiken haben, apologetisch-defensiv gerichtet oder von der Antimodernismus-Kampagne zurckgehalten, an diesen Debatten nicht teilgenommen, und sie haben auch, anders als in den 20er Jahren, kaum eigene originale Antworten auf die Krisenge-fhle der Zeit entwickelt, da machten auch die Reformer keine Aus-nahme. Diese Flucht aus der Zeit, dies selbstgewhlte Exil galt

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    auch fr die sthetische Kultur: Neugotik, Palestrinarenaissance, Spt-nazarenertum, Mittelalterverklrung waren dafr charakteristisch, und das galt zumal fr die Literatur. Aber hier setzte um die Jahrhundert-wende die Erneuerung ein. 1898 trat Karl Muth, Journalist an einem biederen katholischen Familienblatt, mit einer Kampfschrift hervor (Veremundus: ,Steht die katholische Belletristik auf der Hhe der Zeit?): Die katholische Literatur sei, von mitrauischer berwachung und Kritik niedergehalten, inferior, engherzig, prde wie ein katholi-sches Mdchenpensionat, die fhrende moderne Gattung, der Roman, sei, im Geruch der Snde, verfemt, auf die Bedrfnisse von Pfarrbib-liotheken domestiziert, harmlos ,edle Konvention (wie Friedrich Wil-helm Webers ,Dreizehnlinden), grobschlchtig tendenzis oder trivial fromm (wie der katholische Bestseller von Joseph Spillmann ,Das Opfer eines Beichtgeheimnisses). Dagegen pldierte er fr eine zweckfreie, nicht tendenzgeleitete Literatur, die modern sei, ohne katholische Kernbestnde zu opfern, kurz fr eine Wiederbegegnung von Kirche und Kultur. In diesem Sinn grndete er 1903 mit dem Verleger Joseph Ksel zusammen die Zeitschrift ,Hochland, plura-listisch mit konservativen und progressiven Mitarbeitern, darunter Schell und Martin Spahn, aber entschlossen zur Heimkehr aus dem Exil des katholischen Ghettos. Bis 1914 hat es die Zeitschrift auf die damals beachtliche Auflage von 10 000 Stck gebracht. Auch das ,Hochland geriet in den Strudel der Konflikte und integralistischen Angriffe; der Abdruck eines historischen Romans von Enrica von Handel-Mazzetti, einer Art sterreichischen Lagerlf, lste heftige Attacken aus, weil dort auch Protestanten positiv, Katholiken negativ dargestellt waren; den Abdruck eines Romans des Italieners Antonio Fogazzaro, 1906, mute man stoppen, als das Buch, modernismusverdchtig, auf den Index kam. Eine sterreichische Literatengruppe um Richard von Kralik und die Zeitschrift ,Gral hielt die integralistische Gegenposition. Ein Konser-vativer wie der Kardinalerzbischof Georg von Kopp rechnete auch das ,Hochland zu den dekatholisierenden Mchten, zu den inneren Gefahren der Kirche. Immerhin, das ,Hochland konnte sich be-

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    haupten. Auch in diesem Kreis finden wir die eigentmliche Nhe der ffnung zur modernen Kultur und der strkeren Betonung des Natio-nalen. Muth stand Friedrich Lienhard und der ,Heimatkunst sehr posi-tiv gegenber und war wie auch andere Katholiken von dem kon-vertierten Rembrandtdeutschen Julius Langbehn bewegt. Die Wen-dung gegen Verstand, Wissenschaft, Grostadt im Namen von Herz, Kunst, Heimat schien einen gangbaren Weg fr eine neue Vershnung von Katholizismus und Moderne zu zeigen. Fr Martin Spahn, spter in der Weimarer Republik Fhrer des deutschnationalen Katholizismus, hatte die Entklerikalisierung der Kirche auch mit dem Schutz des Ger-manentums und mit der Abwehr westlich demokratischer Ideen zu tun. Progressiver und nationaler Katholizismus lagen noch ganz dicht bei-einander. Aber, um zur Hauptsache zurckzukehren: Da es im 20. Jahr-hundert, zumal nach 1918, eine ernstzunehmende katholische Literatur gibt, ist nicht zuletzt das Verdienst von Muth.

    Die katholische Kirche und der Katholizismus haben sich, ultra-montan diszipliniert, scharf nach auen hin abgegrenzt, mit einer Flle integrativer Symbole und einer sie umgebenden allmhlich modernisier-ten Subkultur von Institutionen, Medien und Vereinen als eine mchtige Formation des deutschen Lebens bis zum Weltkrieg behauptet, nur am Rande gab es Abbrche. Aber auch in diesem so fest gefgten Sozialsys-tem gibt es im Jahrzehnt vor 1914 den eigentmlichen groen Aufbruch ins 20. Jahrhundert, in eine neue Modernitt.

    6. Konfession und Sozialstruktur Ehe wir uns dem Verhltnis des Katholizismus zu Staat und Gesell-

    schaft zuwenden, werfen wir einen Blick auf die faktische soziale Posi-tion der deutschen Katholiken. Die Katholiken gehren zunchst ber-proportional zur traditionellen agrarisch-mittelstndischen, vormoder-nen, vorkapitalistischen, vorindustriellen Sozialwelt: zum Land, zu Gemeinden unter 10 000 Einwohnern, und in der Berufswelt: zur Land-wirtschaft,

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    zum Bergbau und zum Baugewerbe, durchaus unterproportional zum aufsteigenden tertiren Sektor, zu Handel, Banken und Verkehr und zur Verwaltung. Schon ein Blick auf die Geographie zeigt, da weite katho-lische Gebiete lndlich-kleinstdtisch blieben: groe Teile Altbayerns, der Oberpfalz und des Allgus, Oberschwaben, der Hochschwarzwald, die sdliche Rheinprovinz und weite Teile Westfalens. Hier dauerten die alten sozialen Milieus, hier galten ihre Wertvorstellungen und ihre Kriterien der Fhrungsauswahl das war sozialkonservatives Land, auch im Zuge der Modernisierung behielt das ein bergewicht. Die Industrie war, von den Unternehmern her gesehen, vor allem protestan-tisch, auch im katholisch geprgten rheinisch-westflischen Industriege-biet; Klckner und Thyssen waren die bekannten ,Ausnahmen und in Oberschlesien die katholischen Bergwerksmagnaten. Von den im ,Gewerbe unselbstndig Ttigen waren bis zur Jahrhundertwende gelernte Arbeiter und das technisch-kaufmnnische Personal eher pro-testantisch, katholische Handwerksgesellen blieben eher im Handwerk, als da sie in die Fabrik gingen, bei den Ungelernten war der Anteil der Katholiken hher. Stadtwanderung war bei ihnen weniger Aufstieg als Proletarisierung so jedenfalls in Baden. Das gleicht sich freilich (nimmt man die Berufszhlung von 1907) fr Facharbeiter, Angestellte und kleine Beamte allmhlich etwas mehr aus. Immerhin, 1907 stellten 36,5% Katholiken im Reich 44,2% der in der Landwirtschaft Ttigen und nur 29,9% der im Handel etc. Ttigen und, ein extremes Beispiel, nur 18,5% der Selbstndigen im Bergbau. Der Anteil der Katholiken an den freien und akademischen Berufen Anwlten, Lehrern, Richtern vor allem war unterproportional, nahm aber zu: Diese Gruppen rck-ten in die Rolle der Sprecher des katholischen Volksteils ein. Mit der unterschiedlichen Verteilung auf Berufe, Wirtschaftssektoren und so-zialen Status hngt die geringere Steuer- und Wirtschaftskraft der Katho-liken zusammen. Max Weber hat von daher den Zusammenhang von Konfession und Wirtschaftsleistung und -erfolg zum Thema gemacht. Im Regierungsbezirk Koblenz z.B. zahlten zu Beginn des Jahrhunderts 35% Protestanten 50% der Steuern, in Kln

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    14% 25%. In Preuen zahlte 1908 das katholische Drittel ein Sechstel der Steuern, in Baden zahlten die Protestanten doppelt so viel wie die Katholiken.

    Damit hngt die Frage nach dem Anteil der Katholiken an den Eli-ten, der Gesellschaft im emphatischen Sinne des Wortes zusammen. Das ist von den Zeitgenossen viel und erbittert diskutiert worden, ,Paritt und ,Inferioritt waren die katholischen Schlagworte. In Preuen gab es eine deutliche Unterreprsentation der Katholiken in der Beamtenschaft (vor allem in der hheren); 1907 waren im Reich knapp 26% aller Beamten katholisch bei 36,5% der Bevlkerung. In Preuen lagen bei den hheren Beamten die Katholiken 1907 um 16,9, in der inne-ren Verwaltung der Provinzen gar um 22,9 Punkte hinter ihrem Bevlke-rungsanteil zurck und im Justizdienst um 12,55, whrend die nicht eben wohlgelittenen Juden ein geringfgiges Plus aufwiesen (Justiz 2,68). Das lag an einer teils bewuten, teils unbewuten Benachteiligung der Katholiken; das hielt sich trotz Zentrumspatronage und ,Konzessionskatholiken in Richter- und Landratsstellen durch. Auch die Bevorzugung des altpreuischen protestantischen Adels fiel natrlich ins Gewicht. Kurz, die protestantische Prgung der preuisch-deut-schen Monarchie hielt sich gegen die katholische Minderheit trotz mancher Angleichung im Grunde bis 1918 durch. Auch der Reichs-kanzler Hohenlohe, ein ,liberaler Staatskatholik, hat daran nichts gendert. Schwieriger ist es mit der Disparitt in den freien Berufen. Bei den freien Rechtsanwlten, Notaren und Patentanwlten lag das katholische Minus in Preuen 1910 immer noch bei 11,78 Punkten (im Reich bei -12,18). Extrem waren die Unterschiede auch in den hheren Stufen des Bildungswesens. Die Professorenschaft war ganz berpro-portional protestantisch, und die Kooptationspraxis der Fakultten hielt dieses bergewicht aufrecht in Preuen gab es zwischen 1885 und 1897 nur 13% katholische Hochschullehrer, entsprechend waren die Chancen und die Berufsentscheidungen. Und in den modernen Fakul-tten Naturwissenschaften, Medizin, Technologie war die Unter-reprsentation noch krasser, obwohl doch da ,Gesinnungen keine so wesentliche Rolle spiel-

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    ten. Abgeschwcht, aber deutlich galt das auch fr die Zusammen-setzung der Studentenschaft und der Gymnasiasten. 1886 gab es in Preuen bei 36,5% Katholiken nur 21,3% katholischer Gymnasiasten, in Bayern betrug das ,Minus 1895 etwa gleichviel: 12,2 Prozentpunkte. Mit dem Bildungsboom seit den 90er Jahren, dem Einrcken mittlerer Schichten in Gymnasien und Universitten, ging die Differenz zurck, blieb aber auch erhalten. 1911 betrug sie bei Studenten noch 9,1 Punkte weniger bei den klassischen, sehr viel mehr bei den modernen techni-schen, konomischen, naturwissenschaftlichen Fakultten; bei den Abiturienten der Gymnasien verschwand die Differenz fast, bei den modernen hheren Schulen war sie hoch, 21,6 Punkte z.B. bei Realgym-nasiasten. Fr das akademischbrgerliche Establishment der wilhel-minischen Zeit ist diese Differenz wie die hnliche Differenz im Wirtschaftsbrgertum und im Beamten- und Regierungsapparat charakteristisch. Die Grnde sind vielfltig (und waren Gegenstand hefti-ger Konfessionspolemik wie intensiver katholischer Selbstprfung): die strkere lndlich-kleinstdtische Gebundenheit und die schlechtere konomische Lage der Katholiken; das Absaugen aufsteigender Intelli-genzen in das Priestertum fr jeweils nur eine Generation und das Fehlen der intellektuell so mobilisierenden evangelischen Pfarrhuser; und am wichtigsten die grere Disposition der Protestanten zu Wissenschaft und Bildung, zu Mobilitt und Dynamik und die pro-testantische Unruhe und das Ausgreifen in die Welt. Es gab geradezu ein katholisches Mitrauen gegen zuviel hhere Bildung, zumal man erlebt hatte, wie so viele Katholiken, durch Opfer von Klerus und Laien zu hherer Bildung gekommen, dem Glauben untreu geworden waren. Sozial-kulturell gesehen waren die Katholiken weniger modern, weniger etabliert, weniger aufgestiegen als die Protestanten, weniger professionell und individualisiert, weniger auf Aufstieg und Erfolg aus, aber auch besser in die Kommunitt integriert, traditionaler und inso-weit lebenssicherer.

    Ganz wichtig endlich ist die demographische Differenz: Die Kin-dersterblichkeit lag jedenfalls in bestimmten gut unter-

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    suchten Gebieten um 1/3 hher, Geburtenbeschrnkung tritt auch bei Kirchenferneren um Jahrzehnte spter ein. Und das gilt auch fr sozial vergleichbare Kreise. Hier schlgt die religis-kulturelle, jahr-hundertalte Verhaltens- und Mentalittsprgung durch: In vielen katho-lischen Regionen wurde weniger gestillt als in der Mehrheit der pro-testantischen, und die personalisierte Zuwendung zu den Suglingen war geringer. Nicht die Kirchenlehre ber Geburtenkontrolle war dann so wichtig, wohl aber das viel elementarere andere Verhltnis der Katho-liken zu Rationalisierung und Individualisierung, zur Alternative von Planung und Gottvertrauen.

    7. Kirche und Politik Wir fragen schlielich nach dem Verhltnis von Kirche und Politik

    und da die Konflikte zwischen Staat und Kirche wie die konkrete Politik der die Katholiken reprsentierenden Zentrumspartei in die all-gemeine politische Geschichte gehren, behandeln wir hier nur die Grundeinstellungen, die sich in der Kirche bilden konnten und bilde-ten. Dabei geht es in unserer Zeit um drei Dinge: um den Staat, um die Nation, um die Gesellschaft, genauer: die Soziale Frage.

    Die Katholiken und der Staat Natrlich, die Kirche predigte Loyalitt und Gehorsam gegenber Ord-nung und Obrigkeit, sanktionierte die Autoritt, weil sie naturrechtlich von Gott legitimiert war. Sie war keine revolutionre Macht und kaum eine Macht der Vernderung, sie war zunchst eine Macht des Status quo. Und bei aller prinzipiellen Neutralitt gegenber Staatsformen stand sie unter den europisch-deutschen Bedingungen der Zeit doch in einem Nahverhltnis zur Monarchie, das war die Gemeinsamkeit der traditionellen Autoritten.

    Aber: Die Kirche stand auch in Distanz zu dem skularen, nichtka-tholischen Staat der Zeit, der ihn tragenden obrigkeitli-

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    chen wie gesellschaftlichen Mchte. Staat und Kirche standen seit langem schon nur noch im Verhltnis paktierender und insofern gerade distanzierter Mchte. Die Kirche verlangte Freiheit in ihren eigenen Angelegenheiten und fr ihre ffentliche Bettigung, ja Bestimmungs-macht ber lebensprgende Institutionen wie Ehe und Schule, oder gar den ffentlichen Stil. Darber bestand Streit mit dem Staat, und von daher stand die Kirche in Distanz zum Staat und vermittelte genau diese ihren Gliedern. Und im konstitutionellen System war das Verhlt-nis von Kirche und Staat nicht mehr wie ehedem in erster Linie eine Sache von Episkopat und Regierung, sondern jetzt kam es auch auf das Volk, auf Massen, auf Whler an. Die Kirche forderte Loyalitt gegen-ber den kirchlichen Forderungen an die Politik, das war das Kernele-ment des politischen Katholizismus. Das war der Grund fr den Ein-satz des Klerus in Parlament und Wahlkmpfen, der in seiner Legitimi-tt nie umstritten war. Und unter den besonderen Bedingungen in Deutschland seit Beginn des Kulturkampfes, den die Katholiken als Angriff auf ihre Minderheitsrechte und als staatlichen Versuch einer Protestantisierung ihrer Kirche empfanden und empfinden muten, hie das: Loyalitt zur Zentrumspartei war die kirchliche Forderung an die Whler; alle Einzelinteressen hatten sich der Verteidigung des Glau-bens und der dazu ntigen Einheit unterzuordnen. Die Loyalitt zum bestehenden Staat war also durch die primre Loyalitt zur Kirche und zur einheitlichen Partei des politischen Katholizismus eingeschrnkt.

    Die Kirche war gegenber den Staats- und Verfassungsformen wie gegenber den politischen Ideen und Bewegungen der Zeit prinzipiell neutral. Keine der politischen Theologien der Legitimisten, der Libe-ralen, der Demokraten hatte sich durchsetzen knnen. Freilich, in ihrer Lehre stellte sich die Kirche gegen die Grundstze der modernen Politik: gegen den skularen Staat, gegen das Prinzip der Volkssouve-rnitt denn nicht das autonome Volk konnte Staat und Herrschaft begrnden, sondern allein Gott , gegen die liberale Autonomie des Individuums, den liberalen Individualismus und Rationalismus, ja gegen die liberalen Freiheiten, deren Indifferentismus dem

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    Anspruch auf Wahrheit widersprach. Der Liberalismus, der die Bindun-gen auflste und die geistig-moralische wie institutionelle Autoritt der Kirche bekmpfte, das war der eigentliche Feind. Und die Katholiken, Ketteler hat das gro ausgefhrt, bestritten den Liberalen verhement den Monopolanspruch auf Humanitt, Vernunft und Kultur.

    Aber die Kirche lebte nicht von Grundstzen allein und von letzten Begrndungen, sie hatte Sympathien und Vorbehalte, sie setzte sich in ein pragmatisches Verhltnis zu den bestehenden Zustnden, machte Konzessionen, erklrte manches Ungeliebte angesichts der menschlichen Schwche oder der jeweiligen Situation doch fr tolerabel. Leo XIII. hat auch das Prinzip, da eine demokratische Mehrheit das Herrschafts-personal bestimmt, fr akzeptabel erklrt. Fr Deutschland war we-sentlich, seit 1848 unter der geistigen Fhrung des Bischofs Ketteler, da der Katholizismus auf den Boden der konstitutionellen Verfassung trat, der liberalen Grundrechte, des liberalen Rechtsstaates und der parlamen-tarischen Mitbestimmung. Der Katholizismus lie sich voll auf den modernen Verfassungsstaat mit grerer Kompetenz des Parlaments wie in Belgien oder geringerer wie in Deutschland ein; die Kirche konnte sich mit dem deutschen Verfassungstyp arrangieren. Zu den Fragen der Verfassungsentwicklung zwischen Krone und Parlament, zum Problem von Parlamentarisierung und Demokratisierung nahm die Kirche als solche nicht Stellung; aber sie war verfassungspolitisch keine forttreibende Macht, Demokratie war nicht ihre Aufgabe. Der politische Zustand und die konkrete Politik wurden danach beurteilt, wieweit sie die katholischen Positionen zu wahren geeignet waren. Es gab ein Konsensstck politischer Theologie, das war die Einschrfung der Grenzen der Staatsmacht und ihre Begrndung aus dem Natur-recht. Dem Monopol des Staates auf Entscheidungen ber das gemein-same Leben, der Ausdehnung der Entscheidungsgegenstnde durch den Staat, dem setzte die Kirche Widerstand entgegen mochte es sich um traditionelle Obrigkeit, Brokratie oder parlamentarisch-demo-kratische Mehrheit handeln. Das richtete sich gegen die Liberalen, wo sie ihren rabiaten Antikle-

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    rikalismus mit Mehrheit rigoros durchzusetzen suchten; aber das war natrlich auch ein Stck Gemeinsamkeit mit den konstitutionellen Idea-len der Liberalen, mochte die katholische Begrndung auch mehr auf kleinere soziale Einheiten als auf das Individuum abstellen. Ideenpoli-tisch stand die katholische Kirche in dieser Hinsicht im Gegensatz so-wohl zum liberalen Individualismus wie zum sozialistischen Kollektivis-mus wie jedenfalls zum etatistischen Konservatismus.

    Noch einmal anders gewendet: Jenseits der Staatstheologie und der kurialen Stellungnahme zur Politik und jenseits der Programmatik wie der parlamentarischen und publizistischen Aktivitt der katholischen Partei des Zentrums, war im Alltag das Verstndnis von Staat und Herrschaft stark traditional bestimmt, von den Selbstverstndlichkeiten des Bestehenden und der berlieferung geprgt, von Autoritt und Ordnung, Pflicht und Gehorsam. Die Struktur der Kirche bestimmte auch die Vorstellung von weltlicher Herrschaft; das Ideal war eine har-monisch geordnete politische Gesellschaft. Demokratie, das stand im Zeichen der Emanzipation, des autonomen Individuums, der Bindungs-losigkeit, der Gleichmacherei, des Mibrauchs der Mehrheiten. Und nach dem skularistischen Liberalismus kam der neue bedrohliche Gegner auf, das war der kirchen- und religionsfeindliche Sozialismus. Das bedeutete dann fr magebliche Teile der Kirche den engeren Anschlu an die konservativen Mchte von Ordnung und Autoritt, gerade im Jahrzehnt vor 1914. Die Interessen des Katholizismus schie-nen, weil er Minderheit war, jetzt erst recht im konstitutionell-obrig-keitlichen System besser aufgehoben als in einem parlamentarisch-demokratischen.

    Man darf freilich die Status-quo-Orientierung nicht berbetonen. Auch der ultramontane Katholizismus war eine Freiheits- und Emanzi-pationsbewegung des vom Klerus mobilisierten und gefhrten katholischen Volkes, der Massen gegen das Establishment des 19. Jahr-hunderts. Ultramontanismus und Demokratie populistisch und plebis-zitr das hing auch zusammen. Und die Selbstorganisation des Katho-lizismus in den Vereinen hatte auch eine moderne, demokratische, emanzipato-

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    rische Tendenz, die, wie wir gesehen haben, auch den traditionellen Rahmen katholischer politischer Kultur berschritt. Kurz, die kirch-liche Grundorientierung hatte neben den konservativen auch demo-kratische Zge und Mglichkeiten. Die Katholiken und die Nation Die zweite groe Frage von politisch-theologischem, nietapolitischem Rang neben der nach Herrschaft und Verfassung war die Frage der Nation. Zunchst: Die katholische Kirche war international, sie lie den Volkstmern und Nationen Raum, aber sie relativierte sie und ihre Absolutheitsansprche auch. Und konkret gab es in Mitteleuropa anders als bei den unterdrckten Polen und Iren, anders auch als im katholischen Frankreich keinen ausgeprgten Nationalkatholizismus. Der italienische Nationalstaat stand in unvershnlichem Gegensatz zum Papst und die Katholiken im Gegensatz zu dieser Neugrndung. In Deutschland freilich war die Sache schwieriger. Die Katholiken waren durchaus noch vom romantischen Nationalismus ergriffen, sie fhlten sich in der Tradition des alten Reiches, national und universalistisch zugleich, und sie hatten an der Einheitsbewegung von 1848 durchaus teilgenommen. Aber angesichts der alternativen Lsungsmglichkei-ten der deutschen Frage, der klein- und der grodeutschen, standen sie klar im Lager der Grodeutschen. Darum war 1866 auch eine Nieder-lage des deutschen Katholizismus, und so wurde das empfunden. Das Ausscheiden sterreichs, des katholischen sterreichs, war ein massi-ver Schlag, eine tief schmerzende Verwundung. Die Annexionen Preuens, die ja auch den hannoverschen und den hessen-kasselschen Minderheiten-Katholizismus mit seiner Diaspora-Intensitt betrafen, galten als Rechtsbruch. Das Bndnis Preuens mit dem papstfeind-lichen Italien diskredierte es erst recht, und die protestantischen Tne in den preuisch-kleindeutschen Siegesfanfaren verstrkten und emotio-nalisierten diese Stimmung weiter. Otto von Bismarck war zuerst der Zerstrer des alten Reiches, nicht der Begrnder eines neuen. Nur in Schlesien und im alten jetzt preuischen

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    Reichsadel gab es katholische Stimmen fr das entstehende preuisch-deutsche Reich. 1867 fand der deutsche Katholikentag noch demonstra-tiv in Innsbruck statt.

    Es ist freilich nicht so, wie es lange im deutschen Geschichtsbild erin-nernd oder reflektierend aufbewahrt schien, da die Katholiken insge-samt 1866 von einer Art Weltuntergangsstimmung ergriffen worden seien. Das war schon deshalb nicht der Fall, weil die nationale Frage im politischen Bewutsein der Katholiken nicht so dominant war wie bei den Protestanten. Fr