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Muskeln machen mobil

Muskeln_honl_Fruehjahr_2008

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Visite Nr. 67 * April 2008 coverthema 15

ALLEIN BEIM KÜSSEN TRETEN ÜBER 40 MUSKELN IN AKTION, ZUM LÄCHELN BRINGEN UNS 17. OHNE MUSKELSPIEL WÄRE BEWEGUNG UNMÖGLICH.

Hätte der Mensch keineSkelettmuskeln, wäre er

unbeweglich und ortsfest, könn-te weder atmen noch sprechen,und wäre ohne Mimik zur Aus-druckslosigkeit verdammt. DieMuskeln erzeugen jene Kraft,mit der unsere Knochen in Hal-tung und Bewegung gebrachtwerden. Im Körper eines Er-wachsenen stecken durch-schnittlich 30 Kilo Muskulatur.Den 206 menschlichen Knochenstehen nicht weniger als 650Muskeln gegenüber, die fürLebensfreude und -Energie sor-gen. Davon wiederum könnenwir 400 willentlich bewegen, dieverbleibenden reagieren unwill-kürlich.

Muskeln wollen und müssenarbeiten, und das regelmäßig.Allerdings leben wir in einer Zeit,in der Bewegung häufig zu kurzkommt, was die Muskulatur ver-kümmern lässt. Das bringt nichtnur körperliches wie geistigesUnwohlsein mit sich, sondernebenfalls schmerzhafte Erkran-kungen des Bewegungsappara-

tes. „Pro Jahr operieren wir rund1500 Menschen auf unsererAbteilung. Bei besserem Trainingkönnte sich ein gutes Drittel dieOP ersparen. Die überwiegendeZahl der Hilfe Suchenden kommtwegen Rückenschmerzen. ZumVergleich: Vor dem zweiten Welt-krieg lag diese Form der Beein-trächtigung bei einem Prozent,heute macht sie 40 bis 50 Pro-zent der Gesamtdiagnose aus.Hauptfaktor ist definitiv Unterbe-anspruchung insbesondere derMuskulatur“, kennt Prim. Priv.-Doz. DDr. Matthias Honl, Vor-stand der Orthopädie im LKHKlagenfurt, das Dilemma aus dertäglichen Praxis.

Muskeln lebenvon BelastungDer menschliche Körper,

macht er klar, ist für Beanspru-chung gebaut. Unser eigentli-cher Motor ist die Muskulatur,die wir aktiv über unser Großhirnansprechen können. Sie profi-tiert von einer ständigen Belas-tung und ist jener Teil unseres

Bewegungsapparates, den wirselbst aktiv beeinflussen kön-nen. Alle anderen Strukturen wieKnochen, Gelenke usw. sind reinpassiv. „In Urzeiten, als Men-schen ihr Brot durch Jagen,Ackerbau und Viehzucht ver-dienten, wurde der Bewegungs-apparat in einem optimalen Sta-

tus gehalten. Heute machen wirviele sitzende Tätigkeiten, ver-bringen tagsüber vier bis fünfStunden vor dem Computer umuns abends davon vor dem Fern-seher zu erholen. Dadurchvernachlässigen wir das ge-wichtsmäßig größte Körperor-gan sträflich“, so Honl. „

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Muskeln befinden sich überallim Körper. Nicht nur an Kno-chen, auch Herz, Magen undandere Organe sind muskelbe-stückt. Am größten, geben Ana-tomiebücher Auskunft, sind dieäußeren großen Gesäßmuskel,die zusammen mit den Fettpol-stern das Gesäß bilden. Auf derHitliste der weiblichen Muskula-tur ganz oben steht die Gebär-mutter: Besagter Muskel kannwährend der Schwangerschaftvon 30 Gramm auf über einenKilo anwachsen. Als stärksteMuckis – im Verhältnis zu ihrerGröße gesehen – gelten die Kau-muskeln. Gemeinsam könnensie eine Beißkraft von sagenhaf-ten 70 Kilo erzielen. Währendder Schneidermuskel, er er-streckt sich vom Becken überdie Vorderseite der Hüfte bis hinzum Schienbein unterhalb desKnies – als längster angesehenwird, ist der mit 0,27 Millimeternverschwindend kleine Steigbü-gelmuskel im Mittelohr derabsolute shorty unter seinesglei-chen.

Keine Mimik ohne MuskelnLachen, Weinen, Freude, Ärger

– ausgedrückt durch die Gesichts-muskulatur. Maximalstes Enga-gement an den Tag legen unsereAugenmuskeln. Schätzungswei-se an die 100.000 Mal innerhalbvon 24 Stunden kommen siezum Einsatz, wobei sich vieleder Bewegungen beim Träumenabspielen. An dieser Stelle nochetwas zum Memorieren imSinne eines effizienten Hirnmus-keltrainings: Musculus levatorlabii superioris alaeque nasi! Soheißt der Muskel mit dem läng-sten Namen. Er befindet sich imGesicht – aktivieren wir ihn,hebt sich unsere Oberlippe. Einweiterer, von dem wir uns wün-schen, niemals in Stich gelassenzu werden, ist der Herzmuskel.Rast- und ruhelos zieht er sichrund 70-mal pro Minute zusam-men.

„Muskeln arbeiten“, erklärtder Primarius, „indem sie sichzusammenziehen. Nie wird einerfür sich alleine angefeuert, son-

dern immer in Muskelgruppen.Um also in Bewegung zu kom-men und zu bleiben, bedarf esSpieler und Gegenspieler. EinBeispiel dafür: Der Unterarmwird vom Bizeps gebeugt undvom Trizeps gestreckt. DiePower für ihre Aufgabe beziehendie Muskeln aus Glukose undSauerstoff. In tausenden von Zel-len, die zu den größten des Kör-pers zählen, ist es möglich, che-mische Energie in mechanischeumzuwandeln.“

Rückenmuskulatur nicht aktiv steuerbarJeder Kontraktion geht immer

ein Nervenimpuls voraus. BeimHerzen sowie bei der Muskula-tur im Darm erfolgt der Reiz ausnicht bewusst beeinflussbarenTeilen des Nervensystems. Beider Skelettmuskulatur hingegenwird der Stimulus willkürlichgesetzt. Die drei bekannten Mus-keltypen, Quergestreifte Mus-keln, Glatte Muskeln und Herz-muskel ergeben sich aus ihrenZuständigkeiten. So dienen

Erstere, denen die Skelett-muskeln zugeordnet werden,Bewegungen mit Kraft undSchnellkraft. Für tonisch rhyth-mische Bewegungen zuständigsind die Glatten, welche dieHohlorgane – darunter auchBlutgefäße – auskleiden. Aufeine synchrone Kontraktion sei-ner Zellen ausgelegt ist derlebenswichtige Herzmuskel,der als einziger in der Lage ist,die elektrischen Impulse, diedie Kontraktion bewirken,selbst zu erzeugen.

Warum insbesondere unsereRückenmuskulatur eine Vernach-lässigung über lange Zeit ohnemerkbare Folgen erduldet, hatwohl mit ihrer Sonderstellung zutun. „Einen Finger, oder ebenfallsdie Bauchmuskeln können wirwillentlich beeinflussen, die Rük-kenmuskulatur nicht. Da sie nichtaktiv steuerbar ist, entwickeln wirfür sie kein Körpergefühl. DieKonsequenz ist eine nicht spür-bare, aber dennoch verkümmerteRückenmuskulatur. Offenkundigwird die Schwäche erst durch

16 coverthema Visite Nr. 67 * April 2008

GRUNDGERÜST DES MENSCHEN BESTEHT AUS 206 KNOCHEN UND 650 MUSKELN. PRIM. MATTHIAS HONL: „WIR MÜSSEN LERNEN, TÄGLICH WAS FÜR UNSEREN KÖRPER ZU TUN.“

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Beschwerden an Rücken und Wir-belsäule“, weiß der Privatdozent.

Eine heimtückische Sache,denn der Körper ist ein Ge-samtbauwerk, den MatthiasHonl gerne mit einer Kette ver-gleicht, wobei jene so stark istwie ihr schwächstes Glied: Wennwir beharrlich stundenlang aufeinem Stuhl herumhängen, sotut das nicht weh. Es gibt keinMissempfinden, kann aber imspäteren Leben dazu führen,dass die passiven Strukturen wieGelenke, Bandscheiben, Bänderusw. nachhaltig geschädigt wer-den, gemein zu schmerzen be-ginnen und eine Operation oftunausweichlich wird. Denn mitVerringerung der muskulärenBeanspruchung verringert sichdie Beanspruchbarkeit nochmehr, ein Teufelskreis den es zudurchbrechen gilt.

Für Muskeln ist es nie zu spät!Der einzige Weg heraus führt

über ausreichend Bewegung.Die gute Nachricht dabei lautet:

Selbst wenn Sie Jahrzehntewenig bis nichts gemachthaben, kann aus Ihnen immernoch ein „Sportler“ werden. Fürdie Muskeln ist es nie zu spät!„Grundverkehrt ist bloß, sichnicht zu bewegen. Ein Zuviel ankörperlicher Aktivität kann esbei gesunden Menschen, dienicht gerade zu krankhafterÜberforderung neigen, gar nichtgeben. Am allerwichtigsten istjedoch, sich eine Aktivität aus-zusuchen, die Spaß macht, undnicht wie eine bittere Pille ein-genommen werden muss“, rätder Orthopäde.

Durch den Alterungsprozesssowie die hormonelle Umstel-lung geht mit der Zeit zwarMuskelmasse verloren, wasdurch entsprechendes Trainingaber kompensiert werden kann.Selbst Menschen mit diversen,meist altersadäquaten Gebre-chen empfehlen Medizinerheute ein Spektrum an Bewe-gung. „Patienten mit Rücken-schmerzen hat man in den1970er-Jahren Vermeidungs-

strategien beigebracht. Dieseführten zu immer geringererBeanspruchbarkeit, das Be-wegungssystem wurde nochschlechter. Heute heißt es vorallem betreffend die Wirbel-säule: Schmerzen wegnehmenund Gas geben. Ab ins Fitness-studio, Muskeln aufbauen, Rü-cken trainieren. Ist die Bean-spruchbarkeit wieder höher,bestehen gute Aussichten aufeinen ganz normalen Alltag“,will Honl Mut zur Bewegungmachen. Auch Leuten mit Ath-rose wird nahe gelegt, sichmöglichst viel zu bewegen.Schließlich würden durch Be-wegung die Knorpel in denGelenken ernährt.

Lernen, täglich was für Körper zu tunMuskelerkrankungen gäbe es

zwar, sie kämen jedoch nichthäufig vor, insbesondere imVergleich zu Degenerationendes Skeletts. Was die Muskula-tur und unsere Haltung ihrgegenüber betrifft, befinden wir

uns gegenwärtig in einer gesell-schaftlichen Umdenkphase, dieder Vorstand der Orthopädie imLKH Klagenfurt folgend sieht:

„In den 60er-Jahren des ver-gangenen Jahrhunderts sindÄrzte in die Schulen gegangenund haben das Zähneputzenbeigebracht. Damals hatte manKarieszähne, dennoch standPutzen nicht auf der Tagesord-nung. Da wurde richtig psycho-logische Aufbauarbeit geleistet.Was dazu führte, dass Zähne-putzen heute selbstverständ-lich ist. Im Bereich der Musku-latur der Wirbelsäule darf inden nächsten 20 Jahren Ähnli-ches erwartet werden. Wir wer-den zunehmend lernen, jedenTag etwas für unseren Körperzu tun, damit die Muskulaturgut trainiert ist und den gesam-ten Rest schützen kann. Bedeu-tend ist, zu verstehen, dass einMuskel ohne Beanspruchungatrophiert, also verschwindet.Man kann ihn nur am Lebenerhalten, indem man ihn for-dert.“

Visite Nr. 67 * April 2008 coverthema 17

DURCHSCHNITTLICH 30 KILO MUSKULATURSTECKEN IN EINEM ERWACHSENENKÖRPER.

DREI MUSKELTYPEN: QUERGESTREIFTE MUSKELN Z. B. AMOBERARM, GLATTE IM MAGEN-DARM-TRAKT, HERZMUSKEL.