Ausgabe 22/2014 des strassenfeger - Behinderung

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  • 7/21/2019 Ausgabe 22/2014 des strassenfeger - Behinderung

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    Straenzeitung fr Berlin & Brandenburg

    1,50 EURdavon 90 CT r

    den_die Verkuer_in

    No. 22, November 2014

    BHNENREIFAu die Breer miCirkus Sonnensich(Seie )

    EIGENWILLIGOusider Ar in derGalerie Ar Cru (Seie )

    ERFOLGREICHFuball-WM der

    Obdachlosen (Seie )

    BEHINDERUNG

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    srasseneger | Nr. | November | INHALT

    strassen|fegerDie soziale Sraenzeiung srassenegerwird vom Verein mob obdach-lose machen mobil e.V.herausgegeben. Das Grundprinzip des srassenegeris: Wir bieen Hile zur Selbshile!

    Der srassenegerwird produzier von einem Team ehrenamlicherAuoren, die aus allen sozialen Schichen kommen. Der Verkau des sras-senegerbiee obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen dieMglichkei zur selbsbesimmen Arbei. Sie knnen selbs enschei-den, wo und wann sie den srassenegeranbieen. Die Verkuer erhaleneinen Verkuerausweis, der au Verlangen vorzuzeigen is.

    Der Verein mob e.V. finanzier durch den Verkau d es srassenegersoziale Projeke wie die Nobernachung und den sozialen TreffpunkKaffee Bankrot in der Sorkower Sr. 139d.Der Verein erhl keine saaliche Unerszung.

    Liebe Leser_innen,als uns die Freunde vom Bryckenbrant Behinderungstheater vor-schlugen, mal eine Ausgabe mit dem Schwerpunkt Behinderungzu machen, haben wir das sofort aufgegriffen.

    Behindert ist ja eine passive Verbform. Wenn wer oder was be-

    hindert ist, muss es auch einen geben, der in diesem Fall aktiv ist,der behindert. Im Theater Bryckenbrant schlagen die Betroffe-nen ihren Behinderern ein Schnippchen, ebenso wie die Artistendes Circus Sonnenstich. Wir haben versucht, ihre Lebensfreudefr Sie einzufangen.

    Behinderte in einer Disko kommen nur selten an den Trstehernvorbei. Da machen sie bei Handiclapped ihre Disko eben selbst.Und Sport kann man auch im Rollstuhl treiben. Die Basketball-Rollis vom Pfeffersport e.V. sind wirkliche Leistungssportler, vondenen sich die Millionre in kurzen Hosen bei anderen Sportar-ten eine Scheibe abschneiden knnen.

    Menschen die behindert werden, machen Kunst und schlagensich erfolgreich durchs Leben. Es sind die anderen, die ihnen das

    Leben schwer machen. Wenn Sie jetzt hufig das Wort Inklusionlesen, machen Sie sich nichts aus dem ungewohnten Fremdwort.Es bedeutet einfach: Wir nehmen alle Mitmenschen mit offenenArmen auf, helfen, wo es ntig ist, und freuen uns gemeinsamdarber, wie schn das Leben doch sein kann.

    Vor 70 Jahren allerdings wurden behinderte Menschen nicht mitoffenen Armen aufgenommen. Im Gegenteil: Fr die Nationalso-zialisten waren sie unwertes Leben, erbbiologischer Ballast,den es zu vernichten galt. Auch in Berlin und Brandenburg wur-den damals behinderte Menschen von ihren rzten ermordet.Mehr darber knnen Sie auf den Seiten 14 und 15 lesen.

    Unsere Kunst-Expertin Urszula Usakowska-Wolff war dieses Malin der Fotogalerie Friedrichshain zu Gast und stellt uns den Foto-grafen Mariusz Kubielas vor (Seite 24 und 25). Und eine junge

    Radio-Reporterin des Senders Kiss FM hat sich in der S-Bahn alsstrassenfeger-Verkuferin versucht. Auf Seite 18 schildert sie dieErfahrungen, die sie gemacht hat. Und schlielich knnen Sie indieser strassenfeger-Ausgabe einen Bericht ber den HomelessWorld Cup 2014 in Chile lesen: Auch deutsche Fuballer sinddabei und schlagen sich hervorragend!

    Ihnen, liebe Leser_innen, wieder viel Spa beim Lesen!Manfred Wolff

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    BEHINDERUNGBehinderung r Behindere

    Der Verein ambulane Diense e.V.

    Keine Gleichbehandlung von Behinderen

    Handiclapped Kulur Barriererei e.V.Circus Sonnensich

    Inegraion durch Spor

    Zwischen Inklusion und Widersand

    Bryckenbran versus Juggernau

    Aufrit roz allem

    Unweres Leben: Euhanasie-Morde der Nazis

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    TAUFRISCH & ANGESAGTa r t s t r a s s e n f e g e rDie Kuns is ein Ak der Bereiung in der Galerie

    Cru is die Aussellung eines Mannes zu sehen, der

    as sein ganzes Leben in der Psychiarie verbrache

    V e r k u f e rEine Radio-Reporerin ese den Job des

    srasseneger-Verkuers

    B r e n n p u n k tEine Veransalung gegen Aniziganismus

    Vorschau au den Sar der Klehile

    s t r a s s e n f e g e r - r a d i oPeer Radszuhn is gesorben

    K u l t u r t i p p sAus unser Redakion

    A k t u e l lMariusz Kubielas in der Foogalerie Friedrichshain

    Die groe Sause zum . November

    S p o r tHomeless World Cup in Chile

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    AUS DER REDAKTIONH a r t z I V - R a t g e b e rBeschluss des Bundessozialgerichs, Teil

    K o l u m n eAus meiner Schnupfabakdose

    V o r l e t z t e S e i t eVorschau, zu Gas bei mob e.V., Impressum

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    stras senfeger | Nr. | November BEHINDERUNG |

    Behinderung fr BehinderteIst Berlin behindertengerecht? Nicht immer!B E R I C H T : A s t r i d | F O T O S : B o r i s N o w a c k

    Ist Berlin tatschlich behindertengerecht? Diese Fragewar mein Ausgangspunkt fr diese Ausgabe. Fahrplnemit Kennzeichnungen fr Behinderte mit Aufzgen fin-det man berall in Berlin. Stimmt! Aber: Funktioniertdas dann auch? Ich wollte herausfinden, ob Behinderte

    in Rollsthlen, mit Rollatoren und Krcken auch wirklichdurchkommen. Leider wurde ich durch den Streik der Lok-fhrergewerkschaft GDL selbst etwas behindert.

    Eine Eins mit Sternchen gebe ich unseren Bussen in Berlin.Alle sind absenkbar, haben eine Rampe und sind fr Roll-

    stuhlfahrer und andere Behinderte einfach zu benutzen. Aberda leider nicht alle Ecken von Berlin mit Bussen angefahrenwerden, muss man manchmal auch die S-Bahnen und U-Bah-nen benutzen. Wie sieht es dort mit dem Label Behinderten-gerecht aus?

    Ich habe erst einmal konzentriert den Fahrplan betrachtetetund dann beschlossen, mit dem Ring anzufangen. Einmalrund um Berlin, dann ein Mal quer durch. So weit so gut.Eingestiegen bin ich am Gesundbrunnen-Center. Dort gibt esAufzge zu beiden Ringen, wenn auch nur alte und sehr lang-same. Man kann ja nicht alles haben. Rolltreppen existierenauch fr diejenigen, die nicht an den Rollstuhl gebunden sind.Alles in Allem nicht schlecht. Auch betrachtete ich die Hheder Plattformen und die Entfernung der Zge von der Platt-form. Aber wenn diese zu breit waren, steht auf den meisten

    Bahnhfen eine Rampe bereit, die dann eingesetzt wird.

    Weiter ging meine Fahrt auf dem Ring, ich machte mir Noti-zen und stieg ab und zu mal aus, um die Aufzge zu prfen.Einige funktionierten nicht, das kann ja mal vorkommen.Sollte es aber nicht! Den ersten greren Stopp machte icham Ostkreuz. Da man von dort gut in die Innenstadt kommt,wechselte ich die Bahnen. Ein Aufzug, der von beiden Seitenbetreten werden kann, und eine riesige Rolltreppe brachtenmich nach unten auf das Gleis in Richtung Innenstadt. Dortkam prompt ein Zug, und ich war auf dem Weg zum Haupt-bahnhof. Der ist sehr behindertengerecht ausgelegt mit meh-reren Fahrsthlen, die die Fahrgste von einer Etage in dieandere bringen. Keine Behinderung fr Behinderte. GroerPluspunkt in meiner Liste!

    Weiter gings zur Friedrichstrae. Auch der Bahnhof ist mitFahrsthlen versehen, allerdings ist es ein bisschen verwir-rend, bis man die gefunden hat. Leider funktionierte einernicht, als ich da war, er wurde aber immerhin gerade repariert.Dann entschloss ich mich, zum Ostbahnhof zu fahren undmich auch dort umzusehen, bevor ich meine Reise auf demS-Bahn-Ring weitermachte. Die S-Bahnen und Zge kn-nen mit Aufzgen erreicht werden, es ist also auch dort sehrbehindertenfreundlich. Und dann kam ich zurck zum Ost-kreuz. Wann der Bau der Gleise vom Ostbahnhof nach Ost-kreuz fertig sein soll, wei ich nicht. Aber ich kam auf einemGleis an, wo man den oberen Bahnsteig nur ber eine Treppeerreichen kann. Momentan mssen Rollstuhlfahrer am Ost-kreuz eine Station weiterfahren und dann wieder umkehren,um den oberen Bahnsteig zu erreichen. Dicker Minuspunktauf der Liste, so gehts nicht! Die Bahnhfe der Reststreckedes Ringes waren hnlich ausgestattet wie die oben geschil-

    derten Aufzge an den meisten Haltestellen, wenn diese auch

    nicht berall funktionierten.

    Dann war die U-Bahn dran. Ich wohne nahe bei der Resi-denzstrae, nahm also die U-Bahnlinie 8 von Nord nach Sd.Sofort fllt mir auf: Die Residenzstrae kann von Rollstuhl-fahrern berhaupt nicht betreten werden, es gibt keinen Fahr-stuhl, nur Rolltreppen. Absolutes Minus! Dann ging es weiterin Richtung Wittenau. Bis auf eine weitere Station berallwieder Fahrsthle, sehr schn. So soll es sein. Auch gibt es infast jeder Haltestelle Rampen die fr Rollstuhlfahrer da sind,falls sich die Lcke zwischen Bahnsteig und Bahn als zu groerweist. Dann fuhr ich entgegengesetzt zurck bis Herrmann-strae. Nach der Tour habe ich gemerkt, dass Aufzge aufdieser Strecke dnn gest sind, vor allem vom Alexanderplatzbis zur Herrmannstrae. Was die U-Bahn angeht, scheint mir,

    ist Berlin nicht so behindertenfreundlich, wie es immer gesagtwird. Besonders wenn man am Alexanderplatz steht und dieStraenbahnen beobachtet. Viele Linien benutzen noch diealten Zge, in die man nur per Treppe einsteigen kann. Gut,man wechselt diese langsam aus, aber selbst nur leicht Gehbe-hinderte knnen in die alten nur schwer einsteigen.

    Nur noch kurz zwei Anmerkungen: Da ist die endlose Bau-stelle am Gesundbrunnen. Eine einzige Rolltreppe, die runterauf den Bahnsteig fhrt, ist offen, zusammen mit dem Fahr-stuhl. Die Bauarbeiten sind nun soweit fertig, dass man dieVerschalung abgenommen hat, aber die zweite Rolltreppezum zweiten Bahnsteig fr den Ring zu ffnen? Pustekuchen,man muss runter, um die Ecke, dann noch weiter runter unddie nchste Rolltreppe wieder hoch. Fr Menschen, die nichtgut zu Fu sind, ein langer Weg. Und die Rolltreppe zumBahnsteig Richtung Wedding, die wird erst 2015 fertig. Wa-rum das so ist, das muss mir mal einer erklren!

    Ein kleiner Schrit r Fugnger, eine unberwindbare Lcke r Rollsuhlahrer

    Auzug zu den Gleisen amOsbahnho

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    stras senfeger | N r. | November | BEHINDERUNG

    Die UnsichtbarenMitarbeiter des Vereins ambulante dienste e.V. untersttzen behinderte Menschen

    bei allen Unwgbarkeiten von Brokratie und AlltagB E R I C H T : A n n a G o m e r | F O T O S : T h o m a s G r a b k a

    ber 300 000 pflegebedrftige Menschen soll esin Berlin geben. Doch begegnen kann man ih-nen kaum. Sie werden in Heimen von speziell ge-schultem Personal oder zu Hause von ihren An-gehrigen versorgt. Die Stadt birgt ungezhlte

    Barrieren fr Menschen mit solchen Bedrfnissen, die in ei-ner auf Leistung getrimmten Gesellschaft gemeinhin nur alsBehinderung wahrgenommen werden. Aber schon vor ber30 Jahren begann eine Bewegung von Betroffenen, die dieser

    Form der Ausgrenzung ein Ende setzen wollten.Vorletzte Woche ist an den Berliner Universitten das neueSemester angelaufen. Tausende von Erstis haben in derHauptstadt ihr Studium aufgenommen. Auch Peter ist mit da-bei. Psychologiestudium an der HU. Er ist einer der wenigen,die nicht nur das strenge Auswahlverfahren berstanden, son-dern auch noch eine eigene Wohnung abbekommen haben.Seit Jahren schon sind es vor allem auch die Studenten, die diesteife Brise der Teuerung auf dem Wohnungsmarkt spren.Fast ein Jahr haben er und seine Eltern nach einer passendenWohnung suchen mssen. Jetzt lebt er im Erdgeschoss einerReinickendorfer Siedlung mit Blick auf eine alte Kaserne. Je-den Tag muss er die weite Strecke bis zum Campus Adlershofzweimal bewltigen. Nher war einfach nichts drin. Rollstuhl-gerechte Wohnungen sind teuer und selten.

    Peter ist zufrieden. Zusammen mit einem Freund bewohnter eine fast schon typische Studentenbutze. Da ist alles, wasder junge Mensch von heute so braucht. An der Wand fla-ckert der Flachbildschirm, aus der Stereoanlage kommt dieneuste Elektromucke. Und neben der Wohnlandschaft hat ersich einen Arbeitsplatz mit Schreibtisch und Computer ein-gerichtet. Es sind Freunde da, und man diskutiert ber dieneuesten Spiele und Serien. ber eine Rampe geht es auchmal fr eine Kippe auf den zur Loggia umgebauten Balkon.Auch sein Assistent ist dabei. Spter will Peter noch zu einemFreund rber. Sebastian hilft ihm in die Jacke, und Peter gibtdie kaum hrbaren Anweisungen. Das Ganze dauert nur Se-kunden, die Assistenz ist schnell und vorsichtig. Schon ist derAssistent wieder einfach nur Sebastian, der halt mitkommt,

    ein Kumpel vielleicht. Drauen fhrt der Weg zur S-Bahnber Kopfsteinpflaster an dsteren Industriebauten vorbei.Sebastian schiebt den Rollstuhl. Das wre sonst fr Petermit seiner Krankheit, eine Form voranschreitenden Muskel-schwunds, zu anstrengend. Man unterhlt sich. Es wird wohleine lange Nacht werden.

    Peter freut sich auf das Studium und blickt jetzt ganz ent-spannt in seine Zukunft. Das war nicht immer so. Im Gegen-satz zu den vielen, fr die der Student nur eine romantischeFortsetzung des Schlers ist, bedeutet fr ihn diese Norma-litt etwas vllig Neues. Die fnf Jahre unmittelbar vor demStudium hat Peter in einem Internat fr krperlich behin-derte Kinder verbracht. Die Erinnerungen sind oft unange-nehm bis schmerzlich. Es fllt ihm nicht leicht, ber Erlebnissezu sprechen, die von kleinen Gehssigkeiten eines berforder-ten Pflegepersonals bis hin zum tragischen Tod eines Freundesreichen, der im Lifter des Bades einfach vergessen worden ist.

    Es verging wohl kein Tag, an dem Peter seine besondere Ab-hngigkeit von sozialer Frsorge nicht schmerzlich bewut ge-blieben ist Das Internat mit seinen 3 500 Schlern war allesandere als ein Projekt der Inklusion, wie es sich selbst nannte,erzhlt Peter: Da schttelt's einen. Das ist ein richtig geilerPlattenbau mit gelben Gittern auenrum. Wenn du da drinstehst, sieht es aus wie ein Ghetto. Stephen Hawking SchuleNeckargemnd. Geil, ne?Dann aber, vor einem Jahr etwa, be-suchte er einen Kumpel in Berlin, der von der selben Krankheit

    betroffen ist. Der hatte seine eigene Wohnung und 24 StundenAssistenz. Bei seinem Freund sah Peter, dass da immer jemandwar, der einem zur Hand ging und in all den Dingen des Alltagsvon Gro bis Klein assistieren konnte. Kein BitteBitte, keineMassenabfertigung, kein Warten im Trrahmen, bis Pflegermit ihren gensslich-demonstrativen Kaffeepausen fertig sind.Da wurde er zuversichtlich. Sollte ein selbstbestimmtes Lebenmit oder trotz Krankheit mglich sein?Doch bis dahin war es ein langer, schwieriger Weg durch einenDschungel aus dornigen Paragraphen. Antrge ber Antrgezur Finanzierung der Assistenz muss er schreiben. Ein nichtganz leichtes Unterfangen fr den frisch gebackenen Abi-turienten. Aber Peter ist nicht allein. Der Verein ambulantedienste e. V. (ad) untersttzt seine Klienten bei allen Unwg-barkeiten von Brokratie und Alltag mit seinen in 30 Jahrengemachten Erfahrungen. Menschen wie Peter sind hier nicht

    nur Objekt. Es werden bevorzugt, wo es nur geht, Behin-derte angestellt, sagt Ulrike Lessig, Peters Einsatzbegleitungund Leiterin eines der drei Bros des Vereins, die selbst zumTeil auf einen Rollstuhl angewiesen ist.

    Vor rund 30 Jahren ist der Verein aus einem Freundeskreisbehinderter und nicht-behinderter Menschen entstanden.Mittlerweile sind bei ad 114 AssistenznehmerInnen. Ulrikeerklrt, dass ad nicht einfach eine weitere Sozialstation ist,sondern ein politisches Projekt zur Schaffung und Aufrechter-haltung der Bedingungen der Mglichkeit von Selbstbestim-mung noch unter den widrigsten Umstnden: Unsere Leutesind so stark eingeschrnkt, dass die bliche modulweisePflege ein Toilettengang am Tag, ein Mittagessen, dreimalPipi nicht ausreicht. Nicht fr das bloe berleben und

    schon gar nicht fr ein Menschliches Leben. Wir haben Psy-chologen, Kunsthistoriker, Studenten Menschen, die vollim Berufsleben stehen und trotzdem Assistenz brauchen. Weilsie bestimmte Dinge nicht knnen. Weil Krfte nachlassen,manchmal sehr schnell, immer unplanbar. Manchmal gehtwieder viel.

    Dabei geht es nicht nur um herkmmliche Pflege. Die As-sistenz erstreckt sich auf Ttigkeitsbereiche, die Sozialgesetz-bcher nicht mal vom Hrensagen zu kennen scheinen. DieAssistenten bekommen bei ad eine interne zweiwchige Schu-lung und werden ansonsten von den AssistenzNehmern selbstangeleitet. Denn ein Problem von professioneller Hilfe ist oft,dass sie glaubt besser zu wissen, was ihre Schfchen sobrauchen. Diese Bevormundung sollte durch eine Anstellungvon ungelernten Helfern gezielt vermieden werden. Ob dieZusammenarbeit mit einem Assistenznehmer erfolgreich ist,hngt von sehr vielen Faktoren ab. Und bei Weitem nicht jeder

    Peer in seinerbarrierereienWohnung inReinickendor

    Einhlungsver-mgen und sozialeKompeenz: Peer auTour mi seinem As-sisenen Sebasian

    Ulrike Lessig vom

    Verein ambulanediense

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    kann ein guter Assistent, eine gute Assistentin werden. Einhoher Grad an Einfhlungsvermgen und sozialer Kompe-tenz ist notwendig, erzhlt Ulrike. Man muss manchmal fastunsichtbar sein: Es kann nicht jeder ertragen. Viele steigenauch aus Es ist einfach schwierig fr beide Seiten. Nhe undDistanz das ist wirklich ein Thema bei uns. Auf der einenSeite macht man alles mit. Auf der anderen Seite muss mandistanziert sein. Man ist nicht die neue Freundin, der neueFreund. Es ist nicht der Freundeskreis. Das ist was anderes.

    Ambulante dienste versucht, seiner Geschichte treu zu blei-ben. Das ist in Zeiten der Krise noch schwieriger geworden.Immer wieder hren wir von den Kmpfen mit Leistungs-trgern, die die Assistenz unter dem Vorbehalt mangelnderProfessionalitt an jeder Stelle zu krzen versuchen.Auch

    wir werden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen(MDK) in regelmigen Abstnden kontrolliert erzhlt unsChristian Stein aus dem Vorstand. Doch der Assistenzneh-mer ist in den meisten Fllen in der Lage zu sagen, was ermchte, wie er es haben mchte. Das zu gewhrleisten seidas oberste Prinzip Persnlicher Assistenz: So viel Unterstt-zung wie ntig und so viel Selbstbestimmung wie mglich.Insofern ist man auf sich alleingestellt in einem positivenSinne.

    Kann Sie denn nicht einfach ein Kommilitone aufs Klo brin-gen? Jetzt kann Peter ber diese Frage eines Beamten lachen.Der fragt ja auch nicht seinen Kollegen im Bro: Hey Her-bert! Ich muss mal!? Bringst Du mich? Unkenntnis ist PetersMeinung nach nicht nur ein Grund fr brokratische Hrden,sondern auch dafr, dass nach wie vor verhltnismig wenigeMenschen mit besonderen krperlichen Bedrfnissen durchpersnliche Assistenz untersttzt werden. ffentlichkeitsar-

    beit und eine starke politische Stimme sind genauso wichtigwie der juristische Beistand. Und all das mchte ambulantedienste e.V. leisten. Erst krzlich gab es wieder Debatten umbehindertenpolitische Themen. Trauriger Anla war der Frei-tod des Chefredakteurs vom MDR, der im Rollstuhl sa. Miteiner Assistenz wrde er vielleicht heute noch leben. Ulrikeberlegt: Viele frchten sich ja davor, nicht mehr versorgtzu werden, nicht mehr von A nach B zu kommen, nicht mehram Leben teilnehmen zu knnen. Aber genau das knnten siemit Assistenz.

    Peter hat jetzt seine eigene Wohnung und muss sich keine Sor-gen mehr um die Kleinigkeiten des Alltags wie Einkauf, Essenund Toilette machen. Seine Gedanken kreisen jetzt vielmehr wie die eines jeden angehenden Studenten um Prfungen,

    Wochenendplanung und neue Freundschaften.

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    Gleichbehandlung

    von BehindertenAuch bei Einkommen und Altersabsicherung!B E R I C H T : C h r i s t o p h e r G r o h n

    Vor kurzem wurde ich auf eine Petition aufmerksam, in deres darum ging, Gleichberechtigung fr alle behinderten Men-schen in Deutschland zu schaffen, auch wenn es darum geht,etwas fr die Altersvorsorge anzusparen. Was bei den gesun-den Menschen schon lngst Normalitt ist, dafr mssenbehinderte Menschen erst noch kmpfen. In Deutschland istdas Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Leben abhngig

    von der eigenen, individuellen Wirtschaftsleistung. In Ln-dern wie Schweden beispielsweise ist das menschlicher: InSchweden bekommen behinderte Menschen Ihre Hilfe unab-hngig von der eigenen Wirtschaftsleistung!

    Worum es hier im Einzelnen geht, ist das Bundesteilhabege-setz, welches in seiner jetzigen Fassung absolut berarbei-tungswrdig ist. Der Bund beschftigt sich gerade in dieserLegislaturperiode mit diesem Thema, auch die Bundesminis-terin Andrea Nahles wurde mit der Petition angesprochen,welche ein behinderter Mensch vor Monaten startete und diebreiten Zuspruch findet.1

    Es ist doch auch eine zum Himmel schreiende Ungerechtig-keit, dass der behinderte berufsttige Mensch die blichenAbgaben und Steuern zahlt, darber hinaus aber noch zu-

    stzlich bis zu 40 Prozent seines Einkommens an den Staatabfhren muss! Ein voll behinderter Mensch darf nicht mehrals 2 600 Euro auf dem Konto haben. Mehr darf ein Behinder-ter, welcher intensive Hilfe/Assistenz ntig hat, nicht besit-zen. Darber hinaus wird alles abgezogen. So lohnt es auchnicht, wenn man eine hhere berufliche Qualifizierung hatund dadurch besser verdient. Selbst wenn sich ein grererErfolg in der Karriere einstellt, hat der Behinderte einen Nach-teil und wird arm gehalten, da alles bis zu 40 Prozent desEinkommens abgezogen wird. Mehr als 2 600 Euro darf einbehinderter Mensch (auch fr Ehepaare gelten diese Bestim-mungen) nicht auf dem Konto haben. Deshalb lohnt sich auchdas Sparen fr die Altersvorsorge nicht, es wird doch sowiesovom Staat einkassiert, was ber 2 600 Euro liegt!

    Vermgensbildung ist somit fr Behinderte, welche in der Ar-beitswelt Fu fassen konnten, nicht mglich, da zu viele unge-rechte Abzge einer Vermgensbildung im Wege stehen. Einbehinderter Mensch, der aufgrund seiner Behinderung eineintensive Betreuung bzw. Assistenz bentigt, gert direkt indiese Regelung, egal ob der Behinderte selbst aufgrund einerberragenden geistigen Leistungsfhigkeit Jobs machen kann,welche auf hherem Niveau liegen.

    All diese Regelungen entsprangen der derzeitigen Sozialge-setzgebung, das Ministerium fr Arbeit- und Soziales hatmittlerweile die konzeptionelle Arbeit an einem neuen Teilha-begesetz begonnen. Entwicklung und Verlauf zur Neuverfas-sung des Teilhabegesetzes knnen Sie im Internet unter dieserAdresse verfolgen.2

    Das Thema hat man mittlerweile dem Deutschen Bundestagin Form einer Petition berreicht, die Bundestagsvizeprsi-dentin Schmidt, alle behindertenpolitischen Sprecher undSprecherinnen und die Vorsitzenden des Sozialausschusseshaben die Petition nun entgegengenommen. Ziel ist es, dieRegelung fr unsere behinderten Mitmenschen einfacher zumachen, um diese existentielle Ungerechtigkeit auszurumen,die Vermgens- und Einkommensabhngigkeit der Hilfeleis-tungen abzuschaffen oder zumindest die Grenzen deutlich zuerhhen.

    Es spricht schon fr sich, dass Behinderte in Deutschlandso sehr fr ihre Rechte kmpfen mssen, sich unter Zuhil-fenahme von Petitionen fr ihr Recht stark machen, weil an-sonsten einfach nichts passiert. Als ein deutliches Beispiel frdie soziale Situation in Deutschland zeigt auch diese Petition

    Missstnde auf, die auf einen maroden Sozialstaat hinweisen.Das zeigt uns auch, wie viel es noch zu tun gibt, um eine ge-rechte und soziale Gesellschaftsordnung zu schaffen.

    1 www.change.org/p/rech-au-sparen-und-gleiches-einkommen-auch-%C3%BCr-menschen-mi-behinderungen-26002www.gemeinsam-einach-machen.de/BRK/DE/SdS/Bundeseil-habegesez/bundeseilhabegesez_node.hml

    INFO

    www.eilhabegesez.org www.openpeiion.de/peiion/online/eilhabegesez-jez www.badische-zeiung.de/deuschland-1/

    exisier-uer-behindere-ein-sparverbo--83639337.hml hp://www.wesalen-bla.de/nachrich/2013-

    07-30-das-is-einach-ungerech-9239958/613/Sparen knnen sich Behindere bislang sparen (Quelle: wikipedia/Joyous!)

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    Live-Aufrit au groer Bhne (Quelle: Handiclapped)

    Auch Behindere haben Spa an Musik und Tanz (Quelle: Ha ndiclapped Kulur Barriererei e.V.)

    Am Anfang war eine IdeeDer Verein Handiclapped Kultur Barrierefrei e.V. und seine ArbeitB E R I C H T : J a n M a r k o w s k y

    K o n t a k t d a n k K u l t u r n e t z w e r kF r d e r b a n dAls in der Redaktionssitzung dieses Heft be-sprochen wurde, wusste ich genau, worberich schreiben wollte: Handiclapped KulturBarrierefrei. Ich wollte den Kontakt erneuernund hatte nach der Website dieses Vereins ge-sucht. Einige Monate ohne Erfolg, doch genauan dem Tag der Sitzung hatte ich sie gefunden.

    Mein Verein Unter Druck Kultur von der

    Strae e.V. ist seit Jahren Mitglied im NetzwerkFrderband Kulturinitiative Berlin. Unsere So-zialarbeiterin hat sich bei einem Treffen der Kul-turinitiative Frderband an eine Mitarbeiterinvon Frderband gewandt mit der Bitte um Un-tersttzung fr das Nachtcaf von Unter Druck.Da fiel der Name Handiclapped. Ein Flyer wurdemitgegeben. Anruf, Zusage und schon war PeterMandel (neben Christian Gelbrich Vereinsvor-stand von Handiclapped) im sozialkulturellenTreffpunkt fr Wohnungslose im Wedding.

    I c h k a n n K u l t u r v e r a n s t a l t u n g e no r g a n i s i e r e n Ich habe Peter Mandel ber sein Ehrenamt be-fragt. Er hat im Kulturbereich gearbeitet. Ich

    kann Kulturveranstaltungen organisieren warsein erstes Statement. Dann sprach er von Band-workshops, inklusiven Konzerten und der Han-diclapped Band. Und davon, dass die Band auseinem Workshop entstanden ist. Ich erinneremich, dass Peter Mandel von den Konzerten ge-sprochen hat.

    G a n z a m A n f a n g w a r e s n u r e i n e I d e eWeshalb die Workshops organisiert werden unddie Konzerte stattfinden, erschliet sich aus derWebsite: Ganz am Anfang war es nur eine Ideemit der Frage, warum Menschen mit Behinde-rung kaum auf Live-Konzerten anzutreffen sind.Sie mgen Musik wie jeder von uns, jedoch gibt

    es scheinbar bisher nicht die richtigen Rahmen-bedingungen. Auch die Chance, mal irgendwoauf einer groen Bhne zu musizieren, so richtigmit Gitarren-Verstrker, Schlagzeug und Mikro-fon, hatten wir bisher nicht wahrgenommen. Wirredeten nicht lang sondern fingen einfach an!Der erste Workshop wurde 2008 organisiert.

    D i e A r b e i t v o n H a n d i c l a p p e d h e u t eDer Verein organisiert inklusive Live-Konzerteund veranstaltet sowohl Bandworkshops alsauch Tanzworkshops. Bleiben wir zunchst beiden Konzerten. Mit Ausnahme der Sommerfe-rien jeden Monat zwei. Bei den Konzerten spie-len eine integrative Band und eine normaleBand vor in der Regel 60 bis 90 Menschen. Ein-geladen sind die unterschiedlichsten Bands. Hierdie letzten Konzerte: Im September Folk-Bal-

    kan-Swing-Abend mit Il Civettound sowieWohnsttten-Rocker Spandau und im Oktober

    TONALPIE und Freygang Band sowie Rockmit der Band der Mosaik-Werksttten AskanierRock und dem Ergebnis des 20. Bandwork-shops. Sie haben richtig gelesen: Freygang. Dielegendre Band aus Ostberlin, die der Magistratmundtot machen wollte! Die Konzerte findenabwechselnd im Pfefferberg, Haus 13 in Prenz-lauer Berg (5.11. Groer Trommelabend) undder Alten Feuerwache in Friedrichshain (27.11.Groer Talenteschuppen) statt. Beginn 18 Uhrist frh. Viele Menschen mit Behinderung lebenin Heimen oder betreuten Wohngemeinschaftenund mssen rechtzeitig begleitet zurck gebrachtwerden. Da kann auf Belange von Menschen, dieim Berufsleben stehen, einmal keine Rcksichtgenommen werden. Zunehmend sind dann auchBesucher ohne Behinderung im Publikum zu se-hen, sozusagen gelebte Inklusion.

    Welche Wirkung ein Workshop haben kann, zeigtein Video vom Musikworkshop, das 2012 berden Verein gemacht worden war. Zum Schlussist der Leiter des Workshops zu sehen, der sicht-bar zufrieden mit dem Ergebnis seiner Arbeitwar. Auf Anfrage sagt der zunchst, dass es sichmit behinderten Menschen genauso gut arbeitenlsst wie mit Menschen ohne Behinderung. Nacheiner Pause sagt er dann doch, sie (die Menschenmit Behinderung) seinen leichter zu dirigieren.Weshalb, das wurde vorher gezeigt. Teilnehmerwurden beim ben gezeigt und es wurden Ei-nige interviewt. Zu sehen ist Eifer, Freude undBegeisterung. Von den interviewten Gsten frdas Video will ich auf eine junge Frau aufmerk-

    sam machen, die ein Instrument spielen lernenwill. Ihre Freude hat mich tief beeindruckt.

    Neben den Musikworkshops werden auch Tanz-workshops angeboten. Auf der Website sindFotos verffentlicht. Die Freude an der gemein-samen Bewegung zur Musik ist den Teilneh-merInnen auf den Bildern anzusehen.

    F a z i tGemeinsam Musik genieen und zusammen Mu-sik machen sollte eigentlich selbstverstndlichsein. Dass das die Arbeit eines gemeinntzigenVereins ist, sagt viel ber den Zustand unsererauseinander brechenden Gesellschaft. Wie so oftsind die kleinen, eigentlich selbstverstndlichenAktivitten so wichtig fr die betroffenen Men-schen.

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    stras senfeger | N r. | November | BEHINDERUNG

    Circus Sonnenstichber ein Beispiel fr perfekte BehindertenintegrationB E R I C H T : D e t l e f F l i s t e r

    Das Berliner Zentrum fr bewegte Kunst (ZBKe.V.), das seit 2011 nach vierzehn Jahren Pro-

    jektarbeit mit dem Zircus von Anne-KatherinaAndrees und Michael Pigl-Andrees gegrndetwurde und in dem mittlerweile bereits fast fnf-

    zig Artisten aktiv trainieren und teilweise auch im grerenRahmen auftreten, ist in dieser Form das einzige in Deutsch-land und ein phnomenales Beispiel fr perfekte Integrationin die Gesellschaft. Sie haben seit 2014 mit dem Variet Cha-mleon Theater eine feste Partnerschaft. Erfolgreich spieltCircus Sonnenstich national wie auch international seineerstaunlich professionellen Produktionen und fhlt sich denIdeen des Neuen Zirkus (einer ganzheitlichen Verbindungunterschiedlicher Bhnenknste wie Zirkus, Tanz und The-ater) verpflichtet. Hier geht es nicht nur darum, artistischeTechniken zu erarbeiten, sondern auch ber Tanz ein ganz-heitliches Krpergefhl beim Artisten zu entwickeln, um sichauch bei komplizierten Bewegungen in diese fallen lassen zuknnen und diese exakt ohne Sicherheitsdenken ausfhrenzu knnen.

    D a s E r l e b e n v o n C i r c u s S o n n e n s t i c h i n e i n e r f f e n t l i c h e n G e n e r a l p r o b e

    Es fllt sofort auf, wie souvern und selbstbewusst die fnf-zehn Artisten auf der Bhne wirken. Sicher und unwahr-scheinlich charismatisch kommen die fnfzehn Artistenwhrend der Generalprobe ihres neuen Programms daher.Kraftschreie, Jubelrufe und stolze Gesten zeigen, dass sie

    hochkonzentriert sind und eine in dieser Form nie geseheneFreude fr das empfinden, was sie gerade tun. Hufig siehtman ein Lcheln auf den Lippen der Akteure, die vor Leben-digkeit und Kraft nur so zu strotzen scheinen. Selbst kleineGesten aus dem Publikum werden aufgenommen, und es wirddarauf geantwortet. Der Artist Hagen Hsler reagiert auf einspontanes Winken von mir, indem er lachend zurck winkt.Die Artistin Ragner Ronacher lacht mich von der Bhne wegan und blinzelt mir zu, als ich applaudierend in ihre Rich-tung schaue. Den Artisten gelingt es, das Publikum sofort frsich einzunehmen und auf ihre Reise mitzunehmen. Ihr neuesProgramm Switch.auss welt innen begeistert bis zur letztenSekunde, fesselt, fasziniert bis zum endgltigen Ende. VielZwischenapplaus und ein begeistertes minutenlanges Tram-peln zeigen dies am Schluss deutlich. Eine Reaktion, die sichdie Artisten verdient haben. Man sollte Circus Sonnensticheinfach einmal gesehen haben. Es ist sehr leicht, Fan dieserGruppe zu werden.

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    stras senfeger | Nr. | November BEHINDERUNG |

    I m G e s p r c h m i t M i c h a e l P i g l - A n d r e e s

    Einige Tage nach der Generalprobe bekam ich noch Gelegen-heit, mit Michael Pigl-Andrees zu sprechen, der von BerufDiplom-Sozialpdagoge mit Schwerpunkt Spiel- und Thea-terpdagogik und eine der tragenden Personen des ProjektesCircus Sonnenstich ist.

    Er sagt zum Sinn des Zentrums fr bewegte Kunst:Es heitso, weil die Leute, mit denen wir arbeiten, immer noch anden Rand der Gesellschaft gesetzt werden. Schon der Namesagt: Sie sind Zentrum mit dem was sie sind, was sie knnenund was sie ausmacht. Sie sind im Zentrum der Gesellschafteine Bereicherung. Sie gehren ins Zentrum der Gesellschaft.Wir arbeiten in den Bewegungsknsten mit den Menschen.

    Die Artisten bewegen dadurch andere Menschen mit ihrerKunst. Wenn man mit Menschen mit Down Syndrom oderanderen Lernschwierigkeiten arbeitet, fallen vielleicht vieleDefizite auf, aber wenn man knstlerisch heran geht, siehtman deren ganz individuellen Reichtum, diese Schtze, dieman vielleicht nirgendwo anderes findet. Wir setzen einenRaum an, in dem sie ganz besondere Strken entwickeln undsich entfalten knnen.

    Zum Namen des Zircus:Die Wrme der Sonne gehrt unver-zichtbar dazu. Aber Sonnenschein ist zu lieb und nett. Es istein Stich fr die Gesellschaft. Man wird angepiekst. Der Stichist, dass man herausgeholt wird aus seiner Ruhe. Man wirdprovoziert, von diesen Menschen, die unglaubliche Dingeknnen. Es kommen Menschen mit einem Down Syndrom

    und anderen Lernschwierigkeiten und machen so etwas Au-ergewhnliches, dass die Menschen aufwachen und sagen:Meine alten Denkmuster und Kategorisierungen stimmen garnicht mehr. Diese Menschen passen berhaupt nicht in meineMuster.

    Zum Zusammenhang von Krperbewusstsein und Selbstbe-wusstsein:Da gibt es auch diesen direkten Zusammenhang.Krperbewusstsein heit, die Menschen sind sich selber be-wusst, es kommt Selbstbewusstsein. Sie haben ber ihr Be-wusstsein ein artistisches Knnen und dadurch empfinden sieein Selbstbewusstsein..

    ber Strke:Unsere Artistin Anne-Sophie Mosch sagt: Ei-gentlich bin ich gar nicht stark. Aber durch das Team werdeich das. Ich werde stark, finde die Strke. Diese Menschensind so selbstbewusst, dass sie ihr Knnen mit Kraft undFreude prsentieren knnen.

    Zum Thema Gemeinschaftssinn:Unser Gemeinschaftssinnist natrlich auch erarbeitet. Man fhlt mit jeder Faser seinesKrpers diesen Zusammenhalt. Mit dem, was sie mit diesemZusammenhalt ausstrahlen, geben sie auch der Gesellschafteinen Impuls. Man kann sehen, wieviel Harmonie unter Men-schen mglich ist, wieviel Kraft es gibt, wenn man zusammen-hlt. Sie haben ein unglaubliches Wir-Gefhl, das transportie-ren sie zu jedem Zuschauer

    ber soziale Kompetenz:Das ist auf der Bhne als wunder-bare Leistung zu sehen. Es ist eine Kultur, die wir ber Jahreentwickelt haben Da gehrt soziale Kompetenz dazu. Zuerstmuss ich erkennen, wo jemand Hilfe braucht. Dazu muss ichachtsam sein und meine Wahrnehmung geschult haben. Wirhaben seit vier Jahren unsere Trainingskultur so umgestellt,

    dass die Artisten bei allen Tricks lernen, sich gegenseitig zuhelfen. Unsere Artisten wollen zeigen, dass auch sie anderenhelfen knnen.

    ber die Finanzlcke des Vereins:Unser Zentrum fr be-wegte Kunst hat immer noch keine eigenen Proberume. Wirhaben immer noch null Euro ffentliche Frderung. UnsereVereinsarbeit wird immer noch hauptschlich von zwei Men-schen getragen, die von einem ehrenamtlichen Vorstand un-tersttzt werden. Wir haben keine festen Stellen. Alles luftauf Honorarbasis

    ber die Mglichkeit einesArbeitsplatzes:Es sollte zu-mindest eine ffentliche Ba-

    sis gezahlt werden, dass wiruns in allen absichern kn-nen. Idealfall wre natr-lich, wenn ein Arbeitsplatzgeschaffen werden knntefr die, die sich auf ihreknstlerische Arbeit kon-zentrieren wollen. Das istgut, aber nicht das Grundin-teresse. Nicht jeder, der zuuns kommt, muss hier sei-nen Arbeitsplatz haben. EinArtist liebt es, Grtner zusein, ein anderer mag seinenComputerarbeitsplatz be-halten, eine andere Artistinarbeitet gern in der Wsche-rei, in der sie beschftigt ist.

    GanzheilichesKrpergehl en-wickeln durch Tanz(Foo: Sephen Mooney)

    Konzenraion rkrafvolle Akrobaik(Foo: Sandra Schuck)

    Au der BhneSrken enwickelnund enalen (Foo:

    Sandra Schuck)

    Gemeinsam sarkdurch Teamarbei(Foo: Sephen Mooney)

    Diplom-Sozial-pdagoge MichaelPigl-Andrees(Foo: Dele Fliser)

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    Toal schrg: Sporrollis beim Baskeballraining ausprobieren

    Integrationdurch SportDer Sportverein Pfefferwerk e.V.in Pankow bringt Behinderte undNormalos zusammenT E X T & F O T O : B o r i s N o w a c k

    Bewegung Integrale nennt sich das Konzept desKinder- und Jungendsportvereins Pfefferwerkaus Pankow. Der Verein hat seine Aktivitten seitseiner Grndung 1990 im Laufe der Jahre immerweiter ausgebaut, um so das Zusammenspiel von

    Behinderten und Nichtbehinderten zu erweitern und im Sportwie im Alltagsleben selbstverstndlicher zu machen.

    Als Ende August in der Max-Schmeling-Halle wieder das Pan-kow-Festival stattfand (der strassenfegerberichtete), durftenZuschauer die ganze Bandbreite des Sportvereins Pfefferwerke. V. kennen lernen. Seit 2007 ist der Verein zusammen mit

    dem Bezirksamt Pankow Veranstalter dieses Ereignisses, dassich zum einen der Suchtprvention und zum anderen der In-tegration durch Sport widmet. Vom Kleinkind ber Jugendli-che und junge Erwachsene mchte der Verein alle Interessier-ten mit und ohne Handicap durch Sport zusammenbringen.Dabei geht es nicht um Leistung, sondern um das gemeinsameErlebnis.

    Es geht uns um Vielfalt und Inklusion, sagt SebastianZinke von der Abteilung Fit und Gesund. Wir wollen frh-zeitig Ausgrenzungsmechanismen in der Gesellschaft mini-mieren und ber den Sport mglichst viele und verschiedeneMenschen zusammenbringen, um Berhrungsngste undVorurteile gar nicht erst aufkommen zu lassen.

    Gegrndet wurde der Sportverein Pfefferwerk 1990 imPrenzlauer Berg fr Kinder und Jugendliche und war bald

    auch in Pankow ttig. Mitte der 90er Jahre erweiterte ersein Angebot um das Konzept Bewegung Integrale, bei demKinder mit und ohne Behinderung zusammen Sport treiben.Seit 2009 schlielich spricht er allgemein Menschen mit undohne Behinderung an. Seit seiner Grndung wurde der Vereinmehrfach fr seine Kinder- und Jugendarbeit ausgezeichnet.

    F i t i m R o l l s t u h l a u c h f r F u g n g e r

    Bekannt ist insbesondere der Rollstuhlsport des Vereins. BeimRollstuhlbasketball und Rollstuhlsoccer (Fuball) spielen Be-hinderte und Fugnger, wie die Nichtbehinderten gerne ge-nannt werden, zusammen. Das heit, dass sich ein Fugngererst einmal mit einem Rollstuhl vertraut machen muss und sogleichzeitig erfhrt, welchen Hindernissen Behinderte begeg-nen. Die echten Rollstuhlfahrer hingegen knnen durch denSport ihre Fahrknste verbessern. Die Kinderrolligruppendes Vereins Pfefferwerk sind schon fr die Kleinen ab 4 Jah-

    ren geeignet. Der Verein bietet auch die Mglichkeit, Sport-rollis auszuprobieren, die stabiler konstruiert sind und durchdie schrg angebrachten Rder einen kleineren Wendekreishaben.

    Beim Rollstuhlsoccer oder Wheel Soccer gilt es, einenPezzi-Ball mit den Hnden oder dem Rollstuhl ins gegnerischeTor zu befrdern. Im Gegensatz zum Rollstuhlbasketball istes weniger hart und kompliziert und eignet sich deshalb auchfr die ganz kleinen Rollstuhlfahrer oder solche mit strkererBehinderung. Jedes Jahr veranstaltet der Verein den Wheel

    Soccer Cup, der an zwei Tagen Training und Turnier beinhal-tet. Eine Teilnahme an Wettkmpfen jedoch ist keineswegsPflicht.

    Der Kontakt ist uns ganz wichtig, ergnzt Sebastian Zinke.Egal ob jemand besonders leistungsfhig ist, im Rollstuhlsitzt oder auf einer anderen Ebene Frderungsbedarf hat, wirwollen unsere Gruppen so heterogen wie mglich gestalten.Das gilt auch fr die Verteilung von Mdchen und Jungen.Kinder haben keine Vorurteile, die entwickeln sich wennberhaupt erst spter.

    Die Mitgliederzahlen sind in den letzten Jahren aufber 4 000 gestiegen, was sicher auch dem immer grerenSportangebot zu verdanken ist. Beim letzten Pankow-Festivalwar erstmals eine Selbstverteidigungsgruppe mit dabei, dienun regelmig in der Mariannenarena in Kreuzberg zusam-men mit dem Verein Pfefferwerk Kurse anbietet. Wie immerfr Sportler mit und ohne Behinderung.

    INFO

    www.pefferspor.de

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    stras senfeger | Nr. | November BEHINDERUNG |

    Niemandsland zwischen

    Inklusion und WiderstandDas Bryckenbrant Behinderungstheater geht ungewohnte WegeT E X T : T h e a t e r g r u p p e B r y c k e n b r a n t

    Seit 2011 arbeiten bei BryckenbrantKnstler aus aller Herren Lnder zu-sammen. Wir widersetzen uns dabeider schwarz-weien Unterscheidungbehindert/nicht-behindert. Es ist

    bezeichnend, dass Menschen mit Behinderungenallgemein als krank angesehen werden, obwohl

    doch Menschen kaum behindert sein knnen.Ist nicht viel mehr ein System, das durch sie be-hindert wird, fehlerhaft konzipiert? Ist es wirk-lich etwas Negatives, der dauernden Beschleuni-gung im Weg zu stehen und auf seiner eigenenGeschwindigkeit zu beharren? Diejenigen, dievon Behinderten sprechen, sollten diese ehrli-cherweise vielleicht lieber Behindernde nennen,vom verinnerlichten Standpunkt der Maschineaus gesehen. Schon Heiner Mller wusste DerMensch ist der Feind der Maschine, fr jedes ge-ordnete System ist er der Strfaktor. Er ist unor-dentlich, macht Dreck und funktioniert nicht.Wenn es berall nur noch darum geht, zu funk-tionieren, und man als roboterisierter homo sapi-ens digitalis den Begriff Humanitt nur noch in

    antiquarischen Lexika nachschlagen kann, danngilt es, sich diesem Denken zu verweigern. Wi-derstndigkeit ist zu einer allzu oft vergessenen,wenn nicht gar verhhnten Tugend geworden.

    Doch genau aus diesem Grund gibt es Brycken-brant mit seinem Behinderungstheater, bei demsich Knstler mit Trisomie 21 mit anderenSchauspielern, Tnzern und Musikern zu einerGruppe Behindernder zusammengefunden ha-ben. Wir halten wenig von Reibungslosigkeitund Linearitt und streuen fleiig Sand in dieMaschinerie des geregelten Betriebsablaufs.Ziel ist es, gemeinsam neue Ausdrucksformenzwischen Theater, Tanz, Bildender Kunst und

    Musik fernab der etablierten Theaterrealitt zuerkunden, eingeschliffene Interpretations- undSehgewohnheiten aufzurtteln und durch kriti-sche Impulse dem Zeitgeist einzuheizen.

    Was uns interessiert, sind die Unsichtbaren undUmherschweifenden, die tagtglich fr nur einenAugenschlag in unser Bewusstsein kommen, dieman als erste Sthnen hrt, wenn der Grtel derGesellschaft mal wieder enger geschnallt wird.Bryckenbrant solidarisiert sich mit diesen Ortlo-sen. Mit denen, die ihr Penner, Behinderte,Entartete, Zigeuner nennt, bilden wir dasfahrende Volk. Eine Gemeinschaft, in der schonseit jeher Platz war fr alle und jeden: die geistigStaatenlosen und Eigensinnigen, die Schrgenund die Urtypen, fr alle, die berall und Nir-gendwo zu Hause sind.

    Wir sind ein Laboratorium, in dem sich Kulturen, Gebruche und Ku-rioses mischen und immer neue Experimente gewagt werden, bei demfr jeden etwas dabei ist und dessen Glanz und Hauch von Abenteuer

    auch den verbohrtesten Geist verzaubern kann. Indem wir zusammenaus dem Dunkeln ins Rampenlicht treten, machen wir uns bemerk-bar. Sptestens jetzt kann keiner mehr behaupten, er htte von nichtsgewusst. Und selbst dann, wenn ihr uns nicht haben wollt, werdet ihreuch damit abfinden mssen, dass wir hier sind.

    Heiner Mller meinte einmal, man solle sich weigern zu siegen. Wirverstehen dies so, dass wir uns einem Sieg verweigern sollen, der aufdem Rcken anderer ausgetragen wird. Was wir lernen mssen, istsiegen ohne zu be-siegen, ohne jemanden auf der Strecke bleiben zulassen. Denn nur ein Sieg ohne Verlierer, ohne Be-Siegte verdient es,als Erfolg verzeichnet zu werden. Alles andere ist Geschwtz kleinher-ziger Krmerseelen. Wir mssen aufhren, ein Spiel zu spielen, dassuns um jeden Preis zum Verlieren oder Gewinnen zwingt. Entwederwir ndern die Spielregeln oder wir spielen einfach nicht mehr mit.

    Bryckenbrant Das ist das Niemandsland zwischen Inklusion undWiderstand!

    Bei Bryckenbran mischen sich Kuluren, Gebruche und Kurioses (Foo: Nicole Mhlberg)

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    Bryckenbrant versus

    JuggernautNicht das Gebude der Harlekin ist das TheaterT E X T : T h e a t e r g r u p p e B r y c k e n b r a n t

    Ein Zug donnert die Gleise entlang. Eine kilome-terlange funkelnde Schlange aus Wagons, gezogenvon einer noch ungeheuerlicheren Elektrolokomo-tive mit den Ausmaen einer Mietskaserne. Aufihr in groen leuchtenden Lettern: Juggernaut. Sie

    fhrt jedoch zu schnell, als dass jemand die Aufschrift jemalshtte lesen knnen. Am Steuerpult dieser Lok sitzt ein Ro-

    boterisierter, auf dessen offenen Augen die Schmeifliegenkauern und ihre Rssel putzen. Sein Krper ist nach vornegeneigt, als ginge es dadurch vielleicht noch etwas schneller.Das weibliche Zugpersonal ist verpflichtet, den Lidstrich zumBeschleunigungstreifen zu verlngern.

    Die Passagiere sitzen alle in Fahrtrichtung und tragen Bril-len mit Scheuklappen, damit ihnen im Geflacker der vorbei-ziehenden Schatten nicht bel wird. So sagt man jedenfalls.In den Groraumwagen wird laute Blasmusik gespielt. DieKapelle ist neu, doch die Melodien sind die von anno dunne-mals. Die Fahrgste sind zufrieden: der Zug liegt verdammtgut in der Zeit, und dank des anhaltenden Fortschritts wirder dauernd schneller, lnger, luxuriser, kurzum: besser. DieAnkunftszeit ist klar: 12 Uhr Mittags. Fahrtziel Zukunft. Gehtes im Leben wirklich nur darum, mglichst schnell ans Ziel

    zu kommen? Keiner der Fahrgste ahnt das Drama, das sichhinter ihrem Rcken, unsichtbar hinter dem letzten Wagondes Zuges abspielt.

    Eine in der Luft kreisende Krhe bemerkt, dass am Ende desZuges etwas nicht ganz nach Plan zu verlaufen scheint: Di-cker schwarzer Rauch steigt von dort auf. Ein zweiter Zug!!!Bevlkert von namenlosen Rumtreibern und Gauklern. Dochhier und da tauchen altbekannte Gesichter in den ruver-schmierten Fenstern auf: Virginia Wagner, Harvey, der Haseder Angst und der mchtige Zampan. Mit schwarzen Schau-feln, knietief im Tender, schaufeln sie mit finsteren GesichternKohle in die fauchende Feuerbchse der brllenden Dampf-Lokomotive, Typ: Tather. Aufstehen, liebe Leute!, heit espltzlich, und Frau Wagner steht vor den schlotternden Passa-

    gieren in ihrem sicheren Abteil. Sie beginnt die Sitzbnke mitder Spaltaxt zu bearbeiten, um das gierigen Maul der Loko-motive mit ihrem Holz zu fttern. Funken steigen von den R-dern auf und stieben in den Wald am Rand der Gleise. Bumefangen Feuer. Die von unseren Helden befeuerte Lok hat sichan das Ende des Juggernaut-Zuges gehngt. Die Besatzungarbeitet entgegen der Fahrtrichtung und nicht dafr. Wie DonQuichotte seinen Windmhlen, so stehen unsere Helden derMaschine genauso unvershnlich gegenber. Nicht einmalder Roboterisierte am Steuerpult vermag die verursachteEntschleunigung des Zuges zu erklren. Fr seine Messgerteexistiert sie nicht. Dabei handelt es sich um einfachste Physik.H?! Wie meinen? Aber, unbedingt! Sie haben ja vlig recht,lieber Leser. Wo ist eigentlich der Harlekin, der auf all denPhotographien zu sehen ist? Wieso hat er keine Schaufel inseinen rugeschwrzten Pranken und strkt seinen Partnernden Rcken? Kommen Sie nher Ich sag Ihnen mal was:

    Er wird schon seine Grnde haben. Vielleicht manipuliert ergerade am Rande der Schienen Zugsignale oder sgt einenBaum um. Oder er sitzt ber dem Donnern der Schwellenauf einer Kupplung zwischen den Wagons und denkt sich diePointe aus, bei der sich selbst der roboterisierte Lokomotiv-fhrer totlachen muss. Doch selbst mit dem Harlekin sind siezu schwach, den Juggernaut zu stoppen. Deshalb, verehrterLeser, sehen Sie auf ihrem Speicher nach Haben Sie dorthinter vergessenen Kisten nicht eine Draisine stehen? Wischden Staub herunter, vielleicht einen Tropfen l, dann bring siezu den Bahngleisen und kurble los! Gie Deine Fe in Betonund vertue Dich mit den Gleisen. Verwickle ihre Schergenund Hscher in unntige Gesprche. Malt die Signalanlagenrot. Machen Sie was! Wenn es nicht gleich klappen sollte: Pro-bieren Sie es nochmal! BEHINDERT !!

    INFO

    www.behinderungs-heaer.org

    Clown gellig? Zu Diensen! (Foo: Daniel Witkopp)

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    stras senfeger | Nr. | November BEHINDERUNG |

    Haben Sie beim U-Bahn-Fahren auch eine Maske au? (Foo: Nicole Mhlberg)

    Auftritt trotz allemBehinderungstheater im berall und NirgendwoT E X T : M a x L a n g e n d o r f , T h e a t e r g r u p p e B r y c k e n b r a n t

    Es ist einer dieser Tage, von denen manschon viel zu viele hatte. Gehetzt, aufdem Weg zu irgendeinem Termin,mit den Gedanken ganz woandersund sowieso eigentlich schon zu spt.

    Ich erwische mit groen Stzen gerade noch denletzten Wagon, dessen Tren sich unter dem ner-vigen Signalton scheppernd schlieen. Ein freierPlatz. Sekunden des Verschnaufens.

    Nach wenigen Sekunden eine markante Stimmeam anderen Ende des Abteils: Einen wunder-schnen guten Tag, liebe Fahrgste

    Ein kurzer Schock geht durch die Menge. In Se-kundenschnelle hat sich das Publikum der Bahnin zwei Lager gespalten. Der eine Teil schenktihm, wenn vielleicht auch nur kurz, seine Auf-merksamkeit, will oder ist zumindest willigzuzuhren. Man ist bereit, sich fr das, wasimmer jetzt kommen mag, gewinnen zu lassen,der Neugier oder berrumpelung nachzugeben.Der andere, meistens weitaus grere Teil, ver-sucht verzweifelt, sich hinter Zeitungen undSmartphones zu verschanzen oder vorzugeben,in irgendeine Ttigkeit vertieft, in jedem Falleaber nicht betroffen zu sein. Es lsst sich mitdem Moment vergleichen, wenn sich im Theaterein Schauspieler in den Zuschauerraum bewegt:Blo sich nicht in eine Interaktion verwickelnlassen. Es ist interessant, die Gesichter zu be-

    obachten, whrend angestrengt nach einer an-gemessenen Reaktion auf diesen Strfall, einerpassenden Maske, hinter der man sich verste-cken kann, gesucht wird. Es lsst sich in jedemFall allen eine gewisse Erwartungshaltung zu-schreiben: Was wird passieren? Wird mir je-mand ein Straenmagazin verkaufen wollen,singen, ein Instrument spielen oder irgendeinanderweitiges Talent zum besten geben? Odervielleicht doch nur nach einer bescheidenenSpende fragen? In jedem Fall erwarten wir eineAuffhrung.

    Was sich hier in diesem Bahnabteil, diesem sichstndig in Bewegung befindenden Ort ohne Ort,diesem Knotenpunkt, an dem sich die Lebens-realitten von Hunderten tglich fr Momenteberschneiden, abspielt, liee sich auch auf ei-ner der vielen Berliner Bhnen finden und stndediesen, was Witz und Kreativitt angeht, wenigbis nichts nach. Der fundamentale Unterschiedzwischen den Obdachlosen und all den anderenOrtlosen, die ihren Lebensunterhalt in diesemNiemandsland bestreiten gegenber den grlen-den Fuballfans und partydurstigen Touristen,ist der Auftritt trotz allem.

    Obwohl sie von vielen als Gescheiterte gesehenwerden, unternehmen sie den Versuch, sich zubehaupten. Es ist die politische Geste, die diesemStrfall innewohnt, harmlos und bitterer Ernst

    zugleich. Harmlos durch die Form: Das offeneSprechen vor einer Versammlung, um sich undseiner Sache Gehr zu verschaffen. BittererErnst durch das Heraustreten aus der Menge,diesem Moment des Eingestndnisses und desEntblens, die die Mitreisenden zu Zeugendieser Situation machen und ihnen eine Haltungabverlangen. Ihre Auftritte sind deshalb Prakti-ken innerhalb einer sthetik des Widerstands:Weitermachen, sich nicht verbiegen, verbietenoder unterkriegen zu lassen, nicht aufzugeben,sich seinen Platz zu erkmpfen und zu behaup-ten trotz allem. Indem sie die Linearitt und

    Sicherheit des Alltags auch nur fr einen Mo-ment durchbrechen, aufhalten oder verndern,sind sie die Stolpersteine fr unser Bewusstsein.Solange fr diese Ortlosen in der Mitte unsererGesellschaft kein Platz ist und versucht wird, siedurch Verbote unsichtbar zu machen, an denRand zu drngen, solange werden sie als Strfak-toren wahrgenommen werden und die Funktionvon Strfaktoren erfllen.

    Sie sind eine Mahnung und Erinnerung daran,dass sich noch immer nichts gendert hat, dasssie immer noch hier sind und dass sie hier sindtrotz allem. Sie stren den widerstandlosen Flussder Dinge. Sie behindern. Solange sich unserDenken und die Art und Weise, wie wir unsereGesellschaft einrichten nicht ndert, erscheintdas auch bitter ntig.

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    stras senfeger | N r. | November | BEHINDERUNG

    Selbsporrai Elriede Lohse-Wchler. Die Ma-lerin wurde im Rahmen der Euhanasie-AkionT4 in der Heil- und Pflegeansal Pirna-Sonnen-sein gee (Quelle: Wikipedia)

    Philipp Bouhler, Reichsleier der NSDAP, warBeaufrager Hilers r das Euhanasie-Pro-gramm T4 (Quelle: wikipedia, Bundesarchiv)

    Minderwertiger BallastIm Nationalsozialismus galten psychisch Kranke und Behinderte als unwertes Leben.

    rzte und Pflegende beteiligten sich zigtausenfach an ihrer ErmordungT E X T : J u t t a H e r m s

    E u g e n i kDer Mord an psychisch Kranken und Men-

    schen mit Behinderungen im Nationalsozialismusversuchte seine Legitimation aus der Eugenik ab-zuleiten. Die Eugenik ging von der Vorstellungaus, Fortpflanzung msse gesteuert werden, umeinen erbbiologischen Niedergang aufzuhaltenund die menschliche Fortentwicklung voranzu-treiben. Minderwertige Menschen sollten sich

    nicht vermehren drfen, das war die zentraleAnsicht von Vertretern der Rassenhygiene.Der Psychiater Alfred Hoche und der Straf-

    rechtler Karl Binding verffentlichten 1920 diegemeinsame Schrift Die Freigabe der Vernich-tung lebensunwerten Lebens. Diese begrndetedie sogenannte Euthanasie (wrtlich schnerTod) und brachte sie mit der Vernichtunglebensunwerten Lebens in Verbindung. DieSchrift diente den Nationalsozialisten als theo-retische Legitimation fr die Ttung angeblicherbkranker Menschen. Das individuelle Schick-sal der Individuen und ihrer Angehrigen inter-essierte die Organisatoren der Massenttungennicht oder nur am Rande. Entscheidend war,welchen vermeintlichen Schaden der Volkskr-

    per durch die Erbkranken nehmen wrde.

    Z w a n g s s t e r i l i s a t i o n e nAm 1. Januar 1934 trat das Gesetz zur

    Verhtung erbkranken Nachwuchses in Kraft.Auf seiner Grundlage konnten Menschen etwamit den damaligen Diagnosen Schwachsinnoder Schizophrenie nun gegen ihren Willen un-fruchtbar gemacht werden. rzte stellten fr dieErbkranken einen Antrag auf Unfruchtbarma-chung bei Erbgesundheitsgerichten, die in denmeisten Fllen die Antrge befrworteten. Ins-gesamt wurden zwischen 1934 und 1945 etwa400 000 Frauen und Mnner zwangssterilisiert.

    Bis zu 5 000 starben an den Folgen des Eingriffs.ber die Erblichkeit von psychischenKrankheiten wussten Forscher damals sehr we-nig. Trotzdem herrschte die berzeugung vor,dass Erbfaktoren bei der Entstehung von Geis-teskrankheiten die zentrale Rolle spielen. DieOperationen fhrten Gynkologen und Chirur-gen durch. Sie nahmen Hunderttausenden damitdie Chance auf Familiengrndung. Juristisch be-langt wurden die an den ZwangssterilisationenBeteiligten nach 1945 nicht.

    M o r d : D i e s o g e n a n n t e A k t i o n T 4Im Januar 1940 begann die Ermordung

    kranker und behinderter Menschen. 70 000 vonihnen wurden in sechs eigens dafr errichtetenTtungsanstalten durch Giftgas umgebracht.

    Die Auswahl der Patienten geschah mit Hilfevon Meldebgen, die an die einzelnen Heil- undPflegeanstalten verschickt wurden. rzte trugendort neben den Kosten, die der Kranke verur-sachte, sowie der Dauer des Aufenthalts in derAnstalt die Beurteilung der Arbeitsfhigkeitdes Patienten ein. Anhand der Meldebgen, dasheit, ohne den betreffenden Patienten gesehenzu haben, entschieden dann Gutachter, zumeistPsychiater, ber die Aufnahme des Patienten indie Todeslisten.

    Die Gutachter hatten ihren Sitz in der Ber-liner Tiergartenstrae 4, die der Aktion T4ihren internen Namen verlieh. Hier befand sichdie zentrale Planungsstelle der verharmlosendEuthanasie genannten Patientenmorde. DieTransporte in die Vernichtungsanstalten erfolgtedurch die Gemeinntzige Krankentransport-gesellschaft (Gekrat) in sogenannten GrauenBussen.

    Im August 1941 gab Hitler die Anweisung,die Aktion T4 zu beenden. Historiker vermu-ten, dass der ffentliche Protest von KardinalGraf von Galen der entscheidende Faktor war,der Hitler dazu bewog. Das beschftigungslosgewordene Personal der Aktion T4 fand in Ver-nichtungslagern in Osteuropa seine weitere Be-schftigung.

    R e g i o n a l e E u t h a n a s i e Mit dem Euthanasie-Stopp und dem offi-

    ziellen Abbruch der Aktion T4 fand der Patien-tenmord allerdings nicht sein Ende.

    Zum einen wurde das Tten in einigen Gas-Anstalten fortgesetzt. Zudem ging man dazu

    ber, in fast allen psychiatrischen Anstalten imdeutschen Machtbereich Patienten durch Medi-kamente, gezieltes Aushungern und systemati-sche Vernachlssigung zu tten. Die Verwahrtenerhielten eine speziell dosierte Hungerkost, diein Kombination mit der leichten berdosierungdes Schlafmittels Luminal in einem vorhersehba-ren Zeitraum einen unnaufflligen Tod hervor-rufen sollte. Vernachlssigende Pflege und unge-heizte Rume erhhten die Wahrscheinlichkeitder Entwicklung von Infektionskrankheiten. Derregionalen Euthanasie fielen bis zum Kriegs-ende mindestens 90 000 behinderte und psy-chisch kranke Menschen zum Opfer.

    K i n d e r - E u t h a n a s i e Unter der irrefhrenden Bezeichnung

    Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfas-sung erb- und anlagebedingter schwerer Leidenregelten zwei Sachbearbeiter, der Diplom-Land-wirt Hans Hefelmann und der BankkaufmannRichard von Hegener die Meldung, Begutach-tung, Einweisung und schlielich Ttung vonmindestens 5 000 Kindern und Jugendlichen.

    Auf der Grundlage von Meldebgen, dievon Hebammen und rzten ausgefllt wordenwaren, urteilten drei Fachgutachter ber Le-ben oder Tod der Kinder. Gutachter waren dieKinderrzte Werner Catel aus Leipzig und ErnstWentzler aus Berlin sowie der Kinder- und Ju-gendpsychiater Hans Heinze aus Brandenburg-Grden.

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    stras senfeger | Nr. | November BEHINDERUNG |

    Mahnmal zur Erinnerung an die Oper der Euhanasie- Akion T4 der Nazis in der Tier-garensrae 4 (oben). Mi sogenannen Grauen Bussen (links) wurden die Oper in die

    jeweiligen Tungsansalen ransporier (Quelle: Dokumenaionsselle Harheim)

    Kinder, bei denen die Gutachter die Ttung befrworte-ten, wurden in Kinderfachabteilungen eingewiesen. Dorterfolgte die Ttung durch vorstzliche berdosierung von Be-ruhigungsmitteln. Kinder wurden darber hinaus auch Opferder Gasmordaktion T4 und der Hungerkost in Anstalten undHeimen. Insgesamt fielen zwischen 1939 und 1945 mehr als10 000 Kinder und Jugendliche den verschiedenen Program-men zur Vernichtung lebensunwerten Lebens zum Opfer.

    Keiner der drei medizinischen Gutachter wurde sptervon einem deutschen Gericht verurteilt. Alle drei waren nachdem Krieg in der Bundesrepublik wieder rztlich ttig.

    H e i l - u n d P f l e g e a n s t a l t B r a n d e n b u r g - G r d e n1940 wurde in Brandenburg-Grden die reichsweit erste

    Kinderfachabteilung eingerichtet. Sie erlangte Modellcha-rakter und diente als Reichsschulstation fr die rzte ande-rer Kliniken. Zwischen Mai 1938 und August 1944 wurdenhier insgesamt rund 4 000 Kinder und Jugendliche aufgenom-men. 1 270 kamen in der Anstalt um; von den unter zehnjh-rigen starben 61 Prozent, von den unter dreijhrigen Kindern91 Prozent. Die tatschliche Zahl derjenigen, die bis 1945gettet wurden, liegt jedoch vermutlich hher; vermutlichkamen viele der Minderjhrigen spter in anderen Ttungs-anstalten um.

    Am 28. Oktober 1940 wurden im Zuchthaus der StadtBrandenburg in einer Sonderaktion 60 Kinder aus Grdenvergast. Die Aktion stellte eine Besonderheit dar, da hier eineGruppe von Kindern berhaupt erst unter dem Aspekt wis-senschaftlicher Interessen fr die Vergasung zusammenge-

    stellt worden war. Die Gehirne der ermordeten Kinder wurdendem Hirnforschungsinstitut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaftin Berlin-Buch zur Verfgung gestellt.

    W i t t e n a u e r H e i l s t t t e nAuch in der Klinik Wittenauer Heilsttten im Norden Ber-

    lins, die 1957 in Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik umbenanntwurde, begingen rzte in der Zeit des Nationalsozialismuszigtausendfach Verbrechen an den ihnen Schutzbefohlenen.Zwischen 1934 und 1945 reichten Wittenauer Psychiater ver-mutlich etwa 2 000 Antrge auf Unfruchtbarmachung ihrer

    Patienten bei Erbgesundheitsgerichten ein. AnstaltsdirektorWaetzoldt erwirkte in abgelehnten Fllen eine extra Anord-nung auf Unfruchtbarmachung beim Erbgesundheitsoberge-richt.

    Ab Mrz 1942 kam es verstrkt zur Verlegung von Pa-tienten aus Wittenau nach Obrawalde (heute polnisches Ge-biet). Das Pflegepersonal aus Wittenau organisierte und be-gleitete die Transporte in die dortige Heil- und Pflegeanstalt.Insgesamt wurden mehr als 2 000 Patienten nach Obrawaldegebracht, nur wenige berlebten. Eine Chance, nicht sofortgettet zu werden, hatten nur diejenigen Menschen, derenArbeitskraft noch ausgebeutet werden konnte. Die Ttung er-folgte mit einer berdosis an Medikamenten. Ihr Tod wurdeder Verwaltung der Wittenauer Heilsttten mitgeteilt. Diegroe Zahl von Todesmeldungen wurde als selbstverstnd-lich hingenommen.

    In den Wittenauer Heilsttten selbst starben von 1939 bisKriegsende ber 4 600 Patienten.

    INFO

    Ausst ellu ngtotge schw iegen,1933 1945. ZurGeschichte derWittenauer Heil-

    sttt en

    Ehemalige Karl-Bon-hoeffer-NervenklinikOranienburger Sr. 28513437 Berlin | Haus 10

    Mo-Fr 10 -13 UhrSo 13 -17 Uhr(lezer Einlass

    16.30 Uhr)Der Einrit is rei

    htp://www.oge-schwiegen.org

    Gedenkstttefr die Op fer derEuthanasie-Morde

    in Bran denbu rg/Havel

    Nicolaiplaz 2814770 Brandenburgan der Havel

    Mi & Do 9 -13 Uhr

    Do & Fr 13 -17 UhrSa & So 10 - 17 Uhr

    Der Einrit is rei

    www.sifung-bg.de

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    stras senfeger | N r. | November | TAUFRISCH & ANGESAGT a r t s t r a s s e n f e g e r

    Die Kunst ist einAkt der BefreiungIn der Galerie Art Cru Berlin ist gegenwrtigdie Ausstellung Schlsselwerke zu sehen,mit der Achim Maaz, der fast sein ganzes Lebenin der geschlossenen Psychiatrie verbrachte, als

    herausragender Knstler der Outsider Art gefeiert wirdR E Z E N S I O N : U r s z u l a U s a k o w s k a - W o l f f

    Die Bilder hngen von der Decke,schweben im Raum, werfen Schat-ten auf die Wnde, muten wie Reli-efs an. Nichts zwngt sie ein: keinRahmen, kein Passepartout, kein

    Glas. Kein Titel hilft, das Gesehene zu deuten oderzu verstehen, denn das, was gezeigt wird, wirktohne Worte: seltsame Kugelmenschen, zum Teilohne Arme, als htte man ihnen Zwangsjackenverpasst; anthropomorphische Wesen mit langenrmeln, aus denen keine Hnde ragen; archaische

    Figuren mit maskierten Gesichtern oder verbun-denen Kpfen, die keinen Boden unter den Fssenzu haben scheinen und levitieren, hufig hinteroder vor Schraffuren, die an Gitter oder Kfigeerinnern. Sie sind das Werk von Achim Maaz, derwegen des Schweregrads seiner autistischen St-rung seit der frhen Kindheit geschlossen unterge-bracht werden musste, zumal der Drang, die Weltda drauen auf eigene Faust zu erkunden, ihn im-mer wieder dazu verleitete, das Weite zu suchen.Er wurde gefasst und an die Orte seiner Isolationzurck gebracht. Vor kurzem wurde er als Knst-ler und Vertreter der Outsider Art entdeckt. Anden Erffnungen seiner Ausstellungen in der Gale-rie Art Cru in Berlin und im Kunsthistorischen Ins-

    titut der Universitt Bonn, die im September statt-fanden, konnte Achim Maaz nicht teilnehmen: Am24. Juli starb er berraschend im Altern von 59Jahren in Niederkassel-Ranzel im Rheinland.

    O u t s i d e r A r t i m K u n s t h o f

    Die Galerie Art Cru Berlin wurde 2008 gegrn-det. Sie befindet sich im Souterrain eines Hausesin der Oranienburger Strae 27 im sogenanntenKunsthof. Diese Lage: zentral, doch etwas ab-seits, passt zum Programm, denn das Hauptzielder gemeinntzigen, vom Verein PS-Art e.V.Berlin getragenen Galerie, in der zirka sechsAusstellungen im Jahr gezeigt werden, ist, dieDistanz zwischen dem etablierten Kunstbetriebund der Outsider Art zu verringern und Werkevon Menschen mit Beeintrchtigungen, vor

    allem solchen mit Psychiatrieerfahrung, nichtnur mitten in die Kunstszene, sondern auchsichtbar in die ffentlichkeit zu bringen. DieGalerie Art Cru ist die einzige Galerie in Berlin,die sich ausschlielich der deutschen und inter-nationalen Outsider Art widmet. Diesen Begriffprgte Roger Cardinal, Professor der UniversittKent, in seinem 1972 erschienen Buch Outsi-der Art, wo er die Kunst von Auenseitern, vonPatienten psychiatrischer Kliniken und Hftlin-gen beschrieb. Outsider Art ist das, was der

    franzsische Knstler Jean Dubuffet unter demvon ihm 1945 erfundenen Terminus Art Brutverstand: eine unverbildete und rohe Kunst,geschaffen von der am Rande der Gesellschaftoder in ihren geschlossenen Anstalten lebendenAutodidakten, die sich ihre Visionen, Trume,Wnsche und Wahnvorstellungen auch unterden unwirtlichsten Bedingungen aus einem inne-ren Bedrfnis heraus von der Seele malen odersie in anderen Formen wie Objekte, Installatio-nen und Plastiken zum Ausdruck bringen. DerName der Galerie Art Cru knpft an die ArtBrut von Dubuffet an. Beide franzsische Ad-jektive sind ziemlich gleichlautend und in etwagleichbedeutend, denn brut und cru gehren

    zu den wichtigsten Merkmalen der Outsider Art.Es ist eine rohe, ungeschliffene, hufig auchdeftige und krasse Kunst, die in erster Liniedurch Originalitt, Qualitt und Eigenstndig-keit berzeugen muss. Kunst ist Kunst, wennsie fr den genuinen Inhalt die passende Formfindet, ganz unabhngig davon, ob sie aus einerrohen oder garen Hand stammt.

    S c h r a f f u r e n u n d F i g u r e nv o n A c h i m M a a z

    Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung derKunst in allen Fllen die gleiche ist und dass esebenso wenig eine Kunst der Geisteskrankengibt wie eine Kunst der Magenkranken oderder Kniekranken, schrieb Jean Dubuffet imKatalog der ersten groen Schau der Art Brut,

    INFO

    Achi m Maaz Schl ssel werke

    Noch bis zum 15. NovemberGalerie Ar Cru

    Im KunshoOranienburger Srae 2710117 Berlin

    Diensag-Samsag von 12-18 UhrEinrit rei

    www.ar-cru.de www.achim-maaz.de

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    stras senfeger | Nr. | November TAUFRISCH & ANGESAGT | a r t s t r a s s e n f e g e r

    Galerie Ar Cru in derOranienburger Srae(Foo: Urszula Usakowska-Wolff)

    Achim Maaz vor seinen Bildern inder Wanderaussellung Auerge-whnlich, Rahaus Oberhausen,

    Juni 2011 (Foo: Hannah Lohmann, LVR)

    Achim Maaz, ohne Tiel,lpasellkreide, 60x58cm

    Achim Maaz, ohne Tiel,lpasellkreide, 50x60cm

    die 1949 in Paris das Publikum verblffte. Dassseine Worte ihre Gltigkeit nicht verloren ha-ben, beweist auch die gegenwrtige Ausstellungin der Galerie Art Cru Berlin. Gezeigt werdenSchlsselwerke, 60 Papierarbeiten von AchimMaaz, eines Menschen, der ein Leben lang ge-gen alle Widerstnde malte und erst kurz vor

    seinem pltzlichen Tod entdeckt wurde. Am 5.April 1955 in Bonn geboren, wuchs er bei seinerGromutter auf. Im Alter von fnf Jahren wurdeer im Landeskrankenhaus, 1978 im Heilpdago-gischen Heim und spter in anderen Einrichtun-gen fr psychisch kranke Menschen in Bonn undUmgebung untergebracht. Der Autist AchimMaaz konnte sich verbal nicht verstndlich ma-chen, er verfgte ber einen sehr eingeschrnk-ten Wortschatz, obwohl er die Sprache verstand.1983 lernte ihn die BeschftigungstherapeutinBeate Woitzik kennen, die seine Begeisterung frKunst weckte und ihm half, sich knstlerisch zuentfalten. In der Kunst konnte er sich verwirkli-chen und artikulieren, so ganz ohne Worte. Die

    Kunst war fr ihn ein Refugium vor dem ihmbestimmten klaustrophoben Leben sowie eineProjektionsflche fr Trume von der Mobilittund Sexualitt. Auf vielen seinen Bildern, vondenen er ber dreitausend schuf und die er hu-fig mit geklauten Kugelschreibern, Bunt- undBleistiften malte, sind phallisch anmutende Zei-chen, Hosen unterschiedlicher Lnge, Jacken,Treppen, Busse, Fahrrder und andere mehroder weniger fantasievolle Gefhrte zu erken-nen. Ein wiederkehrendes Motiv sind Schlssel,Schlsselbunde, Landschaften und Autos: Ein-gesperrt sein, Enge und Starre versus Raum, Ge-schwindigkeit und Freiheit. Achim Maaz war einKnstler, der aus der Materialnot eine Tugendmachte: um ein groes Bild zu malen, klebte er

    mehrere Papierbahnen aneinander. Nicht seltenhaben seine Arbeiten, vor allem die, auf denener Menschen abbildete, eine Vorder- und eineRckseite: wie im wirklichen Leben.

    K u n s t s u b l i m i e r t d a s L e b e n

    Der Akt des Malens war fr Achim Maaz einKraftakt und ein Akt der Befreiung: Die mitdunklen oder kaum sichtbaren Schraffuren undbeleibten Gestalten bedeckten Bltter entfalteneine Wucht, die beim Betrachten krperlichsprbar ist. Seine Kugelmenschen wirken, alswollten sie alsbald platzen, um die Panzer ihrerKleider und die der Zimmerkfige zu sprengen.

    Seine Kunst ist gegenstndlich und abstrakt,grafisch und plastisch, asketisch und opulent.Gekonnt verbindet er die Zeichnung mit der Ma-lerei. An manchen Stellen fllt er seine mander-haften Schraffuren mit lpastellkreiden aus, umdie Bedeutung eines Gegenstandes farblich zuunterstreichen, wodurch er eine beeindruckendePlastizitt erzeugt. In der Kunst sublimiert ertatschlich sein Leben, denn er hebt ab und be-trachtet die Welt von oben: Ein Vogel, der aus derVoliere zu entkommen versucht. Als autistischerMensch konnte er nicht ins Offene entlassenwerden, denn eine selbstbestimmte Existenz kamfr ihn offensichtlich nicht in Frage. Als Knstlerberwand er die rumliche und psychische Isola-tion und nahm sich die Freiheit, aufzubrechen,wohin er will, wie Hlderlin in seiner Ode Le-benslauf 1799 schrieb.

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    stras senfeger | N r. | November | TAUFRISCH & ANGESAGT V e r k u f e r

    Moderaorin Mariebiee in der S-Bahnden srasseneger an

    Kleingeld: die Ein-knfe am Ende desTages

    Jobs am Limit98.8 Kiss FM testet den Job eines strassenfeger-VerkufersB E R I C H T : K a r o l i n a S c h r a d e r | F O T O S : 9 8 . 8 K i s s F M

    Seit einigen Wochen testen Tolga und Marie, die Moderatorendes Berliner Jugendradiosenders 98.8 Kiss FM in ihrer neuenRubrik Jobs am Limit Berufe, die auergewhnlich, krper-lich und geistig anstrengend oder skurril sind. Rettungsflieger,

    Kanalreiniger und der Beruf einer Domina waren schon dabei vor 2 Wochen war der strassenfegerdran. Fr unsere Mor-ningshowmoderatorin Marie und ihr begleitendes Team warder Dienstag vor 2 Wochen ein ganz besonderer Tag:

    Gegen 12 Uhr trafen wir, begleitet von einem Kameramannund einer Tonfrau in der Zentrale des strassenfegersein undbesprachen unseren Tag mit Herrn Andreas Dllick, demLeiter der Zentrale. Alle bentigten Unterlagen wurden un-terschrieben, ein groer Stapel des tagesaktuellen strassen-fegerswurde in die Hand genommen und Marie bekam sogareinen Ausweis als offizielle strassenfeger-Verkuferin. And-reas Dllick gab uns ein kurzes Interview und einen kleinenEinblick in die Arbeit eines strassenfegers. Viele Obdachlosein Berlin und Umgebung leisten tglich einen knochenharten

    Job, bei dem es viel Selbstberwindung kostet, auf die Leutezuzugehen und ihnen eine Zeitschrift zu verkaufen. 1,50 Eurokostet der strassenfeger, 90 Cent gehen an den Obdachlosenselbst, die brigen 60 Cent an die Deutsche Obdachlosenhilfe.Nachdem wir mit Herrn Dllick alle Manahmen besprochenhatten, machten wir uns auf den Weg zur Haltestelle Storko-wer Strae und fuhren knapp 1 Stunden zwischen zweibis drei Haltestellen hin und her. Der Kameramann und dieTonfrau haben versucht, whrend den Aufnahmen unent-deckt zu bleiben, denn immerhin sollte Marie als eine authen-tische strassenfeger-Verkuferin wahrgenommen werden. Je-des Mal, wenn wir in eine Bahn eingestiegen sind, hrte manMaries Herzschlag lauter als je zuvor, denn: es kostet viel Mutund einen riesigen Grad an berwindung, sich in eine Bahn zustellen und fremden Menschen eine Obdachlosenzeitung zuverkaufen. Bahnfahrer, die unbeeindruckt aus den Fensternschauen, heimlich Ohrstpsel in die Ohren stecken oder sotun, als wrden sie telefonieren, waren keine Seltenheit. Nur

    wenige Leute zckten ihren Geldbeutel und gaben uns 1,50Euro bis 2 Euro ob aus Mitleid oder wirklichem Interessean der Zeitschrift konnten wir nicht sagen. Die meisten Bahn-fahrer, die uns Geld gaben, wollten den strassenfegernicht

    einmal kaufen. Obwohl die Zeitung wirklich gute und interes-sant recherchierte Artikel enthlt. Nach knappen anderthalbStunden ging unser Tag auch schon zu Ende, in unserer Ta-sche befanden sich rund 15 Euro am Ende des Tages reichtdas nach all den Abzgen vielleicht gerade mal fr ein warmesAbendessen. Aus Respekt vor der Arbeit eines Obdachlosen-zeitung-Verkufers haben wir von 98.8 Kiss FM noch weitere150 Euro zu den Einnahmen dazugepackt!

    Unser Fazit lautet: Wir ziehen unseren Hut vor den obdach-losen Frauen und Mnnern, die sich jeden Tag in den Stra-enbahnen oder vor den Einkaufslden Berlins befinden undtglich dieser Situation ausgesetzt sind. Obwohl unsere Mariees gewohnt ist, jeden Tag als Radiomoderatorin vor Berlin zusprechen, ist der Job eines strassenfegerverkufers definitiv

    auch fr gebte Redner ein Job am Limit! Mut, Selbstver-trauen und ganz viel Liebe zum Beruf gehren bei diesem Jobmehr als dazu und vielleicht denkt der eine oder andere inZukunft zwei Mal drber nach, ob er sich den strassenfegervielleicht nicht doch kaufen mchte.

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    stras senfeger | Nr. | November TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Gefhrliche GleichgltigkeitUnter der Oberflche schlummert Feindseligkeit gegenber Sinti und Roma,

    die sich in Krisenzeiten Bahn brechen knnte.In Berlin fand ein Initiativentag gegen Antiziganismus stattB E R I C H T & F O T O : J u t t a H e r m s

    Wer es vorzieht, statt des sper-rigen Sinti und Roma lieberZigeuner zu sagen, rechtfer-tigt das hufig damit, jeman-den aus der Ethnie zu kennen,

    der oder die sich selber als Zigeuner bezeich-net. Diese Rechtfertigung lasse er nicht gelten,sagt Wolfgang Benz, Historiker und Vorurteils-forscher. Wenn die Mehrheit der Sinti und

    Roma fr sich in Anspruch nimmt, nicht Zigeu-ner genannt werden zu wollen, dann kann ichnicht daher kommen und sagen Ich kenne da ei-nen .... Ich selber darf mich Idiot nennen, abermein Gegenber darf das nicht.

    Initiativentag gegen Antiziganismus DENK-MAL weiter hie die Veranstaltung, zu der am23. und 24. Oktober das Bndnis fr Demokratieund Toleranz und der Zentralrat Deutscher Sintiund Roma eingeladen hatten. Ort der Veranstal-tung war die Landesvertretung Thringen beimBund im Bezirk Mitte. Als Datum hatte man denzweiten Jahrestag (24. Oktober) der Einweihungdes Denkmals fr die im Nationalsozialismus er-mordeten Sinti und Roma Europas gewhlt.

    Dass ablehnende Einstellungen gegenber Sintiund Roma Wirklichkeit sind in Deutschland,hatte erst im September eine Studie gezeigt, dievon der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundesin Auftrag gegeben worden war. Laut der Stu-die, die den Titel Zwischen Gleichgltigkeitund Ablehnung trgt, sind Sinti und Romadie in Deutschland am strksten abgelehnteMinderheit. Jeder zweite Deutsche hlt Einrei-sebeschrnkungen fr ein probates Mittel, umProbleme im Umgang mit Sinti und Roma zu re-duzieren. 20,4 Prozent der Deutschen empfndeals unangenehm oder sehr unangenehm,Sinti und Roma als Nachbarn zu haben. 81 Pro-

    zent aber wissen, dass Sinti und Roma im Natio-nalsozialismus verfolgt wurden.

    S i n t i u n d R o m a s i n d a l s N a c h b a r nu n e r w n s c h t

    Joachim Krau, der die Studie mit erstellt hat,kritisierte die Berichterstattung ber die Studiein den Medien. Diese htten einseitig mit derAussage Schlagzeilen gemacht, dass Roma alsNachbarn unerwnscht seien. Dagegen sei derAspekt Gleichgltigkeit, die unter vielen Deut-schen gegenber Sinti und Roma vorherrsche,vllig unzureichend dargestellt worden.Auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentral-rats Deutscher Sinti und Roma, warnte davor,dieser Gleichgltigkeit eine zu geringe Bedeu-tung beizumessen. Zurzeit sei die wirtschaftlicheLage in Deutschland gut, doch in Krisenzeiten

    berge Gleichgltigkeit gefhrlichen Sprengstoff.Er halte die Situation fr hoch problematisch.Wir knnen nicht abwarten, bis der Mob berunsere Leute herfllt, wie es etwa in Ungarn ge-schehen ist! sagte Rose. Auch deshalb fordereder Zentralrat von der Bundesregierung die Ein-setzung einer Expertenkommission zu Antiziga-nismus.

    Die Debatte um sogannte Armutszuwanderer

    hat in Deutschland in den letzten Jahren altenVorurteilen neuen Aufschwung verschafft. Da-bei herrscht Unwissen darber, dass Sinti undRoma seit Jahrhunderten in Deutschland leben,ihren Berufen nachgehen und integriert sind.CSU-Politiker beharren darauf, es bei den Zu-wanderern mit Sozialschmarotzern zu tun zuhaben. Die CDU gab in diesem Sommer einenFlyer mit dem Titel Fr Freizgigkeit. GegenSozialmissbrauch. Armutszuwanderung vermei-den heraus entgegen anderslautender Statisti-ken und wissenschaftlicher Darstellungen.

    D i e P r o b l e m e l i e g e n b e i d e rM e h r h e i t s g e s e l l s c h a f t

    Vorurteile haben ja gerade nichts mit Fakten zutun, sagte Wolfgang Benz in seinem Vortrag. An-tiziganistische Einstellungen seien in der Mitte

    der Gesellschaft angesiedelt und erfllten eineFunktion: Sie wehrten eigene ngste ab, ngstevor berfremdung, vor eigenem sozialen Ab-sturz. Insofern lgen die Probleme, die es mitSinti und Roma gbe, bei uns, bei der Mehrheits-gesellschaft und nicht bei der abgewerteten Min-derheit. Und auch diejenigen, so Wolfgang Benz,die sich fr besonders aufgeklrt hielten, senoft einem romantisierenden Bild von Europasgrter Minderheit auf. Wir mssen uns den

    Blick des Herrenmenschen abgewhnen.

    Von tief verwurzelten Stereotypen auch bei Ver-tretern renommierter Medien zeugte im Herbst2013 der Fall Maria. In Griechenland war einblondes Mdchen mit heller Haut in einer Roma-Familie entdeckt worden und nicht nur die Poli-zei war sicher, dass es sich hier um Kindesentfh-rung handeln msse. Medien weltweit griffen dieGeschichte auf, wussten, wie sich alles zugetra-gen haben musste, ohne sich nach Fakten zu rich-ten. Hier wurde das uralte Bild kinderraubenderZigeuner bedient, sagte Romani Rose. Es stelltesich dann heraus, dass Maria von seiner bulga-rischen Roma-Mutter freiwillig in die griechischeFamilie gegeben worden war. Von einer anschlie-enden selbstkritischen Aufarbeitung ihrer Be-richterstattung sahen die meisen Medien ab.

    Das Denkmal r die im Naionalsozialismus ermordeen Sini und Roma Europas neben dem Reichsag

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    stras senfeger | N r. | November | TAUFRISCH & ANGESAGT s t r a s s e n f e g e r r a d i o

    Peer Radszuhn: Der Radiomensch und Musikliebhaber versarb unerware im Okober(Quelle: rbb/Jenny Siebold)

    Das Leben ist zu kurz

    fr schlechte MusikNachruf auf Peter Radszuhn (1954-2014)T E X T : G u i d o F a h r e n d h o l z

    Etwas, woran ich mich nur schwer ge-whnen kann, ist der emotionale Be-deutungsverlust im Ausdruck unsererSprache. Statt dem Freund, der michreal durchs Leben begleitet, werde

    ich von zahl- wie profillosen friends digital zuge-

    liked. Nett ist der kleine Bruder von Scheie unddie Formatierung fast aller Lebensbereiche dieKreativitt von heute. Woran ich mich nie ge-whnen werde, sind die Verluste von Menschen,die dem stetigen Komprimieren unserer Lebens-zeit die Lust an den Wahrnehmungen unsererureigenen Sinne entgegen setzten. Der Verlusteines Menschen wie Peter Radszuhn.

    R a d i o i m B r i e f k a s t e n

    Es war die Zeit nach der Wende, die erste Hlfteder Neunziger Jahre, da verblasste der Freuden-taumel ber die Ereignisse langsam aber stetighinter den notwendigen gesellschaftlichen Ver-nderungen. Spurlos ging das natrlich auch

    nicht an den Radiomachern vorbei, aber eben-falls nicht an den Hrgewohnheiten der Konsu-menten. Statt zurckhaltend, gefhlt konspirativmit dem Radio das eigene Ohr auf eine Reise inden Westen zu schicken, war es mir nun mg-lich, mit den Moderatoren und Redakteuren di-rekt in einen Dialog zu treten. Helmut Lehnert,damals Musikchef von SFB 2 und spter auchRadio 4 U brauchte und holte sich Verstrkung.Einer seiner neuen Musikredakteure wurde PeterRadszuhn. Zum damaligen Zeitpunkt waren diemusikalischen Karrieren als Gitarrist und Sngerder Band Tempo und Haus-DJ im SO36 bereitsabgeschlossene Punkte seines tabellarischen Le-benslaufs. Er hatte Erfahrungen in der Musik-

    branche gesammelt, Festivals geleitet und warmehrfach Jurymitglied des Rockwettbewerbs desBerliner Senats. Und er war der Erste von demich aus der Redaktion von SFB 2 eine Antwort er-hielt. Einen Brief, handgeschrieben, der Beginneiner unregelmigen Korrespondenz und langebevor wir uns zum ersten Mal begegneten.

    R a d i o a u s d e m B r i e f k a s t e n

    Weit davon entfernt diese Vergangenheit zu ide-alisieren, vermisse ich die Wahl unseres dama-ligen Dialogform und die Inhalte doch manch-mal wehmtig. Nicht selten lagen zwischen deneinzelnen Briefen mehrere Wochen, Monate undwechselnde Jahreszeiten. Allein der Impuls be-stimmte den Zeitpunkt eines Gedanken der dannwieder zu Papier gebracht wurde. Hier mal eine

    Musikempfehlung, ein anderes Mal noch offeneFragen zu einer gehrten Sendung und immer

    wieder unsere gemeinsam Liebe zu der Musikund den Ideen Neil Youngs. Und es entging ihmnix. Als ich Peter nur ganz knapp postalisch zurBerufung als Musikchef bei Radio Brandenburggratulierte und in der Eile zum Kuli gegriffenhatte, bemerkte er in seiner Antwort, ein paarTage spter, sinngem: Bleib bei Deinem Fl-ler, der Kugelschreiber bekommt Deiner Hand-schrift nicht. Peter war es auch, der mir deneinen oder anderen Tipp gab fr meinen eigenenWeg ins Radio, mich darin bestrkte.

    P e t e r u n d P e t e r

    Bis wir uns dann tatschlich gegenberstanden,sollten noch ein paar Jahre ins Land gehen. Ausaus unseren Briefwechseln, war inzwischenebenfalls ein Mailverkehr geworden. Meine Be-

    werbung fr ein Volontariat bei radioeins hatteer wahrscheinlich schon auf dem Tisch gehabt,

    denn ich war bereits zu einem Gesprch einge-laden, da erhielt ich seinen Anruf. Du bist dochmorgen im Haus. Bleib ein wenig lnger. PeterFrampton wird bei mir im Studio sein und daich dich nicht fr einen verrckten Fan halte, ge-niee den Abend. Den Job bekam ich nicht, aberfr ein paar Stunden einen Platz in den Redakti-onsrumen mit freier Sicht durch die Studiover-glasung und einen ordentlichen Kopfhrer. Umnicht unntige Verlegenheitsmomente zu pro-vozieren, verlie ich die Redaktion unbemerktvon beiden Peters, mit den letzten Tnen dieserSendung.

    Woran ich mich von nun an gewhnen muss, ichwerde nie mehr Deine Worte nach dem Ende ei-ner Sendung hren: Mein Name ist Peter Rads-zuhn. Machen Sies gut. Tschss und bye bye.

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    stras senfeger | Nr. | November TAUFRISCH & ANGESAGT | B r e n n p u n k t

    Start mit SorgeAm 1. November beginnt die Kltehilfesaison 2014/15B E R I C H T : J a n M a r k o w s k yF O T O S : J u t t a H e r m s

    Am 8. Oktober wurde im Plenum derAG Leben mit Obdachlosen berdie Vorbereitung der Kltehilfegeredet. Es sieht nicht gut aus, wardas Fazit! Beim Kltehilfetelefon

    hatte bis zu dem Zeitpunkt nur etwa die Hlfteder angeschriebenen Einrichtungen die Anga-

    ben fr die neue Kltehilfe-Saison gemacht.Die Berliner Stadtmission hat in der letzten Sai-son die Kapazitt in der Lehrter Strae von 60auf 100 Pltze erhht und wird dort genausowieder starten. Sie hatte gegen Ende der letz-ten Saison eine Notbernachtung fr 100 Pltzein einer Traglufthalle am Bahnhof InnsbruckerPlatz eingerichtet. Die Halle und die Infrastruk-tur wurden von einem Sponsor aus Hamburg zurVerfgung gestellt. Der wrde das auch wiedertun, aber der Platz steht nicht mehr zur Verf-gung. Die Bahn hat das Gelnde verkauft, undder neue Eigentmer lsst die Zwischennutzungnicht mehr zu. Auch die Notbernachtung in derJohanniterstrae mit 55 Pltzen wird die BerlinerStadtmission nicht mehr ffnen knnen, weil die

    Immobilie nicht mehr zur Verfgung steht. Au-erdem kann die Notbernachtung auf dem Ge-lnde der Teupitzer Strae fr 24 Mnner nichtmehr ffnen.

    F o l g e n d e s A u s v e r k a u f s

    Diese Entwicklung ist die Folge des Ausverkaufsffentlichen Vermgens. Das Land Berlin ver-sucht stndig, hohe Einnahmen durch den Ver-kauf von Immobilien zu erzielen. Die Abgabean den Liegenschaftsfonds hat den Ausverkaufkommunaler Gebude und Grundstcke starkbeschleunigt. Mit diesem Pfand wird weltweitgeworben. Natrlich schien es naheliegend,

    bei sinkender Zahl der Schler einige Schulenzusammenzulegen. Frei gerumte Gebudekonnten in den Liegenschaftsfonds bertragenwerden. Der Bezirk Mitte hat so jahrelang Ein-nahmen in Millionenhhe generiert. Mit fatalenFolgen, wie wir jetzt bemerken mssen.

    Ein radikaler Ausverkauf von Immobilien rchtsich, wenn sich die Verhltnisse ndern. SeitJahren ist Berlin in und hip. Die Einwohnerzahlsteigt rasant. Zwar hat der Senat den Wohnungs-bau angekurbelt. So sind im vorigen Jahr im-merhin 6 000 Neubauwohnungen fertiggestelltworden. Doch die Wohnungsnot wird immergravierender. Was sind 6 000 Wohnungen bei40 000 Neuberlinern?

    Schneller als die Mieten steigen die Kaufpreise.Immobilien sind zur Handelsware verkommen.Grundstcke und Gebude wechseln mehrmals

    am Tag den Besitzer. Bei solchen Transaktionengeht es nur um Rendite. Das hat ernste Folgen,auch fr die Kltehilfe. Jetzt fehlen der ffent-lichen Hand beheizbare Gebude mit sanitrenEinrichtungen, die in der Kltehilfe-Saisongenutzt werden knnen. Die Entwicklung ist soweit fortgeschritten, dass es den groen Trgernder niedrigschwelligen Wohnungslosenhilfe im-mer schwerer fllt, Notbernachtungen zu erff-nen.

    B a c k t o t h e r o o t s

    In dieser Situation soll an den Start der BerlinerKltehilfe erinnert werden. Das DiakonischeWerk hatte in der 90er Jahren an die Kirchenge-meinden appelliert, ihre Rume fr warme undgeschtzte Nchte den auf der Strae lebenden

    Menschen zur Verfgung zu stellen. Gemeindenmit Rumen, die mit ffentlichen Verkehrsmit-teln gut zu erreichen sind, sollten sich hier ange-sprochen fhlen.

    A l l e s K l t e h i l f e o d e r w a s ?

    Die AG Leben mit Obdachlosen hat mit eini-ger Sorge beobachtet, dass die Flchtlinge vomOranienplatz in einer Einrichtung untergebrachtworden sind, die mit Mitteln der Kltehilfefinanziert wurde. Die Menschen vom Oranien-platz waren damit nicht mehr dort und so aus

    den Schlagzeilen der Berliner Presse. Zum Endeder Kltehilfe-Saison sind sie dann aber wie-der auf dem Oranienplatz gewesen. NachhaltigeHilfe sieht anders aus. Allein der Transparenzwegen soll Hilfe fr Flchtlinge nicht mit derKltehilfe vermischt werden. Keine Frage,die Flchtlinge vom Oranienplatz waren ohnefesten Wohnsitz in Berlin. Dennoch haben siein der Kltehilfe nichts zu suchen. Dass denFlchtlingen in Deutschland allein wegen desim Grundgesetz verbrieften Schutzes von Lebenund Gesundheit geholfen werden muss, ist eineandere Frage. Aber die Zahl der um Hilfe suchen-den Flchtlinge steigt rasant an. Auch in Berlin.Da ist die Gefahr gro, dass sich der Sozialse-nator mit groen Zahlen schmckt, ohne dassden in Berlin auf der Strae lebenden Menschenannhernd ausreichend Hilfe gewhrt wird.

    Die Nolsung aus dem vergangenen Jahr, eine gesponsere Traglufhalle, finde dieses Jahr keinen Plaz

    Der Klebus hr sei 20 Jahren jedenWiner durch Berlin

  • 7/21/2019 Ausgabe 22/2014 des strassenfeger - Behinderung

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