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Odermatt - Das Geheimnis Der Nibelungen

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Roman Odermatt

Das Geheimnis der Nibelungen

(Neue Forschungsergebnisse über das Nibelungenlied)

2000 Originaltitel der Gesammelten Werke:

Der letzte Pharao und das Geheimnis der Nibelungen (Band 8)

Im Lande der Burgunden zu Worms am Rhein herrschte König Gunther mit seinen Brüdern Gernot und Giselher, sie hatten eine Schwester namens Kriemhild, die mit ihrer Mutter Ute am Hofe lebte. Viele Helden warben um die schöne Kriemhild; doch sie wies alle ab, weil sie durch Liebe niemals Leid erfahren wollte, wie ihr ein Traum verkündet hatte.

Damals lebte zu Xanten am Niederrhein Sigfrid, der Sohn des Königs Sigmund. Schon in früher Jugend hatte der junge Held sich durch Kühnheit und Kraft Tatenruhm erworben. Einen giftigen Drachen hatte er im Kampfe besiegt, und als er sich in dessen Blute badete, war seine Haut hörnern geworden, so dass keine Waffe ihn verwunden konnte.

Dem Zwergenvolke der Nibelungen hatte er einen unermesslichen Schatz an Gold und Edelsteinen abgewonnen, und in diesem Kampfe hatte er auch eine Tarnkappe erbeutet, die ihn unsichtbar machte, dazu das herrliche Schwert Balmung.

Als Sigfrid nun von der schönen Kriemhild hörte, hielt es ihn nicht länger mehr an des Vaters Hof. Mit zwölf seiner Kampfgefährten zog er nach Worms, um die liebliche Jungfrau zum Weibe zu gewinnen.

Als sie vor die Königsburg kamen, erkannte niemand in Gunthers Gefolge weder die Mannen noch ihren Führer. Da liess König Gunther den weitgereisten Hagen kommen, doch auch der wusste nicht, wer die Ankömmlinge seien. «Ich möchte wohl glauben, dass es Sigfrid ist», meinte er schliesslich, «der Held aus Niederland, der die Söhne des Zwergenkönigs Nibelung erschlagen hat und den Nibelungenhort besitzt. Ich rate, wir sollten ihn gut empfangen.»

In Ehren nahm man die Gäste auf, und Sigfrid blieb ein ganzes Jahr am Hofe zu Worms. Doch die Jungfrau, um deretwillen er gekommen

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war, bekam er nicht zu Gesicht. Kriemhild aber blickte oft heimlich aus dem Fenster ihres Gemachs, wenn die Recken auf dem Burghofe ihre Kampfspiele trieben, und lobte in vertrautem Kreise den herrlichen Helden.

Sigfrid war gern gesehen bei jedermann am Hofe, und die Gastfreundschaft, die man ihm erwies, entgalt er nach Reckenart, indem er dem König auf seinen Kriegszügen Beistand leistete. Als die Könige von Sachsen und Dänemark das Land der Burgunden bedrohten, verdankte Gunther seinen Sieg allein seinem starken Gast vom Niederrhein, der beide feindlichen Könige nach heissem Zweikampf gefangennahm.

Als Gunther nach Sigfrids Rückkehr ein prächtiges Fest zur Feier des Sieges veranstaltete, war auch Kriemhild anwesend. Zum erstenmal sah Sigfrid die schöne Jungfrau, der sein ganzes Sehnen galt. Als sie an der Hand ihrer Mutter, der Königin Ute, geleitet von ihren Jungfrauen und hundert Mannen, in den Festsaal trat, verneigte sich Sigfrid in tiefer Ehrerbietung vor den Frauen. Nie in seinem Leben hatte Sigfrid solche Freude empfunden wie in diesem Augenblick, da er Kriemhild an seiner Hand führen durfte und mit ihr durch den Palast schritt.

Fern über der grauen See, auf der Insel Island, wohnte die schöne Königin Brunhild. Viele begehrten ihre Liebe und warben um sie, doch Brunhild stellte harte Bedingungen. Wer sich mit ihr vermählen wollte, musste sie dreifach besiegen: im Speerwurf, im Steinschleudern und im Sprung. Wer auch nur in einem dieser Wettkämpfe unterlag, hatte sein Leben verwirkt.

König Gunther wünschte nichts sehnlicher, als die begehrenswerte Königin zum Weibe zu gewinnen. «Wenn du mir beistehst, sie zu erringen», sagte er zu Sigfrid, «so werde auch ich Leben und Ehre für dich wagen.» Da antwortete Sigfrid: «Die Fahrt zur Königin Brunhild will ich mit dir wagen, wenn du mir deine Schwester Kriemhild zum Weibe gibst. Anderen Lohn begehre ich nicht!»

Da gelobte ihm Gunther die schöne Kriemhild zur Frau, wenn Brunhild als Königin ins Burgundenland einzöge.

Nur der starke Hagen und sein Bruder Dankwart fuhren als Begleiter mit, als Gunther und Sigfrid das Schiff bestiegen, das sie von Worms den Rhein hinab zu Brunhilds Burg Isenstein führen sollte. Zwölf lange Tage und Nächte fuhren die Weggefährten über See. Als sie endlich an Land gingen, führte Sigfrid des Königs Ross am Zügel, damit man ihn für Gunthers Lehnsmann halte. Sie bestiegen ihre Rosse und ritten, in schwarzen Rüstungen und in prächtiger Wehr, zur Burg. Die Tore wurden ihnen weit aufgetan, und Brunhilds Mannen eilten ihnen entgegen, sie zu empfangen.

Brunhild hiess sie freundlich willkommen. Den kühnen Sigfrid, den sie bereits kannte, begrüsste sie vor König Gunther.

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Am nächsten Tage begannen die Kampfspiele. Gunther war nicht stark genug, die schweren Waffen, die Brunhild ihm reichen liess, zu führen; doch Sigfrid, unsichtbar durch seine Tarnkappe, übernahm den Wettkampf, während Gunther zum Schein die Gebärden ausführte. Mit übermenschlicher Kraft fasste Brunhild den Schild, den vier Männer in die Kampfbahn getragen hatten, nahm den schweren Wurfspeer und schleuderte ihn auf ihren Gegner. Die Waffe drang durch den Schild, so dass Gunther strauchelte und Sigfrid das Blut aus dem Munde brach. Trotzdem ermannte sich Sigfrid sogleich, er fasste den Speer und warf ihn mit solcher Wucht zurück, dass Brunhild zu Boden stürzte.

Doch schnell sprang Brunhild wieder auf die Füsse, sie ergriff einen mächtigen Stein und schleuderte ihn an die zwölf Klafter weit, und in voller Waffenrüstung sprang sie über den Wurf hinaus. Doch wieder zeigte sich Sigfrid, unter der Tarnkappe verborgen, ihr überlegen. Er warf den Stein noch weiter als Brunhild und sprang über das Ziel hinaus. Durch die Tarnkappe hatte er die Kraft, König Gunther dabei mit sich zu tragen. Da musste Brunhild sich besiegt bekennen. «Tretet herzu, ihr Mannen», gebot sie ihren Recken, «und huldigt eurem neuen Herrn!»

So konnte Gunther die stolze Brunhild als seine Gemahlin heimführen, und mit grossem Prunk wurde zu Worms die Doppelhochzeit gefeiert. Aber als Brunhild die liebliche Kriemhild beim festlichen Mahle an Sigfrids Seite sitzen sah, vergoss sie bittere Tränen.

«Es betrübt mich sehr», versetzte sie auf Gunthers Frage, «dass du deine Schwester einem deiner Dienstmannen zur Frau gegeben hast!»

Vergeblich suchte der König sie zu beschwichtigen. Aber nicht eher wollte sie ihm als Gattin angehören, als bis sie genau wusste, wie alles sich zugetragen hatte. Als Gunther am Abend sein Weib umarmen wollte, wehrte sich Brunhild, fesselte ihm mit ihrem Gürtel Füsse und Hände und hängte den Wehrlosen an einen starken Nagel hoch an der Wand. Dort musste er bleiben bis in die Morgenstunden.

Tags darauf erfuhr Sigfrid von der unwürdigen Behandlung, die Gunther hatte auf sich nehmen müssen. «Ich werde dir helfen», versprach er dem Freunde, und mit Hilfe seiner Tarnkappe stand er Gunther bei, die Widerstrebende zu bezwingen. Er nahm Brunhilds Gürtel und einen Ring, den er ihr heimlich vom Finger zog, mit sich, als er sie verliess.

Nicht lange danach zog Sigfrid mit Kriemhild, seinem jungen Weibe, in seine Heimat nach Xanten am Niederrhein und bestieg den Thron seines Vaters Sigmund.

Zehn Jahre gingen ins Land, Brunhild aber sann über vieles nach. «Warum leistet Sigfrid, der doch dein Lehnsmann ist, dir keine

Dienste?» fragte Brunhild ihren Gatten immer wieder. «Warum weilt er ständig in der Ferne und stellt sich niemals an deinem Hofe ein?» Vergeblich suchte Gunther Ausflüchte. Um ihren Willen dennoch

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durchzusetzen, überredete sie den königlichen Gemahl, zur nächsten Sonnenwende ein grosses Fest zu bereiten.

Auch Sigfrid und Kriemhild, begleitet von dem greisen Sigmund, folgten der Einladung König Gunthers, zusammen mit vielen Recken ihres Landes. Trotz der Festesfreude aber, die alle erfüllte, sah Brunhild voll Neid auf Sigfrids und Kriemhilds grosses Gefolge, und sie wunderte sich, dass ein Lehnsmann König Gunthers zu so grossem Ansehen gelangen könne. Unwillig hörte sie Kriemhilds Worte, als beide Königinnen am elften Tage vor dem Vespergottesdienst zusammensassen.

«Sieh doch nur», rief Kriemhild glücklich, «wie herrlich Sigfrid vor allen Helden einherschreitet und wie niemand ihm im Kampfe ebenbürtig ist!»

«Er ist doch nur meines Gatten Eigenmann», unterbrach Brunhild sie, «und deshalb musst du Gunther den Vorrang geben!»

Kriemhild wollte solchen Vorwurf nicht gelten lassen; immer heftiger wurde der Wortstreit, und die Frauen trennten sich im Zorn. Als die Stunde des Gottesdienstes gekommen war, ging jede der beiden Königinnen, die sonst stets einträchtig beisammen gesehen wurden, allein mit ihren Jungfrauen zum Münster.

«Bleib stehen, Kriemhild!» rief Brunhild scharf. «Ich habe den Vortritt! Die Frau eines Dienstmannes darf niemals vor ihres Königs Gattin gehen!»

Da entbrannte wilder Hass in Kriemhilds Herzen. Sie warf Brunhild vor, nicht Gunther, sondern Sigfrid habe sie bezwungen. In bitteren Tränen stand Brunhild da, während Kriemhild erhobenen Hauptes an ihr vorbei in die Kirche schritt.

Nach dem Messedienst verlangte die tiefgekränkte Königin Beweise für Kriemhilds beleidigende Worte. Da zeigte diese ihr Gürtel und Ring, die Sigfrid ihr in der Nacht der Vermählung genommen hatte. Hagen von Tronje aber, der Brunhild weinen sah, suchte seine Herrin zu beruhigen und gelobte, die bittere Schmach, die ihr angetan war, an Sigfrid zu rächen, der das Geheimnis von Gunthers Brautwerbung an seine Gattin preisgegeben hatte.

Falsche Boten, die man bestellt hatte, erschienen in Worms, um neuen Krieg der Dänen und Sachsen anzusagen. Sofort erbot sich Sigfrid, mit den Burgunden in den Kampf zu ziehen.

Als das Heer zum Aufbruch bereitstand, begab sich Hagen zu Kriemhild, um Abschied von ihr zu nehmen.

«Lass Sigfrid nicht entgelten, was ich Brunhild angetan habe», bat ihn die schöne Frau, «längst quält mich die Reue.»

Da versprach Hagen, über Sigfrids Leben in der Schlacht zu wachen. «An einer Stelle ist er verwundbar», sagte Kriemhild in arglosem

Vertrauen, und sie verriet Hagen, was sonst niemand wusste. Als Sigfrid sich im Blute des erschlagenen Drachen gebadet hatte, war ihm ein

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Lindenblatt zwischen die Schultern gefallen, so dass er an dieser Stelle verwundbar blieb, weil nur hier seine Haut nicht hörnern geworden war.

Da bat Hagen die Königin, die verwundbare Stelle durch ein auf das Gewand genähtes Kreuz zu bezeichnen, damit er ihren Gatten recht schützen könne.

Kaum war Sigfrid mit seinen Mannen zum Kampfe ausgezogen, da kamen neue Boten, die den Krieg widerriefen. Nach der Rückkehr an den Hof zu Worms beschloss man, in den Wasgenwald zu ziehen, um eine grosse Jagd abzuhalten. Unter Tränen nahm Kriemhild Abschied von dem geliebten Gatten. Sie hatte geträumt, wie zwei wilde Eber Sigfrid anfielen und das Gras sich vom Blute rötete. Sigfrid tröstete die schöne Kriemhild mit freundlichen Worten, umarmte und küsste sie und ritt unbekümmert mit dem Gefolge davon.

Auf der Jagd machte Sigfrid von allen die reichste Beute, er fing sogar mit eigener Hand einen Bären und brachte ihn, als das Horn das Ende der Jagd verkündete, lebend und gefesselt zum Sammelplatz.

Nach den Mühen der Jagd setzte man sich zum Mahle. Speisen in reicher Auswahl standen bereit, doch es fehlte der Trank. Irrtümlich, so sagte Hagen entschuldigend, sei der Wein in den Spessart geschickt worden. «Doch ich weiss hier in der Nähe eine Quelle, die im Schatten einer Linde liegt», fuhr er fort. «Wollen wir nicht dorthin um die Wette laufen?»

Gunther und Sigfrid waren einverstanden. Wie Panther liefen sie durch den Klee. Sigfrid trug Wehr und Waffen bei sich, und dennoch erreichte er den Brunnen als erster. Doch er trank nicht vor König Gunther. Dem König liess er den Vortritt. Dann erst beugte er sich selbst über die Quelle, um seinen Durst zu löschen.

Da ergriff Hagen den Speer, den Sigfrid arglos an die Linde gelehnt hatte, und stiess ihn dem Helden in den Rücken.

Mit Bedacht traf er ihn genau an der Stelle, die Kriemhild durch das aufgenähte Kreuz kenntlich gemacht hatte. Das Blut sprang sogleich so heftig aus der Wunde, dass auch Hagen befleckt wurde. Da liess er den Speer im Rücken Sigfrids stecken und wandte sich zur Flucht.

Als Sigfrid die schwere Wunde fühlte, sprang er rasend vor Wut auf und stürzte dem Mörder nach. Hagen floh davon, wie er noch vor keinem Manne gelaufen war. Doch Sigfrid erreichte ihn, und mit dem Schilde - der Tronjer hatte mit Vorbedacht alle Waffen an der Linde entfernt - schlug Sigfrid auf Hagen ein, so dass dieser zu Boden stürzte. Doch dann entwich alle Farbe aus dem Antlitz des todwunden Helden. Seine Kraft verliess ihn, und sterbend sank er ins Gras.

In der Nacht brachte man den erschlagenen Recken über den Rhein nach Worms zurück. Hagen liess den Leichnam vor Kriemhilds Kammer tragen und dort niederlegen. Als beim Messeläuten in früher

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Morgenstunde der Kämmerer kam, um Kriemhild auf ihrem Wege zum Münster zu leuchten, entdeckte er als erster den Toten.

«Herrin», meldete er ihr entsetzt, «draussen liegt ein toter Recke!» Kriemhild begann sogleich laut zu klagen; denn sie erkannte die

grausige Wahrheit, noch ehe sie den erschlagenen Gatten gesehen hatte. Als man ihr den Toten wies, sank sie ohnmächtig zu Boden.

Voller Bestürzung eilte der greise König Sigmund herbei, und bald hallte die Burg wider von der Klage um den herrlichen Helden. Sigfrids Mannen verlangten Rache, und auch König Sigmund war bereit zu kämpfen. Doch Kriemhild bat, von diesem Vorhaben abzustehen und einen besseren Zeitpunkt abzuwarten. Sie wollte nicht, dass Sigfrids Mannen sich gegen die Übermacht der Burgunden nutzlos opferten.

Sigfrids Leichnam wurde im Münster aufgebahrt. Als Gunther mit Hagen an die Bahre trat, erhob er laute Klage. «Räuber haben den Helden im Walde erschlagen», sagte er. «Wollt Ihr Eure Unschuld beweisen», erwiderte Kriemhild, «so tretet

nahe herzu!» Gunther folgte der Aufforderung. Doch als Hagen an die Bahre trat,

brach die Wunde des Toten auf und begann zu bluten. Jetzt hatte Kriemhild die Bestätigung, wer der Mörder war. Drei Tage und drei Nächte wachte sie an Sigfrids Leiche; aber vergebens hoffte sie, dass der Tod sie zu sich nehmen würde.

Mit grossen Ehren wurde Sigfrid zu Grabe getragen. Bevor der Tote ins Grab gesenkt wurde, liess Kriemhild den Sarg noch einmal öffnen, so schwer fiel ihr die Trennung von dem geliebten Gatten.

Nachdem alles vollbracht war, kehrte König Sigmund in sein verwaistes Königreich zurück. Kriemhild aber blieb in Worms; denn sie wollte täglich am Grabe des geliebten Gatten sein. Jahrelang sprach sie kein Wort mit König Gunther, ihrem Bruder, und Hagen, ihren Feind, sah sie niemals. Erst Gernots und Giselhers Zureden konnten sie bestimmen, mit Gunther Frieden zu schliessen.

Auf Gunthers Bitte liess die Königin später den Nibelungenhort, den Sigfrid einst dem Zwergenkönig abgewonnen und ihr als Morgengabe übereignet hatte, nach Worms bringen. Freigebig teilte Kriemhild nun aus ihrem unermesslichen Schatz Gaben aus unter die Armen. Da Hagen fürchtete, sie könne dadurch zu grossen Anhang im Volke gewinnen, erwirkte er es, dass man ihr die Schlüssel zur Schatzkammer nahm. Kriemhild zürnte sehr und beklagte sich bitter bei ihrem Bruder über die Gewalt, die ihr angetan ward.

Hagen aber nahm entschlossen den Schatz an sich und versenkte ihn in den Rhein.

Dreizehn Jahre hatte Kriemhild um Sigfrids Tod getrauert. Da erschien eines Tages am Hofe zu Worms der Markgraf Rüdeger von Bechelaren mit prächtigem Geleite und überbrachte eine Botschaft von König Etzel.

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«Ich komme von König Etzel aus dem Hunnenlande», sprach er zu Kriemhild. «Frau Helche ist gestorben, und nun wagt es der mächtige König, um dich, edle Herrin, zu werben. In seinem Namen bitte ich um deine Hand.»

Gunther und auch seinen Brüdern war dieser Antrag hoch willkommen; sie wünschten sehr, ihre schöne Schwester möchte sich dem Leben wieder zuwenden. Nur Hagen erhob Widerspruch und warnte, Kriemhild mit König Etzel zu vermählen; denn er fürchtete, Kriemhild werde ihre neue Macht ausnützen und für das ihr angetane Leid an den Burgunden Rache nehmen.

Lange widerstrebte die schöne Kriemhild der Werbung: «Mir geziemt nur zu weinen und weiter nichts», sagte sie. Doch als Rüdeger ihr gelobte, jedes Leid, das ihr widerfahre, blutig zu rächen, gab sie nach langem Zögern ihr Jawort zum neuen Ehebund mit König Etzel.

Mit ihrem Gefolge und unter dem Schutze Markgraf Rüdegers zog Kriemhild ins Hunnenland. König Etzel kam ihr bei Tulln entgegen mit allen Rittern, Heiden und Christen, die an seinem Hofe dienten. An einem Pfingsttage wurde in Wien die prunkvolle Hochzeit, die siebzehn Tage währte, gefeiert, und dann fuhr das Paar die Donau hinab in Etzels Reich.

Kriemhild lebte in glücklicher Ehe mit dem mächtigen Hunnenkönig und schenkte ihm bald einen Sohn, der Ortlieb genannt wurde. Aber auch im Glück verliess sie nie der Gedanke an Sigfrids Tod und an die Rache, die sie geschworen hatte. Viele Jahre waren vergangen, da klagte Kriemhild eines Nachts in vertrautem Gespräch ihrem Gatten, dass sie nie ihre Brüder und Verwandten bei sich sehen könne. Gerne versprach König Etzel, ihren Wunsch zu erfüllen. So erschienen denn Etzels Sendboten am Königshofe zu Worms und luden Gunther und seine Mannen auf die nächste Sonnenwende zum Fest an Etzels Hof.

Der Tronjer riet ab, der Einladung des Hunnenkönigs zu folgen, da er wusste, dass Kriemhild unversöhnlich war in ihrem Hasse. Doch als ihre Brüder Gernot und der junge Giselher ihm Furcht vorwarfen, erklärte er sich zur Mitfahrt bereit und versprach, ihnen den Weg zu weisen.

Durch Ostfranken ging die lange Fahrt bis an die Donau, sodann durch Baiernland über Passau nach Bechelaren, wo der Markgraf Rüdeger lebte. Mit seiner Hausfrau Gotelind nahm er die Burgunden in herzlicher Gastfreundschaft auf und beschenkte sie reichlich. Giselher, der Junge, verlobte sich mit Dietlind, der lieblichen Tochter des Markgrafen. Rüdeger selbst geleitete mit fünfhundert Mannen die Burgunden zum Feste an den Hunnenhof.

Dietrich von Bern, der an Etzels Hof lebte, ritt mit seinen Recken den Gästen entgegen. Als er Hagen die Hand zum Grusse bot, raunte er ihm zu: «Seid auf der Hut; denn Kriemhild, unsere Königin, weint noch jeden Morgen um Sigfrid!»

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Da wussten auch die Brüder Kriemhilds, dass den Burgunden schwere Gefahr drohte.

Trotzig ritten die Burgunden an Etzels Hofe ein. Kriemhild begrüsste zuerst den jungen Giselher, ihren Lieblingsbruder, der als einziger sie umarmte und küsste.

«Habt Ihr mir den Nibelungenhort mitgebracht?» fragte sie Hagen, ohne ihn willkommen zu heissen.

«Ich hatte an Schild und Brünne, an Helm und Schwert genug zu tragen», versetzte der Held in bitterem Hohn. Und auch als sie ihre Gäste aufforderte, die Waffen abzulegen, gab Hagen ihr höhnische Antwort. Da erkannte sie, dass man die Burgunden gewarnt hatte.

«Wüsste ich, wer es getan hat, der sollte es mir mit dem Tode büssen!» rief sie voller Zorn.

Doch ebenso zornig bekannte Dietrich von Bern sich als Warner. Da schämte sich die Königin und schwieg. Denn sie fürchtete Dietrich sehr.

Während die wegmüden burgundischen Recken sich ausruhten, übernahm Hagen von Tronje mit Volker, dem wehrhaften Sänger, die Schildwacht. Die beiden Recken setzten sich Kriemhilds Kemenate gegenüber auf eine Bank. Als die Königin die beiden vom Fenster aus sah, wurde sie durch Hagens Anblick an ihren Kummer gemahnt, und sie flehte Etzels Mannen mit dringenden Bitten an, sie an Hagen zu rächen. Sechzig von ihnen rüsteten sich. «Ihr seid zu wenige!» rief aber Kriemhild. «So leicht ist das Spiel nicht!» Da wappneten sich vierhundert.

Die Krone auf dem Haupt schritt Kriemhild mit dieser Schar vom Saal hinab in den Hof. Hagen legte, als er die Königin daherkommen sah, sein Schwert, an dessen Knauf ein Edelstein glänzte, quer über die Knie. Kriemhild wusste, es war Sigfrids Waffe.

Ohne Furcht sassen die beiden Recken da. Keiner erhob sich, als die Königin vor sie hintrat. Sie fragte Hagen, warum er ungeladen an den Hunnenhof gekommen sei. Doch der finstere Recke blieb ihr die Antwort nicht schuldig: «Drei Könige hat man hierher zu Gaste geladen, das sind meine Herren. Wenn meine Herren ausziehen, so fehle ich nie, und wer sie einlädt, der lädt auch mich ein!»

Da fuhr es aus Kriemhild heraus: «Sagt an, warum habt Ihr die Tat vollbracht, wegen der ich Euch hasse? Ihr habt Sigfrid erschlagen, meinen geliebten, edlen Mann!»

«Genug des Geredes!» rief der grimmige Tronjer. «Ich bin es, der ihn erschlagen hat. Mit dieser Hand habe ich es getan. Er musste entgelten, dass Frau Kriemhild die schöne Brunhild schmähte.»

Fuchtlos blickte er sich im Kreise um, als fordere er die Hunnen auf, den Kampf zu beginnen. Doch diese sahen einander an und zogen sich zurück; so sehr fürchteten sie den gewaltigen Helden.

König Etzel wusste nichts von diesem Zusammenstoss und bewirtete die Gäste aus dem Burgundenland am nächsten Tage aufs beste. Zur

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Nachtruhe liess er sie in einen weiten Saal führen, wo man ihnen bequeme Lager bereitgestellt hatte. Wieder hielten Hagen und Volker vor dem Hause Wacht. Der schwertgewaltige Sänger nahm seine Fiedel und liess die Saiten erklingen, dass die Recken im Saale trotz aller Sorgen in erquickenden Schlummer sanken. Mitten in der Nacht sahen die Wächter vor dem Saal Helme und Waffen im Hofe blinken. Es waren Kriemhilds Mannen, die einen Überfall auf die Schlafenden planten. Doch als sie die Tür in sicherer Hut sahen, kehrten sie wieder um; bittere Scheltworte gab Volker, der Sänger, ihnen mit auf den Weg.

In der Frühe, als die Glocken zur Messe läuteten, riet Hagen seinen Waffengefährten, statt der seidenen Gewänder den Harnisch anzulegen und sich zu wappnen; denn auf Kampf müsse man vorbereitet sein.

Etzel, der immer noch arglos war, fragte, als er die Gäste in Waffen sah, unwillig, ob man ihnen etwa ein Leid zugefügt habe. Da verschwieg Hagen seinen Argwohn. «Meine Herren haben die Sitte», versetzte er, «bei allen Festen drei Tage gewappnet zu gehen.»

Vergeblich wandte sich Kriemhild, ehe man sich zu Tische setzte, an Dietrich um Hilfe; der edle Held wies es weit von sich, das Gastrecht zu verletzen. Mehr Gehör fand sie bei Etzels Bruder Blödelin, dem sie reichen Lohn versprach. Mit tausend Mannen drang er in das Gästehaus ein, wo Hagens Bruder Dankwart, König Gunthers Marschall, mit seinen Knechten bei Tische sass.

«Endlich können wir an den Burgunden Rache nehmen! Ihr müsst nun entgelten, dass Hagen Sigfrid erschlagen hat», begann er unvermittelt und drang auf Dankwart ein. Da sprang dieser vom Tische auf und führte einen so schweren Schwertschlag, dass Blödelins Haupt ihm vor die Füsse rollte. Ein furchtbarer Kampf hub an. Mehr als die Hälfte der Hunnen fand den Tod. Als Etzels Ritter von Blödelins Tode hörten, wappneten sie sich ohne Wissen des Königs, und nicht eher endete das wütende Morden, als bis alle Knechte der Burgunden tot am Boden lagen. Dankwart allein bahnte sich eine Gasse durch die Hunnenkrieger und gelangte in den Saal, wo die Herren beim Festmahl sassen.

Das blutige Schwert in der Faust, trat er in den Saal: «Alle Ritter und Knechte liegen erschlagen in ihrer Herberge!» rief er laut. Entsetzt vernahmen die Burgunden seine Worte.

«Verwahret die Tür!» rief Hagen, als er den Hergang vernommen hatte, und nun erhob sich ein grausiges Gemetzel. Der Tronjer erschlug Ortlieb, Kriemhilds Sohn, dass sein Haupt in den Schoss der Königin sprang, dazu den Erzieher des Kindes.

Vergeblich mühte sich Gunther mit seinen Brüdern, den Streit zu schlichten; dann mussten sie jedoch Hagen zu Hilfe eilen. In ihrer Not bat Kriemhild den starken Dietrich um Beistand. Doch der wollte nichts als freien Abzug für sich und seine Mannen. Man gewährte ihm die Bitte. Da nahm der Berner die Königin und König Etzel bei der Hand und

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verliess mit seinen sechshundert Recken den Saal. Auch Markgraf Rüdeger bat, ihn mit seinen Mannen ziehen zu lassen. Das gestand ihm Giselher, der mit des Markgrafen Tochter verlobt war, mit freundlichen Worten zu. Wer dann noch von den Hunnen im Saal verblieb, fand erbarmungslos den Tod. Die Erschlagenen warf man über die Stiege hinab.

Vor dem Hause drängten sich viele bewaffnete Hunnen. Hagen und Volker spotteten über ihre Feigheit. «Etzels Schild voll von rotem Golde biete ich dem als Preis, der mir Hagens Haupt bringt!» rief Kriemhild; doch ihre Worte fanden kein Gehör. Kein Hunne wagte den grimmen Helden zum Kampfe herauszufordern.

Schliesslich liessen sich drei Recken, die an Etzels Hof dienten, überreden. Es waren Hawart von Dänemark, sein Markgraf Iring und der Landgraf Irnfried von Thüringen. Aber alle drei erlagen nacheinander dem Schwert der Burgunden.

Dann wurde es still im Saale. Auf den Toten sitzend, suchten die Burgunden Ruhe nach dem furchtbaren Kampf. Doch noch vor Abend standen wiederum viele Hunnen zum Kampfe bereit und stürmten den Saal. Bis in die Nacht hinein dauerte die erbitterte Schlacht. Vergeblich versuchten die Könige, noch Sühne zu erlangen. Doch Kriemhild verlangte, dass Hagen ihr ausgeliefert werde. Dann wollte sie den Brüdern das Leben schenken. «Niemand wird solcher Untreue fähig sein», antwortete Giselher. «Deshalb müssen wir sterben. Wer mit uns kämpfen will, der findet uns bereit!»

Da liess Kriemhild den mächtigen Saalbau an allen vier Ecken anzünden. Vom Winde entfacht, ergriff das Feuer das ganze Haus, und glühende Asche fiel dicht auf die Helden nieder. Mit den Schilden schützten sie sich und versuchten, die Feuerbrände mit dem Blut der Erschlagenen zu löschen. Unerträglich war die Qual, die Rauch und Hitze und Durst ihnen zufügten.

Noch sechshundert Burgunden sahen die Morgenröte und spürten den kühlen Morgenwind, der ihnen Linderung gab. Dann begann der Kampf von neuem. Kriemhild liess Gold in Schilden herbeitragen, die Streiter zu entlohnen. Auf den Knien flehte das Königspaar den Markgrafen Rüdeger um Hilfe an. Kriemhild mahnte ihn an sein Wort, das er ihr bei der Werbung gegeben hatte.

Schwere Not war für den ehrlichen Recken der Zwiespalt im Herzen. Durfte er an den Gastfreunden, die er seinem Herrn zugeführt hatte, Untreue üben? Musste er nicht den Schwur halten, den er einst Kriemhild bei seiner Werbung geleistet hatte?

Rüdeger erkannte, dass er seine Ehre nicht mehr retten könne, gleichviel, wie er sich entschied; da liess er seine Mannen sich zum Kampfe rüsten.

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Als Giselher den Markgrafen kommen sah, war er voller Freude; denn nicht anders dachte er, als dass Rüdeger den Frieden brächte. Dieser stellte jedoch den Schild vor die Füsse und kündigte den Burgunden die Freundschaft auf. Vergeblich mahnte ihn Gunther, der alten Liebe und Treue zu gedenken. «Wollte Gott, Ihr wäret am Rhein und ich wäre in Ehren tot!» antwortete Rüdeger. Noch nie hatten Helden von einem Freunde solche Not erfahren müssen!

Schon hoben sie die Schilde zu dem unausweichlichen Kampf, da gebot Hagen noch einmal Einhalt. Der Schild, den Frau Gotelind ihm als Gastgeschenk überreicht hatte, war zerhauen. Er bat Rüdeger daher um einen neuen, und der Markgraf gab ihm den eigenen. Das war der letzte Freundesdienst, den er leisten konnte. Hagen und Volker gelobten, Rüdeger im Streite nicht zu berühren, und wenn er alle Burgunden erschlüge.

Dann stürmte Rüdeger mit den Seinen in den Saal. Viele der Burgunden sanken von den Streichen des Markgrafen dahin. Das konnte Gernot nicht mehr länger mit ansehen. Er forderte Rüdeger zum Kampfe und empfing von dessen Hand die tödliche Wunde. Doch mit letzter Kraft streckte er den Gegner mit dem Schwerte, Rüdegers Gastgeschenk, nieder. So ereilte beide zugleich der Tod. In wilder Wut übten die Burgunden ihre Rache, und nicht einer von Rüdegers Mannen kam mit dem Leben davon.

Laute Klage erhob sich in Etzels Palast über Rüdegers Tod. Einer von Dietrichs Recken überbrachte seinem Herrn die traurige Kunde. Der gebot seinem Waffenmeister Hildebrand, die Burgunden nach dem Hergang zu befragen. Sogleich rüsteten sich ohne Dietrichs Wissen alle seine Recken, um Hildebrand zu begleiten.

Als Hagen ihnen den Ausgang des Kampfes mit Rüdeger bestätigte, beklagten Dietrichs Mannen laut den Tod des Freundes.

«Gebt uns seinen Leichnam heraus!» bat Hildebrand. «Wir wollen ihm nach seinem Tode die Treue entgelten, die er uns stets bezeugt hat.»

Gunther wollte zustimmen, doch die Burgunden gerieten darüber in einen Wortwechsel mit Dietrichs Mannen. «Holt ihn euch doch!» rief Volker voller Spott. «Das wäre erst der richtige Dank, den ihr Rüdeger erweisen könnt!»

Da liess sich Wolfhart, Hildebrands Neffe, nicht länger halten und drang in den Saal, ihm folgten Dietrichs Mannen. Vergeblich suchte Meister Hildebrand den Streit zu schlichten. In dem Kampfe, der nun entbrannte, fanden die Besten der burgundischen Recken den Tod. Volker, der Dietrichs Neffen erschlagen hatte, fiel von Hildebrands Schwert. Auch Dankwart fand den Tod. Der junge Giselher und Wolfhart töteten sich im Kampfe gegenseitig.

Nun lebte von den Burgunden niemand mehr als Gunther und Hagen. Von Dietrichs Mannen war nur noch der starke Waffenmeister

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Hildebrand, der sich vor Hagens Waffe retten konnte, am Leben geblieben.

Blutüberströmt trat er vor seinen Herrn. «Ich ganz allein bin übrig», sagte Hildebrand. Von Gram und Entsetzen wurde Dietrich ergriffen, als er vom Tode all seiner Mannen erfuhr. Noch niemals in seinem Leben war ihm so schlimme Kunde geworden. Stumm nahm er Rüstung und Schwert, und Hildebrand half ihm, sich zu wappnen. So ging Dietrich vor den Saal, um von Gunther und Hagen Sühne zu verlangen. «Ergebt euch mir als Geiseln», forderte er, «so werde ich euch selber heimgeleiten ins Burgundenland.»

Hagen lehnte solches Verlangen schroff ab und sprach: «Das wolle Gott im Himmel nicht, dass zwei gewappnete, freie Männer sich dir ergeben.»

Da griff der Berner mit dem Schwerte an. Der lange Kampf hatte Hagen ermattet, und so musste er dem starken Dietrich erliegen. Der verwundete ihn schwer; aber den Todesstreich führte er nicht. Er umschlang den Tronjer mit den Armen, band ihn und führte ihn zu Kriemhild.

Wie freute sich die Königin, als sie Hagen gebunden vor sich sah, und sie versprach, Dietrich diesen Dienst nie zu vergessen. Der Berner aber verlangte, dass sie Hagen am Leben lasse. Die Königin sagte es zu und liess ihren Gefangenen in den Kerker führen, während Dietrich in den Saal zurückeilte, um Gunther zum Kampfe zu stellen. Nach heissem Ringen bezwang er ihn und führte auch ihn, den König, gebunden zu Kriemhild.

«Handelt gut an den beiden und gewährt ihnen Eure Gnade», mahnte Dietrich die Königin, und sie versprach es wieder.

Aber kalt blieb ihr Herz. Sie trat in Hagens Kerker, mit stählernem Blick, und fragte den Helden nach dem Nibelungenhort. Sie gelobte ihm, wenn auch mit feindseligen Worten, sein Leben, wenn er den Schatz herausgebe.

Doch Hagen wehrte ab. Niemals werde er den Hort ausliefern, solange einer seiner Herren am Leben sei.

Da liess Kriemhild ihrem Bruder das Haupt abschlagen und trug es an den Haaren zu Hagen.

Zum ersten Male in seinem Leben zeigte sich der kühne Held gebrochen: «Nun ist nach deinem Willen der edle König Gunther tot und ebenso Giselher und Gernot! Den Schatz, den weiss nun niemand als Gott und ich. Und dir soll er auf ewig, du Teufelin, verborgen bleiben!»

Da zog Kriemhild aus der Scheide das Schwert, das Hagen trug. Es war Sigfrids Schwert Balmung. Sie hob es hoch empor und schlug Hagen das Haupt ab.

Der alte Hildebrand, der Waffenmeister, sprang herzu. Als er sah, dass der beste Held, der je ein Schwert getragen hatte, von Weibes

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Hand erschlagen war, zog er in jähem Zorne sein Schwert und durchbohrte Kriemhild, dass sie entseelt zu Boden sank.

So endete das Fest am Hunnenhofe, und in einsamem Schmerze blieben Etzel und Dietrich unter allen zurück. Trauer breitete sich aus in Etzels Reich und pflanzte sich fort bis ins Land der Burgunden. Das stolze Königsgeschlecht zu Worms bezahlte den begangenen Frevel mit dem eigenen Untergang. Der wilde Brand, den der Mord an dem tapferen Sigfrid entflammte, hatte schonungslos Schuldige und Unschuldige zugleich hinweggerafft.

Das um 1200 n. Chr. entstandene Nibelungenlied ist heute

wahrscheinlich die in Deutschland bekannteste Dichtung des Mittelalters. Im 13. Jahrhundert steht es dagegen in Konkurrenz mit den modisch gewordenen Versromanen um den keltischen Sagenkönig Artus. Was die Gründe dieses Erfolges sind, wissen wir nicht.

Der ursprünglich im Ostseeraum beheimatete Germanenstamm der Burgunder dringt im frühen 5. Jahrhundert über den Rhein und siedelt sich in der mittel- und oberrheinischen Landschaft um Worms an. Dabei kommt es zu Grenzstreitigkeiten mit den nur allmählich zurückweichenden Römern. Im Jahr 436 werden die Burgunder von einem mit den Römern zusammenwirkenden hunnischen Heer (das nicht von Attila geführt wird) vernichtend geschlagen; ihr König Gundahar oder Gundicarius (mhd. Gunther) und die meisten seiner Männer fallen im Kampf. Der historisch verbürgte Untergang der Burgunden wird später mit Attila in Verbindung gebracht, der im Jahr 453 in der Hochzeitsnacht mit Justa Grata Honoria an einem Blutsturz stirbt. Wenig später wird dieser Tod als Mord ausgegeben. Damit ist die motivische Grundstruktur der Lieder vom Untergang der Burgunden und von Kriemhilds Rache geboren! Nun braucht nur noch die Vorgeschichte hinzuerfunden zu werden!

Den Zeitgenossen ist Attila ein Rätsel. Doch auch spätere Epochen bis auf den heutigen Tag lösen sich kaum von der vordergründigen zeitgenössischen Perspektive. Gibt es in der Tat für sein Auftreten und die Rolle, die er spielt, kaum ein vergleichbares Beispiel, so verschieben sich die Perspektiven noch einmal, als nach seinem Tod sein Reich allzu schnell zerfällt und auch seine Ziele in Vergessenheit geraten.

Attila findet Eingang in den verschiedensten Sagenkreisen, gerät damit in Konstellationen, die ihn gleichsam vereinnahmen, und wird damit zu einem Bindeglied und der Grundlage, auf der alles zu fussen scheint. Die Sagen lösen historische Tatbestände auf, die ganz anderer Herkunft sind: Die allgemein bekannten Gegebenheiten und ihre Zusammenhänge werden unwichtig und heben sich zum Teil gegenseitig auf. Einmal den Voraussetzungen selbst der Assoziation entrückt, so dass nur noch die Motive bleiben, verformt sich fast zusehends alles. Als

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ein drastisches Beispiel mag die Erzählung vom Untergang der Burgunden innerhalb der mittelalterlichen Sagenliteratur gelten, deren Ursprung zweifellos im ungleich epochaleren Untergang des Weströmischen Reiches liegt.

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Erster Teil

Sigfrids Tod

Erstes Abenteuer

Wie Kriemhild bei den Burgunden aufwuchs

Uns sind in alten Mären Wunder viel gesagt von Helden, reich an Ehren, von Kühnheit unverzagt, von Freude und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen, von kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen. Es erwuchs in Burgunden ein edles Mägdelein, dass in allen Landen kein schöneres mochte sein: Kriemhild war sie geheissen; sie ward ein schönes Weib. Um sie mussten der Degen viel verlieren Leben und Leib. Sie pflegten drei Könige, edel und reich: Gunther und Gernot, denen keiner gleich, und Giselher, der junge, ein ausgewählter Degen. Die Maid war ihre Schwester; die Fürsten hatten sie zu pflegen.

Zieht man Schlussfolgerungen aus den verwandtschaftlichen

Verhältnissen der identifizierten Römer, geht man kaum fehl in der Annahme, König Gunther sei mit dem weströmischen Kaiser Valentinian III. identisch. In dem zweiten Sagenkönig Gernot erkennt man den Adligen und späteren Kaiser Petronius Maximus. Bei dem dritten Sagenkönig Giselher könnte es sich um Petronius' Sohn Palladius handeln, der mit Valentinians Tochter Eudocia verheiratet ist. Erstaunlicherweise führt uns Attila selbst zu Kriemhild! Allerdings hat die Geschichte den Charakter des Märchenhaften, so dass ihre Historizität bezweifelt wird. Justa Grata Honoria ist die Schwester des römischen Kaisers Valentinian III. Sie ist etwa ein Jahr älter als ihr Bruder und unverheiratet. Sie hat sich in unerlaubter Weise mit ihrem leitenden Hofbeamten eingelassen, was nicht ohne Folgen bleibt. Der Liebhaber wird nämlich hingerichtet. Justa sendet eine Botschaft an Attila mit der Bitte um Hilfe, zusammen mit einem Ring, den dieser als ein Heiratsversprechen auslegt und daraus die Konsequenzen zieht, indem

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er kurz vor der Invasion in den Westen damit seine Forderungen begründet.

Das war von Tronje Hagen und auch der Bruder sein, Dankwart, der gar schnelle, von Metz Herr Ortwein, die beiden Markgrafen, Gere und Ekkewart, Volker von Alzei, in allen Kräften wohl bewahrt.

Hagen von Tronje geniesst am burgundischen Hof die vasallenartige

Sonderstellung eines engsten königlichen Beraters und Helfers, der sich aber eigene Machtentscheidungen erlauben kann, ohne dass bei ihm ein Lehen oder anderer Besitz erwähnt wird. Er ist nicht die nebelhafte, sagenumwobene Figur. Er ist Magister Militum, ein Mann von grossem Ansehen und Einfluss am Hof von Ravenna. Und er ist der Gegenspieler von einem anderen einflussreichen Mann - Sigfrid! Am Hof von Ravenna gibt es nur einen Mann, der imstande ist, die Westgoten einzuschüchtern: Flavius Aëtius! Ihm ist es gelungen, mit hunnischer Hilfe seine Stellung in Westrom zu sichern. Der hunnische Hintergrund hilft ihm auch, nicht nur die Macht in Gallien auszubauen, sondern auch, sich in Ravenna und in Rom eine Überlegenheit zu verschaffen, für die es kein Äquivalent gibt. Auch in der Hunnenpolitik agiert Aëtius neben dem kaiserlichen Hof mit grosser Selbständigkeit. In diese Zeit fällt es auch, als sein Sohn Carpilio als Geisel zu den Hunnen geschickt wird.

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Zweites Abenteuer

Wie Sigfrid erzogen ward

Da wuchs in den Niederlanden eines reichen Königs Kind, sein Vater, der hiess Sigmund, seine Mutter Sigelind, in einer reichen Feste, weithin wohlbekannt, drunten an dem Rheine; Santen war sie genannt. Sigfrid war geheissen der schnelle Degen gut. Er erprobte viele Reiche in kraftbeherztem Mut. Seines Leibes Stärke bracht ihn in manches Land. Hei, was an schnellen Degen er bei den Burgunden fand!

Wer sind König Sigmund von den Niederlanden und sein Sohn

Sigfrid? Um die Mitte des 5. Jahrhunderts haben sich die Barbaren am Rhein niedergelassen, und in Gallien stösst man auf die Westgoten und ihren König Theoderich I. sowie dessen erstgeborenen Sohn Thorismud!

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Drittes Abenteuer

Wie Sigfrid nach Worms kam

Also sprach da Hagen: «Soweit ichs sagen mag, sah ich auch nimmer Sigfrid bis auf diesen Tag, so will ich doch glauben, wie es damit auch geht, dass er es ist, der Recke, der dort so herrlich vor uns steht. Er bringet uns Märe her in dieses Land: die kühnen Nibelungen schlug des Helden Hand, die reichen Königssöhne Schilbung und Nibelung; er wirkte grosse Wunder mit seines starken Armes Schwung.

Die Bezeichnung für das geheimnisvolle Volk der Nibelungen baut uns

eine Brücke von der Sage zur Geschichte, und die Semasiologie gibt uns Einblick in die mögliche Denotation von Nibel, des ersten Wortstammes. Die Konsonanten N, B (V), L finden sich in verschiedenen lateinischen Wörtern wieder: nobilis («adlig»), nobilitas («vornehme Herkunft»), nivalis («schneeig, schneeweiss»), nevis («Mord, Ermordung»), nervus («Sehne, Muskel, Bogensehne, Kraft, Stärke») und nobilito («berüchtigt»).

Alles riecht hier irgendwie nach Untergang, nach Kämpfen und nach Tod! Ein Vergleich mit den Gladiatoren, welche die Arena betreten, drängt sich geradezu auf! Aus den Gladiatoren werden Todgeweihte! «Heil Caesar! Dem Tode geweiht, grüssen wir dich!» rufen die Gladiatoren dem Kaiser zu. Bedeudet das Wort Nibelungen, dass die Träger dieses Namens dem Untergang geweiht sind, so wie die Burgunden und auch das Weströmische Reich dem Untergang geweiht sind?

Als der Held alleine ohn alle Hilfe ritt, fand er vor einem Berge - so teilte man mir mit - beim Nibelungenhorte manchen kühnen Mann. Sie waren ihm noch fremde, bis er die Kunde dort gewann. Der Hort König Nibelungs, der wurde da getragen aus einem hohlen Berge. Nun hört Wunder sagen, wie ihn teilen wollten die Nibelungen dann! Das sah der Degen Sigfrid. Der Held zu wundern sich begann. Er sah viel edle Steine, wie wir hörten sagen - hundert Lastwagen könnten es nicht tragen -,

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noch mehr des roten Goldes von Nibelungenland. Das sollte alles teilen des vielkühnen Sigfrids Hand. Sie gaben ihm zum Lohne König Nibelungs Schwert. Doch ward der Dienst ihnen gar übel gewährt, den ihnen da leisten sollte der vielkühne Mann: er bracht es nicht zustande. Da griffen sie den Helden an. Den Schatz musste er liegen lassen ungeteilt. Der beiden Könige Mannen kamen zum Kampf geeilt. Mit ihres Vaters Schwerte, das Balmung war genannt, erstritt von ihnen der Kühne den Hort und das Nibelungenland.

Es ist viel über den Nibelungenhort und dessen Herkunft geschrieben

und gerätselt worden! Aber niemand konnte ihn bisher einordnen! Kann uns in dieser ausweglosen Situation das Zwergenvolke der Nibelungen überhaupt weiterhelfen?

Ich bin der Meinung, dass uns die Nibelungen auf eine falsche Fährte führen. Folgt man aber der Spur der Westgoten, dann stösst man tatsächlich auf ein Ereignis, das uns zum Nibelungenhort führen könnte:

Als der weströmische Kaiser Honorius im Jahr 408 n. Chr. dem Westgotenkönig Alarich die Zahlung von 4'000 Pfund Gold verweigert, die er ihm zugesagt hat, marschiert Alarich kurzerhand über die Alpen, plündert Aquileja und Cremona und eilt die Via Flaminia hinab bis unmittelbar vor die Tore Roms. Als Alarich jede Zufuhr von Nahrungsmitteln in die Stadt abschneidet, machen die belagerten Römer dem Westgotenkönig ein Übergabeangebot, und die Westgoten erhalten 5'000 Pfund Gold, 30'000 Pfund Silber, 4'000 seidene Tuniken, 3'000 Felle und 3'000 Pfund Pfeffer. Inzwischen sind unzählige Sklaven ihren Herren entlaufen, um sich in den Dienst von Alarich zu stellen.

Wie zum Ausgleich geht ein westgotischer Führer, Sarus, zu den Römern über, nimmt eine beträchtliche westgotische Streitmacht mit sich und greift das westgotische Hauptheer an. Alarich, der darin eine Verletzung des Übereinkommens erblickt, belagert Rom im Jahr 410 erneut. Ein Sklave öffnet die Stadttore, die Westgoten strömen in die Stadt hinein, und zum ersten Mal seit achthundert Jahren fällt die grosse Stadt in die Hände des Feindes. Drei Tage lang ist Rom der Plünderung unterworfen. Die Hunnen und Sklaven in dem 40'000 Mann starken Heer der Westgoten lassen sich nicht mehr zügeln. Hunderte von reichen römischen Bürgern werden hingemordet, ihre Frauen geschändet und getötet. Es ist fast nicht mehr möglich, alle die Leichname zu beerdigen, die in den Strassen liegen. Tausende werden als Gefangene fortgeführt, darunter Galla Placidia, die Halbschwester von Kaiser Honorius. Die

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Plünderer reissen alles Gold und Silber an sich, wo sie es nur finden, und Kunstwerke werden wegen ihres Edelmetalles eingeschmolzen.

Alarich stellt die Disziplin wieder her und führt seine Truppen nach Süden, um Sizilien zu erobern. Im gleichen Jahr aber befällt ihn ein Fieber, und er stirbt in Cosenza. Sklaven leiten den Busento ab, um dem König im Flussbett ein sicheres Grab zu schaffen, und lassen den Strom wieder in sein Bett zurückfliessen. Damit der Ort der Grabstätte verborgen bleibt, werden die Sklaven, die diese Arbeiten verrichtet haben, getötet!

Beim Lesen dieser Zeilen überkommt mich jedesmal ein leises Grauen, und ich möchte eine Parallele zum Nibelungenhort sehen, den Hagen von Tronje im Rhein versenkt!

Sie hatten da als kühne Freunde zwölf Mann, die stark wie Riesen waren. Was focht ihn das an? Die schlug alsbald im Zorne Sigfrids starke Hand; und siebenhundert Recken bezwang aus Nibelungenland er mit dem guten Schwerte, geheissen Balmung. In ihrem starken Schrecken gar manche Recken jung, den vor dem Schwert sie hatten und vor dem kühnen Mann, das Land mit den Burgen machten sie ihm untertan.

Das Schwert Balmung führt uns wieder zu den Hunnen. Berichte über

das neu aufgefundene Schwert des Kriegsgottes machen die Runde. Wir müssen die Semasiologie bemühen, und wie ein Phönix aus der Asche ersteht ein alter Kriegsgott der Hunnen und ihrer Vorfahren: Baal! Das Schwert Balmung könnte dem hunnischen Gott Baal geweiht sein!

Dazu die reichen Könige, die schlug er beide tot. Durch Alberich kam er darauf in grosse Not: seine Herrn wollt schleunig rächen seine Hand, bevor die grosse Stärke er an Sigfrid erkannt.

Nach Attilas Tod im Jahr 453 kommt es zu einer Teilung des

Hunnenvolkes und ihrer Bundesgenossen in einzelne Stämme. Die Spaltung des Hunnenreiches beschwört eine ungewisse Zukunft herauf, ganz zu schweigen von den neuen Machtverhältnissen, die sich dadurch ergeben. Ardarich (sowohl die Denotation als auch die Konnotation des Namens weisen auf Alberich hin!), ein Stammesfürst der Gepiden, bringt schnell eine antihunnische Koalition zusammen.

Da konnt ihn nicht bestehen der kräftige Zwerg. Wie die wilden Löwen liefen sie an den Berg,

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wo er die Tarnkappe Albrich abgewann. Da ward der Herr des Hortes Sigfrid, der vielkühne Mann.

Mit dem Schatz hat Sigfrid dem Zwergenvolke der Nibelungen auch

eine Tarnkappe abgenommen, die ihm offensichtlich Schutz bietet. Welche Bewandtnis hat es nun mit dieser Tarnkappe? Wie ist es möglich, dass sie ihren Besitzer sogar unsichtbar machen kann? Um die Frage zu klären, ist es nötig, sich von den Vorstellungen heutiger Gesellschaftsmodelle zu lösen und sich in die frühmittelalterlichen Verhaltensformen und sozialen Gefüge einzufühlen: Der Schutz beruht wohl auf einem Ehrenkodex, einem ungeschriebenen Gesetz, das aufgrund einer Heirat, einer Blutsverwandtschaft oder einer Zugehörigkeit zustande kommt.

Die da gewagt zu kämpfen, die lagen alle erschlagen. Den Schatz liess alsbald er hinbringen und tragen, woher Niblungs Mannen zuvor ihn gebracht. Alberich, der starke, ward zum Kämmerer gemacht. Er musst ihm Eide schwören. Er diente ihm als Knecht; jeder Art Dienste leistet' er ihm recht.» So sprach Hagen von Tronje: «Das hat er getan. Also grosse Kräfte nie ein Recke noch gewann. Noch eine Mär weiss ich; die ist mir wohl bekannt: Einen Linddrachen erschlug des Helden Hand. Dann badet' er in dem Blute. So ward dem Recken wert die Haut von solcher Härte, dass keine Waffe sie versehrt.»

Die Tötung eines Drachen stellt bei den Barbaren die höchste Tugend

dar. Doch was verkörpert der Drache eigentlich? Das Bild einer römischen Centurie, einer Schildkröten-Formation, die einem Lindwurm ähnelt, und über der das Kohortenzeichen, ein Drache, zu sehen ist, drängt sich geradezu auf: Schild reiht sich an Schild, Kopf folgt auf Kopf und Helm schliesst sich an Helm an. Mit zweihundert Beinen trippelt der Wurm über den Kampfplatz. Sofort sammeln sich die Recken und stürzen sich auf den römischen Lindwurm. Doch die Klingen der Schwerter prallen ein um das andere Mal an den Schilden und Brustharnischen ab, ohne die harte Hornhaut der Schildkröte verletzen zu können. Wie die römischen Legionäre zur Seite treten und ihren Bogenschützen eine Gasse öffnen, sehen viele der Recken den feuerspeienden Rachen des Drachens.

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Viertes Abenteuer

Wie Sigfrid mit den Sachsen stritt

Da kam fremde Nachricht in König Gunthers Land durch Boten, die von ferne man dorthin gesandt von unbekannten Recken, die erfüllt von Hass. Als sie die Mär vernahmen, leid war ihnen von Herzen das. Die will ich euch nennen: es waren Lüdeger aus dem Sachsenlande, ein mächtiger König hehr, dazu vom Dänenlande der König Lüdegast. Dessen Freunde gern trugen jeder Unterstützung Last. Sie rüsteten sich zur Reise. Als die Fahrt begann, die Fahne ward anbefohlen Volker, dem kühnen Mann, da sie ziehen wollten bei Worms übern Rhein. Hagen, der starke, der sollte Scharmeister sein. «Herr König, bleibt zu Hause», sprach da Sigfrid, «da mir Eure Recken sollen folgen mit! Weilet bei den Frauen und habt guten Mut! Ich will Euch wohl behüten beides, Ehre so wie Gut. Die Euch heimsuchen wollen nach Worms an dem Rhein, das will ich wohl verhüten; es soll ihr Schade sein: wir wollen ihnen reiten so weit in ihr Land, dass der Übermut ihnen sei bald in Sorge umgewandt.» Vom Rheine sie durch Hessen mit den Helden ritten gegen das Land der Sachsen. Da ward bald gestritten. Mit Raub und mit Brande verheerten sie das Land, dass es beiden Fürsten bald mit Schmerzen ward bekannt.

Im Jahr 413 überqueren die Burgunder den Rhein, siedeln sich

westlich davon an und breiten sich bis in die Belgica aus. Dass es danach mit den Römern und den mit ihnen verbündeten Westgoten zu Kämpfen kommt, kann angenommen werden.

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Fünftes Abenteuer

Wie Sigfrid Krimhild zum ersten Male sah

Der König hatt im Sinne - er hatt es wohl erkannt -, wie von ganzem Herzen der Held von Niederland seine Schwester liebte, die man nie ihn sehen liess, deren grosse Schönheit vor allen Jungfrauen jeder pries. Als sie den Hochgemuten vor sich stehen sah, erblühte ihre Farbe. Die schöne Maid sprach da: «Willkommen seid, Herr Sigfrid, edler Ritter gut!» Da ward ihm von dem Grusse gar erhoben sein Mut.

Im Jahr 418 siedeln sich die Westgoten im südlichen Gallien an, und

im gleichen Jahr erblickt Kriemhild das Licht der Welt. Die Dramatis Personae der Weltgeschichte betreten erst jetzt allmählich die Bühne, währenddem das Stück der Nibelungensage bereits läuft!

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Sechstes Abenteuer

Wie Gunther gen Island zu Brünhild fuhr

Es war eine Königin gesessen überm Meer; eine, die ihr gliche, fände man wohl schwer: schön war sie über die Massen, gewaltig ihre Kraft; sie warf mit schnellen Degen um die Minne den Schaft. Den Stein warf sie ferne, danach sie weithin sprang. Wer auf sie richten wollte seine Wünsche frank, drei Spiele musst er gewinnen mit der Frau, hochgeboren; verlor er auch nur eines, so hatte er das Leben verloren. Da sprach der Vogt vom Rheine: «Ich will nieder zur See hin zu Brünhilde, was mir auch gescheh. Um ihrer Schönheit willen wage ich Leben und Leib. Die will ich gerne verlieren; Brünhild werde denn mein Weib.» Die starken Segeltaue straffte der Wind mit Macht. Sie fuhren viele Meilen, bevor es wurde Nacht. Mit Freuden sie da kamen auf die hohe See. Ihre starke Arbeit schuf einst den Hochgemuten Weh. Binnen zwölf Tagen, wie wir hören sagen, hatten sie die Winde weit hinfort getragen nach dem Isensteine zu Brünhildes Land. Das war Hagen von Tronje noch mitnichten bekannt.

Galla Placidia begibt sich mit ihren beiden Kindern Valentinian und

Justa Grata Honoria nach Byzanz, von wo sie zwei Jahre später an den Hof von Ravenna zurückkehrt, um die Herrschaft für ihren sechsjährigen Sohn Valentinian III. zu übernehmen.

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Siebentes Abenteuer

Wie Gunther mit seinen Gefährten nach Island kam

Da der König Gunther die vielen Burgen sah und auch die weiten Marken, gar bald sprach er da: «Saget mir, Freund Sigfrid, ist Euch das bekannt, wessen sind die Burgen und auch das herrliche Land? Ich hab in meinem Leben, das muss ich gestehn, so wohlgebaute Burgen nimmermehr gesehn in irgendeinem Lande, wie man hier sie schaut. Ein Mächtiger ist es gewesen, der diese hier hat gebaut.» Sechsundachtzig Türme drinnen stehn sie sahn, drei weite Pfalzen und einen Saal wohlgetan aus edelm Marmelsteine, grün wie das Gras, darin die starke Brünhild mit ihrem Ingesinde sass. Das Tor ward aufgeschlossen, die Burg aufgetan. Brünhildes Mannen eilten da heran und empfingen wohl die Kühnen in ihrer Herrin Land. Man nahm in Hut die Rosse und ihre Schilde von der Hand.

Wo befindet sich diese Feste Isenstein mit den sechsundachtzig

Türmen eigentlich? Eine oströmische Quelle aus dem fünften Jahrhundert berichtet von einer Stadt, in der sich 14 christliche Kirchen, 11 Paläste von Kaisern und Kaiserinnen, 5 Märkte, 8 öffentliche und 153 private Badeanlagen, 20 öffentliche und 120 private Bäckereien, 52 Säulenhallen, 322 Strassen und 4'388 Wohnhäuser befinden! Waren die megarischen Kolonisatoren, die im 7. Jahrhundert v. Chr. Byzantium gegründet hatten, noch wegen ihrer Blindheit gescholten worden, weil sie die viel bessere Lage von Chalcedon nicht beachtet hatten, so werden die Kritiker spätestens gegen Ende des Kaiserreichs widerlegt. Die Bedeutung der Stadt Byzanz beruht auf ihrer Stellung zwischen Kleinasien und dem nördlichen Balkan.

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Achtes Abenteuer

Wie Sigfrid zu den Nibelungen, seinen Recken, fuhr

Sigfrid, der kühne, von dannen ging zum Strand in seiner Tarnkappe, wo er das Schifflein fand. Hinein begab sich heimlich König Sigmunds Kind. Er führt es also schleunig, als ob es triebe der Wind. Nach Verlauf eines Tages und nach einer Nacht kam er zu einem Lande von gewaltiger Pracht; das hiess Zu den Nibelungen und stand in seinem Bann. Das Land und die Burgen, das war ihm alles untertan. Der Held fuhr alleine zu einem Werder breit. Das Schiff vertäute eilend der Ritter tatbereit. Er ging zu einem Berge, wo er eine Stadt erblickt. Er suchte Herberge, wie sichs für Reisemüde schickt.

Wo geht Thorismud an Land, nachdem er Byzanz mit einem Schiff

verlassen hat? An der Westküste des Schwarzen Meeres, in Thrakien, das die Hunnen nach 421 besetzt halten?

Die Burg scholl, da sie gingen aufeinander los. Ihre Kräfte waren über die Massen gross. Er bezwang den Pförtner, indem er ihn band. Davon erklang die Kunde über alles Nibelungenland. Da hörte das grimme Streiten fernhin aus dem Berg Alberich, der starke, der tapfere Zwerg. Gar bald war er gewaffnet. Hin lief er, wo er fand den edelen Fremden. Der war ihnen beiden unbekannt. Alberich war grimmig, dazu auch stark genug. Helm und Panzerringe auf dem Leibe er trug und eine schwere Geissel von Gold in seiner Hand. Damit lief er eilend hin, wo Sigfrid er fand.

Die einstigen Stammesgebiete der Westgoten und Gepiden und ihres

Fürsten Ardarich liegen nicht weit von Thrakien und Byzanz entfernt!

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Mit seinen starken Händen griff er Alberich an. Da fasst er bei dem Barte den altersgrauen Mann. Er zog ihn so gewaltig, dass laut schrie der Zwerg. Gar wehe tat dem Alberich da des jungen Helden Werk.

In diese Zeit fällt es auch, dass Flavius Aëtius aus dem Hunnenreich

nach Italien zurückkehrt. Er verschafft sich das Wohlwollen der Kaiserin, auch wenn diese ein gewisses Misstrauen gegen ihn nie mehr ganz los wird. Die weitere Rolle von Aëtius ist vorerst von seinen Beziehungen zu den Hunnen mit bestimmt. Die Kämpfe, die er bald danach zur Beruhigung der gallischen Verhältnisse gegen Westgoten, Franken und Juthungen zu führen hat, sind bei der Schwäche Roms nicht ohne die Hilfe hunnischer Verbündeter zu denken.

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Neuntes Abenteuer

Wie Sigfrid nach Worms gesandt ward

Da sie gefahren waren volle neun Tage, da sprach der kühne Hagen: «Nun merket, was ich sage! Ihr säumet mit der Kunde nach Worms an den Rhein; Eure Boten sollten bei den Burgunden schon sein.» Da sprach der König Gunther: «Ihr habt gar recht gesagt. Nun rüstet Euch zur Reise, Ritter unverzagt, da ich zu dieser Stunde niemand nennen kann, der dorthin reiten könnte!» Da sprach der hochgemute Mann: «Wisset, Herr, mein lieber, ich bin kein Bote gut, ich will Euch einen weisen, der es doch gerne tut: Sigfrid, dem kühnen, sollt Ihr es nicht versagen. Eurer Schwester zuliebe wagt er es nimmer abzuschlagen.»

Der Grund für die Entsendung von Thorismud nach Ravenna ist

rätselhaft. Es scheint fast so, als wollen ihn die Römer loswerden. Aber was ist der Grund dafür?

Nach der Rückkehr von Galla Placidia und ihren beiden Kindern Valentinian und Justa Grata Honoria an den Hof von Ravenna treffen hunnische Hilfstruppen unter Aëtius in Italien ein, und kurze Zeit darauf begibt sich der weströmische Feldherr mit den Hunnen nach Gallien, wo er in den folgenden Jahren die Franken, die Juthungen und auch die Westgoten in mehreren Schlachten besiegt. Dass sich Thorismud in dieser Zeit bei seinen Kriegern aufhält, ist anzunehmen.

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Zehntes Abenteuer

Wie König Gunther zu Worms mit Frau Brünhild Hochzeit feierte

Jenseits des Rheines sah man in starken Scharen den König mit den Gästen zu den Gestaden fahren. Auch sah man am Zaume geleitet manche Maid. Die sie empfangen sollten, die waren alle bereit. Das Gefolge aus Island zu Schiff kam heran, auch von den Nibelungen Sigfrids Heerbann. Sie eilten zu dem Lande. Eifrig war ihre Hand, als man des Königs Freunde jenseits des Gestades fand. Die gar Minniglichen am Hafen man da sah. Gunther mit den Gästen von den Schiffen sprang allda. Er führte Brünhilde selbst an seiner Hand. Da glänzten miteinander Edelsteine und ihr Gewand. Die Hochzeit da währte zwölf Tage lang, dass, ohne zu verstummen, stets der Schall erklang von allerhand Freude, deren jemand wollte pflegen. Viele hohe Kosten musste der König da erlegen.

Man schreibt das Jahr 437. Der achtzehnjährige weströmische Kaiser

Valentinian III. heiratet die byzantinische Prinzessin Licinia Eudoxia, die Tochter des oströmischen Kaisers Theodosius II.!

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Elftes Abenteuer

Wie Sigfrid sein Weib zu seinem Heimatlande brachte und wie sie daheim

ihre Hochzeit feierten

Der Sohn König Sigmunds in seiner gütigen Sitte sprach zu seinen Helden: «Tut, was ich euch bitte! Sattelt nun die Rosse! Ich will in mein Land.» Lieb war es seinem Weibe, als ihr die Kunde ward bekannt. Sie sprach zu dem Herrscher: «Wenn wir von hinnen fahren, zu sehr mich zu beeilen, will ich mich bewahren. Erst sollen meine Brüder teilen mit mir das Land.» Unlieb war es Sigfrid, dass ihm Kriemhild dies genannt. Die Fürsten zu ihm gingen und sprachen alle drei: «Wisset das, Herr Sigfrid, dass Euch immer sei getreulich unser Bündnis gehalten bis zum Tod.» Das dankte da der Degen, dass man es ihm so wohl erbot.

Weder Justa Grata Honoria noch Thorismud werden um diese Zeit von

den Chronisten erwähnt! Noch immer schimpfen die Römer die Westgoten Barbaren. Eine Hochzeit zwischen der römischen Prinzessin und dem barbarischen Prinzen dürfte in dieser Zeit einiges zu reden geben!

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Zwölftes Abenteuer

Wie Gunther Sigfrid und Kriemhild nach Worms einlud, wo man ihn später erschlug

Nun dachte alle Tage König Gunthers Weib: Wie trägt mit solchem Hochmut Kriemhild den Leib? Es ist doch unser eigen Sigfrid, ihr Mann! Dass keinen Dienst er leistet; dessen Ende ich gern gewann. Das trug sie im Herzen; doch wars in Heimlichkeit. Dass sie so fern ihr blieben, das schuf der Fraue Leid, dass sie Zins nicht zahlten von des Fürsten Land; wie das gekommen wäre, das hätte gerne sie erkannt.

Das westgotische Gallien mit der Hauptstadt Tolosa ist wie Germanien

oder Spanien eine römische Provinz, die Rom tributpflichtig ist, zumal Hagen von Tronje, alias Flavius Aëtius, die Westgoten 428 und 430 besiegt hat. Wie es scheint, wäre Brunhild, alias Licinia Eudoxia, nicht abgeneigt gewesen, den Platz von Kriemhild, alias Justa Grata Honoria, an der Seite von Sigfrid, alias Thorismud, einzunehmen. Voller Neid blickt die römische Kaiserin Licinia Eudoxia nun nach Gallien, wo der heimliche Geliebte mit der verhassten Schwägerin offenbar das Glück gefunden haben und das, ohne den Tribut zu leisten.

Sie sprach: «Lieber Herre, nach dem Wunsche mein, hilf mir, dass Sigfrid mit der Schwester dein kommt zu diesem Lande, dass wir sie hier sehn! So könnte mir auf Erden nimmer Lieberes geschehn.» «Das tu ich», sprach Gunther; «dreissig Mannen mein will ich reiten lassen.» Die hiess er kommen herein. Dann gebot er die Nachricht in König Sigfrids Land. Ihnen zur Freude gab Brünhild denen wohlgeziertes Gewand. Binnen zwölf Tagen kamen sie in das Land zur Burg der Nibelungen, wohin man sie gesandt. Da fanden sie mit Freuden den vielkühnen Degen. Der Boten Rosse waren müde von den langen Wegen.

Thorismud weilt mit seiner Frau Justa im Hunnenland! In zwölf Tagen,

mit schnellen Pferden, kommen die Boten vielleicht bis nach Pannonien!

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Dreizehntes Abenteuer

Wie Kriemhild mit ihrem Mann zum Hofgelage zog

Alle ihre Mühen, die lassen wir nun sein und sagen euch, wie Kriemhild und ihre Mädgelein zum Festgelage fuhren vom Nibelungenland. Niemals trugen Rosse so manches prächtige Gewand. Viele Saumschreine sandte man auf den Wegen. Da ritt mit seinen Freunden Sigfrid, der Degen, und auch Kriemhilde, erwartend Freuden hehr. Ihre Freude musste zu schwerem Leid sich wenden sehr. Als der Herr des Landes den Sigfrid nun sah, und mit ihm auch Sigmund, wie freundlich sprach er da: «Seid herzlich mir willkommen und allen Freunden mein! Über Eure Ankunft wollen hocherfreut wir sein.»

König Sigmund, alias Theoderich I., ist auch unter den westgotischen

Gästen, die in Ravenna einziehen! Die Einladung am Hof lässt aber weniger an ein fröhliches Wiedersehen unter alten Freunden denken, sondern vielmehr an die Rückkehr von Kriegern aus geschlagenen Schlachten. Und tatsächlich befindet sich das Weströmische Reich in einer schwierigen Lage!

Im Jahr 429 setzen die Vandalen unter Geiserich nach Afrika über. Bonifatius, der römische Statthalter der Provinz Africa, hat den Vandalenkönig gerufen, um mit ihm gegen seinen Nebenbuhler Flavius Aëtius vorzugehen. Geiserich, ein Mischling und der Sohn eines Sklaven, ist ein unerschrockener, wilder und grausamer Kriegskönig, der es auch meisterhaft versteht, mit seinen Feinden zu verhandeln.

Bei seiner Ankunft in Nordafrika schliessen sich seinen vandalischen und alanischen Kriegern, Frauen und Kindern die wilden Mauren an, die sich schon lange gegen die Römerherrschaft auflehnen. Bonifatius, der die Vandalen gerufen hat, vermag selbst nur eine kleine Armee aufzustellen. Er wird von Geiserich vernichtend geschlagen.

Nach der Belagerung von Hippo zieht sich Geiserich zurück und begegnet einer anderen römischen Streitmacht, die er ebenfalls vernichtend schlägt. Dann fällt Geiserich über Karthago her und nimmt es im Jahr 439 ohne einen einzigen Schwertstreich. Geiserich, der nur glücklich ist, wenn er Krieg führen kann, lässt eine grosse Flotte bauen

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und sucht damit die spanische, italische und griechische Küste heim. Niemand kann voraussagen, wo seine Schiffe das nächste Mal anlegen würden. Niemals hat es im westlichen Mittelmeer eine solch ungehinderte Seeräuberei gegeben! Schliesslich macht Kaiser Valentinian III. um den Preis des afrikanischen Getreides, von dem sowohl Ravenna als auch Rom leben, Frieden mit Geiserich und verpflichtet sich sogar, seine Tochter Eudocia mit Geiserichs Sohn Hunerich zu verheiraten. Zu der Heirat kommt es aber erst 455, nachdem Geiserich Rom geplündert hat!

Doch alles der Reihe nach! Nach den Plünderzügen 439 sind die Vandalen nach Karthago zurückgekehrt: Der Hof von Ravenna atmet auf! Die römischen Kohorten kehren in ihre Lager zurück. Auch die Bundesgenossen machen sich auf den Heimweg. Theoderich I. und sein Sohn Thorismud machen noch einen Abstecher nach Ravenna, wo sich auch Justa Grata Honoria aufhält!

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Vierzehntes Abenteuer

Wie sich die Königinnen überwarfen

Zusammen da sassen die Königinnen reich. Sie sprachen von zwei Recken, denen keiner gleich. Da sagte die Frau Kriemhild: «Ich habe einen Mann, dem alle diese Reiche sein sollten untertan.» Antwort gab ihr Brünhild: «Das könnte wohl sein, wenn niemand anders lebte, als er und du allein; so möchten ihm die Reiche wohl sein untertan. Nun lebt aber Gunther; da geht solches nimmer an.» Da sprach aber Brünhild: «Willst du nicht eigen sein, so musst du dich trennen von den Frauen mein mit deinem Ingesinde, wenn wir zum Münster gehn.» «Wahrlich», sprach da Kriemhild, «das soll also auch geschehn.» Nun kamen sie zusammen vor dem Münster weit. Da handelte die Hausfrau aus grimmem Neid. Die edle Kriemhilde hiess sie da stillestehn: «Es soll vor Königs Gattin die Eigenholde nimmer gehn.» Da sprach die Frau Kriemhild - zornig war ihr Mut -: «Hättest du doch geschwiegen! Das wäre dir gut. Selbst hast du geschändet deinen schönen Leib. Wie kann eine Kebse mit Recht werden Königs Weib?» «Wen hast genannt du Kebse?» sprach des Königs Weib. «So nenn ich dich», sprach Kriemhild, «denn deinen schönen Leib minnte als erster Sigfrid, mein viellieber Mann. Fürwahr, es war nicht Gunther, der dir das Magdtum abgewann.

Über die Zeit von Licinia Eudoxias Jugend ist wenig bekannt. Der

Streit der römischen Kaiserin mit der westgotischen Königin Justa Grata Honoria trägt sich nach 437 in Ravenna zu und wird zur Legende. Licinia Eudoxia kommt aus Byzanz. Ihr Vater ist der oströmische Kaiser Theodosius II. Erst der Tod ihres Gemahls Valentinian III. bringt Licinia Eudoxia wieder ins Rampenlicht der Geschichte. Der neue weströmische Kaiser Petronius Maximus, der Drahtzieher beim Mord an Valentinian, zwingt Licinia Eudoxia, ihn zu ehelichen. Licinia Eudoxia bittet Geiserich, den Vandalenkönig von Karthago, um Hilfe, wie sich Justa Grata Honoria

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an Attila gewendet hat. Nach der Plünderung Roms im Jahre 455 durch die Vandalen nimmt Geiserich Licinia Eudoxia nach Karthago mit, schickt sie aber später in ihre Heimat Byzanz zurück.

Der König kam mit den Recken. Weinen er sah seine Gemahlin. Gütig sprach er da: «Sagt mir, liebe Fraue, was ist Euch geschehn?» Sie sprach: «-Viellieber Gatte, mit Recht muss ich traurig stehn. Von allen meinen Ehren hat mich die Schwester dein gänzlich scheiden wollen. Das muss geklagt dir sein. Sie sagt, ich sei die Kebse von Sigfrid, ihrem Mann.» Da sprach der König Gunther: «Das hat sie übel getan.» Da sprach der König Gunther: «Lasst ihn kommen her! Hat er sich des gerühmet, so soll bekennen er, oder ableugnen muss es der Held von Niederland.» Kriemhildes Gatten liess man holen kurzerhand. Da sprach der König Gunther: «Man hat dich verklagt. Meine Gattin Brünhild hat mir dies gesagt: du habest dich gerühmet, dass ihren schönen Leib du zuerst geminnet. Das sagt Frau Kriemhild, dein Weib.» Da sprach der Herr Sigfrid: «Hat sie das gesagt, ich will nicht eher ruhen, bis sie es beklagt. Ich will dirs widerlegen vor deinem ganzen Heer mit meinem hohen Eide, dass ichs behauptet nimmermehr.» Zum Gespräch kam Ortwein und auch Gernot. Da rieten die Helden zu König Sigfrids Tod. Dazu kam auch Giselher, der edeln Ute Kind. Als er die Rede hörte, da sprach er gütig gesinnt: «Weh, Ihr guten Degen, warum tut Ihr das? Sigfrid hat verdienet niemals solchen Hass, dass er sollte verlieren Leben und Leib. Sehr leicht kann es geschehen, dass erzürnt ist ein Weib.» «Sollen wir Gauche ziehen?» sprach darauf Hagen. «Wenig Ehre haben davon gute Degen. Dass er sich hat gerühmet der lieben Herrin mein, darum will ich sterben, es gehe denn ans Leben sein.»

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Da sprach der König Gunther: «Er hat uns nichts getan als getreue Dienste. Leben soll er fortan. Warum sollen wir Sigfried hegen solchen Hass? Treu war er uns immer und tat aus gutem Willen das.» Der Held von Metz da sagte, der Degen Ortwein: «Wenig kann ihm helfen die grosse Stärke sein. Erlaubt mirs mein König, so erlebt er Leid.» Da waren ihm die Helden ohne Schuld zu schaden bereit.

Die Redensart Gauche («Kuckucksjunge») setzt eine Schwängerung

von Licinia Eudoxia durch Thorismud voraus, so dass ein von ihm gezeugtes Kind in einem fremden Nest aufwächst. Thorismuds Gegenspieler in Ravenna wetzen also ihre Messer, und es sieht nach einer Verschwörung aus, zu deren Drahtziehern neben Flavius Aëtius auch Petronius Maximus und Ricimer gehören. Kaiser Valentinian und Palladius schwanken noch!

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Fünfzehntes Abenteuer

Wie man zu Worms Fehde ansagte

An dem vierten Morgen sah zweiunddreissig Mann zu Hofe man reiten. Da ward es kundgetan, Gunther, dem reichen, sei Krieg angesagt. Viel Leid aus der Lüge entstand, von Frauen tief beklagt. Erlaubnis sie erhielten, zum Hofe hinzugehn. Sie sagten, sie seien von Lüdeger ersehn, den vordem bezwungen hätte Sigfrids Hand und gebracht als Geisel in des Königs Gunther Land. Die Boten Gunther begrüsste und hiess zum Sitz sie gehn. Einer sprach zu ihnen: «Herr, lasset uns stehn, bis wir gesagt die Worte, die Euch entboten sind! Ihr habet zum Feinde, das wisset, mancher Mutter Kind. Krieg erklärt Euch Lüdegast sowie Lüdeger, dem einst Ihr erwecket feindlichen Zorn gar sehr. Sie wollen Euch führen ein Heer in dieses Land.» Gunther begann zu zürnen, als sei ihm solches unbekannt. Die Helme und die Brünnen man auf die Rosse band. Viele starke Recken wollten aus dem Land. Da ging Hagen von Tronje, wo er Kriemhild fand, und bat sie um Urlaub: sie wollten räumen nun das Land. «Wohl mir», sprach da Kriemhild, «dass ich den Mann gewann, der so meine Freunde zu schützen wagen kann, wie mein Gatte Sigfrid tut den Gefreundten mein! Ich muss hohes Mutes», sprach die Königin, «da sein. Viellieber Freund Hagen, nun gedenkt an das, dass ich hold Euch immer und nie hegte Hass! Das lasset mich geniessen an meinem lieben Mann! Er soll es nicht entgelten, hab ich Brünhild Leid getan. Das hat mich sehr gereuet», sprach das edle Weib. «Auch hat er so zerbläuet darum meinen Leib, dass ich je beschwerte mit Rede ihr den Mut. Das hat gerächt gar grimmig der Ritter tapfer und gut.»

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«Ihr werdet wieder Freunde wohl nach diesen Tagen. Kriemhild, liebe Herrin, Ihr sollt mir jetzt sagen, wie ich Euch dienen könne an Sigfrid, Euerm Mann. Das tu ich, Fraue, gerne; keinem andern ichs gönnen kann.» «Ich wäre ohne Sorge», sprach das edle Weib, «dass im Kampf jemand könnte verwunden seinen Leib. Wollte er nicht folgen seinem Übermut, so wäre immer sicher dieser Degen kühn und gut.» Antwort gab da Hagen: «Frau, habt Sorge Ihr, man könne ihn verletzen, so sagt dieses mir, mit welchen klugen Künsten ich dem soll widerstehn! Ich will ihm zum Schutze immer reiten und gehn.» Sie sprach: «Du bist mein Mage, wie ich der deine bin, ich gebe dir in Treue den holden Gatten hin, damit du mir beschirmest meinen lieben Mann.» Sie sagt ihm das Geheimnis. Es wäre besser nicht getan.

Flavius Aëtius gehört demnach zur Königssippe und geniesst eine

Sonderstellung am Hofe Valentinians III.

Sie sprach: «Mein Mann ist tapfer, dazu stark genug: als er den Linddrachen an einem Berg erschlug, da badet sich im Blute der lebensfrohe Mann; daher ihn keine Waffe seitdem im Kampfe schneiden kann. Ich habe aber Sorge, wenn er im Kampfe steht und der Würfe Menge aus Reckenhänden geht, dass ich da verliere meinen lieben Mann. Weh, welcher schwere Kummer um meinen Liebsten ficht mich an! Ich sage im Vertrauen, viellieber Freund, es dir, damit du deine Treue ebwährest an mir, wie man verwunden könne meinen lieben Mann. Das lass ich dich nun hören. Im Vertrauen ists getan. Als aus des Drachen Wunden floss das heisse Blut und sich darin badete der kühne Degen gut, da haftete zwischen den Schultern ein breites Lindenblatt. Dort kann man ihn verwunden. Viel Sorge mirs bereitet hat.»

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Da sprach der Ungetreue: «Näht auf sein Gewand mir ein kleines Zeichen mit Eurer eignen Hand! Wo ich ihn soll behüten, kann ich dann verstehn.» Sie wähnte ihn zu schützen, auf seinen Tod wars abgesehn. Sie sprach: «Mit feiner Seide näh ich auf sein Gewand ein geheimes Kreuzlein; da soll, Held, deine Hand meinen Mann beschirmen, wenns an die Schultern geht und wenn in harten Kämpfen er vor seinen Feinden steht.»

Nicht das Lindenblatt, das Eichenblatt ist es, das den noch immer

heidnischen Westgotenkönig aus der Sicht der christlichen Römer verwundbar macht! Die Westgoten sind in Gallien mit den keltischen Stämmen und ihrer Religion in Berührung gekommen, deren Priester, die Druiden, ein tiefes Wissen, das Wissen der Eiche, besitzen. Eichen spielen in der Religionsausübung der Kelten eine wichtige Rolle. Ein Eichenhain ist heiliger Boden und einer der wichtigsten Orte für die Durchführung religiöser Rituale und Zeremonien. Der Mistel, einem auf der Eiche wachsenden Halbparasiten, spricht man zauber- und heilkräftige Eigenschaften zu. Tier- und manchmal auch Menschenopfer spielen im religiösen Leben der Kelten eine wichtige Rolle. Diese rituellen Tötungen sind sowohl Gaben an die Götter als auch Versuche, die Zukunft zu deuten. Auch Thorismud kann sich dem Zauber der keltischen Religion, die viele Elemente aus der gotischen Religion enthält, nicht entziehen. Aber nun redet ihm seine christliche Frau Justa Grata Honoria ins Gewissen. Er soll dem Aberglauben der Kelten abschwören und im Zeichen des Kreuzes in die Schlacht ziehen, so wie es auch Aëtius und die anderen tun. Aber noch ist Thorismuds Glaube an die alten Götter grösser!

An dem dritten Morgen ritt mit tausend Mann nun der Herr Sigfrid fröhlich heran. Er wähnte, er sollte rächen seiner Freunde Leid. Hagen ritt ihm so nahe, dass er schaute sein Kleid. Als er sah das Zeichen, schickte er herbei, zu sagen andre Kunde, seiner Mannen zwei, dass Frieden haben sollte Gunthers Land; sie hätt ihr Herrscher Lüdeger zu dem König gesandt. Wie ungern da Sigfrid zurück wieder ritt! Wider Gunthers Feinde keinen Sieg er nun erstritt. Kaum zurück ihn hielten, die aus Gunthers Bann. Dann ritt er zu dem König. Zu danken dieser ihm begann.

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Man schreibt den 19. Oktober 439. Der Vandalenkönig Geiserich

bemächtigt sich in einem Handstreich Karthagos und gewinnt damit die uneingeschränkte Herrschaft über Nordafrika. Die kriegerischen Aktionen, die sich daran anschliessen, bedeuten ein Nachstossen der vandalischen Seite, um die schnell vollendeten Tatsachen zu festigen. Die weströmische Schwäche auch nach notdürftiger Beruhigung Galliens 439 und einem Frieden mit den Westgoten, der diese in ihre Schranken weist, ist nicht zu übersehen. Ein Gesuch von Ravenna nach Byzanz um erneute Hilfe geht dort ein. Vermutlich bereits im Frühjahr 440 geht ein Flottenkontingent von Byzanz aus in See. Doch es fällt auf, dass in den folgenden Jahren diese Verbände wenig Aktivität an den Tag legen, in Sizilien konzentriert bleiben, ein energisches Unternehmen gegen Afrika findet nicht statt. Dann, wohl in der zweiten Hälfte 442, kehrt die oströmische Streitmacht wieder nach Hause zurück, unverrichteter Dinge: Dass diese Rückkehr in Verbindung mit dem Friedensschluss wohl noch im gleichen Jahre und der endgültigen Etablierung des Vandalenreiches steht, darf angenommen werden.

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Sechzehntes Abenteuer

Wie Sigfrid ermordet ward

Gunther und Hagen, die Recken wohlgetan, ungetreu ein Pirschen im Walde setzten an. Mit ihren scharfen Geren wollten sie jagen Schwein, Wisent und auch Bären. Was konnte Kühneres wohl sein? Mit ihnen ritt auch Sigfrid in heiterem Sinn. Auserlesene Speise brachte man da hin. An einem kühlen Brunnen nahmen sie ihm das Leben. Den Rat hatte Brünhild, König Gunthers Weib, gegeben. Da ging der kühne Degen hin, wo er Kriemhild fand. Schon war aufgeladen das edle Pirschgewand, seines und der Gefährten. Sie wollten übern Rhein. Da konnte Kriemhild trüber nicht zumute sein. Dann ritten sie von dannen in einen tiefen Wald um froher Kurzweil willen. Viele Degen alsbald ritten mit dem König. mit ihnen führte man viel der edeln Speise für die Helden nach dem Tann. Viel beladene Rosse kamen zuvor übern Rhein, die für die Jäger trugen Brot sowie Wein, Fleisch sowie Fische und anderen Mundvorrat, den ein reicher König wohl von Rechts wegen hat.

Nie und nimmer ist das ein fröhlicher Jagdausflug, den uns das

Nibelungenlied hier weismachen will! Wir sind hier vielmehr Zeugen eines der grössten Aufmärsche von römischen und westgotischen Legionen in der Geschichte der Antike!

Wie Priscus berichtet, schickt Attila nach dem Tod des byzantinischen Kaisers Theodosius II. im Juli 450 eine Gesandtschaft nach Byzanz, die mit der Ablehnung weiterer Subventionszahlungen nach Hause kommt. Die Antwort des neuen Kaisers Marcian lässt keinen Zweifel darüber, wie er das künftige Verhältnis zu dem hunnischen Reich zu gestalten gedenkt. Eine Reaktion von Attila auf diese Nachricht ist unbekannt. Doch wird man annehmen müssen, dass bereits um diese Zeit die Vorbereitungen für den entscheidenden Feldzug nach dem Westen eine neue Interessenverlagerung nicht mehr erlauben.

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Der gotische Geschichtsschreiber Jordanes hinterlässt uns ein packendes Porträt von Attila: «Er war ein Mann, dazu geschaffen, die Welt zu erschüttern, der Schrecken aller Länder, der auf eine unerklärliche Weise alles in Furcht setzte durch den schrecklichen Ruf, der über ihn verbreitet war. Stolz schritt er einher und liess nach allen Seiten die Augen schweifen, damit die Macht, die der hochmütige Mensch innehatte, auch in seiner Körperbewegung sich zeigte. Er war ein Liebhaber der Kriege, aber persönlich zurückhaltend; seine Stärke lag in seiner klugen Umsicht. Gegen Bittende war er nicht hart und gnädig gegen die, welche sich ihm einmal unterworfen hatten. Er war klein von Gestalt, breitschulterig, dickköpfig, hatte kleine Augen, spärliches Barthaar mit Grau untermischt, eine platte Nase, dunkle Hautfarbe und trug die Kennzeichen seines Ursprungs.»

Gegen Ende des Winters bricht man auf. Soweit überliefert, rückt das Heer geschlossen vor und bleibt zusammen, Operationen einzelner Teile geschehen stets in Nähe zur Hauptarmee. Neben Hunnen und anderen Stämmen ihres Untertanenverbandes, Goten, Gepiden, Skiren, gehören zu diesem Heer auch Kontingente der Thüringer, dazu sicher Slaven aus dem Umfeld. Wann und unter welchen Bedingungen sich die rechtsrheinischen Burgunder dem Unternehmen anschlossen, ist nicht bekannt, ein Zuzug von ripuarischen Franken erklärt wohl die Marschrichtung ein Stück rheinabwärts bis Neuwied.

Vor den Jagdgesellen wurden aufgestellt die Treiber an allen Seiten. Da sagte der kühne Held, Sigfrid, der starke: «Wer soll uns durch den Wald zu den Bergen führen, ihr Recken kühn und wohlbestallt?» «Wir müssen uns nun trennen», sprach da Hagen, «bevor wir beginnen hier zu jagen. Dann werden wir erkennen, ich und der Herrscher mein, wer der beste Jäger auf dieser Waldfahrt möge sein. Da nahm der Jägermeister einen guten Spürhund; er brachte hin den Herren in einer kurzen Stund, wo sie viel Wild ausmachten. Was davon flüchtig ward, erlegten die Gesellen. Das ist gute Waidmannsart. Was aufgejagt der Bracke, erlegte mit seiner Hand Sigfrid, der vielkühne, der Held aus Niederland. Sein Ross, das lief so eilend, dass ihm nichts entrann. Den Preis für die Strecke er vor allen da gewann. Er war in jeder Hinsicht biderbe genug.

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Das erste Stück Wildes, das er zu Tode schlug, das war ein starkes Halbschwein, wohl mit seiner Hand. Danach er gar eilig einen grimmen Löwen fand. Als der war aufgespüret, er schoss ihn mit dem Bogen. Einen scharfen Pfeil hatte er darauf gezogen. Der Löwe nach dem Schusse lief noch drei Fluchten lang. Seine Jagdgesellen, die sagten Sigfrid da Dank. Dann erlegt er eilend einen Wisent und einen Elch, dazu drei Auerochsen und einen grimmen Schelch. Sein Ross trug ihn so flüchtig, dass ihm nichts entrann. Hirsch und Hindin konnten nicht entgehn dem kühnen Mann. Einen starken Keiler, den sah der Spürhund. Als er flüchtig wurde, kam zu derselben Stund des Pirschganges Meister. Auf der Spur blieb er dann. Das Schwein voller Grimme nahm den kühnen Recken an. Da traf es mit dem Schwerte Kriemhildes Mann. Das hätt ein anderer Jäger so leicht nicht getan. Als das Schwein verendet, fing man den Spürhund. Seine reiche Strecke ward den Burgunden kund. Da sprachen seine Jäger: «Wollt es uns verzeihn! Doch lasst uns von dem Wilde einen Teil geschonet sein, Ihr macht leer uns heute den Berg und den Wald.» Da begann zu lächeln der kühne Degen alsbald. Lärm und Getöse vernahm man überall. Von Leuten und von Hunden war so gross der Schall, dass davon widerhallten die Berge und auch der Tann. Vierundzwanzig Rüden die Jäger koppelten los alsdann. Da musste viel des Wildes verlieren sein Leben. Sie wähnten zu erreichen, man müsste ihnen geben den Preis dieses Jagens. Das konnte nicht geschehn, da der starke Sigfrid ward bei der Feuerstatt gesehn. Das Pirschen war beendet, jedoch nicht ganz und gar, die zu dem Feuer wollten, die brachten mit sich dar gar mancher Art Tiere und Wildes genug. Hei, was man da in die Küche zu des Königs Ingesinde trug!

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Es ist erstaunlich, wie das Nibelungenlied es versteht, die historische Schlacht auf den Katalaunischen Feldern in ein Jagdgemetzel im Wald umzuschreiben. Die römischen Kohorten tun sich wohl schwerer in dem bewaldeten Gebiet als die Westgoten, Alanen, Franken und Sachsen, die sich auf heimatlichem Boden sicherer bewegen. Sie erinnern mich wie die Hunnen auch an die Waldindianer Nordamerikas. James Smith, ein Frontier-Soldat aus Pennsylvania, der um 1750 fünf Jahre als Gefangener bei einem kriegerischen Stamm in Ohio verbracht hatte, schrieb: «Ich habe britische Offiziere oft sagen hören, dass die Indianer undisziplinierte Wilde sind. Aber das ist ein fataler Irrtum. Sie verfügen über alle Merkmale strenger Disziplin: sie werden gut geführt, befolgen prompt alle Befehle und sind zu gemeinsamem Vorgehen imstande, indem jeder einzelne genau auf die Bewegungen seines Nachbarn zur Rechten achtet. Sie können verschiedene notwendige Manöver durchführen: sehr langsam oder so schnell, wie sie laufen können, einen Kreis, Halbkreis oder ein leeres Rechteck bilden. Wenn sie in den Krieg ziehen, beschweren oder behindern sie sich nicht mit viel Kleidung; für gewöhnlich kämpfen sie nackt bis auf Lendenschurz, Leggings und Mokassins. Meist sind sie gut ausgerüstet und im Gebrauch von Waffen überaus flink und erfahren. Ihre Hauptleute planen, regeln und führen alle Unternehmungen, bis sie zum Einsatz geschickt werden; dann machen sie sich geschlossen und frohen Sinnes auf, alle Anweisungen unverzüglich zu befolgen. Befehle - vorzurücken oder sich zurückzuziehen - werden für gewöhnlich während der Schlacht gegeben; das geschieht durch einen Ruf oder Schrei, worauf jeder einzelne so zu kämpfen hat, als müsse er die Schlacht im Alleingang gewinnen. Es interessiert die Indianer nicht, wie viele Weisse ihnen gegenüberstehen. Sie kämpfen auch gegen eine zehnfache Übermacht.»

Auch die erlegten Tiere - Halbschwein, Löwe, Wisent, Elch, Auerochse, Wildpferd, Hirsch, Hund, Keiler und Bär - erinnern mich an die Wappentiere auf den Pannern der Pannerherren in der Schlacht bei Sempach von 1386: «Die Standarte des Löwenbundes soll ein junger Graf von Zollern geführt haben. Da sah man auch das mit rothen und schwarzen Ringen und Kreuzen besäete Feldzeichen der Rittergesellschaft an der Etsch, das offenbar dem Siegel der Stadt Bruneck im Tyrol nachgebildet war. Wahrscheinlich führten die 200 Reiter, die der Herzog von Mailand dem Herzog von Oesterreich zu Hilfe schickte, das Panner ihres Herrn: die blaue Schlange im weissen Felde. Ebenso wird der Herzog von Teck wie der Markgraf von Este unter eigenem Panner gefochten haben. Von den Söldnerführern erschien wenigstens der Graf von Salm mit seinem eigenen Panner.»

Da sprach der Herr Sigfrid: «Räumen wir den Tann!» Sein Ross trug ihn gemächlich. Sie eilten mit ihm alsdann.

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Sie scheuchten auf mit dem Schalle ein Tier grimmiglich: ein wilder Bär war das . Der Degen wandte um da sich. «Wollt ihr uns Heergesellen einen Spass gewähren, koppelt los den Bracken! Ich seh da einen Bären; der soll zur Raststätte mit uns von hinnen fahren. Wie bös er sich gebärde, er kann sich nicht davor bewahren.» Gelöst war der Bracke. Der Bär entsprang alsdann. Ihn wollte einholen der Kriemhilde Mann. Er kam an eine Dickung. Das Ross kam nicht hinein. Der starke Bär nun wähnte, vor den Jägern sicher zu sein. Da sprang von seinem Rosse der stolze Ritter gut und begann schnell zu laufen. Das Tier war ohne Hut. Es konnt ihm nicht entrinnen. Er fing es mit der Hand. Ohne eine Wunde der Degen eilig es band. Kratzen oder beissen konnt es nicht den Mann. Er band es an den Sattel. Der Gewaltige dann zur Feuerstatt es brachte in seinem hohen Mut, Kurzweil dort zu schaffen, dieser Recke kühn und gut. Da sprangen von den Sitzen die Herren und ihr Tross. Der Bär wurde wilder. Der König hiess binden los nun die ganze Meute, die an der Koppel lag. Wärs glücklich abgelaufen, sie hätten einen frohen Tag. Mit Bogen und mit Spiessen - man säumte nicht länger mehr - liefen dort die Schnellen, wo flüchtig war der Bär. So viel waren der Hunde, dass da niemand schoss. Vom Schall war das Getöse im Wald und an dem Berge gross. Der Bär wurde flüchtig vor den Hunden dann. Ihm konnte niemand folgen als Kriemhildes Mann. Der erlief ihn mit dem Schwerte, zu Tode er ihn schlug. Wieder zu der Küche man den Bären da trug.

Nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern ist das hunnische

Reich auf einem Tiefpunkt angelangt. Es ist zu vermuten, dass Attila auch für die folgende Zeit ohne Perspektive ist. Gerade diese Aussichtslosigkeit ist es aber, die den Hunnenkönig zu einer Gewaltaktion veranlasst. Er nimmt sich vor, einen neuen Vorstoss zu wagen und diesmal direkt ins Zentrum der weströmischen Macht: nach

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Italien! Im Frühjahr 452 bricht Attila, der hunnische Bär, überfallartig in Italien ein, ohne Widerstand zu finden. Concordia, Altinum, Vincentia, Brescia, Bergamo, Mailand und Ticinum fallen schnell in seine Hand. Widerstand leistet nur Aquileja, die erste Stadt, auf die man trifft. Aber ein Hindernis bedeutet sie nicht, sieht man von den Truppen ab, die während der dreimonatigen Belagerung an anderer Stelle fehlen. Zu Widerstand kommt es ohnehin nirgends. Doch nun werden von Seuchen berichtet, die das Heer von Attila dezimieren, und wohl auch Versorgungsschwierigkeiten mit sich bringen. Eine Gesandtschaft, die Aëtius schickt, um ihn zum Abzug zu bewegen, kommt Attila sehr gelegen. Der Gesandtschaft schliesst sich auch Papst Leo an, und im Juli 452 kommt es am Mincio zu der legendären Zusammenkunft mit Attila. Es scheint, dass die Zahlung eines Tributs vereinbart wird. Dessen Höhe ist unbekannt, ob es zur Geldsendung noch kommt, ist fraglich. Trifft zu, dass Attila den Rückweg jetzt über Noricum nimmt, so wäre auch dies mit Verpflegungsschwierigkeiten zu erklären, die noch nicht beendet sind.

Da sprach der Herr Sigfrid: «Wunder mich das nimmt, da man uns aus der Küche viel Gutes hat bestimmt, warum uns die Schenken bringen keinen Wein. Man verpflege uns besser; sonst will ich kein Jagdgeselle sein. Dass man mein gedachte, hätt ich wohl verdient.» Der König an dem Tische sprach trügerisch gesinnt: «Ich will diesen Mangel entgelten gern in Huld: dass der Wein uns fehlet, daran ist einzig Hagen schuld.» Da sprach der von Tronje: «Lieber Herre mein, ich glaubte, dass das Pirschen heute sollte sein hinten bei dem Spessart; dorthin sandt ich den Wein. Gibts hier nichts zu trinken, künftig solls vermieden sein.» Da sprach der Herr Sigfrid: «Des weiss ich keinen Dank. Man sollte sieben Pferde mit Wein und Lautertrank hierher geführt haben. Konnte das nicht sein, so sollte man uns näher versammelt haben an dem Rhein.» Antwort gab da Hagen: «Edle Ritter ihr, einen kühlen Quell weiss ich, der ist ganz nahe hier. Dass ihr mir nicht zürnet! Da wollen hin wir gehn.» Der Rat war manchem Degen zu tiefem Schmerze geschehn. Aus Niederland den Helden zwang des Durstes Not.

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Den Tisch er desto schneller zurückzusetzen gebot. Er wollte in die Berge zu dem Brunnen gehn. Doch war der Rat mit Tücke von den Degen nun geschehn.

Der Autor des Nibelungenliedes phantasiert nun, dass sich die Balken

biegen! Der kühle Quell, der ganz nahe sein soll, liegt in Tat und Wahrheit in Gallien. Thorismuds Westgoten kehren also mit Aëtius' Kohorten über die Alpen in die Heimat zurück.

Von einer zweiten Invasion Attilas nach Gallien wird nun berichtet. Sie scheint aber Verwechslung mit dem Feldzug von Thorismud gegen die Alanen um die gleiche Zeit zu sein, die ihm eine Erweiterung seines Territoriums bringt und erneut wieder die Schwäche des Imperiums zeigt.

Sie zogen ihre Kleider von dem Leibe da; in zwei weissen Hemden man beide stehen sah. Sie liefen wie zwei Panther durch den Klee einher. Doch sah man bei dem Brunnen den schnellen Sigfrid stehen eh'r. Den Preis in allen Dingen vor jedem er gewann. Das Schwert löst er eilend, legt ab den Köcher dann, lehnte den Ger, den starken, an einen Lindenast. An des Baches Strömung stand der herrliche Gast. Die Tugenden Sigfrids waren übergross. Den Schild legt er nieder, wo die Quelle floss. Wie sehr ihn auch dürstete, nichts der Held doch trank, bevor der König käme. Das deuchte Sigfrid gar lang. Kühl war der Brunnen, lauter und gut. Da legte sich Gunther nieder an die Flut; mit dem Mund das Wasser des Baches trank er nun. Sie dachten, dass auch Sigfrid nach ihm dasselbe würde tun. Seine Zucht entgalt er. Den Bogen und das Schwert trug beiseite Hagen von dem Degen wert. Dann lief zurück er wieder, wo den Ger er fand. Er sah nach dem Kreuze an des Königs Gewand. Da der kühne Sigfrid aus der Quelle trank, warf er den Ger durch das Kreuzlein, dass aus der Wunde sprang das Blut von seinem Herzen bis an Hagens Hemd. Solche schwere Untat ist jedem andern Degen fremd.

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Seine Kraft war entwichen; er konnte nicht mehr stehn. Seines Leibes Stärke, die musste nun vergehn, da er des Todes Zeichen in bleicher Farbe trug. Beweint ward er später von edeln Frauen genug. Da fiel in die Blumen der Kriemhilde Mann. Man sah, wie aus der Wunde das Blut strömend rann. Da begann er zu schelten - es zwang ihn bittre Not -, die beschlossen hatten den vielungetreuen Tod.

Es ist kein Todesdatum des Westgotenkönigs Thorismud überliefert.

Nach dem Feldzug der Westgoten gegen die Alanen im Jahr 452 hören wir nichts mehr von Thorismud.

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Siebzehntes Abenteuer

Wie Kriemhild ihren Mann beklagte und wie man ihn begrub

Der Nacht sie da harrten und zogen übern Rhein. Von Helden konnte übler gejagt nimmer sein. Das erlegte Wild beweinte manches edle Kind. Es musste sein entgelten mancher Weigand kühn gesinnt.

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Achtzehntes Abenteuer

Wie Kriemhild dort blieb und ihr Schwäher von dannen ritt

Man brachte hin den Herrscher, wo er Kriemhild fand. Zur Königin da sprach er: «Wir müssen in unser Land. Wir sind unliebe Gästes, mein ich, hier am Rhein. Kriemhild, liebe Fraue, nun ziehet zu dem Lande mein!

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Neunzehntes Abenteuer

Wie der Nibelungenhort nach Worms gebracht ward

Danach, binnen kurzem regten sie es an, dass die Witwe Sigfrids den grossen Hort gewann vom Nibelungenlande und holt' ihn an den Rhein. Er war ihre Morgengabe und sollt mit Recht ihr eigen sein. Danach fuhren beide, Giselher und Gernot. Zwölfhundert Mannen Kriemhild da gebot, dass sie ihn holen sollten, wo er verborgen war. Alberich ihn hütete mit seiner besten Freunde Schar. Als die vom Rheine kamen ins Nibelungenreich, da sprach zu seinen Magen Alberich sogleich: «Wir dürfen vorenthalten ihr nicht den Hort so wert, da ihn als Morgengabe die edle Königin begehrt. Doch würde dieses nimmer», sprach Alberich, «geschehn, müssten wir nicht leider für uns verloren sehn mit dem vieledeln Recken die gute Tarnhaut, die mit Recht getragen, der der schönen Kriemhild traut. Nun ist es leider Sigfrid übel bekommen, dass uns die Tarnkappe der Held hat genommen und dass ihm dienen musste in Ehrfurcht unser Land.» Hinging da der Kämmerer, wo er des Hortes Schlüssel fand. Es standen vor dem Berge der Kriemhilde Mannen, ein Teil auch ihrer Magen. Man trug den Schatz von dannen nieder zu den Wogen nach dem Schiffelein. Man führt ihn auf dem Meere wohl stromaufwärts nach dem Rhein. Nun mögt ihr von dem Horte Wunder hören sagen. Was zwölf Lastwagen zumeist konnten tragen volle vier Tage von dem Berg hinab, wobei es neun Stunden für jeden zu fahren gab, dieses war nichts andres als Edelsteine und Gold. Wenn man die ganze Erde damit bezahlen wollt,

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es würde nicht vermindert um eine Mark sein Wert. Hagen hatte wahrlich nicht ohne Ursach sein begehrt.

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Zweiter Teil

Kriemhilds Rache

Zwanzigstes Abenteuer

Wie der König Etzel nach Frau Kriemhild zu Worms seinen Boten sandte

Das geschah in jenen Zeiten, dass Frau Helche starb und dass der König Etzel um ein andres Weib warb; da rieten seine Freunde aus Burgundenland zu einer reichen Witwe; die war Frau Kriemhild genannt.

Hier beginnt der zweite Teil des Nibelungenliedes! Von jetzt an werden

die Burgunden als Nibelungen bezeichnet. Aus dem Rheintal wird die Handlung in die Gegend der mittleren Donau verlegt. Ein neuer Heldenkreis - die unter Etzels Herrschaft stehenden Fürsten - tritt auf.

«Seitdem verstorben der schönen Helche Leib», sie sprachen, «wollt Ihr wieder gewinnen ein edles Weib, eins der höchsten und besten, die je ein Held gewann, so nehmt diese Witwe! Der starke Sigfrid war ihr Mann.» Da sprach der reiche König: «Wie ginge das wohl an? Ich bin ja ein Heide, ein ungetaufter Mann. Doch die Frau ist Christin und tät es nicht so leicht. Ein Wunder müsst es heissen, wenn man jemals es erreicht.» Da sprachen aber die Schnellen: «Ob sie's nicht dennoch tut um Euern hohen Namen und Euer grosses Gut? Man soll es doch versuchen bei dem vieledeln Weib. Dann könnt Ihr gerne minnen ihren wonniglichen Leib.» Da sprach der König Etzel: «Wem sind von Euch bekannt am Rheine am allerbesten die Leute und das Land?» Da sprach von Bechlaren der wackre Rüdeger: «Ich hab gekannt von Kindheit die edle Königin so hehr. Gunther und Gernot, die kühnen Ritter gut,

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Giselher der junge; ihrer jeder tut, was er an hohen Ehren in Tugend leisten kann. Auch ihre Vorfahrn haben bisher es ebenso getan.» Da sprach der reiche König: «Freund, du sollst mir sagen, ob sie in meinen Landen die Krone sollte tragen! Ist so schön sie wirklich, wie man mir gesagt?» Antwort gab da Rüdeger, der Recke kühn und unverzagt: «Sie kommt gleich an Schönheit wohl der Herrin mein, Helche, der reichen; es könnte nimmer sein auf dieser Erde schöner eine Königin. Wen sie erwählt zum Gatten, dem kann freudig sein der Sinn.»

Attila lässt den skirischen Fürsten Edekon, mit dem zusammen er auf

den Katalaunischen Feldern gekämpft hat, zu Justa Grata Honoria an den Hof von Ravenna reiten.

Mit allen seinen Mannen schwor ihr da Rüdeger, getreulich ihr zu dienen, und dass die Recken hehr ihr nichts versagen wollten aus König Etzels Land; dass sie Ehre haben sollte, gelobte ihr Rüdegers Hand.

Nachdem der skirische Stammesfürst Edekon Justa Grata Honoria

angeboten hat, ihr Leid zu rächen, lässt sie ihn und seine Mannen dies noch beschwören. Der Schwur kostet Edekon später das Leben.

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Einundzwanzigstes Abenteuer

Wie Kriemhild von Worms schied, als sie zu den Hunnen fuhr

Die Boten lasset reiten! Wir tun euch nun bekannt, wie die Königstochter reiste durch das Land und wie von ihr schieden ihre beiden Brüder. Sie hatten ihr so gedienet, dass sie es sollte danken wieder. Zu der Traisen brachte man die Gäste dann. Eifrig pflegte ihrer, wer Rüdegers Mann, bis dass die Hunnen ritten über Land. Der Königin da wurde grosse Ehre zuerkannt.

An der Traisen beginnt das eigentliche Reich der Hunnen. Edekons

Skiren werden nun von hunnischen Reitern abgelöst.

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Zweiundzwanzigstes Abenteuer

Wie Kriemhild und Etzel in der Stadt Wien Hochzeit feierten

Sie war zu Traisenmauer bis zum vierten Tag; der Staub auf der Strasse derweil nicht stille lag. Er stob, als ob ihn triebe überall der Brand. Da ritten Etzels Mannen durch der Österreicher Land. Die Hunnen mit Ehren der König zu wirken bat. Von Tuln sie da ritten bis nach Wien, der Stadt, Da war gar wohl gezieret so mancher Frauen Leib: sie empfingen wohl mit Ehren da des Königs Etzel Weib. Alles war in Fülle ihnen da bereit, was sie haben sollten. Mancher Held in Fröhlichkeit nahm ab den reichen Sattel, der des Königs Mann. Dann hob mit hohen Ehren des Königs Hochzeitsfeier an. Sie konnten nicht bleiben zu Wien in der Stadt, die nicht Gäste waren. Rüdeger sie bat von der Burg von hinnen zur Herberg auf das Land. Ich weiss: man aller Zeiten bei Frau Kriemhilden fand. den König Dietrich und manchen andern Degen: sie mussten ohne Musse eifrig sich bewegen, damit sie den Gästen erheiterten den Mut. Etzel und seine Freunde hatten Kurzweil da gut. Die Hochzeit war gefallen auf einen Pfingsttag, wo der König Etzel bei Kriemhilden lag zu Wien an der Donau. Mich dünkt: so manchen Mann einst ihr erster Gatte ihr zu Diensten nie gewann. Mit Gaben tat sie kund sich dem, der sie nie geschaut. So mancher von ihnen zu den Gästen sprach laut: «Wir wähnten, dass Frau Kriemhild übrig blieb kein Gut, nun ists ein grosses Wunder, was sie hier an Gaben tut.» Die Hochzeit da währte wohl siebzehn Tage. Mich dünkt, dass von keinem König sonst man sage,

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des Hochzeit grösser wäre; das ist uns nicht bekannt. Alle, die da waren, trugen nagelneu Gewand. Ich mein, im Niederlande sie vordem nie sass mit so vielen Recken. Davon glaub ich das: war Sigfrid reich an Gute, nie waren untertan ihm so viel edle Recken, wie bei den Hunnen sie gewann. Schwemmel und Werbel, Etzels Spielmann, mich dünkt, dass ihrer jeder zur Hochzeit da gewann an Mark wohl tausend oder mehr als das, da die Frau Kriemhild bei Etzel mit der Krone sass.

In Etzel Spielmann Werbel glaube ich den maurischen Hofnarren

Zerkon zu erkennen, der zuerst dem Feldherrn Aspar gehört, 441 von den Hunnen gefangen wird, dann an den Hof von Bleda kommt, aufgrund einer persönlichen Abneigung Attilas an Flavius Aëtius überstellt wird und dann doch wieder an Attilas Hof gelangt.

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Dreiundzwanzigstes Abenteuer

Wie der König Etzel und Frau Kriemhild zu ihren Gefreundten nach Worms sandten

Sie bemühte sich dauernd und liess nicht ab davon, dass getauft würde König Etzels Sohn nach christlichem Brauche. Ortlieb ward er genannt. Darob ward grosse Freude über Etzels ganzem Land.

Bei Ortlieb könnte es sich um einen der Söhne von Attila handeln.

Ellac, der älteste Sohn des Hunnenkönigs und Stammeshäuptling der Akatziren, wird 454 in einer grossen Schlacht am Fluss Nedao in Pannonien von den Ostgoten und Gepiden getötet. Dengizich, ein anderer Sohn von Attila, kehrt mit den Hunnen in die russische Steppe zurück, führt sie 468 an der unteren Donau noch einmal zum Angriff gegen das Ostreich, doch er wird besiegt, getötet, und sein Kopf wird in Byzanz im Zirkus zur Schau gestellt. Andere Söhne Attilas fordern Land von den Römern, die Ernak in der Dobrudscha und Emnedzar sowie Uzindur in Mösien ansiedeln.

Sie dachte auch mancher Ehren aus Nibelungenland, die einst ihr eigen waren und die ihr Hagens Hand nach Sigfrids Tode hatte ganz genommen. Sie dachte, ob dafür jemals ihm ein Leid möchte kommen. Sie wünschte, dass ihre Mutter wäre im Hunnenland. Sie träumte, dass Giselher ginge an ihrer Hand bei dem König Etzel. Sie kost ihn jeder Stund innig in sanftem Schlafe. Dann ward Trauer ihr wohl kund. Sie konnte nicht vergessen, ob gut man ihr auch tat, den schweren Herzenskummer; sie fühlte früh und spät immer ihren Jammer. Der ward wohlbekannt. Da begann sie zu benetzen mit heissen Tränen ihr Gewand. In ihrem Herzen hat sie früh und spät gedacht, wie man wider Willen sie dazu gebracht, dass sie minnen musste einen heidnischen Mann. Ihr Gesippe Hagen und Gunther hatte dies getan. Dass sie das rächen könnte, sie wünsdchte es alle Tage:

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«Ich bin nun wohl so mächtig, wem es auch missbehage, dass ich meinen Feinden kann zufügen Leid. Dazu wär ich dem Hagen von Tronje gerne bereit.

Wenn man davon ausgeht, dass das Nibelungenlied die Wirklichkeit in

einer verschlüsselten Form wiedergibt, dann berichtet der Autor an dieser Stelle vom Tod Attilas! Man schreibt das Jahr 453. Attila ist offensichtlich an einem Blutsturz gestorben. Die Trauer in seinem Volk ist gross. Nach hunnischem Brauch wird eine Feier veranstaltet, die sich eine ganze Zeitlang hinzieht. Die Hunnen umreiten seine Bahre unter Trauergesängen. Begraben wird Attila, in seidene Tücher gehüllt, in der Nähe seiner Residenz, nachdem man ihn in einen dreifachen Sarg aus Silber, Gold und Zink gelegt hat.

Wenn der Autor des Nibelungenliedes zunächst den Namen Etzel weiter erwähnt, dann bezieht sich dieser wohl auf den derzeitigen Herrscher des in Auflösung begriffenen Hunnenreiches!

Sie liebte ein jeder, der des Königs Mann und Kriemhildens Recke. Das war wohlgetan. Ihr Kämmerer war Eckewart; Freunde er gewann. Kriemhildens Willen niemand widerstand alsdann. Sie dachte zu allen Zeiten, den König zu bitten, dass er ihr vergönnte mit gütlichen Sitten, dass man ihre Gefreundten brächte ins Hunnenland. Die böse Absicht niemand an Frau Kriemhild hat erkannt.

Es ist Ardarich, der Herrscher der Gepiden und immer wieder als der

am meisten geachtete, loyalste der Bundesgenossen Attilas bezeichnet, der offenkundig schnell eine antihunnische Koalition zusammenbringt. Ein Testament Attilas oder eine Nachfolgeordnung sind nicht bekannt, die als verbindlich gelten dürfen. Und es ist Ardarich, der nach Attilas Tod an seine Stelle tritt. Doch auch die Söhne Attilas melden ihre Ansprüche an.

Da sprach der Knappen einer, der hiess Schwemmelin: «Benennet uns die Festlichkeit, wann habt Ihr sie im Sinn, dass meiner Herrin Freunde dazu können kommen.» Da ward der edlen Kriemhild von ihrem Leid gar viel genommen. Da sprach der edle König: «Meine Festlichkeit sollt ihr am Rhein verkünden, dass ihr des sicher seid: zur nächsten Sonnenwende, da soll diese sein; die unsre treuen Freunde, die sollen kommen übern Rhein.»

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«Wir tun, wie Ihr gebietet», sprach da Werbelin. In ihre Kemenate hiess da die Königin insgeheim sie kommen, wo sie die Boten sprach. Dadurch manchem Degen hartes Leid noch folgte nach. Sie sprach zu beiden Boten: «Ihr verdient viel Gut, wenn ihr meinen Willen im geheimen tut und sagt, wen ich entbiete her in unser Land. Ich mache euch reich an Habe und geb euch herrliches Gewand.

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Vierundzwanzigstes Abenteuer

Wie die Boten zum Rheine kamen und wie sie von dort schieden

Die Boten eilten von hinnen aus dem Hunnenland zu den Burgunden; sie waren hingesandt zu drei edeln Königen und auch zu ihrem Heer, die zu Etzel kommen sollten; darum beeilten sie sich sehr. Hin nach Bechlaren kamen sie geritten, wo man sie gerne aufnahm; sie brauchten nicht zu bitten. Herberge bot Rüdeger und auch Gotelind auf der Fahrt zum Rheine und auch des Markgrafen Kind. In zehn Tagen kamen sie zum Rheine hin nach Worms in die Feste, Werbel und Schwemmelin. Man sagte die Kunde dem Könige alsdann, es kämen fremde Boten. Zu fragen Gunther da begann.

Da die Hunnen einen Hofnarren und einen Knappen an den Hof von

Ravenna entsenden, kann es sich nicht um eine offizielle Einladung an den Kaiser handeln! Was auch der Grund für die Überstellung des maurischen Zwergen Zerkon an Flavius Aëtius sein mag, auf jeden Fall wird er die Nachricht vom Tode Attilas überbracht haben.

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Fünfundzwanzigstes Abenteuer

Wie die Könige zu den Hunnen zogen

Wir lassen nun beruhen, was weiter taten die. Hochgemute Recken zogen noch nie so herrlich ausgerüstet in eines Königs Land. Sie hatten, was sie wollten, beides, Waffen und Gewand. Seinen Weg einschlug gegen den Main sodann hinauf durch Osterfranken des Königs Heeresbann. Dorthin führte die Hagen; ihm war es wohlbekannt. Dankwart war ihr Marschall, der Held von Burgundenland.

Man schreibt das Jahr 454. Seit einem Jahr ist Attila tot. Die Zeichen

stehen gut für die Römer. Die Gepiden und Ostgoten revoltieren bereits gegen die Hunnen und deren neue Königin Justa Grata Honoria. Auch die Römer wollen nun gegen das sich auflösende Hunnenreich vorgehen!

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Sechsundzwanzigstes Abenteuer

Wie sie mit Else und Gelfrat stritten und wie es ihnen da gelang

Als sie nun ohne Schaden kamen auf den Strand, der König begann zu fragen: «Wer soll uns durch das Land die rechten Wege weisen, dass wir nicht irre gehn?» Da sprach der starke Volker: «Dieses will ich wohl versehn.» Der Tag war ihnen zerronnen; nicht länger währte er. Er bangte für sesine Freunde um Not und Wunden schwer. Sie ritten unter den Schilden durch das Baierland. In kurzer Frist die Helden da der Feinde Angriff fand.

In Bayern werden die römischen Truppen von einheimischen

Stämmen angegriffen.

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Siebenundzwanzigstes Abenteuer

Wie der Markgraf die Könige mit ihren Recken in seinem Hause empfing und wie

er sie dann versorgte

Also geschäftig lassen wir die Fraun. Da war ein schnelles Eilen über das Feld zu schaun von Rüdegers Freunden, als man die Gäste fand. Sie wurden wohl empfangen in des Markgrafen Land. Als sie der Markgraf zu ihm kommen sah, Rüdeger, der schnelle, wie fröhlich sprach er da: «Seid willkommen, ihr Herren, und auch wer euer Mann, hier in diesem Lande! Mich freut, dass ich euch sehen kann.»

Flavius Aëtius - der römische Kaiser selbst wird in Ravenna geblieben

sein! - ist froh, dass er das feindliche Gebiet hinter sich gelassen hat und nun das skirische Stammesgebiet von Edekon betritt. Edekon kennt Aëtius schon aus einer früheren Zeit als Geisel an Attilas Hof. Natürlich kennt Edekon auch alle anderen durch seinen Aufenthalt als Werber um Justa Grata Honoria am Kaiserhof in Ravenna.

«Giselher sollte ein Weib nehmen doch. Nun ist die Markgräfin an Abkunft so hoch, dass wir ihr gerne dienten, ich und wer sonst Euer Mann, sollte bei den Burgunden sie die Krone tragen fortan.»

Sangiban und Flavius Aëtius fädeln geschickt die Verlobung zwischen

Palladius und Edekons Tochter ein, die mit einem förmlichen öffentlichen Eheversprechen besiegelt wird. Die bringen so den wegen der darin liegenden Rangerhöhung überglücklichen skirischen Stammesfürsten später in einen tragischen Pflichtenkonflikt.

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Achtundzwanzigstes Abenteuer

Wie die Nibelunge zu Etzels Burg kamen und wie sie da empfangen wurden

Als die Nibelunge kamen in das Land, erfuhr es von Berne Meister Hildebrand. Er sagt es seinem Herrscher - dem war es grimmig leid - und bat ihn zu empfangen die kühnen Ritter tatbereit.

Als nach Attilas Tod das Hunnenreich auseinanderbricht, gewinnen die

Ostgoten, die er unterworfen hat, ihre Selbstständigkeit wieder. Die byzantinischen Kaiser leisten ihnen Zahlungen, damit sie andere Germanen nach dem Westen abdrängen, geben ihnen Pannonien als Lohn und nehmen Theoderich, den siebenjährigen Sohn ihres Königs Thiudimer, als Geisel für die Treue der Ostgoten nach Byzanz mit. Während elf Jahren am byzantinischen Hof erwirbt sich Theoderich eine Intelligenz ohne Bildung, nimmt die Künste der Kriegführung und der Regierungsführung in sich auf, lernt aber offenbar nie die Kunst des Schreibens. Er erringt sich die Bewunderung des Kaisers Leon I., und als Thiudimer 475 stirbt, erkennt Leon Theoderich als König der Ostgoten an.

Meister Hildebrand (Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus) stammt aus einer reichen römischen Familie, dient sowohl Odoaker als auch Theoderich dem Grossen als Sekretär, schreibt auf Veranlassung von Theoderich eine Geschichte der Goten und den Chronicon, in dem er den zeitlichen Ablauf der Weltgeschichte von Adam bis Theoderich darstellt. Später ist er Minister von Theoderich. 540 zieht er sich auf seinen Landsitz in Squillace in Kalabrien zurück, gründet zwei Klöster und lebt dort, halb als Mönch, halb als Grande.

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Neunundzwanzigstes Abenteuer

Wie er nicht vor ihr aufstand

Als sie nun wohl bewaffnet ihr Gefolge sah, zu den schnellen Degen sprach die Fürstin da: «Nun wartet eine Weile! Ihr sollt noch stillestehn. Die Krone auf dem Haupte, will ich mit euch zu jenen gehn. Höret nun den Vorwurf, was mir getan Hagen von Tronje, König Gunthers Mann! Ich weiss ihn so verwegen: er leugnet es nimmermehr. Ich will auch nicht fragen, was mit ihm geschieht nachher.»

Bisher ist Justa Grata Honoria ihren Verwandten als beleidigte

römische Prinzessin begegnet. Nun fordert sie deren Achtung als Königin der Hunnen heraus. Eine Beleidigung unter der Krone müsste - den gleichen Ehrenkodex vorausgesetzt - von den Hunnen gerächt werden.

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Dreissigstes Abenteuer

Wie die Könige mit ihren Recken schlafen gingen und was ihnen da geschah

Der Tag hatte ein Ende; es nahte die Nacht den wegmüden Degen. Ihre Sorge war erwacht. Die Herren wollten ruhen und zu Bette gehen dann. Anregte es Hagen. Es ward bald ihnen kundgetan. Da sprach der schnelle Fiedler, Volker, der Degen: «Verschmäht Ihrs nicht, Hagen, so will ich mit Euch pflegen der Schildwache heute bis morgen zum Tag.» Gar minniglich dankte der Held Volker und sprach: «Nun lohn Euch Gott im Himmel, vieledler Volker, bei allen meinen Sorgen begehrt ich niemand mehr als Euch alleine, hätte ich Not. Ich will es wohl vesrgelten, mich hindere denn der Tod.» Da kleideten sich beide in ihr lichtes Gewand. Da nahm ihrer jeder den Schild in seine Hand und ging aus dem Hause, vor der Tür zu stehn. Dort hüteten sie die Degen; es war in Treuen geschehn. Volker, der vielkühne, lehnte aus der Hand seinen Schild, den guten, an des Hauses Wand. Dann ging hin er wieder; die Fiedel er nahm und diente seinen Freunden, wie dem Degen zu es kam. Unter der Tür des Hauses sass er auf dem Stein. Einen kühneren Fiedler traf nie der Sonnenschein, da der Saiten Tönen so süss ihm erklang. Die stolzen Fremdlinge dafür ihm sagten grossen Dank.

In Volker erkennt man den alanischen Stammesfürsten Sangibanus,

der auf den Katalaunischen Feldern von den Römern gezwungen worden ist, mit ihnen gegen die Hunnen zu kämpfen. Wie es scheint, ist er ein begabter Musiker und Sänger.

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Einunddreissigstes Abenteuer

Wie die Herren zur Kirche gingen

Da schien der lichte Morgen den Gästen in den Saal. Hagen begann zu fragen die Recken überall, ob sie zum Münster wollten zur Messe gehn hinan. Nach christlicher Sitte viel zu läuten man begann. Da sie zu den Rossen kamen, die Könige und ihr Heer, da begann ihnen zu raten der kühne Volker, sie sollten Buhurt spielen nach ihres Landes Sitten. Da ward von den Degen bald gar herrlich geritten. Auf den Hof, den weiten, kam da mancher Mann. Etzel und Kriemhild sahn es alles an: den Buhurt und das Lärmen - beide waren gross - von Christen und von Heiden. Wie wenig jemand das verdross! Zu dem Buhurt kamen alsbald da geritten König Dietrichs Recken mit gar stolzen Sitten. Sie wollten zum Kampfe mit den Gästen heran. Er wollte es nicht erlauben und hiess sogleich sie halten an. Das Spiel mit Gunthers Mannen er ihnen verbot. Er fürchtete für die Degen; das schuf ihnen grosse Not. Dann kam von Bechlaren Rüdegers Heer heran. Darüber der edle Markgraf zu zürnen da begann. Er kam zu ihnen eilend und drängte sich durch die Schar. Er sagte seinen Degen, sie nähmen es wahr, wie missgestimmt wären, die Gunther untertan. Wenn sie den Buhurt liessen, das wäre ihm zuliebe getan. Als sie sich von ihm trennten, wie man uns gesagt, von Thüringen da kamen die Helden unverzagt und von Dänemark die Recken, wohl tausend Mann. Von den Stössen sah man fliegen viele Splitter hoch hinan. Haward und Irnfried, gesellt sie da ritten. Da zeigten die vom Rheine ihre stolzen Sitten. Sie boten manchen Zweikampf denen von Thüringenland. Von Stichen ward durchlöchert da manches schmucken Schildes Rand.

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Da kam auch zu dem Lärmen der Herr Blödelin mit tausend seiner Recken; die konnten auf sich ziehn die Blicke durch ihre Reitkunst. Ungemach war da. Kriemhild es gar gerne aus Hass auf die Burgunden sah. Sie dacht in ihrem Sinne, wie es danach geschehn: geschähe ihnen Leides, ich möcht es gerne sehn, dass es begonnen würde. An den Feinden mein, wenn gerächt ich würde, dann wollt ich ohne Sorgen sein. Schrutan und Giebeche auf den Buhurt ritten, Hornboge und Ramung, nach hunnischen Sitten wieder die Helden aus Burgundenland. Hoch wirbelten die Schäfte mit Kraft vor der Saaleswand. Wie sie da alle ritten, es war doch eitler Schall. Man hörte von Schildes Stössen Palas und Saal gewaltig ertönen durch Gunthers Heerbann. Den Gang seine Gefolgschaft mit grossen Ehren da gewann. Ihr Waffenspiel war nun lang und auch so gross, dass durch die Satteldecken der blanke Schweiss floss von den guten Rossen, die die Helden ritten. Sie erprobten an den Hunnen sich mit hochgemuten Sitten.

Eigentlich ist der Buhurt ein Reiterspiel, bei dem Gruppen

gegeneinander reiten, meistens ohne Waffen oder mit den Schilden, wobei man sich mitunter auch gegeneinander in Zweikämpfen vom Pferd zu stossen sucht. So wie das Nibelungenlied in dem Jagdgemetzel die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern schildert, so beschreibt es in dem Buhurt die Schlacht in Pannonien, am Fluss Nedao, wohl östlich der mittleren Donau, als Flavius Aëtius im Jahr 454 die Hunnen in deren Heimatgebiet angreift und ein Gemetzel veranstaltet.

Wortreich beschreibt das Nibelungenlied die Teilnehmer am Buhurt, die exakt den Teilnehmern in der Schlacht am Nedao entsprechen. Auf hunnischer Seite sind dies: König Dietrichs Recken, alias Ostgoten; von Bechlaren Rüdegers Heer, alias Skiren des Stammesfürsten Edekon; Landgraf Irnfrid von Thüringen; von Dänemark Haward und Iring, alias Franken des Königs Merowech und seines Sohnes Childerich; Herr Blödelin mit tausend seiner Recken; Schrutan, Giebeche, Hornboge und Ramung, nach hunnischen Sitten, auf den Buhurt ritten, vermutlich Burgunder, Heruler, Rugier, Salier oder Slaven. Auf römischer Seite sind dies: Gunthers Heerbann mit Petronius Maximus, Palladius, Flavius

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Aëtius, Carpilio und den Alanen des Stammesfürsten Sangibanus. Die Geschichte teilt uns mit, dass im Jahr 454 Ellac, Merowech, Childerich, Edekon, Sangibanus, Ardarich und Flavius Aëtius den Tod finden und auch das Nibelungenlied berichtet, wie wir im folgenden sehen werden, dass ein reicher Hunne, Blödel, Ortlieb, Iring und Hawart von Dänemark, Landgraf Irnfrid von Thüringen, Rüdeger von Bechelaren, Volker, Dankwart, Giselher, Wolfhart, Gunther und Hagen von Tronje ihr Leben aushauchen.

Da sahen sie einen so stattlich reiten daher, wie es von allen Hunnen tat kein zweiter mehr. Ihm war wohl an den Fenstern eine von Herzen traut. Er war so schmuck gekleidet wie eines werten Ritters Braut. Da sprach wieder Volker: «Wie liesse ich das hingehn? Jener Weiberzärtling muss einen Stoss bestehn. Ihm könnte niemand helfen: es trifft seinen Leib! Nicht frage ich, ob zürne drum des Königs Etzel Weib.» «Nein, mir zuliebe», sprach der König sodann. «Es schmähen uns die Leute, greifen wir sie an. Lass es anheben die Hunnen! Besser fügt sich das.» Noch der König Etzel nahe bei der Königin sass. «Ich mags nicht unterlassen», sprach da Volker. Den Buhurt ritt er wieder: mit voller Absicht schwer stiess er dem reichen Hunnen den Speer durch den Leib. Das sah man bald beweinen beide Jungfrau und Weib.

Es ist Ellac, der älteste Sohn von Attila, der Stammeshäuptling der

Akatziren, der als erster vom Tod ereilt wird! Und es ist der Alane Sangibanus, der Ellac tötet und damit den Zorn der Hunnen auf sich lädt!

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Zweiunddreissigstes Abenteuer

Wie Blödel mit Dankwart in der Herberge stritt

Blödelins Recken, die waren allbereit. Mit tausend Halsbergen erhoben sie sich zum Streit, wo Dankwart mit den Knechten an dem Tische sass. Da erhob sich unter den Degen Mord und feindlicher Hass. Als der edle Blödel vor die Tische ging, Dankwart, der Marschall, freundlich ihn empfing. «Willkommen hier im Hause, mein Herr Blödelin! Weswegen Ihr kommet, gar sehr verwunderts meinen Sinn.» «Du sollst mich nicht begrüssen», sprach da Blödelin. «Denn dies mein Kommen führet zu deinem Ende hin, um Hagen, deinen Bruder, der Sigfrid erschlug. Das vergiltst du bei den Hunnen und andere Degen genug.» «Nein, mein Herr Blödel!» sprach da Dankwart. «Dann müsste sehr uns reuen zum Hofe diese Fahrt. Ich war ein kleiner Knabe, als Sigfrid sein Ende fand. Ich weiss nicht, was mir vorwirft Etzels Weib im Hunnenland.»

Carpilio, der Sohn des grossen Feldherrn Flavius Aëtius, rechtfertigt

seine Unschuld an Sigfrids Tod durch Verweis auf sein jugendliches Alter; die Gesetze der Blutrache als Sippenhaftung machen allerdings auch vor Jugendlichen und Kindern nicht halt.

«Ich weiss von diesen Dingen nicht mehr zu sagen. Es taten deine Magen Gunther und Hagen. Nun wehrt euch, ihr Gäste! Ihr könnet nicht entgehn. Ihr müsset mit dem Tode die Haftung für Kriemhild eingestehn.» «Und wollt Ihr es nicht lassesn», sprach da Dankwart, «so reut mich meine Bitte; es wäre besser erspart.» Der kühne schnelle Desgen vom Tische aufsprang. Er zog eine scharfe Waffe; die war gross sowie lang. Da schlug er dem Blödel einen schnellen Schwertesschlag. Das Haupt mitsamt dem Helme ihm vor den Füssen lag.

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«Das sei deine Morgengabe», sprach Dankwart, der Held, «für die Witwe nudungs, die du zur Freude dir erwählt!

Wer ist dieser Blödel? Er erinnert natürlich an Bleda, den Bruder von

Attila! Dieser ist aber bereits 445 ermordet worden. Blödel könnte auch einer der Söhne von Attila sein oder ein hunnischer Stammeshäuptling wie Chelchal.

Sie mag sich morgen vermählen mit einem andern Mann, will er den Brautschatz haben, wird ihm wie dir getan.» Ein getreuer Hunne hatte ihm hinterbracht, wie grimmig Frau Kriemhild auf ihr Verderben war bedacht. Da sahen Blödels Mannen ihren Herrn erschlagen. Sie wollten von den Gästen dies länger nicht ertragen. Mit hocherhobnen Schwertern auf die Knappen ein drangen sie grimmen Mutes; sie mussten später dies bereun. Gar laut rief der Marschall alle Knappen an: «Ihr seht wohl, edle Knechte, es ist um euch getan! Ihr Fremden hier, wehrt euch - denn euch zwingt die Not -, dass ihr nach tapferm Streite ohne Schande lieget tot!» Die keine Schwerter hatten, griffen zu der Bank. Sie erhoben von dem Boden manchen Schemel lang. Der Burgunden Knechte wollten es nicht ertragen. Da ward mit schweren Stühlen manch Beule durch den Helm geschlagen. Wie grimm sie sich da wehrten, dieser fremden Schar! Sie trieben aus dem Hause die Bewaffneten sogar. Dennoch blieben drinnen fünfhundert oder mehr noch tot. Dankwarts Ingesinde vom Blute war da nass und rot. Diese schlimme Nachricht ward in kurzer Zeit gesagt Etzels Recken - es war ihnen leid -, dass da erschlagen waren ihr Herr und jeder Mann. Das hatte Hagens Bruder mit seinen Knechten getan. Eh mans am Hof erfahren, die Hunnen in ihrem Hass rüsteten sich, zweitausend oder mehr als das. Sie gingen zu den Knechten - das war mit Fug gewesen - und liessen von dem Gesinde auch nicht einen Mann genesen.

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Als die gar Ungetreuen drangen in das Gemach, da hob sich zwischen den Recken ein ungeheurer Krach. Was half ihre schnelle Stärke? Sie mussten liegen tot. Dort nach kurzer Pause erhob sich schwere Angst und Not. Nun mögt ihr von den Wundern Ungeheures sagen: neuntausend Knechte, die lagen da erschlagen, ausserdem zehn Ritter, die mit Dankwart im Verein. Man sah ihn bei den Feinden stehen einzig und allein.

Verbissen bekämpfen sich Hunnen und Römer am Fluss Nedao, und

das Nibelungenlied berichtet mit einer erstaunlichen Genauigkeit darüber. Weit und breit ist nichts von Attila, dem Haudegen in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, zu sehen! Es gibt keinen Zweifel mehr: Attila ist nicht mehr unter den Lebenden!

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Dreiunddreissigstes Abenteuer

Wie Dankwart die Nachricht seinen Herren zum Hofe brachte

Die Nachricht rief Dankwart gar laut dem Degen: «Ihr sitzet allzulange, Bruder Hagen. Euch und Gott im Himmel klage ich unsere Not: die Ritter und Knechte sind in der Herberge tot!» Da schlug das Kind Ortlieb Hagen, der Recke gut, dass ihm von dem Schwerte zur Hand strömte das Blut und dass das Haupt des Kindes Kriemhild sprang in den Schoss, Da erhob sich unter den Hunnen ein Morden, grimmig und gross.

Ortlieb ist vermutlich ein weiterer Sohn von Attila! Andere Quellen

sagen, dass Justa Grata Honoria den Tod von Ortlieb bewusst einkalkuliert, um die Hunnen gegen Aëtius aufzubringen.

Er sah vor Etzels Tische den einen Spielmann. Hagen in seinem Zorne zögerte nicht alsdann: er schlug ihm auf der Fiedel ab die eine Hand. «Das habe für die Botschaft im Burgundenland!» «Weh mir», sprach Werbel, Etzels Spielmann. «Herr Hagen von Tronje, was habe ich Euch getan? Ich kam in Getreuen in Eurer Herren Land. Wie bring ich hervor die Töne, da ich verloren meine Hand?»

Es ist der maurische Hofnarr Zerkon, der mit einem Knappen nach

Ravenna geritten war, um die Römer ins Hunnenland einzuladen.

Zur Herberge gingen die Recken also hehr, der Herrscher von Berne und auch Rüdeger. Sie wollten nichts zu schaffen haben mit dem Streit und hiessen auch alle Degen Frieden halten da allzeit.

Die Ostgoten und die Skiren versuchen, sich aus dem Kampf

herauszuhalten, was ihnen allerdings nicht lange gelingt.

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Vierunddreissigstes Abenteuer

Wie Iring erschlagen ward

Da rief vom Dänenlande der Markgraf Iring: «Ich hab auf Ehre lange gesetzt all mein Ding und hab in Volkes Stürmen des Besten viel getan. Nun bringt mir meine Waffen! Fürwahr, ich greife Hagen an.» Iring, der vielstarke, hoch erhob den Ger. Den Schild hervor er zückte, der teure Degen hehr. Nun lief er los auf Hagen stürmisch vor den Saal. Da erhob sich von den Degen ein gewaltiger Schall. Sie schlugen durch die Schilde, dass es zu lohen begann von feuerrotem Winde. Hawarts Untertan ward von Hagens Schwerte allzuschwer nun wund durch Schild und durch die Brünne; da ward nimmer er gesund. Als der Degen Iring die Wunde empfand, deckte er sich mit dem Schilde über das Helmband. Schwer deucht ihn der Schaden, den er da gewann. Darauf tat ihm aber noch mehr der grimme Hagen an. Hagen zu seinen Füssen einen Ger liegen fand; den warf er auf Iring, den Helden aus Dänenland, dass ihm aus dem Haupte ragte der Schaft. Ein grimmes Ende schuf ihm des Übermütigen Kraft. Iring musste weichen zu denen aus Dänenland. Ehe man dem Degen ab den Helm da band, zog man den Ger aus dem Haupte; da nahte ihm der Tod. Des beweinten ihn Magen; es zwang sie wahrhaftige Not.

Der erste fränkische König, welcher der Geschichte mit Namen

bekannt ist, ist Chlodio, der 431 Köln angreift; Flavius Aëtius bringt ihm eine Niederlage bei, aber es gelingt Chlodio, Gallien bis zur Somme einzunehmen und Tournai zu seiner Hauptstadt zu machen. Merowech, der Sohn des Meeres, gibt der Merowingerdynastie seinen Namen.

Die Merowinger sehen sich selber als «das glorreiche Volk der Franken, dessen Gründer Gott selbst ist, tapfer in Waffen, stark im Frieden, weise im Rat, edel an Körper, strahlend in Gesundheit, hervorragend an Schönheit, kühn, schnell, abgehärtet (...), dies ist das

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Volk, welches das grausame Joch der Römer von seinem Nacken schüttelte.»

Sie betrachten sich nicht als Barbaren, sondern als Freie, die sich selbst ihre Freiheit geschaffen haben. Sie sind grossgewachsen und haben blondes Haar, das sie lang wachsen lassen und in einem Schopf auf dem Kopf zusammenknoten, so dass es wie ein Pferdeschwanz herabhängt; sie tragen Schnurrbärte, aber keine Bärte; sie gürten ihren Überwurf an der Taille mit Ledergürteln, die sie mit Segmenten aus emailliertem Eisen besetzen; an diesem Gürtel tragen sie das Schwert und die Kriegsaxt und Toilettengegenstände wie Schere und Kamm. Die Männer lieben den Schmuck nicht weniger als die Frauen und tragen Ringe, Armreife und Perlen. Jeder rüstige Mann ist Krieger, dem man von jung auf beigebracht hat, wie man läuft, springt, schwimmt und die Lanze oder Streitaxt auf ein Ziel wirft. Der Mut gilt als die höchste Tugend, um derentwillen Mord, Raub und Entführung ohne weiteres vergeben werden können. Ihre Gesetze zeigen, dass sie sich mit Ackerbau und Handwerk beschäftigen, wobei es ihnen gelingt, in Nordostgallien eine wohlhabende und friedfertige bäuerliche Gesellschaft aufzubauen.

Merowech, der Sohn des Meeres, stirbt also wie viele andere am Fluss Nedao durch die Hand von Aëtius!

Irnfrid und Hawart, die eilten vor das Gemach wohl mit tausend Helden. Tobenden Kampfes Krach hörte man allenthalben, kräftig und gross. Hei, was man starker Gere auf die Burgunden schoss. Irnfrid von Thüringen griff an den Spielmann, dadurch er schweren Schaden von dessen Hand gewann. Der Fiedler, der kühne, den Landgrafen schlug durch den Helm, den festen; ja, das war grimmig genug. Da schlug der Landgraf den kühnen Spielmann, dass ihm bersten musste der Ringe Gespann. Sich von Funken färbte die Brünne feuerrot. Dennoch fiel der Landgraf vor dem Fiedeler da tot. Hawart und Hagen waren zusammengekommen; da konnte Wunder sehen, wer es wahrgenommen. Die Schwerthiebe fielen heftig von ihrer Hand. Hawart musste sterben vor dem Helden aus Burgundenland. Die Thüringer und Dänen sahen ihrer Herren Tod. Da hob sich vor dem Hause grimme Kampfesnot,

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eh sie die Tür gewannen mit kampfgewaltiger Hand. Da wurde zerhauen mancher Helm und Schildesrand.

Merowechs Sohn, Kronprinz Childerich, und der unbekannte König der

Thüringer sterben ebenfalls am Fluss Nedao wie hunderte ihrer Untertanen! Und immer haben der römische Feldherr Aëtius und der alanische Stammesfürst Sangibanus ihre Hände im Spiel!

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Fünfunddreissigstes Abenteuer

Wie die drei Könige mit ihrer Schwester über die Sühne redeten

«Nun bindet ab die Helme!» sagte da Hagen. «Wir lassen hier den Hunnen so viel zu beklagen, dass sie von dem Feste nimmer vergessen dies. Was hilft uns nun Kriemhild, dass sie uns am Rheine nimmer liess?» Da sprach der Herr Giselher: «Vielliebe Schwester mein, wie konnt ich das erwarten, das du mich übern Rhein so freundlich einlüdest her in dieses Land, dass mir so grosser Kummer sollte werden hier bekannt? Getreu war ich dir immer, nie tat ich Leid dir an. Ich bin hier zu Hofe geritten in dem Wahn, dass du mir freundlich seiest, vieledle Schwester mein. Gewähre uns Gnade! Denn es darf nicht anders sein.» «Ich schenk euch keine Gnade. Ungnade ich gewann. Mir hat Hagen von Tronje solches Leid getan: daheim, und hierzulande erschlug er mir mein Kind. Dies müssen schwer entgelten, die mit ihm hergekommen sind. Doch wollt ihr mir als Geisel meinen Feind nun geben, so will ich nicht verweigern, euch zu lassen am Leben; denn ihr seid meine Brüder, derselben Mutter Kind; so rede ich um die Sühne mit den Recken, die hier sind.»

Justa Grata Honoria besteht auf einer Kollektivhaftung der Römer, will

jedoch alle ausser Aëtius ziehen lassen, wenn sie sich von ihm trennen, was Petronius Maximus und die übrigen strikt ablehnen.

Etzels Weib liess da anzünden den Saal. Mit dem Feuer den Recken schuf man grimme Qual. Das Haus durch die Kraft des Windes geriet in hohen Brand. Mich dünkt: grösserer Schrecken ward keinem Heere je bekannt.

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Sechsunddreissigstes Abenteuer

Wie Rüdeger erschlagen ward

Die fremden Gäste hatten gegen Morgen viel getan. Der Gotelinde Gatte kam zu Hof heran. Da sah auf beiden Seiten er Schmerzen gar so schwer; darüber weinte inniglich der getreue Rüdeger. Kriemhild sass bei Etzel. Sie hatte es auch gesehn, was von des Recken Zorne dem Hunnen war geschehn. Sie empfand es mit Schmerzen; ihre Augen wurden nass. Sie sagte zu Rüdeger: «Wie haben wir verdienet das, dass Ihr mir und dem König mehret unser Leid? Ihr habt uns doch, Rüdeger, versprochen allezeit, Ihr wolltet für uns wagen die Ehre und das Leben. Ich hörte viele Recken den Preis Euch vor allen geben.

Der skirische Fürst Edekon ist beiden Seiten jeweils zweifach

verpflichtet: Justa Grata Honoria und den Hunnen durch den Lehnseid und den persönlichen Hilfeeid für Justa und den Römern als Gastgeber und Freund und als Schwiegervater von Palladius.

«Gedenket Eurer Treue, vieledler König hehr, führt Euch Gott von hinnen», so sprach da Rüdeger, «so lasst es die Tochter nicht entgelten mein! In aller Fürsten Tugend geruhet gnädig ihr zu sein!» «Das wäre ich Euch wohl schuldig», sprach Giselher, das Kind. «Meine edeln Magen, die noch hier innen sind, sollen die durch Euch sterben, so muss geschieden sein die so feste Freundschaft mit Euch und mit dem Weibe mein.»

Palladius kündigt sowohl die Bindung an Edekon als auch an seine

Verlobte auf.

Der Vogt von Bechlaren hin und her da schritt als einer, der mit Kräften im Kampfessturme stritt. Dem tat des Tages Rüdeger in dem Streite gleich; es bewährte sich der Degen muterprobt und ruhmesreich. Dort standen diese beiden, Gunther und Gernot.

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Sie schlugen in dem Streite gar manchen Helden tot. Giselher und Dankwart, denen schuf es wenig Plag, sie brachten manchen Degen bis an seinen jüngsten Tag. Zu scharf waren die Schwerter; es schützte nichts dagegen. Dann schlug dem König Gernot Rüdeger, der Degen, den Helm, den kieselharten, dass niederfloss das Blut. Das vergalt ihm nach Kräften dieser Ritter hühn und gut. Rüdegers Gabe seine Hand schwang hoch. Ob wund er war zum Tode, einen Hieb schlug er doch durch den Schild, den guten, bis auf den Helmbeschlag, davon der Gotelinde, der schönen, Mann nun sterbend lag.

Edekon stirbt offenbar durch die Hand von Petronius Maximus!

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Siebenunddreissigstes Abenteuer

Wie Dietrichs Recken alle erschlagen wurden

Der Jammer allenthalben in solchem Masse schwoll, dass Palas und Türme von den Klagen scholl. Da hörte es auch von Berne einer, der Dietrichs Mann. Bei der gewichtigen Botschaft gar bald zu eilen er begann. Wolfbrand und Helferich und auch Helmnot mit allen ihren Freunden beweinten seinen Tod. Vor Seufzen mochte fragen mehr nicht Hildebrand. Er sprach: «Nun tut ihr Degen, wonach mein Herr euch abgesandt! Gebet uns Rüdeger, den Toten, aus dem Saal, durch den mit Jammer schwanden unsere Freuden all, und lasst uns das vergelten, was er getan an uns mit steter Treue und an so manchem fremden Mann! Wir sind auch Heimatlose wie Rüdeger, der Degen. Warum lasst ihr uns warten? Lasst ihn auf den Wegen uns tragen und im Tode lohnen noch dem Mann. Mit Fug hätten wir das in seinem Leben getan.»

Die Ostgoten sind wie die Skiren als heimatlose Vertriebene

(«Elende») nach Pannonien gelangt. Weder König Thiudimer, Kaiser Valentinian III. noch Petronius Maximus halten sich persönlich in Pannonien auf. Edekon hat als Fürst von Pannonien und Beschützer der Ostgoten eine machtvolle Sonderstellung erreicht. Der ostgotische Feldherr Hildebrand verlangt für Thiudimer und seine Leute die Herausgabe von Edekons Leichnam, der den Hunnen nur gezeigt, aber nicht übergeben worden ist.

Gunther, der vielkühne, mit williger Hand empfing die hehren Helden aus Amelungenland. Giselher, der starke, der lichten Helme gut schuf er, dass so manche wurden rot und nass von Blut. Dankwart, Hagens Bruder, war ein grimmiger Mann. Was er zuvor hatte im Streite getan den Recken König Etzels, das war nur ein Wind.

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Nun erst begann tobend zu fechten König Adrians Kind. Gerbart und Wichard, Helferich und Rischard, die hatten in manchen Stürmen gar selten die Kraft gespart. Das musste wohl erkennen, wer Gunthers Mann. Da sah man den Wolfbrand im Sturme herrlich gehn voran. Da stritt in seiner Kampfwut der alte Hildebrand. Mancher kühne Recke von Wolfharts Hand musste sterbend fallen vom Schwerte in das Blut. Den Rüdeger rächten diese Recken kühn und gut. Sigesstab von Berne, wie seine Kraft ihn trieb, hei, was er in dem Kampfe die harten Helme zerrieb seinen kühnen Feinden. Dietrichs Schwestersohn erwarb in dem Kampfe da den allerbesten Lohn. Volker, der vielstarke, als er das erkannt, dass aus harten Ringen da Sigesstabs Hand hieb den Strom des Blutes, fasste den Degen Zorn. Ihm entgegen sprang er; da hatte Sigesstab verlorn an Volker, den Fiedler, alsobald das Leben. Der begann von seinen Künsten ihm solche darzugeben, dass er von Volkers Schwerte musste liegen tot. Hildebrand das rächte, wie seine Kraft es ihm gebot. «Weh, um den lieben Helden», sprach Meister Hildebrand, «der hier gefallen liegt von Volkers Hand. Des soll dieser Fiedler sich länger nicht erfreun.» Hildebrands Zürnen konnte grimmiger nicht sein. Darauf schlug er Volker, dass des Helmes Band stob allenthalben an des Saales Wand vom Helm und auch vom Schilde dem vielkühnen Mann, wodurch da der Fiedler nun sein Ende rasch gewann.

Der ostgotische Feldherr Hildebrand tötet also Sangibanus, den

Fürsten der Alanen, deren Stammesgebiet in Gallien liegt.

Wolfhart gegen Giselher sich wandte in den Streit. Da schlug ihrer jeder so manche Wunde weit. Mit allen seinen Kräften er zu dem König drang, dass von seinen Füssen über das Haupt das Blut ihm sprang.

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Mit grimmen, schnellen Schlägen der edeln Ute Kind, gar bitterlich empfing er den kühnen Recken geschwind. Wie kühn auch Wolfhart wäre, er konnte nicht gedeihn vor dem jungen König: niemand konnte kühner sein. Da schlug er den Wolfhart durch die Brünne gut, dass ihm aus der Wunde strömend floss das Blut. Er verwundete zum Tode Dietrichs Untertan. Es hatte an einem Recken niemand solch ein Werk getan. Sobald der kühne Wolfhart die Wunde empfand, liess seinen Schild er fallen. Höher seine Hand schwang die starke Waffe; die war scharf genug. Durch Helm und durch Ringe der Held Giselher da schlug. Beide hatten den grimmen Tod sich angetan. Keiner mehr da lebte, der König Dietrichs Mann. Nur Hildebrand alleine, der den Neffen fallen sah. Mich dünkt, vor seinem Tode solch ein Leid ihm nie geschah. Da waren alle gefallen König Gunthers Degen bis auf die zwei alleine: er sowie Hagen. Sie standen in dem Blute bis an die Knie tief. Hildebrand gar eilend hin zu seinem Neffen lief.

Die Schlacht am Fluss Nedao ist vorbei! Auf römischer Seite hat einzig

Flavius Aëtius überlebt! Doch seine Tage sind gezählt! Auch auf ostgotischer Seite sind die Verluste schrecklich; nur Hildebrand ist noch am Leben! Merowech, der König der Franken, und sein Sohn Childerich, Ellac, der Fürst der Hunnen, Sangibanus, der Fürst der Alanen, Ardarich, der Fürst der Gepiden, Edekon, der Fürst der Skiren, sie alle sterben in der furchtbaren Schlacht am Fluss Nedao! Aber was ist mit Gernot, alias Petronius Maximus, und Dankwart, alias Syagrius? Ihr vermeintlicher Tod und ihre Todesart werden auf einmal nicht mehr erwähnt, obwohl das Nibelungenlied sonst jedes Detail minutiös schildert! Und wieder stimmt das Nibelungenlied mit der Geschichte überein: Petronius Maximus besteigt nämlich im Jahr 455 als Kaiser den weströmischen Thron, und Syagrius erhält die gleichen Machtbefugnisse in Gallien wie sein ermordeter Bruder Flavius Aëtius!

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Achtunddreissigstes Abenteuer

Wie Dietrich Gunther und Hagen bezwang

Da suchte der Herr Dietrich selber sein Gewand. Da half ihm, sich zu waffnen, Meister Hildebrand. Also sehr da klagte der kräftige Mann, dass das Haus zu dröhnen von seiner Stimme begann. Das wusste wohl Herr Dietrich, dass der kühne Mann grimmen Mutes wäre; zu schirmen sich begann der König von Berne vor gefährlichen Schlägen. Wohl erkannte er Hagen: das war ein auserwählter Degen. Auch scheute er Balmung, die Waffe stark genug. Dietrich derweilen mit List darwiderschlug, bis dass er Hagen im Kampfe doch bezwang. Er schlug ihm eine Wunde; die war tief und auch lang. Da dachte der Herr Dietrich: du bist erschöpft in Not. Mir bringt es wenig Ehre, sollst du hier liegen tot. Ich will es versuchen, ob ich zwingen kann dich mir zum Geisel. Das wurde sorglich getan. Den Schild liess fallen Dietrich. Seine Kraft war gross. Mit seinen beiden Armen Hagen er umschloss. Da ward von ihm bezwungen der vielkühne Mann. Gunther, der edle, darum zu trauern begann. Dietrich band da Hagen und führte ihn, wo er fand die edle Kriemhilde und gab ihr in die Hand den allerkühnsten Recken, der je ein Schwert trug. Nach ihrem schweren Leide ward ihr Freude da genug. So sehr man König Dietrich seit langem auch gelobt, Gunther in seinem Grimme so zornig hat getobt; er war nach schwerem Leide von Herzen feind dem Mann. Man nannte es ein Wunder, dass da Dietrich doch gewann. Ihre Kraft und Stärke waren beide gross. Mit Palas scholl und Türmen von den Schlägen das Schloss, da sie mit Schwertern hieben auf die Helme gut. Der König Gunther hatte einen gar herrlichen Mut.

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Doch zwang ihn der von Berne, wie es Hagen auch geschah. Das Blut man auf die Ringe des Helden fliessen sah von dem scharfen Schwerte des Herren Dietrich. Ob auch schwer ermattet, hatte Gunther bewährt gar ruhmreich sich. Der Herr ward gefesselt da von Dietrichs Hand, wie nie Könige sollten erleiden solch ein Band. Er dachte, wenn er liesse sie ungebunden sein, die beiden in dem Lande liessen niemand mehr gedeihn.

Ich glaube nun zu erkennen, dass es dem Nibelungenlied um die

Mythifizierung historischer Persönlichkeiten und ihres Auftretens geht. Was ich mit Erstaunen feststellen kann: das Nibelungenlied hält sich mit einer grossen Genauigkeit an die Chronologie, wenn man einmal von dem Sagenkreis um Dietrich von Bern absieht, der erst vierzig Jahre später in den Lichtkreis der Historie eintritt!

Was macht eigentlich Justa Grata Honoria? Nach 452 fehlen von ihr weitere Nachrichten. Dass sie nach Byzanz abgeschoben worden ist und dort einige Zeit verbringt, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder nach Ravenna zurückzukehren, scheint gesichert. Noch 443 wird Justa in Inschriften als Augusta geehrt, und dazu passen Münzlegenden, die dies bestätigen. Ein Merobaudes feiert sie um die gleiche Zeit als die Gehilfin ihres Bruders, dem sie zur Seite stehe.

Verfolgen wir nun auch das Schicksal der übriggebliebenen Dramatis Personae Hagen von Tronje, alias Flavius Aëtius, und König Gunther, alias Kaiser Valentinian III.! Als Königinmutter Ute, alias Galla Placidia, die Mutter von Valentinian und Justa, im Jahre 450 stirbt, steht es Valentinian III. frei, seine Irrtümer allein zu begehen. Die Geschichtsschreiber nennen als Drahtzieher Petronius Maximus, alias Gernot, der Valentinian III. anstiftet, den 454 aus der Schlacht in Pannonien zurückgekehrten Feldherrn Flavius Aëtius zu ermorden. Petronius Maximus will seinen Sohn Palladius mit Valentinians Tochter Eudocia vermählen und kommt damit Flavius Aëtius in die Quere, der wiederum seinen Sohn Carpilio mit Eudocia vermählen will. Und hier mache ich eine interessante Entdeckung: Auch der Vandalenkönig Geiserich will seinen Sohn Hunerich mit der begehrten Prinzessin Eudocia vermählen! Drei Väter schlagen sich also die Schädel ein, um ihre Söhne unter die Haube zu bringen! Die Geschichtsschreiber berichten, dass Valentinian in einem Anfall wahnsinnigen Ärgers Aëtius zu sich ruft und ihn mit eigener Hand erschlägt. Der vermeintliche Grund kann hier bezweifelt werden. Wohl ist eher die furchtbare römische Niederlage am Fluss Nedao im gleichen Jahr als Grund zu vermuten. Wenige Monate später, im Jahr 455, stiftet Petronius Maximus zwei

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Anhänger von Aëtius zum Mord an Kaiser Valentinian III. an und wählt sich selbst auf den Thron. Welche Rolle Justa Grata Honoria in diesem Drama spielt, kann nur vermutet werden, und das Nibelungenlied bringt uns vielleicht auf die richtige Spur. Nach der Thronbesteigung zwingt Petronius Maximus die Witwe Licinia Eudoxia, alias Brunhild, ihn zu ehelichen und hält die Prinzessin Eudocia an, seinen Sohn Palladius zum Gatten zu nehmen. Licinia Eudocia ruft den Vandalenkönig Geiserich um Hilfe, der noch im gleichen Jahr in See sticht, an der Küste Italiens an Land geht und auf Rom marschiert, das er verheert. Jetzt kann Geiserich seinen Sohn, den späteren König von Karthago, mit der römischen Prinzessin Eudocia verheiraten!

Ich bringe es zu Ende, dachte das edle Weib. Sie liess heissen ihrem Bruder nehmen Leben und Leib. Man schlug ihm das Haupt ab; an den Haaren sie es trug vor den Helden von Tronje. Dies schuf ihm Leides genug. Als voll Unmut Hagen seines Herren Haupt nun sah, wider Kriemhilde der Recke sagte da: «Du hast es jetzt zu Ende nach deinem Willen gebracht. Es ist recht ergangen, wie ich mirs hatte gedacht. Nun ist von Burgunden der edle König tot, Giselher und Volker, Dankwart und Gernot. Den Hort, den weiss nun niemand als Gott und ich allein. Dir Teufelin soll er immer wohl verborgen sein.» Sie sprach: «So habt Ihr üble Vergeltung mir gewährt. So will ich doch behalten meines Sigfrids Schwert; er trug mein treuer Friedel, da Ihr ihn schluget tot mörderisch in Untreu», sprach das Weib in Jammers Not. Sie zog es aus der Scheide; er konnt es ihr nicht wehren. Dann dachte sie, dem Recken das Leben zu versehren. Sie hob es mit ihren Armen; das Haupt sie ab ihm schlug. Das sah der König Etzel; es war ihm Leides genug. Hildebrand im Zorne auf Kriemhilde sprang. Auf die Königin grimmig sein Schwert er da schwang. Schuf ihr die Sorge höchste Todespein, ihr mochte wenig helfen ihr angstvolles Schrein. Da war gelegen aller der Todgeweihten Leib. In Stücke lag zerhauen da das edle Weib.

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Etzel sowie Dietrich zu weinen da begann. Jammervoll sie klagten um jeden Magen und Mann. Die Blüte der Helden war da gelegen tot. Die Leute fühlten alle Jammer und Not. Mit Leid war beendet des Königs Festlichkeit, wie die Freude gerne am Ende sich wandelt in Leid. Ich kann euch nicht bescheiden, was später nun geschah. Die Christen und die Heiden man weinen da sah, Weiber und Knechte und manche schöne Maid. Die trugen um ihre Freunde das allergrösseste Leid. Ich sage euch nicht weiter von der grossen Not - die da erschlagen waren, die lasset liegen tot -, was das Geschick den Hunnen fürderhin beschied. Hier hat die Mär ein Ende. Das ist der Nibelunge Lied.