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Schwarzes Kleeblatt #15

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Die 15. Ausgabe der anarchosyndikalistischen Zeitschrift.

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Schule als Schicksal -Bildung ist keine Einbahnstraße ~ S. 8

Wie bitte? Alkoholfreies Bier? -Ein Meinungsbild zum Alkoholkonsum ~ S. 4

Aufs Kreuz gelegt-Parlamentarismus und Alternativen ~ S. 6

Schwarzes

Kleeblatt~ Ausgabe 15 ~

~Juli/August/September 2013 ~

A n a r c h o s y n d i k a l i s t i s c h e Z e i t s c h r i f t

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Editorial

Einanarchosyndikalistisches

Potpourri* * * *

Wer diese Zeitung einmal durchblättert, wird schnell feststellen, dass des Öfteren drei Buchstaben auftauchen:A, S und J. Dies liegt weniger daran, dass wir dieses Mal eine Schwerpunktausgabe über die Arbeiter-Samariter-Jugend herausgegeben haben, als vielmehr daran, dass wir ein Stück von uns selbst zum Thema gemacht haben:Unsere Struktur. Die Ursprungsidee war, eine „Bunte Ausgabe“ zu entwerfen und die einzelnen Arbeitsgruppender ASJ aufzurufen jeweils einen Artikel beizusteuern, in dem sie über etwas schreiben, dass ihnen am Herzen

liegt und ihre Arbeit betrifft.

Zugegeben, auch für uns klingt das im Nachhinein nach einem ganz schön selbstbezogenen Programm. Dochherausgekommen ist letztendlich ein Sammelsurium an spannenden Themen: Pünktlich zum “Super”-Wahljahr2013 stellt sich euch eine neue Kampagne vor – „Aufs Kreuz gelegt!“ heißt sie und in ihrem genauso betiteltenArtikel werden euch gute Gründe gegen Parlamentarismus vorgeführt. Gleich, tut es ihr die Jung-und-Bil l ig

Kampagne und zwar mit einem Artikel in Bezug aufihre neu erschienene Broschüre. Unsere Veranstaltungs-AGhat hingegen den Alkoholkonsum in der linken Subkultur unter die Lupe genommen, lest selbst! Die Bildungs-AGwiederum, versucht sich an einer Standortbestimmung der Bildungsbewegung. Zusammen mit der LSV hat sieübrigens mittlerweile ein eigenes Zeitungsprojekt am Start: Das sogenannte „Black Brain“. Nicht zu Letzt seinoch der Artikel des Bündnis „Niemand ist vergessen!“ empfohlen, in dem der Polemik von Medien und Politikgegen Erwerbslose aufden Grund gegangen wird. Die Artikel haben wir jeweils ergänzt mit einem kleinen

Kasten, der euch ein paar Hindergrundinfos zu AG, Kampagne oder Bündnis liefern soll.

Hier ließe sich nun ein Punkt machen, wäre da nicht noch das Schwarze Kleeblatt selbst: Wir, die Redaktion,haben derweil ein wenig herumgesponnen, uns die Sterne angeschaut und diskutiert, wie wir die Entwicklungdes Schwarzen Kleeblatts weiter vorantreiben können. Um uns Raum für Veränderungen zu schaffen, haben wirmit dieser Ausgabe daher den Erscheinungs-Rhythmus des Schwarzen Kleeblatts erstmal verlangsamt. Solltet

ihr schon immer den sehnlichsten Wunsch gehegt haben, in der Redaktion des Schwarzen Kleeblattsmitzuwirken, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt! Schreibt uns doch unter: schwarzeskleeblatt[ät] riseup.net.

Solltet ihr noch mehr darüber erfahren wollen, wie sich dieses Potpourri an AGs, Bündnissen und Kampagnen,das sich ASJ schimpft, zueinander verhält, dann schaut doch aufunseren Blog: asjberlin.blogsport.de. Dortfindet ihr einen Reiter, der näheres zu unserer AG-Struktur bereithält. Sollte der unwahrscheinliche Fall

eintreten, dass ihr nach dieser Lektüre den Mund immer noch nicht voll genug von uns habt, dann schaut dochbei der BAIZ (Christinenstr. 1 / Ecke Torstr.) vorbei, der Kultur- und Schankwirtschaft unserer Wahl. Im

Hinterzimmer findet ihr eine kleine Ausstellung, die von den AGs gestaltet wurde und für euch Impressionen ausvier Jahren ASJ bereithält.

Was bleibt, ist euch nun noch viel Spaß beim Lesen zu wünschen und den AutorInnen vielen Dank!

Die Redaktion des Schwarzen Kleeblatts

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ASJ Gruppen* * * *

[email protected]

[email protected]

[email protected]

[email protected]

Herne/[email protected]

[email protected]

[email protected]

Siegburgl [email protected]

[email protected]

Die Anarchosyndikalistische Jugend Berlin verstehtsich als Kultur- und Kampforganisation nach Selbst-verwaltung strebender Jugendlicher. Ziel ist es, diegesellschaftliche Selbstverwaltung in allen Lebensbe-reichen umzusetzen, um so letztendlich eine Gesell-schaft ohne Herrschaft des Menschen über denMenschen zu verwirklichen. Ihre Mitglieder setzen sichzusammen aus SchülerInnen, Studierenden, Auszubil-denden und jungen Menschen mit und ohne Arbeit. Inunserer alltäglichen Arbeit organisieren wir sowohlkulturelle Veranstaltungen wie z.B. Lesungen, Info-und Diskussionsabende, Filmvorführungen, Konzerteund Partys, aber auch unsere eigenen Bedürfnisse z.B.in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz, etc. DieMittel zur Durchsetzung unserer Bedürfnisse wählen

wir selbst und gemeinsam. Dabei können Demonstra-tionen, Kundgebungen und Veranstaltungen, aberauch direkte Aktionen wie Blockaden, Streiks und Be-setzungen eine Rolle spielen. Es erscheint uns alssinnvoll und notwendig alltägliche politische, sozialeund ökonomische Kämpfe mit unseren herrschafts-freien Ideen und Anschauungen zu verknüpfen. WennDu also deine Interessen und Bedürfnisse nicht mehranderen überlassen, sondern selbst handeln willst,komm zu uns! Lass uns kreativ daran arbeiten und ge-meinsam und solidarisch Lösungen finden.

Wir treffen uns jeden 1., 3. und 5. Dienstag desMonats um 18.00 Uhr im FAU-Lokal Lottumstraße11 (U Rosa-Luxemburg-Platz/ U Rosenthaler Platz) .

AS... What?* * * *

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Wer kennt das nicht: ein Bierchen in der Lieblingskneipe,

bei netter Gesellschaft und guter Musik. Aus einem werden

zwei, dann drei, vielleicht fünf. Und zwischendurch ein

Schnaps. Die Zunge wird locker, die Stimmung aufgeheizt

und die Themen brisant: Der ideale Nährboden für eine ge-

pflegte Diskussion. Nicht selten findet hierbei ein politi-

scher Austausch statt, Thesen werden kritisch unter die

Lupe genommen und kreative Gedankengänge geteilt. Doch

die Diskussion kann auch ausarten, der Alkohol schränkt

die Streitenden in ihrer Rationalität und Urteilskraft ein.

Ist Schnaps der Feind?!

Anders als heute trafen sich organisierte Arbeiter früherhäufiger in der Kneipe oder den Hinterzimmern von Wirts-häuser als in Gewerkschaftsräumen. Die Einstellung zu Al-kohol war im 19. Jahrhundert noch nicht so stark vongesundheitlichen Aspekten, Arbeitsschutz und Genuss ge-prägt. ArbeiterInnen tranken auf Arbeit nicht heimlich, son-dern wurden dazu angehalten. Oft wurden sogar Teile desLohns in Schnaps ausgezahlt, der harte Alkohol “half” dieWarnsignale des Körpers in Bezug auf Hitze, Kälte oderÜberanstrengung nach 15-Stunden-Arbeitstagen zu ignorie-ren. Elendsalkoholismus ist der Begriff, der diese Zeit um-schreibt: Nicht nur, dass Alkohol ein sicheresVerhütungsmittel gegen Streiks und gewerkschaftliche Or-ganisation war, er betäubt auch das Zeitgefühl, macht dieArbeiter gefügig und schlägt sich auf die Gesundheit nieder.Eine proletarische Kneipenkultur entstand mit der Verringe-rung der täglichen Arbeitsstunden und dadurch frei wer-dender Zeit, sowie einer schrittweisen Durchsetzung vonBier statt Schnaps mit steigender Qualität des Bieres. Knei-pen waren Versammlungs- und Kommunikationsort: Dasproletarische Wohnzimmer, da die Wohnungen früher oftnur ein Zimmer hatten. Außerdem konnten so auch unpoliti-sche Arbeiter, die für ihr Feierabendbier da waren, in politi-

sche Debatten und Diskussionen mit einbezogen werden.Allerdings war diese Kultur eine Männerkultur: Das bürger-liche Familienideal wurde vom Proletariat übernommen,wobei die Männer im öffentlichen Leben, die Frauen imhäuslichen Bereich tätig waren – die Klassenspaltung voll-zog sich entlang der Geschlechtergrenze. Frauen hatten inKneipen nichts zu suchen. Die Männer hatten höhere Löh-ne, konnten per Gesetz über das Familieneinkommen ent-scheiden und flüchteten aus dem häuslichen Elend in dieKneipe, während die Frauen den Haushalt be- und die Kin-der versorgten.Die soziale, solidarische Bewegung wurde durch die Sozia-listengesetze, die von 1878 bis 1890 alle sozialistischen undsozialdemokratischen Aktivitäten verboten, zwar nicht zer-schlagen, sondern konnte weiterhin in den Hinterzimmernstattfinden, bestehen bleibt jedoch die Kritik an der Klas-senspaltung.

Also Bier statt Schnaps?

Zur heutigen Zeit findet die politische Arbeit in der Regelnicht mehr in Kneipen statt, sondern in Büros, Lokalen oderanderen Räumlichkeiten, die zum Beispiel von Hausprojek-ten zur Verfügung gestellt werden. Aus Gründen wie derEinschränkung des rationalen Denkens und der Senkungder Hemmschwelle bei Konflikten gibt es sogar Gruppen,die den Konsum von Alkohol und anderen Rauschmittelnvöllig von ihren Plena verbannen. Auch auf Demonstratio-nen ist die Bierflasche zumeist eine nicht gern geseheneBegleiterin. Doch das nicht etwa, weil die brave Bevölke-rung sie für ein Wurfgeschoss halten könnte, welches “derlinke Extremist” ja bekanntlich immer bei sich trägt, son-dern weil Wahrnehmungsvermögen, Reaktionsgeschwindig-keit und Einschätzungsvermögen sehr unter dembewusstseinsverändernden Getränk leiden und Gefahrenpo-tentiale einfach unterschätzt werden. darüber hinaus kann

E i n Me i nungsb i l d zum Al koho l konsum

„Alkoholfreies Bier!?!Das ist doch konterrevolutionär…“

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Gewaltbereitschaft durch Alkoholkonsum geschürt werden.Doch nicht nur im Moment des Konsumierens, sondernauch bspw. am nächsten Morgen kann Alkohol die politischeArbeit beeinträchtigen. Auch der Anarchist und Aktivist Lu-cio Uturbia ruft zum bewussten Konsum auf. Er zieht auf-grund seines spektakulären Lebens viele jungeGenossInnen zu seinen Vorträgen. Von seinen ZuhörerInnenfordert er „Weniger trinken, weniger Drogen nehmen, tutlieber was! “ und appelliert damit an die Fähigkeit des kla-ren Denkens bei der Planung und Ausführung direkter Ak-tionen. Ähnliche Motivationen, die zur Entsagung vonAlkohol und anderen Rauschmitteln führen, findet manauch in der Straight-Edge-Szene (weiterführende Literatursiehe unten).

“Wenn schon Krone, dann mit Korken”

Obwohl es augenscheinlich ausreichend Beweggründe gibt,Politik und Alkohol weitesgehend voneinander zu trennen,lässt sich die ausgeprägte Kneipenkultur der (Berliner) lin-ken Szene nicht leugnen. Sie verteilt sich auf eine nicht zuverachtende Anzahl von Einrichtungen. Und da die politi-sche Organisation ebenso anstrengend ist wie andere For-men der Beschäftigung und auch im linken Spektrum derWunsch besteht, hin und wieder aus dem grauen Alltag zufliehen, setzt man sich nach geleisteter Arbeit gerne zu ei-nem Feierabendbierchen zusammen. Ob in Kneipen, Keller-räumen oder beim Tresen im benachbarten Hausprojekt,die Rahmenbedingungen sind immer gleich: das Bier ist be-zahlbar und die Menschen sind (im besten Fall) tolerant undsolidarisch. Wer sich rassistisch, sexistisch, homophob oderin irgendeiner anderen Form intolerant gegenüber seinenMitmenschen verhält, fliegt raus! Und deshalb sind dieseOrte häufig Dreh- und Angelpunkt fürs Sozialleben undTreffpunkt für Gleichgesinnte. Beim Genuss von Alkohol(aber natürlich auch ohne) kann hier gequatscht und disku-tiert werden, aber auch der Frust des Alltags wird betäubtund die Missstände dieser Gesellschaft rücken für kurzeZeit in den Hintergrund. Und genau das macht das Trinkenso reizvoll.

Weiterführende Literatur:

- Ralf Hoffrogge: “Sozialismus und Arbeiterbewegung” (aus

der Reihe theorie.org)

- Gabriel Kuhn: “Straight Edge – Geschichte und Politik ei-

ner Bewegung” (unrast-Verlag)

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Veranstaltungs AG

Die Veranstaltungs-AG organisiert den regelmäßigen Tresen(jeden dritten Samstag in der Lunte, Neukölln), sowie ande-re Kultur- und Informationsveranstaltungen der ASJ Berlin.Sie arbeitet dabei teils eng mit anderen AGs, anderen Grup-pen und der VV zusammen.Die AG trifft sich jeden 1 . und 3. Donnerstag im Monat um18 Uhr im FAU Lokal (Lottumstr. 1 1 ) (im Juli und August fal-len sowohl die Treffen als auch die Tresen aufgrund desSommerlochs aus)

SK

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Parl amenta ri smus und Al ternat i ven

„Aufs Kreuz gelegt“ ist eine neue Kampagne der Anarcho-

syndikalistischen Jugend (ASJ), die in der Wahlkampfzeit

zur Bundestagswahl 201 3 ihren Anfang nehmen wird. Mit

dieser Kampagne wollen wir die Gesellschaft über Kritik am

Parlamentarismus und mögliche Alternativen aufklären.

Warum eine Kampagne?

Wir halten dieses Thema bisher für zu wenig beachtet, ha-ben doch die Entscheidungen, die im Parlamentarismus ge-troffen oder nicht getroffen werden konkrete Auswirkungenauf Mensch und Umwelt. Bedeutend ist dabei die Weige-rung des Parlamentarismus die gravierendsten Problemeunserer Gesellschaft zu lösen (z.B. Umweltzerstörung, Res-sourcenverknappung, soziale Ungerechtigkeit). Trotz deranhaltenden Verschärfung dieser Probleme, entscheidensich die Parlamente bestenfalls nur für Symptombekämp-fung anstatt konsequent die grundlegenden Ursachen derProbleme anzugehen. Das kann sich unsere Gesellschaft je-doch auf Dauer nicht leisten. Anstatt der Unannehmlichkeitvon Veränderungen einen begrenzten Preis zuzuordnen,könnten wir durch die Weigerung zur Veränderung sogareinen weitaus höheren Preis bezahlen. Beispielsweise stei-gen jedes Jahr die Hochwasserpegel durch Begradigung derFlüsse, selbstgemachte Erosion und Versiegelung von Bö-den, dadurch entstehen jedes Jahr Kosten und Opfer durchÜberschwemmungen, anstatt nun dem Wasser wieder mehrRaum und Möglichkeiten zum Versickern zu geben, ist dievorherrschende Lösung der Politik mit viel Aufwand immergrößere Deiche zu bauen, was aber dazu führt, dass geradedie Gebiete die gerade im Deichbau vernachlässigt wurdendie nächsten Opfer sind.

Wo bleibt der “Change”, Obama?

Wir denken nicht, dass dieser Stillstand auf „böse“ Politike-rInnen zurückzuführen ist, die man einfach nur gegen „gu-te“ PolitikerInnen austauschen müsste, damit die dann füruns die „richtigen“ Entscheidungen treffen. Vielmehr haben

die vielen systematischen Prozesse im Parlamentarismus(z.B. die Tendenz, dass in jeder Parteienorganisation sichständige Führungskräfte und Hierarchien herausbilden, diedie Basis um der Macht willen verraten) mit dem Ursache-Wirkung-Prinzip dafür gesorgt, dass die Zustände so sindwie sie sind und auch immer wieder so reproduziert wer-den.

Fremdbestimmung überall!

Parlamentarismus hat sich weltweit durchgesetzt. Heutzu-tage hat nahezu jeder Staat ein mehr oder weniger ausge-prägtes parlamentarisches System. Unterschiede bestehengrößtenteils nur darin, wie viel Macht dem Staatsoberhaupt(PräsidentIn oder MonarchIn) zugestanden wird. Wichtigs-tes Merkmal ist, dass die Gesellschaft regelmäßig in allge-meinen Wahlen StellvertreterInnen wählt, die in einemParlament zusammenkommen um wiederum eine Regierungzu wählen. Regierung bedeutet unter anderem, Entschei-dungen über die Köpfe anderer hinweg treffen und durch-führen zu können, deren Folgen von ganz anderenMenschen getragen werden müssen. Die wirkliche Errun-genschaft des Parlamentarismus besteht jedoch darin, esermöglicht zu haben, eine Regierung auf friedlichem Wegdurch Wahlen loszuwerden und durch eine andere zu erset-zen, die zumindest der größten Wählergruppe weniger un-angenehm erscheint. Als Gewinn erscheint dieseErrungenschaft nur, wenn wir sie mit Systemen verglei-chen, in denen die Einsetzung ins Amt auf Vererbung, Koop-tation (Führung wählt NachfolgerIn aus “Ihresgleichen”aus) oder militärische Gewalt beruht. Nur weil die bekann-ten Alternativen so widerwärtig sind, erfreut sich der Parla-mentarismus so großer Loyalität. Wenn wir nun darübernachdenken, welche Unsummen von Geld und welche Opferan Zeit der Parlamentarismus verschlingt, und damit die Er-folge vergleichen, die so überaus gering sind, dann kommenwir zu der Einsicht, dass hier ein klaffendes Missverhältnisvorhanden ist. Auch ist die Zusammensetzung der Parla-mente überall eine derartige, das diejenigen Mächte, wel-

Aufs Kreuz gelegt!6

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che an der Erhaltung des bestehenden Zustandes, interes-siert sind, auf ihrer Rechnung kommen und höchstens nurganz geringfügige Änderungen zugelassen werden.

Also selbst an die Macht?

Es gehört deshalb schon ein außerordentlicher Optimismusdazu, zu hoffen, dass durch den Parlamentarismus einesichtbare Verbesserung der Lebensverhältnisse herbeige-führt werden könnte. Geradezu utopisch ist es da, an einevöllige Umgestaltung der Gesellschaft durch parlamentari-sche Mittel zu denken. Selbst angenommen, es gelängewirklich, dass eine fortschrittliche Bewegung die parlamen-tarische Mehrheit erringt, was wäre denn damit gewonnen?Eine Reform auf politischer Basis wird scheitern, wenn dieGesellschaft noch nicht selber durch Organisation dieGrundlage für ihren Erfolg geschaffen hat. Beispielsweiseliegt der Schwerpunkt der kapitalistischen Macht dochnicht in den politischen, sondern in den wirtschaftlichenMöglichkeiten. Wenn der Politikstil aber nicht mehr auf daseigene noch kapitalistische Wirt-schaftssystem ausgerichtet ist,dann bricht die Wirtschaft zu-sammen, weil in der Abhängig-keit einer globalisiertenWirtschaft der Konkurrenz nichtmehr widerstanden werdenkann. Deshalb muss die Gesell-schaft vorher die Grundlage fürein anderes Wirtschaftssystemorganisiert haben. Außerdemwird eine Regierung schnellhandlungsunfähig, wenn ihrzwangsläufig der Geldhahndurch eine zusammenbrechendeWirtschaft und dem Boykott desinternationalen Kapitals abge-dreht wird, denn je umfangrei-cher die Reform, desto höher dieKosten. So mussten reihenweisesogenannte “linke” Regierungen vor der Macht des kapita-listischen Weltmarktes kapitulieren, da der “antikapitalisti-sche” Politikstil ihre Wirtschaft derart zerstört hatte, dassdie Gesellschaft unzufrieden wurde und eine andere Politikforderte.

Auf Reformen warten?

Wichtige parlamentarische Reformen kommen immer erstdann, wenn das dringende Bedürfnis für gewisse Verbesse-rungen breite Massen erfasst hat, sich in Aktionen umsetztund die allgemeine Unzufriedenheit endlich einen solchenGrad erreicht, dass die Regierenden, aus Angst vor Macht-verlust, sich dazu entschließen, den Forderungen der Ge-sellschaft durch Reformen soweit entgegenzukommen, dassdie Unzufriedenheit ausreichend beschwichtigt ist und da-mit kein Machtwechsel mehr möglich ist.

Entpolitisierung der Gesellschaft

Durch das Vertretungssystem geht alle Initiative bei Einzel-nen verloren. Anstatt sich mit anderen zu organisieren umgemeinsam Probleme zu lösen wird alle Hoffnung auf ge-

wählte oder selbsternannte VertreterInnengesetzt. Impulsives entschlossenes Handelnhaben sich die meisten ganz und das Selber-denken fast ganz abgewöhnt. Stattdessen kon-sumiert die Gesellschaft durch die Massenmedien dieMeinungen der etablierten Parteien und das Kreuz auf demStimmzettel wird als die Lösung unserer Probleme hochsti-lisiert.

Ist meine Stimme aussagekräftig?

Wie können wir eine Meinung überhaupt mit dem Stimm-zettel ausdrücken? Meine Stimme für statt gegen eine Par-tei / ein Gesetz sagt doch nichts darüber aus, wie stark oderwarum ich dafür eintrete. Der Wert, den das Ganze für michbesitzt, der Preis, den ich dafür zu zahlen bereit bin, nichtsdavon drückt sich in meinem Stimmzettel aus. Außerdemkann eine Mehrheit, die aus recht schwachen Gründen füreine Partei / ein Gesetz stimmt, eine beinah ebenso großeMinderheit überstimmen, die das ganz entschieden ablehnt.

Darüber hinaus geht es bei Ab-stimmungen gewöhnlich um gan-ze Vorhabenpakete, die alsGesamtheit geschluckt oder zu-rückgewiesen werden müssen, sodass wir, wie auch immer wir unsentscheiden, viele unserer Wün-sche verraten.

Aussichten

Obwohl immer mehr Menschendem Parlamentarismus ihre Legi-timation verweigern und nichtzur Wahl gehen, ist dies zumeistnicht auf eine dezidierte Kritikam Parlamentarismus zurückzu-führen. Warum dieser Vertrau-ensverlust dennoch mitsystematischen Prozessen im Par-

lamentarismus verbunden ist, darüber wollen wir mit unse-rer Kampagne aufklären. Da wir jedoch nicht nur Kritiküben möchten, beschäftigt sich die Kampagne auch mit viel-versprechenden alternativen Entscheidungssystemen, dieeines Tages in der Lage sein müssen den Parlamentarismuszu ersetzen. Perspektivisch sollen die Inhalte weiterentwi-ckelt und den Parteien eine ernstzunehmende Kampagnegegenübergestellt werden. Außerdem dürft ihr euch zurBundestagswahl 2013 auf eine Broschüre und Aktionen vonuns freuen.

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Anti-Wahl AG

Die Anti Wahl AG setzt sich kritisch mit dem System derparlamentarischen Demokratie auseinander. Wir wollenMisstände an den bestehenden Entscheidungsprozessen un-serer Gesellschaft aufzeigen und über Alternativen aufklä-ren.Wenn du Anregungen oder Interesse hast, bei uns mitzuma-chen, dann schreib uns unter [email protected].

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Alles bleibt gleich

Das deutsche Schulsystem hat sich seit Jahrzehnten kaumverändert. Trotz vielfältiger Parteiprogramme, Reformen,Demonstrationen, trotz Streiks und Besetzungen, ja trotz al-ledem müssen wir, wenn wir heute mit unseren Eltern, mitLehrerInnen oder älteren GenossInnen reden, feststellen:Die Probleme von SchülerInnen waren eh und je dieselben.Diese aufzuzählen ist inzwischen zum Klassiker der Bil-dungsbewegung avanciert: Stress, überfüllte Klassen, auto-

ritäre Lehrkräfte, ein nicht-ansprechender Stoff sind nureinige Punkte, die zu nennen wären. Es gibt wohl kaum je-manden, der/die dieser Auflistung nicht beipflichten würde.Doch ihr Ende ist noch gar nicht erreicht, denn soziale Pro-bleme gehören genauso angesprochen. Besonders Kindernund Jugendlichen aus ärmeren Verhältnissen fällt es schwer,den Bildungsweg über Gymnasium und Universität zu fin-den. Häufig werden sie mit Vorurteilen konfrontiert oderkönnen von ihren Eltern schlichtweg nicht genug unter-stützt werden.

Schule als Schicksal?

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Bi l d ung i st ke i ne E i nbahnstraße

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Das kommt dir bekannt vor? Klar, denn das ist auch nichtsNeues, im Gegenteil, es sind Probleme, die es seit Bestehender BRD gibt und schon immer die Politik überforderten.Als AnarchistInnen möchten wir aber nicht nur die häufigeForderung „mehr Geld für Bildung“ stellen, sondern auchdie Frage nach der Notwendigkeit von Bewertung, vorge-schriebenem Unterrichtsinhalt, ja sogar von Lehrkräften inihrer heutigen Form aufwerfen. Ist es nicht sinnvoll, mitdem ewigen ökonomischen Wettbewerb auch den Wettbe-werb im Bildungswesen abzuschaffen? Sollte nicht eineSchule möglich sein, in der wir über alles – was, wo, wannund wie die Dinge ablaufen – selbst entscheiden können?Und die konkreteste aller Fragen: An welche Schule gehenwir oder schicken wir unsere Kinder im Hier und Jetzt?Denn längst hat sich doch etwas getan. Ambitionierte Päd-agogInnen, oder schlicht und einfach besorgte Eltern habenalternative Schulen gegründet und neue Schulformen ent-deckt. Zum Beispiel das sogenannte Gesamtschulkonzept:Hier sind alle Abschlüsse möglich, egal was für eine Emp-fehlung man von irgendwelchen Bevormundeten an derGrundschule bekommen hat. Das hat den Vorteil, dass derStress und die Angst, die gesamten beruflichen Chancenmit ein paar schlechten Monaten versauen zu können, zu-mindest in der Grundschule vermieden werden. Allerdingsbleibt auch hier alles vorgeschrieben und benotet. Trotz al-ledem also wenig Freiheit, mit nur etwas weniger Druck.

Andere Modelle

Doch es gibt auch Modelle, die zumindest den Anspruch er-heben, grundsätzlich andere Ideale von Erziehung und Päd-agogik zu verfolgen. Bekanntestes Beispiel sind hier wohldie Waldorf- und Montessorischulen. Erstere gehen auf denPhilosophen Rudolf Steiner (1861 -1925) und letztere auf dieReformpädagogin Maria Montessori (1870-1952) zurück.Beide sind zumeist in freier Trägerschaft. Häufig werdenWaldorfschulen auf die unterrichtete Tanzform Eurythmiereduziert oder es wird vorgeworfen zu wenig „handfestes“Wissen zu vermitteln, sondern den Schwerpunkt auf Hand-werkliches oder Kreatives zu legen. Auch das esoterisch be-gründete Hintergrundkonzept schreckt ab.Ein weiteres pädagogisches Konzept, welches sich mit in-zwischen fast hundert Projekten in Deutschland etablierthat, ist das der Freien Alternativschule. Das Konzept ent-stammt eher den Idealen der 68er-Bewegung als pädagogi-schen Philosophien der Vorkriegszeit. Auf Ganztagsschule,meist in Form von Grund- oder Gesamtschulen, wird hiergenauso, wie auf ein ausgeglichenes Verhältnis von wenigenKindern pro LehrerIn, besonderen Wert gelegt. In diesemKonzept sollen die Unterrichteten außerdem selbst die Wahldarüber behalten, was sie sie sich als Lerninhalt wünschen.Finanziert werden solche Schulen über einkommensabhän-gige Elternbeiträge.Eine schwierige Frage ist allerdings, wie solche Konzeptemehrheitsfähig werden können. Teilweise haben solcheSchulen ein Verhältnis von sechs SchülerInnen pro LehrerInund sind, nicht nur wegen des Schulgelds, sondern auchaufgrund von Zukunftsängsten, eher eine Sache privilegier-terer Schichten. Entsprechend möchten wir die Frage auf-werfen, ob freie Pädagogik als Normalzustand überhaupt inunser derzeitiges Wirtschaftssystem passt. Geht es in die-sem doch im Grunde darum, die Menschen zunächst nachVerwertbarkeit zu sortieren und anschließend meistbietend

am Arbeitsmarkt zu versteigern. Hierzu sindZensuren ein praktisches Werkzeug: Siedisziplinieren und bestimmen schließlichmaßgeblich, welche Tätigkeiten die Absolven-tInnen in ihrem Leben ausüben können. Letzteres istzwangsläufig auch bei den real existierenden „freien Schu-len“ der Fall. Dennoch liefern die vorgestellten Modellewertvolle Erfahrungen, wie eine hierarchiefreie Bildungund Gesellschaft aussehen könnte und das ist sicher besserals nichts.

Veränderung tut sich schwer

Um nicht nur den Kindern besorgter Eltern mit Geld für ei-ne Privatschule, den Zugang zu einer alternativen Pädago-gik zu ermöglichen, muss das System geändert werden. Dasich seitens des Senats oder der Parteien allerdings wenigbis nichts ändert, müssen wir wohl selber ran. Schon seitJahrzehnten gibt es immer wieder SchülerInnen, die sichfür ihre Bildung einsetzen, wie beispielsweise die „Schü-ler_innenvereinigung Rastlos“ in den 80er-Jahren, doch ambekanntesten dürften wohl die Bildungsstreiks der letztenJahre sein.Diese konnten immerhin einen Erfolg in der Abschaffungbeziehungsweise Abwehr der Studiengebühren in einigenBundesländern erzielen. Eine grundlegende Veränderungaber brachten auch sie leider nicht ein. Ein Ergebnis, dassbei der gewählten Protestform auch kaum verwundert. Si-cherlich sind Beteiligungen von bis zu 270 000 Lernendenbeeindruckend, doch handelte es sich hier um eintägigeVeranstaltungen. Ob gegebenenfalls nur zur Demonstrationgegangen wurde um die Schule zu verpassen, das wird wohleine ewige Diskussion bleiben. Tatsache ist, dass die Bewe-gung nie schlagkräftig genug war, um weiter greifendendeForderungen durchsetzen zu können. Wie denn auch, wennman eigentlich nur „KonsumentIn“ ist und durch Streikskeine Produktionsausfälle herbeiführen kann. Als AktivistInmüsste man also wirklich Schulen und Unis besetzen undalternative Bildung leben, um sich nicht mehr von dem, wasman bekämpfen möchte, abhängig zu machen.Aus Streit über die weiteren Schritte zerfiel Bündnis umBündnis. Nun sind nicht einmal mehr solche Demonstratio-nen realisierbar. Was bleibt, ist eine Menge Frust aber auchgute Ideen. Häufig ebben Proteste ab und schwellen dannwieder an. In diesem Sinne sollten wir versuchen, unsereIdeen im kleinen Rahmen an unseren jeweiligen Bildungs-einrichtungen zu teilen. Projektwochen, Veranstaltungenund Flyeraktionen wären erste Schritte. Weiter machen wirganz bestimmt.

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Bildungs AG

Die Bildungs-AG beschäftigt sich sowohl mit den strukturel-len als auch mit den alltäglichen Problemen des herrschen-den Bildungssystems und versucht, diesem Alternativenentgegenzusetzen, die zeigen, dass Menschen auch selbst-bestimmt und gemeinschaftlich lernen können.Die AG trifft sich unregelmäßig an verschiedenen Orten inBerlin. Wenn Du vorbeikommen möchtest, maile an:[email protected]

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Vieles scheint immer schon dagewesen zu sein: Chefs und

Angestellte, Maschinen und KollegInnen, Arbeitsmarkt und

Minijob. Dabei muss man gar nicht so weit in die Geschich-

te zurückschauen, um die stufenweise Einführung und Aus-

weitung der 450€ Jobs nachzuvollziehen. Obwohl es diverse

Frühformen des Minijobs praktisch schon seit dem ausge-

henden 1 9.Jahrhundert gab, trat die Formulierung „gering-

fügige Beschäftigung“ zuerst 1 977 auf und bezeichnete

damals noch ein Beschäftigungsverhältnis, welches auf ma-

ximal 1 5 Stunden pro Woche begrenzt war. Der eigentliche

Durchbruch zum Flexibilisierungsinstrument auf dem Ar-

beitsmarkt folgte im Jahr 2003, als unter der Rot-Grünen

Bundesregierung die Arbeitszeitbegrenzung von 1 5 Wo-

chenstunden gestrichen wurde.

Kleine Jobs, steigende Zahlen

Durch die Abschaffung der Zeitbegrenzung gewannen dieMinijobs an Attraktivität für ArbeitgeberInnen. Zuvor warenMinijobs tatsächlich als reine Aushilfsfunktion gemaßregelt,konnten nun aber auf eine beliebig lange Arbeitszeit ausge-dehnt werden. Theoretisch ermöglicht dies, Arbeitnehme-rInnen Vollzeit arbeiten zu lassen, ihnen aber nur 400€ proMonat zu zahlen. Die damit einhergehenden Konsequenzenzeichnen sich in verschiedenen Studien und statistischenErhebungen u.a. der Hans-Böckler-Stiftung, der Bertels-mann-Stiftung und der Bundesagentur für Arbeit ab. Infolgeder Reform sei es umgehend zum Anstieg von 400€ Jobs,bei gleichzeitiger Verdrängung regulärer Arbeitsverhältnis-se, gekommen. Bundesweit machen Minijobs inzwischen20% aller Beschäftigungsverhältnisse aus. In absolutenZahlen ausgedrückt sind das rund 7,3 Millionen Arbeitsplät-ze. Allein im Wirtschaftsraum Berlin stieg die Zahl der Mini-jobs innerhalb von neun Jahren von 140.064 Stellen im Jahr2003 auf 218.523 im September 2012.Dass ein Beschäftigungsmodell auf dem Arbeitsmarkt so er-

folgreich werden kann, ist schon ein Hinweis darauf, dasses grundlegende Bedürfnisse der Wirtschaft erfüllt. Gleich-zeitig mit den Minijobs, erfuhren auch andere „atypischeBeschäftigungen“ wie Teilzeitarbeit, Leiharbeit oder unbe-zahlte Praktika einen Aufschwung. Arbeitsformen also, dieallesamt dafür sorgen, dass Lohn- und Lohnnebenkosten beiden ArbeitnehmerInnen umfangreich eingespart werdenkönnen. An der Belegschaft zu sparen, eröffnet den Betrie-ben auch die Möglichkeit konjunkturbedingte Verluste andieser Stelle wieder auszugleichen. Die Feststellung derHans-Böckler-Stiftung: „Die Zahl der Minijobber wächst seitJahren, auch in der Wirtschaftskrise.“ könnte somit zumSatz: „Die Zahl der Minijobbenden wächst seit Jahren, we-gen der Wirtschaftskrise.“ korrigiert werden. Wird von derStabilität der Wirtschaft hierzulande gesprochen, kann ei-gentlich nicht außer Acht gelassen werden, dass die ökono-mische Sicherheit der ArbeitgeberInnen Hand in Hand mitder wirtschaftlichen Entsicherung der Angestellten geht.

Das prekäre Prinzip

Diese Entsicherung läuft hauptsächlich über die Unterwan-derung des Arbeitsrechts. Sieht man sich die Abgabelast fürArbeitgeberInnen bei Minijobs an, liegt diese sogar höherim Vergleich zu regulären Stellen. Trotzdem rechnen sichMinijobs für die Betriebe, was nicht zu erklären wäre, wür-den grundlegende Rechte wie die Lohnfortzahlung imKrankheitsfall eingehalten und angemessene Löhne gezahlt.Dabei kommt es der ArbeitgeberInnenseite zugute, dass Ge-werkschaften bei Minijobbenden, wie bei anderen prekärenBeschäftigungen auch, stark unterrepräsentiert sind. EinProblem, dass auch an der besonders hohen Fluktuation derBeschäftigten liegt. Durch das Wegfallen einer klassischenStammbelegschaft ergeben sich auf der ArbeitnehmerIn-nenseite erhebliche Probleme bei der Formierung einer an-gemessenen Vertretung, z.B. in Form einer Betriebsgruppe,

Mode l l M i n i j ob

Der schleichende Pfad zur Ausbeutung

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da personelle Kontinuitäten nicht gewährleistet sind undsich das soziale Gefüge unter den KollegInnen generell ge-lockert hat. Auf der anderen Seite profitieren Arbeitgebe-rInnen durch den informellen Rahmen und die geringeBetriebsgröße, da diese meist in einer verstärkten persönli-chen Bindung zwischen Angestellten und Anstellendenmünden. Persönliche Bindungen an Vorgesetzte können fürMinijobbende zwar kleinere Vorteile im Arbeitsalltag bedeu-ten, führen aber auch zur Identifizierung mit dem Betriebund somit auch häufiger zum Verzicht auf eigene Ansprücheim Interesse der Gewinnmaximierung.

Attraktiver Job und beständiger Kleber

Als häufigstes Argument für 450€-Jobs wird meist eine so-genannte Brückenfunktion zwischen Teizeit- und Vollzeitbe-schäftigung angeführt. Nach diesem Modell sollengeringfügig Beschäftigte durch ihre Minijobs angeblich bes-sere Chancen haben später in eine Vollzeitstelle zu gelan-gen, da sie bereits in der Arbeitswelt Fuß gefasst haben.Doch lediglich neun Prozent aller MinijobberInnen schaffendiesen Wechsel tatsächlich. Von vielen Seiten wird vor dem„Klebeeffekt“ geringfügiger Beschäftigungen gewarnt. Mi-nijobs sind häufig Teil eines insgesamt prekären Lebenslau-fes. Der Einstig beginnt oft mit steuerrechtlichen Vorteilen,die insbesondere auf verheiratete Menschen (und hier wie-der verstärkt Frauen) eine starke Anziehungskraft haben.Während sich jedoch kurzfristige Vorteile ergeben können,besteht langfristig die Gefahr, dass sich durch den Wegfallvon Zweiteinkommen, Scheidung oder Pflegebedürftigkeitvon Angehörigen die wirtschaftlichen Grundlagen für daseigene Leben schlagartig ändern. An diesem Punkt ist derAusstieg nur noch schwer zu schaffen.Im Durchschnitt bleiben Frauen, die ausschließlich in Mini-jobs beschäftigt sind 6 Jahre und 7 Monate geringfügig be-schäftigt. Im Vergleich dazu bleiben es Verheiratete 7 Jahreund 1 Monat, sowie Verheiratete mit pflegebedürftigen An-gehörigen im Haushalt 8 Jahre und 3 Monate.

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Jung und Billig

Die Kampagne „Jung und Billig – Gegen Ausbeutung im Mi-nijob“ ist seit Dezember 2011 aktiv. Sie wird von der soge-nannten Minijob-AG der ASJ Berlin getragen undbeschäftigt sich mit dem weiten Themenkomplex von 450€-Jobs. Neben der konkreten Arbeit mit Minijobbenden, be-müht sich „Jung und Billig“ auch um die Schaffung einerkritischen Öffentlichkeit rund um die geringfügigen Be-schäftigungen. Am 19. Juni erschien hierfür eine Broschüre,die mit einem großen arbeitsrechtlichen Anteil Tipps zurOrganisation am Arbeitsplatz und einem Ratgeber für ent-spannteres Arbeiten, einen Einblick in die bisherige Arbeitder Kampagne gibt.Weitere Infos zur Kampagne findet ihr auf der SeiteMinijob.ccDie AG trifft sich jeden 1 . und 3. Donnerstag im Monat um19 Uhr im FAU Lokal (Lottumstr. 1 1 ).

Mai/Juni

Überstunden?Ich geh nach Hause!

Arbeitshetze?Ich lass mir Zeit!

Niedriglohn?Ich will mehr!

minijob.cc

Jung und Billig?Gegen Ausbeutung im Minijob!

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Politische Hetze gegen Erwerbs- und Obdachlose ist kein

neues Phänomen in Deutschland. Durch das offene Auftre-

ten der Wirtschaftskrise und die schon vorher herrschende

soziale Verunsicherung erfährt der Hass gegen die soge-

nannte Unterschicht in den letzten Jahren jedoch eine be-

sondere Schärfe.

Während PolitikerInnen bewusst darauf hinarbeiten, alleProbleme im Staat auf sozial Schwache abzuwälzen, findensie in einer breiten Masse der Bevölkerung, die sich nachunten abzugrenzen versucht, Zustimmung. Das Zitat „Nurwer arbeitet, soll auch essen“ (August Bebel) tritt in diesemZusammenhang immer wieder auf und betitelt den sozi-

aldarwinistischen Charakter der Diskussionen um soge-nannte Sozialschmarotzer. Medial wird diesesgesellschaftliche Klima in einem wechselseitigen Spiel auf-gegriffen und durch vorurteilsbelasteten Beiträgen über„freche Arbeitslose“ oder „dreiste Schnorrer“ (BILD-Zei-tung) verstärkt.

„Ehe jetzt einer im 20. Stock sitzt undden ganzen Tag nur fernsieht, bin ichschon fast erleichtert, wenn er ein biss-chen schwarz arbeitet."

– Thilo Sarrazin (SPD)

N iemand i st vergessen

Erwerbslosenhetze inMedien und Politik

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Die Stilisierung „regulärer“ Beschäftigungsverhältnissezum Maßstab für persönliches Glück und gesellschaftlicherTeilhabe, ist für die Hetze gegen Arme wesentlich. Inner-halb dieser Logik gibt es praktisch keine Möglichkeit, dassein erwerbsloser Mensch überhaupt Anteil am gesellschaft-lichen Leben haben kann. Die Kriterien „Arbeit“ und „keineArbeit“ würden automatisch eine Einteilung in „sozial“ und„antisozial“ zulassen. Welche Schlüsse hieraus gezogenwerden lässt sich anhand der Aussage Thilo Sarrazins nach-vollziehen.Hinzu kommt die falsche Behauptung, Erwerbslose seienselbst Schuld an ihrer Situation. Die Aussage „Wer arbeitenwill, findet auch Arbeit“ läuft den tatsächlichen Entwicklun-gen des Arbeitsmarktes komplett zuwider, ist aber trotzdemein weit verbreitetes Argument, dass wie kein anderes inden Medien gestützt wird. Teilweise in personalisierterForm: „Deutschlands frechster Arbeitsloser“, teilweise ingeneralisierter Form: „Zu viele Arbeitslose drücken sich vorder Arbeit! “ (BILD-Zeitung).

“Die Erhöhung von Hartz IV war ein An-schub für die Tabak- und Spirituosenin-dustrie.”

– Philipp Mißfelder (Vorsitzender der Jungen Union)

Die oben gezeichneten Gedankengänge lassen die politischgewollte Entmenschlichung von Erwerbslosen bereits er-kennen. Die sozialdarwinistischen Vorurteile, die in denAussagen der Politiker mitschwingen, lassen sich schnellauf einen Nenner bringen: Erwerbslose seien faul, antisozi-al und (in welcher Form auch immer) unsauber. Und somitpasst es auch in das Bild, dass in vielen Städten nicht nurvon staatlicher Seite versucht wird, Erwerbs- und Obdach-lose aus dem Straßenbild zu verdrängen. Dass sich hiermitdie Lebenssituation der Betroffenen jedoch nur verschlech-tert und somit das Leben jedes Einzelnen entsichert wird,stört dabei nicht. Im Gegenteil: Straftaten an oder unter Er-werbs- und Obdachlosen werden sowohl in der Politik alsauch in den Medien viel zu häufig als unbedeutend abgetan.Das Vorurteil, sozial schwache Menschen kämen generellaus gewalttätigen und kriminellen Zusammenhängen machtes einfach, Straftaten zu erklären ohne die eigene Armen-Feindlichkeit eingestehen zu müssen.

“Wer arbeiten kann, aber nicht will, derkann nicht mit Solidarität rechnen. Esgibt kein Recht auf Faulheit in unsererGesellschaft!”

– Gerhard Schröder (SPD)

Die Darstellung von Erwerbs- und Obdachlosen in den Me-dien sind das Produkt einer ganzen Reihe politischer Vorur-teile, die eine systemstabilisierende Funktion in Zeiten derwirtschaftlichen Unsicherheit übernehmen. Ein Fakt, derzwar von PolitikerInnen genutzt wird, der seine jetzige Wir-kung jedoch nicht hätte erreichen können, wenn sich nichtein Großteil der Bevölkerung darauf einlassen würde. DieAngst, selbst in der sozialen Hierarchie abzurutschen, be-fördert, dass sich die Menschen immer radikaler gegen so-zial Schwache abzugrenzen versuchen. Dieses falscheFeindbild aufzulösen ist in erster Linie Aufgabe linker Auf-klärungspolitik, aber auch JournalistInnen haben ihre Rolle

in diesem Kampf. Ihre Aufgabe wäre es, dif-ferenzierter zu berichten und an den gesell-schaftliche Vorurteilen zu rütteln.

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Niemand ist vergessen

Seit mehreren Jahren kämpft das Bündnis “Niemand ist ver-gessen”, bestehend aus mehreren Berliner Gruppen, für einaktives Gedenken an Dieter Eich, der im Jahr 2000 auf-grund seiner Erwerbslosigkeit von vier Neonazis ermordetwurde. In diesem Rahmen beschäftigt es sich auch mit Sozi-aldarwinismus als gesamtgesellschaftliches Problemfeld.Außerdem organisierte das Bündnis mehrere Demos undveröffentliche Broschüren, um über die sozialen Missständeaufzuklären.Auch 2013 fand wieder eine Demonstration durch den ehe-maligen Wohnorts Dieter Eichs Berlin-Buch statt. Das Bünd-nis thematisierte nicht nur den Mord, sondern auch die neuerstarkten Nazistrukutren vor Ort.Aktuell konzentriert sich die Arbeit auf einen Gedenksteinfür Dieter Eich in Buch.Kontakt: [email protected] [email protected]

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Dieter Eich

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Te rm i n e18.07. | 19 Uhr | FAU Lokal (Lottumstr. 11)

Offenes Treffen der Jung und Bill ig Kampagne.

Falls ihr Anregungen/Ideen/Kritik habt, selber aktiv werden wollt, oder

Beratung sucht, seid ihr gerne gesehen!

18.07. | 20 Uhr | Bandito Rosso (Lottumstr. 10a)

NEA-RASH-Tresen:

Sommer, Sonne, Politik. Kommt vorbei und vernetzt euch

antifaschistisch, stadtpolitisch und solidarisch. Kühle Getränke in

entspannter Atmosphäre garantiert.

19.07. | 19 Uhr | FAU Lokal (Lottumstr. 11)

“Kann Bio fair sein?” (D 2013, R. labournet.tv, with english subtitles) –

Aktuell gibt es viele Skandale in der Bio-Branche. Im Mittelpunkt stehen

große Betriebe und die Frage, ob Bio tatsächlich gesünder oder

umweltfreundlicher ist. Nie erwähnt werden dagegen die

Arbeitsbedingungen. Gezeigt wird ein Film über den Arbeitskampfder

FAU-Berlin für die Auszubildende in einer brandenburger Bio-Gärtnerei.

Gäste: labournet.tv, Mitarbeiter aus dem Bio-Einzelhandel und Gartenbau.

22.07. | 18 Uhr | FAU Lokal (Lottumstr. 11)

Mieterberatung der FAU Berlin in Kooperation mit Rechtsanwältin Carola

Handwerg (immer am 4. Montag im Monat) .

25.07. | 18 Uhr | Bunte Kuh (Bernkastelerstr. 78)

Die Antifaschistische Initiative Nord-Ost (AINO) feiert ihren 2.

Geburtstag. Kommt vorbei und feiert mit uns. Musik und Spoken Words

von und mit Gerd Dembowski, Lari und Anderersaits im neuen

Konzertraum der Bunten Kuh. Außerdem Release der neuen Anti-“Thor

Steinar”-Broschüre. Ab 18.00 Uhr Gegril ltes (vegan/veg.) und Solibowle.

Um 20.00 Uhr beginnen die Künstler.

Für weitere Termine und eventuelle Änderungenguckt bitte aufunseren Blog

asjberlin.blogsport.de

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